Verlag C.H.Beck
Diese Einführung in die jüdische Religion konzentriert sich auf die Praxis des religiösen Lebens und die ihr zugrunde liegenden theologischen Auffassungen. In sieben Kapiteln wird der Lebenslauf von der Geburt bzw. vom Eintritt in das jüdische Volk bis zum Ende des Lebens und den damit verknüpften Erwartungen und Vorstellungen zum äußeren Rahmen einer detaillierten Erläuterung der religiösen Riten, Bräuche, Normen und Glaubensinhalte, der Feste des Jahreskreises (Pesach, Laubhüttenfest, Channukka u.a.) und der religiösen Feste im persönlichen Leben (Beschneidung, Bar Mitzwa, Hochzeit u.a.). Als Grundlinie der Darstellung gilt eine gemäßigt orthodoxe, der biblischen und talmudischen Tradition verpflichtete Lebensform.
Günter Stemberger ist em. Professor für Judaistik an der Universität Wien. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze zur jüdischen Geschichte und Kultur. Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: Geschichte der jüdischen Literatur (1977); Der Talmud (4. Aufl. 2008); Midrasch (1989); Einleitung in Talmud und Midrasch (8. Aufl. 1992), Einführung in die Judaistik (2002) und Das klassische Judentum. Kultur und Geschichte der rabbinischen Zeit (2009).
Zur Einführung
I. Eintritt in das Volk Gottes
II. Das jüdische Haus
III. Schule und Lernen
IV. Verpflichtung auf das Gesetz
V. Die Synagoge
VI. Heirat und Familie
VII. Tod, Begräbnis, Jenseits
Hinweise zum Weiterlesen
Register
Eine Religion kurz vorzustellen, ist immer mit Schwierigkeiten verbunden und der Gefahr grober Vereinfachungen, Verkürzungen und damit auch Verzerrungen ausgesetzt. In besonderer Weise gilt dies für die jüdische Religion, und zwar im wesentlichen aus zwei Gründen:
Der Begriff „Religion“ ist auf das Judentum nur mit Vorbehalt anzuwenden. Die hebräische Sprache hat gar kein Wort für Religion – das heute dafür verwendete Wort dat, ein Lehnwort aus dem Persischen, bedeutet eigentlich „Gesetz, Anordnung“. Anders als etwa im Christentum läßt sich nicht zwischen religiösen und profanen Bereichen des Lebens unterscheiden. Das sieht man schon daran, daß das traditionelle Judentum keinen Religionsunterricht kannte: Das ganze Leben ist Religion. Das Aufwachsen in einem jüdischen Haus ist ebenso Religionsunterricht, Einübung in das Judesein, wie auch schon das Lernen des hebräischen Alphabets Einführung in die Sprache der Bibel und damit der Verständigung Gottes mit seinem Volk ist. Wie man sich kleidet, was man ißt, gehört ebenso zur „Religion“ wie Gebet und Gottesdienst der Synagoge. Im jüdischen Leben ist nichts wirklich profan; alles ist religiös. Die Geschichtserfahrung von der Schöpfung über die Zeit der Erzväter und die Offenbarung am Sinai bis hin zu Holocaust und den Ereignissen der Gegenwart ist Teil der religiösen Wirklichkeit. Ebenso grundlegend gehört aber auch die Erfahrung der Gemeinschaft dazu, das Eingebundensein in das Volk Gottes – und zwar nicht nur als abstrakter Begriff, sondern in der konkreten Alltagserfahrung: Gemeinde, Volk, Nation, Land und Staat Israel und Religion lassen sich nicht voneinander trennen. Der „Staatsbürger jüdischen Glaubens“ ist eine Erfindung der Aufklärung, die „israelitische Kultusgemeinde“ die Ablösung der traditionellen, alles Leben umfassenden jüdischen Gemeinde bis ins späte 18. Jahrhundert (und teilweise noch länger), Ergebnis von Emanzipation und Toleranz, damit aber auch Abschieben des Religiösen in den privaten Raum.
„Das“ Judentum gibt es nicht. Es ist nicht einfach eine erstarrte Form biblischer Religion, sondern hat sich auf der Grundlage der Bibel über die Jahrtausende entwickelt. Auf Fragen der historischen Bibelkritik einzugehen, ist aus Raumgründen nicht möglich und für die Darstellung religiöser Grundvorstellungen auch nicht notwendig. Das Fehlen einer zentralen Lehrautorität ermöglichte schon im Altertum die Entfaltung verschiedener Ausprägungen jüdischen Lebens und Denkens. Im Mittelalter entwickelten sich unter je verschiedenen Umweltbedingungen der aschkenasische (i. w. mittel- und osteuropäische, später auch nordamerikanische) und der sefardische (spanische, im weiteren Sinn allgemein in islamischer Welt lebende) Zweig des Judentums; bis heute sind sie durch verschiedenes Brauchtum und Ritual getrennt, bilden verschiedene Synagogengemeinden und haben in Israel auch je eigene Oberrabbiner. Tiefgreifender sind die Unterschiede, die sich aus den Reformbestrebungen im mitteleuropäischen Judentum ab dem 18. Jh. entwickelten. In Europa sind sie nach außen vielfach durch sogenannte Einheitsgemeinden überdeckt, in Israel durch das Monopol der Orthodoxie. Am deutlichsten treten die Unterschiede in den Vereinigten Staaten Amerikas zutage: Die einzelnen Strömungen wie orthodoxes, konservatives und reformiertes Judentum sind organisatorisch, als Synagogenverbände, in Schulwesen und Rabbinerausbildung klar voneinander getrennt; daneben gibt es verschiedene kleinere Strömungen wie die Rekonstruktionisten und einen hohen Anteil von Juden, die keiner dieser Richtungen angehören und sich dennoch als Juden bewußt sind. Das Spektrum reicht vom bewußten Festhalten an Lebensformen und halakhischen („religionsgesetzlichen“) Normen, die über die Jahrhunderte aus dem Talmud und seinen Kommentaren abgeleitet wurden, über eine gewisse Anpassung an „Erfordernisse der Gegenwart“ bis zur fast völligen Aufgabe der „äußeren Schale“ von Normen und Bräuchen zugunsten der „Idee“ des Judentums, seiner Ethik und seines Geschichtsbewußtseins. Dieselbe Bandbreite jüdischen Daseins gibt es in Europa, auch wenn dies – schon wegen der meist geringen Mitgliederzahl der einzelnen Ortsgemeinden – organisatorisch gewöhnlich nicht zum Ausdruck kommt.
Dieses weite Spektrum in eine kurze Darstellung jüdischer Religion einzubeziehen, ist natürlich unmöglich. Einfach den kleinsten gemeinsamen Nenner als Basis zu nehmen, würde der Wirklichkeit auch nicht gerecht. Als Grundlinie der Darstellung gilt eine gemäßigt orthodoxe, der biblischen und talmudischen Tradition verpflichtete Lebensform, das geschichtlich Gewachsene mehr als seine Anpassungen an die Gegenwart; die übrige Bandbreite jüdischen Lebens wird dagegen nur da und dort angedeutet.
Aus dem bisher Gesagten ist wohl schon deutlich, daß jüdische Religion nicht als System von Glaubenswahrheiten dargestellt werden kann, sosehr auch Glaubensinhalte das Judentum mitprägen. Natürlich kann man den aus Religionsphilosophie und christlicher Theologie bekannten Fragenkatalog – Gott und andere himmlische Wesen, Schöpfung, Mensch, Sünde und Erlösung, Wunder und dergleichen – sinnvoll auch aus jüdischen Quellen abhandeln. Das alles spielt in jüdischer Tradition eine Rolle und doch wäre damit nur ein kleiner Ausschnitt der jüdischen Religion getroffen.
Schon aus Raumgründen behandle ich theologische Fragen hier nur im Zusammenhang mit der Praxis des religiösen Lebens. Damit ist natürlich so manches nicht in den größeren theologischen Zusammenhängen besprochen und fehlt vieles, was man sich vielleicht von der Darstellung einer Religion erwartet. Daß es Gott gibt, ist für die Bibel und die ganze jüdische Tradition selbstverständlich; Gottesbeweise haben nur die Religionsphilosophie interessiert. Das Verhältnis dieses Gottes zu Welt und Mensch hingegen ist etwas, was in das tägliche Leben eingreift und in den Gebeten seinen ständigen Ausdruck findet. Es ist zwar etwas zu kurz gegriffen, wenn man das Judentum als Religion des Tuns betrachtet, doch ist darin etwas ganz Wesentliches gesehen. Glaubens- und Sittenlehre, religiöses Leben und die ihm zugrundeliegenden theologischen Auffassungen lassen sich nicht trennen. Judesein bestimmt idealerweise das ganze Leben, das Tun ebenso wie das Denken; das Leben ist Ausdruck des Glaubens. Um das in knapper Form zu vermitteln, wurde der Lebenslauf von der Geburt bzw. vom Eintritt in das jüdische Volk bis zum Ende des Lebens und den damit verknüpften Erwartungen und Vorstellungen als der Rahmen der folgenden Skizze gewählt.
Wer ist bzw. wie wird man Jude? Die heute vieldiskutierte Frage wird gewöhnlich so beantwortet: Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat oder in halakhisch korrekter Form zum Judentum übergetreten ist. Judentum ist also zugleich Abstammungsgemeinschaft und Wahlgemeinschaft.
Gewöhnlich wird man als Jude geboren. Nicht immer allerdings war die jüdische Mutter Grundvoraussetzung für das Judeseins des Kindes. Noch im 1. Jh. wurde größerer Wert auf den jüdischen Vater gelegt. Heiratete eine Nichtjüdin in eine jüdische Familie ein, wurde von ihr ohne Notwendigkeit einer formellen Konversion die Annahme jüdischer Lebensweise erwartet; die Kinder galten als jüdisch. Die Kinder einer Jüdin hingegen, die einen Nichtjuden heiratete, ohne daß dieser zum Judentum übertrat, galten als Nichtjuden: dies macht die Geschichte des Timotheus (Apg 16,1-3) ebenso deutlich wie die Familiengeschichte des Herodes bei Josephus Flavius. Doch seit rabbinischer Zeit, d.h. nach Zerstörung des Tempels im Jahre 70, hat sich das matrilineare Prinzip allgemein durchgesetzt.
Die zeitlich und regional verschieden häufig wahrgenommene Möglichkeit der Konversion zum Judentum macht deutlich, daß die Vorstellung einer „jüdischen Rasse“ nicht haltbar ist. Zu allen Zeiten fühlten sich Menschen zur jüdischen Religion hingezogen, beeinflußt durch die Bibel und spätere jüdische Literatur wie auch durch den Besuch der Synagoge oder das persönliche Beispiel einzelner Juden oder ganzer jüdischer Gemeinden. Ob es in früher Zeit eine regelrechte jüdische Missionstätigkeit gegeben hat, ist umstritten. Jedenfalls gab es in der Antike um die meisten jüdischen Diasporagemeinden immer auch Gruppen von Sympathisanten und kennen wir aus Antike und Mittelalter spektakuläre Übertritte zum Judentum: im 1. Jh. konvertierte das Königshaus von Adiabene (Mesopotamien) zum Judentum, im 6. Jh. der König von Himjar (Jemen), im 8. Jh. die Königsfamilie der Khazaren am Schwarzen Meer. Strenge Verbote von christlicher wie islamischer Seite sowie eine stärkere Abgrenzung der jüdischen Gemeinden selbst, durch negative Erfahrungen mit Konvertiten vorsichtig geworden, ließen die Zahl der Konversionen stark zurückgehen. Doch hat es auch später immer wieder Übertritte zum Judentum gegeben. Nach Prüfung der Beweggründe für einen so schwerwiegenden Schritt, angemessener Probezeit und entsprechender Unterweisung in Lehre und Leben des Judentums erfolgt die Aufnahme des Mannes durch Beschneidung und rituelles Tauchbad, die der Frau durch.das Tauchbad allein. Dadurch wird man Nachfahre Abrahams und Saras, von wenigen halakhischen Ausnahmen abgesehen vollberechtigtes Mitglied des Bundesvolkes.
Auch wenn das Kind einer jüdischen Mutter automatisch Jude ist, wird der Knabe doch erst durch die Beschneidung am achten Tag nach der Geburt voll eingegliedert gemäß den Worten Gottes an Abraham: „Das ist mein Bund zwischen mir und euch samt deinen Nachkommen, den ihr halten sollt: Alles, was männlich ist unter euch, muß beschnitten werden. Am Fleisch eurer Vorhaut müßt ihr euch beschneiden lassen … Alle männlichen Kinder bei euch müssen, sobald sie acht Tage alt sind, beschnitten werden“ (Gen 17,10-13). Die Beschneidung war und ist bei vielen Völkern verbreitet, wenn auch meist – so im Islam – erst in der Pubertät vollzogen. Ihr ursprünglicher Sinn ist nicht eindeutig geklärt, ihre hygienische Begründung erst neuzeitlich. In der biblisch-jüdischen Tradition wurde sie jedenfalls zum Zeichen des Bundes mit Gott, zum berit mila, dem „Bund der Beschneidung“, damit grundlegendes Zeichen der Zugehörigkeit zum Judentum. Darauf zu verzichten oder sie mit einem chirurgischen Eingriff rückgängig zu machen, galt daher schon in der Zeit der Makkabäer als Abfall vom Judentum, das Verbot der Beschneidung durch den Staat als Akt der Religionsverfolgung (1 Mak 1,15.48). Zwar hat es im Reformjudentum Tendenzen gegeben, wie viele andere „äußere“ Formen jüdischer Tradition auch die Beschneidung aufzugeben oder sie zumindest nicht mehr als streng verpflichtend anzusehen, doch hat man in den letzten Jahrzehnten sich wieder verstärkt der Tradition zugewandt.
Die Beschneidung findet zu Hause, eventuell auch im Krankenhaus, meistens aber in der Synagoge statt. Wie zu allen offiziellen religiösen Akten soll ein Minjan dabeisein, die „Zahl“ von zumindest zehn jüdischen Männern als Vertretung der Gemeinde Israels, in die das Kind aufgenommen wird. Das Kind, meist in einem festlichen bestickten Kleid, wird zuerst auf den „Stuhl Elijas“ gelegt, der im Gedenken an seinen Eifer für den „Bund des Herrn“ (1 Kön 19,10; vgl. Mal 3,23f) symbolisch Ehrengast und Zeuge jeder Beschneidung ist. Dann übernimmt der Sandak, der Pate, das Kind und hält es auf seinem Schoß. Den Eingriff nimmt der Mohel vor, der „Beschneider“, ein nicht nur medizinisch, sondern v.a. religiös geschulter Mann. Dann betet der Vater: „Gepriesen seist Du, Herr unser Gott, König der Welt, der uns durch seine Gebote geheiligt und uns geboten hat, das Kind in den Bund Abrahams, unseres Vaters, einzuführen.“ Die Anwesenden antworten: „Wie er in den Bund eingeführt wurde, möge er in die Tora, zur Ehe und zu guten Taten geführt werden.“
Anläßlich der Beschneidung bekommt der Knabe auch einen biblischen Namen (neben dem bei uns ein ziviler Name geführt wird), der in Hinkunft bei allen religiösen Anlässen dient, von der Bar Mitzwa über die Aufrufung zur Toralesung bis zu Hochzeit und Grabstein. In der aschkenasischen Tradition ist dies gewöhnlich der Name eines verstorbenen Verwandten. Mädchen erhalten ihren Namen gewöhnlich am Sabbat nach der Geburt oder wenn die Mutter zum ersten Mal wieder zur Synagoge kommt. Im Anschluß an die Beschneidung findet ein Festessen statt, an dem teilzunehmen eine Mitzwa, eine religiös verdienstliche Handlung ist.
Ist der Knabe der erste Sohn seiner Mutter und stammt nicht aus priesterlicher oder levitischer Familie (worauf Namen wie Kohn, Levi u.ä. hinweisen können), muß er ausgelöst werden: „Denn alle erstgeborenen Israeliten gehören mir, sowohl bei den Menschen als auch beim Vieh. An dem Tag, an dem ich in Ägypten alle Erstgeborenen erschlug, habe ich sie als mir heilig erklärt und habe die Leviten als Ersatz für alle erstgeborenen Israeliten genommen“ (Num 8,17f). Die „Auslösung des Sohnes“ (Pidjon ha-ben) erfolgt gewöhnlich 31 Tage nach der Geburt (nicht an einem Sabbat oder Festtag): dabei präsentiert der Vater das Kind vor einem Kohen (Priester) und überreicht eine traditionell festgesetzte Geldsumme, deren Verwendung im freien Ermessen des Kohen liegt. Dieser legt dem Kind die Hände auf und spricht den Priestersegen (Num 6,24-26). Anschließend erfolgt auch hier ein religiös betontes Festmahl.
Das wesentliche Stichwort beim Eintritt in die jüdische Gemeinschaft, sei es durch Geburt und Beschneidung, sei es durch Konversion, ist der religiöse Grundbegriff des Bundes. Gott hat einst Abraham berufen, wegzuziehen aus seiner Heimat und von seiner Familie in das Land, das er ihm zeigen werde; dort werde er ihn zu einem großen Volk machen (Gen 12,1-3); in nächtlicher Vision „schloß der Herr mit Abram den folgenden Bund: Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land vom Grenzbach Ägyptens bis zum großen Strom, dem Eufrat“ (Gen 15,18). In der Gesetzgebung am Sinai wurde ganz Israel auf diesen Bund verpflichtet (Ex 24): „Der Herr, dein Gott, schließt heute mit dir diesen Bund, um dich heute als sein Volk einzusetzen und dein Gott zu werden, wie er es dir zugesagt und deinen Vätern Abraham, Isaak und Jakob geschworen hat“ (Dtn 29,11f). Zwar ist Israel im Lauf seiner Geschichte diesem Bund immer wieder untreu gewesen; Gott aber hat sich daran gehalten und ihn zu erneuern versprochen: „Denn das wird der Bund sein, den ich nach diesen Tagen mit dem Haus Israel schließe – Spruch des Herrn: Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es auf ihr Herz. Ich werde ihr Gott sein und sie werden mein Volk sein“ (Jer 31,33).
Diese biblischen Basistexte bestimmen das Selbstverständnis Israels und des Judentums bis heute. Durch den Bund ist Israel ein exklusives Verhältnis mit seinem Gott eingegangen. Noch ehe sich der Monotheismus als theoretisches Prinzip durchgesetzt hat, hat sich Israel auf seinen Bundesherrn als alleinigen Gott festgelegt und bekennt dies im täglichen Morgen- und Abendgebet: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft …“ (Dtn 6,4f). Das hebräische Wort für „Höre“, womit dieser Text beginnt, Schema, ist zur Bezeichnung des Ganzen geworden, des grundlegenden Glaubensbekenntnisses Israels, wofür man auch sein Leben einsetzen muß.
Christlicher Trinitätsglaube steht diesem absolut verstandenen Monotheismus ebenso entgegen wie jede andere Möglichkeit, sich fremde Götter zu machen. Darin wurzelt aber auch das traditionelle Bilderverbot: „Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgend etwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott“ (Ex 20,4-6). Das Bewußtsein, daß Bilder inzwischen längst ihre religiöse Bedeutung als „Götterbilder“ verloren haben, hat zwar schon in der Spätantike religiöse jüdische Kunst, ja sogar die Darstellung biblischer Szenen in Synagogen ermöglicht; doch auf Dauer hat sich das Bild in der Synagoge nicht halten können. Wie oft ein wenig vereinfachend gesagt wird, ist das Judentum eine Religion des Hörens, des Wortes, nicht des Schauens, des Bildes.
Zwar steht am Anfang der Bund Gottes mit einem einzelnen, mit Abraham. Doch von Anfang an ist dieser Bund mit Sicht auf das Volk geschlossen, das aus Abraham erstehen wird; am Sinai ist ganz Israel in diesen Bund hineingenommen worden, nicht auf jene begrenzt, die selbst am Gottesberg standen, sondern offen auf alle Zeiten und Nachfahren des Gottesvolkes hin. Das bedeutet, daß in der jüdischen Religion nicht so sehr der einzelne mit seinem persönlichen Verhältnis zu Gott im Vordergrund steht, nicht die individuelle Erlösung („Rette deine Seele“), sondern der einzelne immer auch als Vertreter des ganzen Volkes handelt und vor Gott steht. Was der von außen kommende Beobachter so oft, positiv wie auch negativ, als ehernes Zusammenhalten der Juden sieht, ist religiös begründet. Darin liegt die Bedeutung des schon erwähnten Minjan als Vertretung des Volkes vor Gott und deshalb sind auch die offiziellen Gebete gewöhnlich in der Mehrzahl formuliert. Das Bestreben, in der Diaspora nicht als Juden vereinzelt zu leben, sondern Gemeinden zu bilden, nach Möglichkeit auch eng beisammen zu wohnen (und zwar nicht nur als von außen aufgezwungenes Ghetto), erklärt sich aus der religiösen Orientierung auf Gemeinschaft und der Notwendigkeit einer solchen für ein volles religiöses Leben. Zwar darf man diesen kollektiven Aspekt jüdischer Religiosität nicht verabsolutieren; doch die Schwerpunktsetzung stimmt so. „Ganz Israel ist füreinander verantwortlich“ (Schebuot 39 a).
Zugleich bedeutet das, daß ganz Israel, jeder Jude, in die gesamte Geschichte seines Volkes hineingestellt ist. Die Erfahrung der Erzväter, der Auszug aus Ägypten, die Offenbarung am Sinai und die Volkwerdung im Land der Verheißung werden eigene Geschichte jedes einzelnen, das je eigene Leben bestimmend, das ständige Heute. Wie keine andere Religion ist die des Judentums auf Geschichtserfahrungen gegründet, vom Glauben an ein Handeln Gottes in der Geschichte geprägt. Nicht nur die Grunderfahrungen biblischer Geschichte bestimmen jüdisches Selbstbewußtsein und den liturgischen Rhythmus des Jahres, auch spätere Geschichte wie Zerstörung des Tempels, Verfolgungen während der Kreuzzüge bis zu den Grauen des Holocaust geht in das kollektive Gedächtnis ein. Zakhor, „Gedenke!“, ist eine Aufforderung, die fast refrainhaft die Bibel durchzieht und, auch wenn zeitweise jüdische Geschichtsschreibung zu erlöschen schien, jüdische Existenz immer bestimmt hat: „Sich erinnern ist das Geheimnis der Erlösung.“
Religion und Volk, Volk und Geschichte gehören somit wesentlich zusammen. Dazu kommt aber ebenso wichtig noch ein weiteres Element, das Land. Die Berufung Abrahams und Gottes Bund mit ihm ist mit dem Versprechen verbunden, daß Gott seinen Nachkommen das Land vom Grenzbach Ägyptens bis zum Eufrat geben werde. Der Einzug der Israeliten in das Land der Verheißung ist Endpunkt einer langen Entwicklung der Volkwerdung, zugleich aber auch der religiösen Erfüllung. Am Sinai hatte Israel die Tora erhalten; ein Großteil ihrer Bestimmungen waren aber mit der Klausel verbunden, daß sie erst im Land Israel gültig würden, wie besonders das Deuteronomium immer wieder betont: „Hiermit lehre ich euch, wie es mir der Herr, mein Gott, aufgetragen hat, Gesetze und Rechtsvorschriften. Ihr sollt sie innerhalb des Landes halten, in das ihr hineinzieht, um es in Besitz zu nehmen … Daher sollst du auf seine Gesetze und seine Gebote, auf die ich dich heute verpflichte, achten, damit es dir und später deinen Nachkommen gut geht und du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt für alle Zeit“ (Dtn 4,5f. 40).