DAS BUCH DER
VERSCHOLLENEN GESCHICHTEN
Teil 1 & Teil 2
Herausgegeben von Christopher Tolkien
Aus dem Englischen übersetzt
von Hans J. Schütz
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Besuchen Sie uns im Internet: www.hobbitpresse.de
Hobbit Presse
Die Originalausgabe in Englischer Sprache erschien 1983 bei George Allen & Unwin Ltd. Published by arrangment with HarperCollins Publisher Ltd. unter dem Titel
»The Book of Lost Tales Part 1« und »The Book of Lost Tales Part 2«
Copyright © The Tolkien Estate Limited, 1983
® und Tolkien® sind eingetragene Markenzeichen der
The Tolkien Estate Limited
Für die deutsche Ausgabe
© 1986 / 2011 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: HildenDesign, München, www.hildendesign.de
Unter Verwendung einer Illustration von © HildenDesign Birgit Gitschier
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-96088-4
E-Book: ISBN 978-3-608-10646-6
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
DAS BUCH DER
VERSCHOLLENEN GESCHICHTEN
Teil 1
VORWORT
I. DIE HÜTTE DES VERGESSENEN SPIELS
Anmerkungen und Kommentar
II. DIE MUSIK DER AINUR
Anmerkungen und Kommentar
III. DIE ANKUNFT DER VALAR UND DIE GRÜNDUNG VALINORS
Anmerkungen und Kommentar
IV. DIE EINKERKERUNG MELKOS
Anmerkungen und Kommentar
V. DIE ANKUNFT DER ELBEN UND DIE GRÜNDUNG VON KÔR
Anmerkungen und Kommentar
VI. MELKOS DIEBSTAHL UND DIE VERDUNKELUNG VON VALINOR
Anmerkungen und Kommentar
VII. DIE FLUCHT DER NOLDOLI
Anmerkungen und Kommentar
VIII. DIE GESCHICHTE VON SONNE UND MOND
Anmerkungen und Kommentar
IX. DIE VERHÜLLUNG VON VALINOR
Anmerkungen und Kommentar
X. GILFANONS GESCHICHTE: DAS LEID DER NOLDOLI UND DIE ANKUNFT DES MENSCHENGESCHLECHTES
ANHANG
Namen
Register
Das Buch der Verschollenen Geschichten, mit dessen Niederschrift 1916/17 begonnen wurde, war das erste wesentliche fantastische Werk J. R. R. Tolkiens. Zum ersten Mal erschienen hier im Rahmen einer Erzählung die Valar, die Kinder Ilúvatars, die Elben und Menschen, die Zwerge und Orks und die Länder ihrer Geschichte: Valinor, jenseits des westlichen Meeres, und Mittelerde, die »Großen Lande«, zwischen dem östlichen und dem westlichen Meer. Etwa siebenundfünfzig Jahre nachdem mein Vater die Arbeit an den Verschollenen Geschichten abgebrochen hatte, wurde Das Silmarillion1, eine grundlegende Umgestaltung der frühen Fassung, veröffentlicht; und seitdem sind viele Jahre vergangen. Dieses Vorwort scheint ein geeigneter Ort zu sein, sich zu einigen Aspekten beider Werke zu äußern.
Dem Silmarillion wird gewöhnlich nachgesagt, es sei ein »schwieriges« Buch, das der Erläuterung und der Anleitung bedürfe, die den »Zugang« erschließen. Damit steht es im Gegensatz zum Herrn der Ringe. Im 7. Kapitel seines Buches The Road to Middle-Earth stimmt Professor T. A. Shippey dieser Meinung zu (»Das Silmarillion konnte nie etwas anderes sein als eine anstrengende Lektüre«, S. 201) und erläutert seine Auffassung. Einer komplexen Erörterung wird man nicht gerecht, wenn man sie verkürzt wiedergibt, doch Shippey nennt in der Hauptsache zwei Gründe (S. 185): Zum Ersten gibt es im Silmarillion keine »Vermittlung« vergleichbar etwa den Hobbits (so ist Bilbo im Hobbit »das Bindeglied zwischen modernen Zeiten und der archaischen Welt der Zwerge und Drachen«). Mein Vater war sich sehr wohl bewusst, dass das Fehlen der Hobbits als Mangel empfunden werden würde, sollte »Das Silmarillion« veröffentlicht werden – und nicht nur von Lesern, die eine besondere Vorliebe für sie hegten. In einem Brief, 1956 kurz nach der Veröffentlichung des Herrn der Ringe geschrieben, heißt es (The Letters of J. R. R. Tolkien, Nr. 182): »… Allerdings glaube ich nicht, dass es ebenso zugkräftig wäre wie der H. R. – ohne Hobbits! Voller Mythologie und Elbenkunde, und alles in diesem heigh stile (wie Chaucer sagen würde), der vielen Rezensenten so sehr gegen den Strich geht.«
Im »Silmarillion« ist die Stilebene rein und ungebrochen, und der Leser ist Welten entfernt von derartiger »Vermittlung«, von derart wohlerwogenen Brüchen, wie etwa beim Treffen zwischen König Théoden und Pippin und Merry in den Ruinen Isengarts: »Lebt wohl, meine Hobbits! Mögen wir uns in meinem Hause wiedertreffen! Dort sollt ihr neben mir sitzen und mir alles erzählen, was euer Herz begehrt: Die Taten eurer Vorfahren, soweit ihr sie aufzählen könnt …« Die Hobbits verbeugten sich tief. »Das also ist der König von Rohan!«, sagte Pippin leise. »Ein netter, alter Bursche. Sehr höflich.« (Die Zwei Türme, S. 186)
Zum Zweiten: »Was Das Silmarillion von den früheren Werken Tolkiens unterscheidet, ist die Missachtung traditioneller Regeln des Romans. Die meisten Romane (Der Hobbit und Der Herr der Ringe eingeschlossen) stellen eine Figur in den Vordergrund, wie Frodo und Bilbo, und erzählen dann die Geschichte, wie sie dem Helden widerfährt. Natürlich erfindet der Autor die Geschichte und bleibt so allwissend: Er kann erklären und zeigen, was ›wirklich‹ geschieht, und dies der begrenzten Einsicht seiner Figur gegenüberstellen.«
Ferner kommt hier eindeutig das Problem des literarischen »Geschmacks« (oder der literarischen »Gewöhnung«) ins Spiel; und auch das der literarischen »Enttäuschung« – »die (unangebrachte) Enttäuschung derer, die sich einen zweiten Herrn der Ringe wünschten« und auf die sich Professor Shippey bezieht. Diese Enttäuschung hat sogar zu Vorwürfen geführt wie: »Es ist wie das Alte Testament!«; eine schreckliche Schmähung, der man zweifellos nichts entgegenhalten kann (obgleich der, der dies sagte, in seiner Lektüre nicht sehr weit gekommen sein kann, bevor ihn sein eigener Vergleich überwältigte). Natürlich wurde »Das Silmarillion« mit der Absicht geschrieben, Gefühl und Fantasie unmittelbar anzusprechen, ohne dass es dazu einer besonderen Anstrengung des Lesers oder irgendwelcher ungewöhnlicher Fähigkeiten bedürfe; doch es ist in sich geschlossen, und man darf daran zweifeln, ob irgendeine »Annäherung« an das Buch jenen viel helfen kann, die es unzugänglich finden.
Es gibt eine dritte Überlegung (die Professor Shippey freilich nicht im selben Zusammenhang diskutiert): »Eine Qualität, welche[Der Herr der Ringe] im Überfluss besitzt, ist der an Beowulf gemahnende ›Eindruck von Tiefe‹, der wie in dem alten Epos durch Lieder und Abschweifungen hervorgerufen wird (Aragorns Lied von Tinúviel, Sam Gamdschies Anspielungen auf die Silmaril und die Eiserne Krone, Elronds Erzählung von Celebrimbor und Dutzende mehr). Dies freilich ist eine Qualität des Herrn der Ringe und nicht der eingeschobenen Geschichten. Es wäre ein schrecklicher Irrtum, wollte man sie für sich genommen erzählen und gleichwohl erwarten, dass sie sich den Reiz bewahren, den sie dem größeren Zusammenhang verdanken, in den sie eingebettet sind. Niemand sonst hat das eindringlicher empfunden als Tolkien selbst. So schrieb er in einem aufschlussreichen Brief vom 20. 9. 1963: ›Ich habe selbst meine Zweifel an dem Unternehmen [Das Silmarillion zu schreiben]. Der Reiz des H. R. liegt, glaube ich, zum Teil in den kurzen Ansichten von einer weitläufigen Geschichte im Hintergrund: Ein Reiz, wie wenn man von fern eine noch nie betretene Insel oder die schimmernden Türme einer Stadt in einem sonnigen Dunstschleier erblickt. Dort hinfahren, heißt den Zauber zerstören, es sei denn, wiederum täten neue unerreichbare Szenerien sich auf.‹ (Letters, Nr. 247)
Das Problem – wie Tolkien selbst oft gedacht haben muss – lag darin, dass Mittelerde im Herrn der Ringe bereits alt und mit einer ungeheuren Geschichte befrachtet war. Das Silmarillion dagegen (in seiner längeren Form) musste mit dem Anfang beginnen. Wie aber konnte ›Tiefe‹ geschaffen werden, wenn es nichts gab, das weiter in die Vergangenheit zurückreichte?«
Der zitierte Brief zeigt zweifellos, dass mein Vater dies spürte oder, wie man vielleicht eher sagen sollte, dass er dies bisweilen als Problem empfand. Und keinesfalls war es damals, 1963, eine neue Überlegung, denn während er 1945 am Herrn der Ringe arbeitete, schrieb er in einem Brief an mich (Letters, Nr. 96): »… Eine Geschichte muss erzählt werden, oder es ist keine Geschichte; am bewegendsten aber sind die unerzählten Geschichten. Ich glaube, Celebrimbor bewegt Dich so, weil man darin plötzlich einen Ausblick auf endlose unerzählte Geschichten erhält: auf Berge, von weitem gesehen, die man nie besteigen wird, und ferne Bäume (wie bei Tüftler), denen man niemals näher kommt – und wenn, dann werden sie eben zu ›nahen Bäumen‹ …«
Gimlis Lied in Moria, in dem große Namen aus der alten Welt gleichsam wie in äußerster Ferne auftauchen, verdeutlicht mir das aufs schönste:
Die Welt war jung, die Gipfel frei
Zu jener Zeit, die längst vorbei,
Die mächtigen Herrn von Nargothrond
Und Gondolin sind längst entthront
Und leben westlich, fern und weit,
Die Welt war schön zu Durins Zeit.
(Die Gefährten, S. 383)
»Das gefällt mir!«, sagte Sam. »Das möchte ich gerne lernen. In Khazad-dûm, in Moria! Aber es macht die Dunkelheit noch bedrückender, wenn man an all die Lampen denkt.« (S. 384) Durch sein begeistertes »Das gefällt mir!« »vermittelt« Sam nicht nur die »hohen«, die mächtigen Könige von Nargothrond und Gondolin, Durin auf seinem geschnitzten Thron, sondern versetzt sie unvermittelt in eine noch größere Entfernung, in einen magischen Abstand, den aufzuheben (in diesem Augenblick) verderblich scheint.
Professor Shippey sagt: »Es wäre ein schrecklicher Irrtum, wollte man sie [die Episoden, auf die im Herrn der Ringe nur hingewiesen wird] für sich genommen erzählen und gleichwohl erwarten, dass sie sich den Reiz bewahren, den sie dem größeren Zusammenhang verdanken, in den sie eingebettet sind.« Der »Irrtum« liegt vermutlich in der Erwartungshaltung, nicht jedoch in der Tatsache, dass sie erzählt werden; offenbar bezieht Professor Shippey die Worte meines Vaters über seine »Zweifel an dem Unternehmen« auf die Niederschrift des Silmarillion, denn er ergänzt die Aussage im Brief entsprechend. Doch als mein Vater dies sagte, bezog er sich nicht – ausdrücklich nicht – auf das Werk selbst, das ja bereits geschrieben und zu großen Teilen mehrfach überarbeitet war (die Erwähnungen imHerrn der Ringe sind keine spontanen Erfindungen). Was dagegen für ihn in Frage stand, wie er im selben Brief (Nr. 247) weiter oben ausführt, war dessen Präsentation in Buchform nach dem Erscheinen des Herrn der Ringe, als seiner Meinung nach die rechte Zeit bereits vorüber war, es bekannt zu machen: »Trotzdem wird die Darstellung leider viel Arbeit erfordern, und das geht bei mir alles so langsam. Die Sagen müssen überarbeitet (sie wurden zu verschiedenen Zeiten geschrieben, manche schon vor vielen Jahren) und miteinander abgestimmt werden; dann müssen sie mit dem H. R. verbunden werden; und dann müssen sie in eine Art Abfolge gebracht werden. Kein einfaches Schema wie etwa der Hergang einer Reise oder Fahrt bietet sich an. Ich habe selbst meine Zweifel an dem Unternehmen …«
Als sich nach seinem Tod die Frage einer Veröffentlichung des »Silmarillion« in irgendeiner Form erhob, maß ich seinen Zweifeln keine Bedeutung bei. Die Wirkung, welche die »kurzen Ansichten von einer weitläufigen Geschichte im Hintergrund« im Herrn der Ringe haben, ist unbestreitbar und von größter Bedeutung, doch ich glaube nicht, dass die dort mit solcher Meisterschaft eingestreuten »Ansichten« alles weitere Wissen um die »Geschichte« ausschließen sollten.
Der literarische »Eindruck von Tiefe … [hervorgerufen] durch Lieder und Abschweifungen« kann nicht zu einem Kriterium gemacht werden, an dem man ein Werk mit einer völlig anderen Konzeption misst. Dies würde bedeuten, dass man die Altvorderenzeit allein nach ihrer Funktion im Herrn der Ringe beurteilt. Man sollte auch den Kunstgriff der kurzen Rückblende innerhalb der erzählten Zeit auf zeitlich entrückte Ereignisse (deren Anziehungskraft in ihrer eigentümlichen Verschwommenheit liegt) nicht ohne weiteres so verstehen, als ob eine ausführliche Schilderung der mächtigen Könige von Nargothrond und Gondolin einer gefährlichen Annäherung an den Grund des Brunnens gleichkommen würde, wogegen eine Beschreibung der Schöpfung bedeutete, dass der Grund erreicht und die »Tiefe« endgültig verlorengegangen wäre – »nichts bliebe, das weiter in die Vergangenheit zurückreichte«. Im Gegenteil: »Tiefe« in diesem Sinne verweist auf eine Beziehung zwischen verschiedenen zeitlichen Schichten oder Ebenen innerhalb derselben Welt. Vorausgesetzt, der Leser hat in der erzählten Zeit einen Bezugspunkt, von dem aus er zurückblicken kann, so wird ihm das außerordentliche Alter des Allerältesten ständig bewusst. Und die bloße Tatsache, dass der Herr der Ringe ein solch starkes Bewusstsein einer wirklichen Zeitstruktur schafft (weit stärker als durch bloße chronologische Treue und Auflistung von Daten), reicht aus, um für diesen notwendigen Bezugspunkt zu sorgen. Wenn man Das Silmarillion liest, muss man sich in Gedanken in das ausgehende Dritte Zeitalter versetzen – nach Mittelerde und zurück zum (zeitlichen) Punkt von Sam Gamdschies »Das gefällt mir!« – und hinzufügen: »Ich möchte mehr darüber erfahren«. Mehr noch: die gedrängte oder verkürzende Form und Schreibart des Silmarillion und eine Ahnung von Zeitaltern voller Poesie und »Kunde«, die darunterliegen, vermitteln sehr stark einen Eindruck von »unerzählten Geschichten« – auch dann noch, wenn diese erzählt werden; der Eindruck von »Ferne« geht nie verloren. Es gibt kein erzählerisches Vorwärtsdrängen und keine Vorausdeutungen auf zukünftige Ereignisse. Wir sehen die Silmaril nicht so, wie wir den Ring sehen. Der Schöpfer des »Silmarillion«, wie er selbst vom Dichter des Beowulf sagte, »erzählte von Dingen, die schon alt und kummerbeladen waren, und er verwandte seine Kunst darauf, jene Spuren im Herzen sichtbar zu machen, welche Leiden hinterlassen, die zugleich quälend und entrückt sind«.
Wie inzwischen vollständig belegt ist, wünschte mein Vater sehr, »Das Silmarillion« zusammen mit dem Herrn der Ringe zu veröffentlichen. Ich sage nichts über die Durchführbarkeit des Vorhabens zu jener Zeit; ich stelle auch keine Vermutungen darüber an, welches spätere Schicksal ein viel längeres zusammengefügtes Werk, vier- oder fünfteilig, gehabt hätte, oder über die verschiedenen Wege, die mein Vater dann hätte einschlagen können – denn dadurch wäre die weitere Entwicklung des »Silmarillion« selbst, die Geschichte der Altvorderenzeit, unmöglich geworden. Jedoch durch die postume Veröffentlichung des »Silmarillion« nahezu ein Vierteljahrhundert später wurde die natürliche Publikationsfolge des gesamten »Mittelerde-Komplexes« umgekehrt; und man kann sicherlich darüber streiten, ob es klug war, 1977 eine Fassung des allerersten »Sagenschatzes« als selbständige Publikation herauszubringen, gewissermaßen mit dem Anspruch, es spreche für sich selbst. So, wie das Werk veröffentlicht wurde, hat es keinen »Rahmen« und vermittelt keine Vorstellung von dem, was es ist und wie es (in der erfundenen Welt) entstand. Dies ist, wie ich jetzt meine, ein Fehler gewesen.
Der oben zitierte Brief aus dem Jahr 1963 zeigt, dass mein Vater sich über die Art und Weise Gedanken machte, in der die Sagen der Altvorderenzeit dargeboten werden könnten. In der ursprünglichen Form (der des Buches der Verschollenen Geschichten) kommt ein Mensch, Eriol, am Ende einer langen Reise über den Ozean zu der Insel, wo die Elben wohnen, und lernt aus deren eigenen Erzählungen ihre Geschichte kennen; dieser Ansatz war (allmählich) aus dem Blickfeld geraten. Als mein Vater 1973 starb, befand sich »Das Silmarillion« in einem bezeichnenden Zustand der Unordnung: Die früheren Teile waren stark überarbeitet oder größtenteils neu geschrieben worden, die Schlussteile waren noch so, wie er sie etwa zwanzig Jahre zuvor hatte liegenlassen; doch in der letzten Niederschrift gibt es keinen Hinweis auf einen »Plan« oder »Rahmen«, in den das Ganze eingebettet werden sollte. Ich glaube, dass er am Ende der Meinung war, nichts mehr könne der Sache nützen und kein erklärendes Wort solle darüber verloren werden, wie es dazu kam, dass es (in der erfundenen Welt) aufgeschrieben wurde.
In der ersten Ausgabe des Herrn der Ringe übergab Bilbo in Bruchtal als Abschiedsgeschenk Frodo »ein paar Bücher des Wissens, die er zu verschiedenen Zeiten mit seiner zierlichen Handschrift geschrieben hatte, und auf den roten Rücken stand: Übersetzungen aus dem Elbischen von B.B.«. In der zweiten Ausgabe (1966) sind daraus »drei Bücher« geworden, und in den Anmerkungen zu den Aufzeichnungen vom Auenland, die der Einführung dieser Ausgabe hinzugefügt wurden, sagte mein Vater, dass der Inhalt der »drei großen, in rotes Leder gebundenen Bände« im Roten Buch der Westmark erhalten geblieben sei, das von König Findegils Schreiber im Jahre 172 des Vierten Zeitalters in Gondor angefertigt worden ist. Und es heißt weiter: »Diese drei Bände erwiesen sich als ein Werk von großer Sachkenntnis und Gelehrsamkeit, für das … [Bilbo] alle ihm in Bruchtal zugänglichen Quellen, lebende wie geschriebene, benutzt hatte. Frodo machte indes wenig Gebrauch von ihnen, da sie fast ausschließlich die Altvorderenzeit behandelten, deshalb sei hier nicht mehr darüber gesagt.« (Die Gefährten, S. 31)
In The Complete Guide to Middle-Earth sagt Robert Foster: »Quenta Silmarillion war ohne Zweifel eine von Bilbos Übersetzungen aus dem Elbischen, überliefert im Roten Buch der Westmark.« Dies habe auch ich angenommen. Die »Bücher des Wissens«, die Bilbo Frodo gab, enthielten schließlich die Lösung: Sie waren »Das Silmarillion«. Doch abgesehen von dieser Äußerung gibt es meines Wissens nirgendwo in den Schriften meines Vaters einen weiteren Hinweis hierzu; und ich sträubte mich (zu Unrecht, wie ich heute meine), diesen Weg weiterzugehen und eindeutig auszusprechen, was ich nur vermutete.
Es gab drei Möglichkeiten: Ich konnte die Veröffentlichung des »Silmarillion« auf unbestimmte Zeit zurückstellen mit der Begründung, das Werk sei unvollständig und zwischen seinen Teilen bestehe kein Zusammenhang. Ich konnte die Eigenart des Werkes, so wie es war, akzeptieren und, um mein Vorwort zur Buchausgabe zu zitieren, den Versuch unternehmen, »die Vielfalt der Texte zwischen den Deckeln eines einzigen Buches darzubieten – und Das Silmarillion so als die in Fortgang und Entwicklung begriffene Schöpfung vorzuweisen, die es in Wahrheit ist«; und dies hätte, wie ich in Nachrichten aus Mittelerde (S. 9) schrieb, einen »Komplex voneinander abweichender, durch Kommentare verbundener Texte« zur Folge gehabt – ein weit größeres Unterfangen, als diese Worte verraten. Letztlich entschied ich mich für den dritten Weg, nämlich »einen einzigen Text herauszuarbeiten, indem ich so auswählte und anordnete, dass – wie mir schien – eine möglichst zusammenhängende und in sich stimmige Erzählung zustande kam«. (Das Silmarillion, S. 16) Als ich schließlich zu dieser Entscheidung gelangt war, konzentrierte sich die editorische Arbeit, die ich und Guy Kay (der mir half ) leisteten, auf das Ziel, das mein Vater in jenem Brief aus dem Jahr 1963 gesteckt hatte: »Die Sagen müssen überarbeitet … und miteinander abgestimmt werden; dann müssen sie mit dem H. R. verbunden werden.« Die Aufgabe, »Das Silmarillion« als eine »vervollständigte und in sich stimmige Einheit« vorzuweisen (obgleich dies, so wie die Dinge hier lagen, nicht vollkommen erfolgreich sein konnte), hatte zur Folge, dass in der Buchausgabe seine verwickelte Geschichte nicht erläutert werden konnte.
Was immer man darüber denken mag, das nicht voraussehbare Ergebnis war, dass sich die Rätselhaftigkeit, die »Das Silmarillion« umgab, noch verstärkte: Die Ungewissheit über das Alter des Werkes, ob es als »früh« oder »spät« anzusehen sei, das Ausmaß der Eingriffe und Manipulationen (oder gar Erfindungen) des Herausgebers erwiesen sich als Stolperstein und als eine Quelle vieler Missverständnisse. In Tolkien and the Silmarils (S. 93) hat Professor Randel Helms die Fragestellung wie folgt umrissen: »Jedermann, der wie ich am Ursprung des Silmarillion interessiert ist, wird die Nachrichten aus Mittelerde nicht nur wegen der spezifischen Eigenart dieses Buches lesen wollen, sondern auch, weil seine Beziehung zum Ersteren als Musterbeispiel für ein altes Problem literarischer Kritik gelten kann: Was ist ein literarisches Werk eigentlich? Ist es das, was es nach den Absichten (oder möglichen Absichten) des Autors sein soll, oder das, was ein späterer Herausgeber daraus macht? Für den Kritiker wird dieses Problem besonders wichtig, wenn, wie im Fall des Silmarillion, der Autor vor Vollendung seines Werkes stirbt und mehr als eine Fassung mancher Teile hinterlässt, die danach anderswo zur Veröffentlichung kommen. Welche Fassung soll der Kritiker als die ›wirkliche‹ Geschichte betrachten?«
Doch er schreibt auch: »Christopher Tolkien hat uns in diesem Fall geholfen, indem er redlicherweise betont, dass Das Silmarillion in der Form, in der es uns vorliegt, die Erfindung des Sohnes und nicht die des Vaters ist«; dies indessen ist ein ernstes Missverständnis, zu dem meine eigenen Äußerungen Anlass gegeben haben.
Professor Shippey wiederum akzeptiert zwar meine Versicherung (S. 169), dass ein »sehr hoher Anteil« des »Silmarillion«-Textes von 1937 in die Buchausgabe übernommen worden sei, sträubt sich hingegen an anderer Stelle, es anders zu sehen denn als ein »spätes« Werk, ja gar als das späteste seines Verfassers.
Und in einem Artikel mit dem Titel »The Text of The Hobbit: Putting Tolkien’s Notes in Order« (English Studies in Canada, VII, 2, Sommer 1981) kommt Constance B. Hieatt zu dem Schluss, dass es »in der Tat vollkommen klar ist, dass wir nie imstande sein werden, die Denkprozesse nachzuvollziehen, die dem Silmarillion zugrunde liegen«.
Doch trotz der Schwierigkeiten und ungeklärten Fragen ist eines sicher und offenkundig: Für den geistigen Vater von Mittelerde und Valinor gab es tiefe Zusammenhänge und lebendige Wechselbeziehungen zwischen all den Zeiten, Orten und Geschöpfen, wenn auch die literarische Gestalt und einige Teile der Konzeption aus der Rückschau eines langen Lebens etwas »proteushaft« erscheinen mochten. Er verstand nur zu gut, dass viele entzückte Leser des Herrn der Ringe in Mittelerde nie mehr sehen wollten als den Schauplatz der Erzählung, und dass sie bei all ihrer Freude über die »Tiefe« nicht wünschten, dass man diese bis zum Grund auslote. Doch diese »Tiefe« ist natürlich keine Illusion wie eine Reihe imitierter Buchrücken, hinter denen kein Buch steckt; und Quenya und Sindarin sind komplexe Gebilde. Es ist völlig legitim, diese Welt zu erforschen, ganz unabhängig von literaturkritischen Überlegungen; und es ist angemessen, zu versuchen, ihre Struktur in all ihren Dimensionen vom Mythos ihrer Schöpfung her zu begreifen. Jede Person, jedes Detail der erfundenen Welt, die ihrem Schöpfer wichtig schienen, sind dann für sich genommen der Aufmerksamkeit wert: Manwe oder Feanor nicht weniger als Gandalf oder Galadriel, die Silmaril nicht weniger als die Ringe; die Große Musik, die göttlichen Hierarchien, die Wohnsitze der Valar und die Schicksale der Kinder Ilúvatars sind wichtige Elemente, wenn man das Ganze begreifen will. Solche Untersuchungen sind prinzipiell durchaus erlaubt; sie ergeben sich, wenn man die imaginäre Welt als Gegenstand des Gedankenspiels und des Studiums begreift, eine Welt, die der Betrachtung ebenso würdig ist wie viele andere Gegenstände in unserer allzu fantasielosen Welt. Diese Überzeugung und das Bewusstsein, dass andere ebenso empfanden, veranlassten mich, die Verschollenen Geschichten zusammenzustellen.
Doch der Blickwinkel, unter dem der Autor seine eigene Erfindung betrachtete, veränderte sich ständig; die Welt wurde weitläufiger, größer: Nur im Hobbit und im Herrn der Ringe gelangten zu Lebzeiten des Autors Teile daraus in Druck, die abgeschlossen waren. Das Studium von Mittelerde und Valinor ist mithin kompliziert, denn der Gegenstand des Studiums blieb nicht gleich; er folgte gewissermaßen der Lebenszeit des Autors, war also nicht die Fixierung eines bestimmten Abschnitts, festgelegt wie ein gedrucktes Buch, das keinem wesentlichen Wandel mehr unterworfen ist. Mit der Veröffentlichung des »Silmarillion« jedoch wurde eine bestimmte Entwicklungsstufe fixiert und so eine Art Schlusspunkt gesetzt.
Diese eher weitschweifigen Erörterungen sind ein Versuch, meine ursprünglichen Motive darzulegen, die zur Veröffentlichung des Buches der Verschollenen Geschichten führten. Es ist dies der erste Schritt, Mittelerde und Valinor in einem Stadium zu präsentieren, als die gewaltige geographische Ausdehnung, die vom Zentrum ausging und Beleriand gewissermaßen nach Westen warf, noch in ferner Zukunft lag; als es keine »Altvorderenzeit« gab, endend mit der Überflutung Beleriands, denn bis dahin existierten keine anderen Zeitalter der Welt; als die Elben noch »Feen« waren und sogar Rúmil, der gelehrte Noldo, weit entrückt war von den gebieterischen »Meistern des Wissens« der späteren Jahre meines Vaters. Im Buch der Verschollenen Geschichten sind die Fürsten der Noldor eben gerade aufgetaucht und ebenso die Grau-Elben von Beleriand; Beren ist ein Elb und kein Mensch, und sein Widersacher, der allererste Vorläufer Saurons in dieser Rolle, ist eine monströse Katze, in der ein böser Geist haust; die Zwerge sind ein böses Volk; und die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen Quenya und Sindarin waren ganz anders konzipiert. Dies sind einige wenige besonders hervorstechende Merkmale, und eine entsprechende Liste ließe sich erheblich verlängern. Andererseits gab es bereits eine Grundstruktur, die beibehalten wurde. Und die Veränderung und Ausgestaltung der Geschichte Mittelerdes im Laufe der Jahre geschah selten durch gänzliches Ausscheiden von Elementen, sondern vielmehr durch allmähliche und vorsichtige Umformung, so dass die Geschichten ebenso zu wachsen schienen wie Sagen, die das Ergebnis vieler Geister und Generationen sind (so zum Beispiel die Nargothrond-Geschichte, die mit Beren und Lúthien verknüpft wurde, was, obwohl beide Elemente bereits vorhanden waren, in den Verschollenen Geschichten nicht einmal angedeutet wird).
Das Buch der Verschollenen Geschichten wurde von meinem Vater 1916/17 während des Ersten Weltkriegs begonnen, als er 25 Jahre alt war, und viele Jahre später unvollendet aufgegeben. Es ist der Beginn der Geschichte von Valinor und Mittelerde, zumindest als voll ausgeformte Erzählung; aber bevor die Geschichten vollendet waren, wandte er sich dem Schreiben von Langgedichten zu: das Lied von Leithian in Reimpaaren (die Geschichte von Beren und Lúthien) und Die Kinder Húrins in Stabreimen. Die Prosafassung seiner »Mythologie« erhielt einen neuen Impuls2 durch eine ganz kurze Übersicht oder »Skizze«, wie er sie nannte, geschrieben 1926, die ausdrücklich dazu bestimmt war, das notwendige Hintergrundwissen für das Verständnis des Stabreimgedichtes zu liefern. Die weitere Entwicklung der Prosaform verlief von dieser Skizze in direkter Linie zu jener Fassung des »Silmarillion«, die sich Ende 1937 der Vollendung näherte, als mein Vater die Arbeit abbrach und sie, so wie sie war, im November desselben Jahres an Allen & Unwin schickte; doch in den 30er Jahren schrieb er auch wichtige neben- und untergeordnete Texte wie die Annalen von Valinor und die Annalen von Beleriand (von denen Fragmente auch in den altenglischen Übersetzungen erhalten sind, die von Ælfwine/Eriol angefertigt wurden), die kosmologische Beschreibung mit dem Titel Ambarkanta, die Gestalt der Welt, verfasst von Rúmil, und die Lhammas oder »Beschreibung der Sprachen« von Pengolod aus Gondolin. Danach legte er die Geschichte des Ersten Zeitalters für viele Jahre aus der Hand, bis der Herr der Ringe fertiggestellt war, doch in den Jahren vor dessen tatsächlicher Veröffentlichung kehrte mein Vater mit großer Energie zum »Silmarillion« und zu den damit verbundenen Werken zurück.
Die Ausgabe der Verschollenen Geschichten in zwei Teilen wird, wie ich hoffe, der Beginn einer Reihe sein, welche die sagenhafte Geschichte Mittelerdes mit diesen späten Vers- und Prosaschriften weiterführen soll; deshalb habe ich dem vorliegenden Buch einen Haupttitel gegeben, der auch die möglicherweise folgenden Bücher einschließen wird, obwohl ich fürchte, dass »Die Geschichte Mittelerdes« sich als ein etwas zu ehrgeiziger Reihentitel erweisen könnte. Auf jeden Fall ist der Begriff »Geschichte« nicht im herkömmlichen Sinn zu verstehen: Es ist vielmehr meine Absicht, vollständige oder weitgehend vollständige Texte zu präsentieren, so dass die Bücher in sich abgeschlossene Einzeleditionen sein werden. Ich setze mir nicht als oberstes Ziel, viele einzelne lose Fäden zu entwirren, sondern eher möchte ich Werke zugänglich machen, die als eigenständig betrachtet werden können und die auch so betrachtet werden sollen.
Dieser langen Entwicklung nachzuspüren, ist für mich von großem Interesse, und ich hoffe, dass es sich auch für andere als interessant erweist, die Sinn für eine derartige Spurensuche haben – ob es sich nun um Änderungen der Handlungsverläufe oder des kosmologischen Grundkonzepts handelt; oder um Details wie beispielsweise das erste Auftauchen des scharfäugigen Legolas Grünblatt in der Geschichte Der Fall von Gondolin. Aber diese alten Manuskripte sind keinesfalls nur für das Studium der Ursprünge von Interesse. Dort ist vieles zu finden, das mein Vater (soweit man dies sagen kann) niemals ausdrücklich ausschied; so sei daran erinnert, dass »Das Silmarillion«, beginnend mit der »Skizze« aus dem Jahr 1926, als Abriss oder Kurzdarstellung geschrieben wurde, das die Substanz viel längerer Werke (ob sie tatsächlich existierten oder nicht) in kleinerem Umfang barg. Der höchst archaische Stil, der zu diesem Zweck entwickelt wurde, war kein Beiwerk: Er besaß vielmehr Weite und große Kraft und war in besonderer Weise dazu geeignet, die magische und unheimliche Wesensart der frühen Elben zu vermitteln, wurde aber auch ohne weiteres dem sarkastischen, höhnischen Melko oder der Beziehung zwischen Ulmo und Osse gerecht. Und gerade diese erhält zuweilen einen komischen Aspekt und wird dann in einer schnellen und lebhaften Sprache vorgetragen, die in der späteren gravitätischen Prosa des »Silmarillion« nicht mehr lebendig ist (so fuhrwerkt Osse »in schäumender Geschäftigkeit« herum, als er die Inseln am Meeresgrund verankert; die von den ersten Seevögeln neu in Besitz genommenen Klippen von Tol Eressea »sind voll von Geschnatter und Fischgeruch, und auf ihren Graten werden große Beratungen abgehalten«; als die Küstenland-Elben schließlich über das Meer nach Valinor gezogen werden, fährt Ulmo auf wundersame Weise »hinterdrein in seinem Wagen und trompetet laut, zum Missvergnügen Osses«).
Die Verschollenen Geschichten erhielten, bevor er sie beiseite legte, niemals eine solche Gestalt, dass mein Vater an ihre Veröffentlichung hätte denken können; sie waren experimentell und provisorisch; die zerschlissenen Notizbücher, in denen er sie niederschrieb, wurden gebündelt abgelegt, und viele Jahre warf er keinen Blick hinein. Sie nun in einem Buch zu präsentieren, hat zahlreiche editorische Probleme aufgeworfen. Zum Ersten sind die Manuskripte selbst sehr kompliziert: zum Teil ist der Text schnell mit Bleistift geschrieben und heute stellenweise außerordentlich schwer zu entziffern; es ist ein Vergrößerungsglas dazu erforderlich und viel Geduld, die nicht immer belohnt wird. Aber bei einigen der Geschichten hat mein Vater auch den ursprünglichen Bleistifttext ausradiert und eine revidierte Fassung mit Tinte darübergeschrieben – und weil er zu dieser Zeit gebundene Notizbücher anstelle von losen Blättern benutzte, litt er unter Raummangel; folglich wurden Teilstücke von Geschichten in andere hineingeschrieben, so dass die Entzifferung stellenweise zu einem schwierigen Puzzlespiel wurde.
Zum Zweiten wurden Die Verschollenen Geschichten nicht alle fortlaufend eine nach der anderen im Zuge der Erzählung geschrieben; mein Vater begann, während das Werk noch im Werden war, sogar eine neue Anordnung und Überarbeitung der Geschichten. Der Fall von Gondolin war die erste der Eriol erzählten Geschichten und Die Geschichte von Tinúviel die zweite, doch die Ereignisse in diesen Geschichten finden gegen Ende des Zeitalters statt; andererseits sind die vorhandenen Texte spätere Überarbeitungen. In manchen Fällen ist heute nur noch die revidierte Fassung zu entziffern; in anderen sind die erste und die letzte Fassung ganz oder teilweise erhalten; bei einigen gibt es nur einen vorläufigen Entwurf; bei anderen existieren überhaupt keine ausgearbeiteten Erzählungen, sondern nur Notizen und Pläne. Nach mancherlei Versuchen bin ich zu dem Schluss gekommen, dass die Anordnung der Geschichten in der chronologischen Abfolge ihrer Ereignisse die einzig praktikable Art der Präsentation ist.
Schließlich kommt noch hinzu, dass im Laufe des Schreibprozesses Zusammenhänge innerhalb der Verschollenen Geschichten verändert wurden, neue Konzeptionen hinzukamen und die gleichzeitige Weiterentwicklung der Sprachen zu einer fortlaufenden Veränderung von Namen führte.
Eine Ausgabe wie die vorliegende, die solchen Schwierigkeiten Rechnung trägt und sie nicht künstlich zu glätten versucht, wird leicht zu einem komplizierten und schwer zu lesenden Buch, in dem der Leser keinen Augenblick allein gelassen wird. Ich habe mich bemüht, für die Erzählungen einen lesbaren und geordneten Text zu erstellen und für interessierte Leser, die es wünschen, eine ziemlich vollständige Beschreibung der tatsächlichen Textsituation hinzugefügt. Um das zu erreichen, habe ich den Umfang der Anmerkungen zu den Texten drastisch reduziert, und zwar nach folgenden Prinzipien: Die zahlreichen Veränderungen von Namen sind sämtlich erfasst, doch sie wurden insgesamt am Ende jeder Geschichte zusammengestellt (die Stellen, an denen sie im Einzelnen erscheinen, kann man dem Register entnehmen); alle Bemerkungen zum Inhalt sind in einem Kommentar zusammengedrängt, der sich an jede Geschichte anschließt; und fast der gesamte linguistische Kommentar (in erster Linie die Etymologie von Namen) ist in einem Anhang über Namen am Ende des Buches versammelt, wo sich sehr viele Informationen über die frühesten Entwicklungsstufen der »Elbischen Sprachen« finden. Auf diese Weise beschränken sich die Fußnoten zum allergrößten Teil auf Varianten und Abweichungen, die sich in anderen Texten finden; der Leser, der sich damit nicht herumplagen will, kann nur die Erzählungen lesen und weiß, dass jenes fast alles ist, was er entbehrt.
Die Kommentare sind in ihrem Umfang begrenzt und konzentrieren sich im Wesentlichen darauf, die Folgerungen zu erörtern, die sich aus dem im Kontext mit den Verschollenen Geschichten selbst Gesagten ergeben, und sie mit dem Silmarillion zu vergleichen. Ich habe keine Parallelen, Quellen und Einflüsse angeführt, und meistens habe ich darauf verzichtet, die komplizierte Entwicklungsgeschichte der Verschollenen Geschichten bis hin zum publizierten Werk nachzuzeichnen (dies würde, wie ich meine, selbst dann nur Verwirrung stiften, wenn man diesen Komplex lediglich kursorisch behandelte), vielmehr sind diese Probleme in einer vereinfachten Weise behandelt, als gäbe es zwei feste Bezugspunkte. Ich gehe nicht davon aus, dass meine Analysen sich insgesamt als gerechtfertigt oder exakt erweisen werden, und es gibt gewiss Hinweise auf die Lösung kniffliger Textprobleme in den Verschollenen Geschichten, die meiner Aufmerksamkeit entgangen sind.
Die Texte wurden so getreu wie möglich nach den Originalmanuskripten wiedergegeben. Nur unbedeutende und offensichtliche Flüchtigkeitsfehler sind stillschweigend korrigiert worden; ungeschickt formulierte Sätze habe ich stehengelassen, und wo der grammatikalische Zusammenhang fehlt, wie es zuweilen in jenen Teilen der Verschollenen Geschichten der Fall ist, die nie über einen ersten flüchtigen Entwurf hinausgelangt sind, habe ich nicht eingegriffen; und konsequenter, als mein Vater es tat, habe ich die Großschreibung durchgeführt. Ich habe mir, wenn auch zögernd, ein einheitliches System der Akzentsetzung bei elbischen Namen zu eigen gemacht. Mein Vater schrieb zum Beispiel: Palûrien, Palúrien, Palurien; Ōnen, Onen; Kôr, Kor. Ich habe den Akutus für den Längsstrich über Vokalen, für den Zirkumflex und den scharfen Akzent (dazu gelegentlich für den Gravis) der Originaltexte benutzt; den Zirkumflex dagegen für einsilbige Wörter: Palúrien, Ónen, Kôr also entspricht, zumindest für das Auge, dem späteren Sindarin.
Die Aufteilung des Werkes in zwei Teile wird ausschließlich durch seinen Umfang begründet, denn die Ausgabe ist als eine Einheit konzipiert; jeder Teil hat jedoch sein eigenes Register und seinen eigenen Namensanhang. Der zweite Teil enthält die in mancher Hinsicht interessantesten Stücke der Verschollenen Geschichten: Tinúviel, Turambar (Túrin), Der Fall von Gondolin und Die Geschichte des Nauglafring (das Halsband der Zwerge); Entwürfe für Die Geschichte von Earendel und den Schluss des Werkes; und Ælfwine aus England.
Auf den Umschlag eines der inzwischen arg beschädigten »Hochschul-Übungsbücher«, in denen einige der Verschollenen Geschichten notiert wurden, schrieb mein Vater: Die Hütte des Vergessenen schichten Spiels, der Beginn [vom] Buch der Verschollenen Geschichten; ferner finden sich auf dem Umschlag, von der Hand meiner Mutter, ihre Initialen, E.M.T., und ein Datum: 12. Februar 1917. In diesem Übungsbuch hat meine Mutter die Erzählung ins Reine geschrieben; es ist die saubere Abschrift eines sehr flüchtigen, mit Bleistift ausgeführten Manuskripts meines Vaters, dessen lose Blätter in das Übungsbuch eingelegt waren. Daher könnte (was wenig wahrscheinlich ist) das Entstehungsdatum der Geschichte vor dem Winter 1916/17 liegen. Die Abschrift folgt sorgfältig dem Originaltext; einige zusätzliche Änderungen meist unwesentlicher Art (außer den Eigennamen) wurden in die Abschrift eingefügt. Der Text erscheint hier in seiner endgültigen Fassung.