Henning Mützlitz, geboren 1980, stammt aus dem nordhessischen Battenberg/Eder. Er studierte Politikwissenschaft in Marburg und ist seit einem Volontariat in einer Zeitschriftenredaktion als freier Journalist und Schriftsteller tätig. Neben Veröffentlichungen in Tageszeitungen und Zeitschriften hat er verschiedene Romane und Sachbücher verfasst. Henning Mützlitz lebt mit seiner Familie in Nürnberg.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur Schmidt & Abrahams GbR, Speyer.
© 2015 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: iStockphoto.com/ivan-96, shutterstock.com/Ase
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Lektorat: Lothar Strüh
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-893-9
Historischer Kriminalroman
Originalausgabe
Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons:
Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de
Bedenke, was du verlieren kannst,
dann wirst du verschmerzen,
was du noch nicht erworben hast.
Lettisches Sprichwort
EIN KAUFMANN
Lübeck, 30. Ernting im Jahr des Herrn 1376
»Man wird dich in deine ewige Heimat tragen, trauernd dich auf dem letzten Weg begleiten. Denn der Leib gehört zur Erde, und der Geist kehrt zu Gott zurück, der ihn gab.«
Stille senkte sich über die Kathedrale, nachdem Bischof Cremon die letzten Worte gesprochen hatte. Die Feier für die Verstorbenen war beendet, ihre Seelen waren für alle Zeiten dem Herrgott anempfohlen worden.
Den trauernden Angehörigen wurde die letzte Gelegenheit gegeben, sich von Johann und Hermann Wallersen zu verabschieden. Die Händlerfamilie hatte in diesem Spätsommer Vater und Sohn verloren, das Oberhaupt und den Stammhalter einer stolzen Dynastie.
Zurück blieb die Witwe Ingeburg, die gramgebeugt und gestützt von ihrer Tochter Margarethe zu den aufgebahrten Leichen trat. Ein Wimmern drang zu den verbliebenen Söhnen Jacob und Gerhard herüber. Die Brüder warteten in respektvollem Abstand, während die Mutter Abschied von ihrem Gatten und Erstgeborenen nahm.
Dem jüngsten Sohn Gerhard schien der Tod von Vater und Bruder nicht sonderlich nahezugehen. Statt Sturzbächen von Tränen über die Wangen ergossen sich Rinnsale aus Schweiß von Stirn und Schläfen. Die drückende Schwüle des Doms setzte ihm offenkundig mehr zu als das Schicksal, das die Familie urplötzlich dezimiert hatte.
Jacob konnte es ihm nicht verdenken. Auch er spürte, wie ihm der Schweiß den Rücken hinunterlief. In der stickigen Luft vermochte er nur schwer zu atmen, und der penetrante Verwesungsgeruch der Leichname tat sein Übriges. Wenige Augenblicke zuvor hatte Jacobs Ehefrau Elisabeth neben ihm gewürgt und mit der Beherrschung gerungen, um sich nicht auf den Fußboden des Gotteshauses zu übergeben. Sie hatte sich nun auf eine Bank an der Mauer der Seitenkapelle niedergelassen. Eine andere Frau, die Jacob nicht kannte, fächerte ihr Luft zu. Er blickte sie fragend an, und Elisabeth bedeutete ihm, dass es ihr wieder besser ging.
Jacob hoffte, dass seine Mutter bald den Weg freigeben und seinen endgültigen Abschied von Vater und Bruder ermöglichen würde. Es war Zeit, diese ganze Sache hinter sich zu lassen, kreisten seine Gedanken doch mehr um die Zukunft, als dass sie sich der Trauer des Augenblicks zu widmen vermochten. Seine Hoffnung wurde enttäuscht, denn das Gegenteil schien der Fall zu sein. Die Mutter war mittlerweile auf die Knie gesunken und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Sie schien nicht akzeptieren zu können, dass dieser Abschied endgültig war.
Kann es nicht endlich vorbei sein?, flehte Jacob innerlich und blickte sich im Dom um. Während sich der Bischof bereits zurückgezogen hatte, wartete eine kleine Schar Kaufleute und Bürger darauf, den Toten nach der Familie ebenfalls die letzte Ehre zu erweisen. Sein Blick wanderte durch ihre Gesichter. Es sind weniger, als ich erwartet hätte. Aber was habe ich eigentlich erwartet? Habe ich gedacht, dass sich irgendjemand um unsere Familie schert, wenn das Leben in der Stadt wieder in die gewohnten Bahnen zurückkehrt?
Lübeck hatte in den vergangenen Tagen tatsächlich ganz andere Sorgen als das Ableben eines bekannten Fernkaufmanns gehabt. Die Wallersens waren an jenem Tag im Spätsommer verstorben, der vielen Einwohnern noch lange im Gedächtnis bleiben sollte. Nach wochenlanger Hitze hatte sich der Himmel endlich über den Dächern der Kirchen und Giebeln der Stadthäuser ausgegossen. Die meisten Bürger waren der festen Überzeugung gewesen, dass nun die göttliche Strafe für die Sünden der Stadt vollzogen wurde und der Herr seine irdische Schöpfung von den Verfehlungen der Fernhändler und Kaufleute, Handwerker und Krämer, Bettler und Huren reinzuwaschen trachtete.
In den heiligen Hallen der lübischen Kirchen, allen voran St. Marien, St. Petri und dem Dom, waren darum in den vergangenen drei Tagen viele verängstigte Seelen zusammengekommen, um am vermeintlichen Vorabend des Jüngsten Tages ihre Sünden zu beichten sowie um Milde und Vergebung zu bitten. Schließlich hatten diesmal nicht nur vereinzelte Prediger, sondern selbst der Bischof von einer »reinigenden Sintflut« gesprochen, die unerbittlich nahte.
Lübeck hatte gebetet. Lübeck hatte auf Verschonung gehofft, und am achtundzwanzigsten Tage des Ernting, des ersten Erntemonats, war das Flehen erhört worden. Die Wolken lichteten sich, nach und nach brach die Sonne hindurch und vertrieb mit dem Regen auch die Düsternis aus den Herzen der Bevölkerung.
Doch während die Pfützen in den Straßen und Gassen der Königin der Hanse allmählich verdampften, wollten die Tränen im Gesicht von Ingeburg Wallersen keineswegs trocknen. Ohne Unterlass strömten sie die Wangen der vom Schicksal so gebeutelten Witwe hinab, als ihre Tochter sie endlich von den Leichnamen wegführte.
Jetzt war es so weit. Jacob nickte seiner Schwester Margarethe, die keine Miene verzog, kurz zu und trat zu den Aufgebahrten, Elisabeth an seiner Seite. Während er von ihr ein leises Schluchzen vernahm, regte sich in ihm nur wenig. Da war keine Trauer, keine Bestürzung über den Tod, der von einem auf den anderen Moment alles verändert hatte. Aber er verspürte auch keineswegs Freude. Eher empfand er überhaupt nichts, während er ins Leere starrte, darum bemüht, die Augen nicht zu lange auf den aufgedunsenen Körpern verharren zu lassen. Da war einzig das schweigende Erdulden einer Tatsache, der er sich in Anbetracht der Toten ab sofort zu stellen hatte: Er, jüngerer und oft geschmähter Sohn von Johann Wallersen, musste von nun an die Familie führen.
Wenn sich überhaupt so etwas wie ein Gefühl in ihm regte, dann eine gewisse Wut auf seinen Bruder Hermann, dafür, dass er ihm eine Aufgabe überlassen hatte, auf die niemand außer ihm selbst vorbereitet worden war.
Zu jung, zu plötzlich und zu unerwartet für eine Familie, die eben noch mit der Tatsache umgehen musste, dass ihr Oberhaupt ins Himmelreich abberufen worden war, hatte auch der Stammhalter sein irdisches Dasein beendet. Als der Vater das Ringen mit dem Tod verloren hatte, setzte vor Bestürzung ob dieser Gewissheit auch sein Herz aus. Hermann war nur wenige Stunden nach Johann aus dem Leben geschieden. Dem Hause Wallersen war durch diesen perfiden Streich von Gevatter Tod das Haupt gleich zweifach abgetrennt worden.
»Gott empfohlen«, hörte er Elisabeth neben sich murmeln, bevor sie sich von den Leichen abwendeten.
Göttlicher Henker, dachte Jacob, wem gegenüber bist du grausamer: denjenigen, die du mit einem Hieb niederstreckst, oder denjenigen, die du zurücklässt?
Das Leben in den Straßen und Gassen Lübecks normalisierte sich wieder. Als man dessen gewahr wurde, dass die große Sintflut ausgeblieben war, und man sich des eigenen Seelenheils versichert hatte, richteten sich viele Augen auf das Haus der Wallersens an der Obertrave. Nicht nur flüsternd wurde darüber gesprochen, ob der Herrgott die Familie daran erinnern wollte, bei allem Streben nach irdischem Reichtum und Einfluss immer auch ein geregeltes Maß an Demut walten zu lassen. Jeder war froh, dass es nicht ihn getroffen hatte, und somit schien jede lübische Mark, die in die Hände des Klerus gewandert war, gut in das eigene Seelenheil investiert zu sein.
Die Familie der Verstorbenen war in der Stube ihres Hauses zusammengekommen. Fünf Tage nach dem Verscheiden ihres Oberhaupts und seines Nachfolgers mussten Entscheidungen getroffen werden. Bei aller Trauer waren diese unumgänglich und setzten einen klaren Verstand voraus, wollten die Wallersens nicht führerlos durch den widrigen lübischen Herbst des Jahres 1376 schlingern. Es gab eine Zeit für Tränen, eine Zeit für Gram und Kummer, doch ungeachtet von Leben und Sterben blieb der Lauf der Dinge in Lübeck stets in Gang, ganz gleich, ob die zu Betrauernden arm oder reich, bekannt oder bedeutungslos, alt oder jung waren. Der ewige Handel und Wandel, der niemals enden wollende Kreislauf von Waren, der sich am Zusammenfluss von Wakenitz und Trave vollzog, richtete sich nach anderen Erfordernissen. Angebot und Nachfrage, Bedürfnis und Bedarfsdeckung, Gewinn und Verlust bestimmten über das Wohl und Wehe einer Familie. Scherte das Haus eines Patriziers für einen Augenblick zu lange aus diesen Notwendigkeiten aus, fanden sich in den Rechnungsbüchern der Buchhalter alsbald Zahlen wieder, die so rot waren wie das Blut, das Johann Wallersen im Todeskampf gespuckt hatte.
Den Vorsitz über den Familienrat führte zum ersten Mal Jacob, der sich unverhofft in der Rolle des pater familias wiederfand. Neben seiner Mutter Ingeburg waren Elisabeth, seine Geschwister Margarethe und Gerhard sowie der greise Kontorverwalter Ludewijk anwesend, um über das Kommende zu beraten.
Jacob fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut. Von einem auf den anderen Tag fand er sich in einer Stellung wieder, die er niemals erwartet hatte. Tatsächlich hatte er diese Vorstellung nicht einmal in seine Wünsche oder Gebete eingeschlossen. Seine Begeisterung galt seit jeher anderen Dingen, und er war heilfroh darüber gewesen, mit den geschäftlichen Belangen der Familie nichts am Hut zu haben.
Kurz hatte er darüber nachgedacht, das Erbe auszuschlagen, das Vermächtnis des Vaters gar nicht erst anzutreten und die Verantwortung von sich zu weisen. Mahnende Worte von seiner Mutter und Ludewijk hatten ihn allerdings davon überzeugt, sich der Situation zu stellen und den Vorsitz der Familie einzunehmen. Tatsächlich hatten sie ihm verdeutlicht, dass es keinen anderen Ausweg für ihn gebe, wolle er nicht in Schimpf und Schande aus der Stadt gejagt werden, bar jeden Anspruchs auf familiäre Zuwendungen.
So fand er sich nun am Kopf des Tisches wieder, an dem der Vater jahrzehntelang gethront und Entscheidungen zum Besten der Familie getroffen hatte. Die erste Maßnahme des jungen Stammhalters war gewesen, den venezianischen Lehnstuhl, der eher einem Herrschersitz gleichkam, zu entfernen und durch einen gewöhnlichen Stuhl mit Lederbezug zu ersetzen. Er unterschied sich somit nicht mehr von den anderen, auf denen die übrigen Familienmitglieder saßen.
Jacob betrachtete die Runde. Während die Mutter gramgebeugt und leise schluchzend auf die Tischplatte starrte, traf er auf die Blicke der Geschwister, die nicht unterschiedlicher hätten ausfallen können. Margarethe begegnete ihm mit einer Miene, als säße sie Modell für einen Bildhauer. Das blonde Haar war zurückgebunden, und sie trug ein einfaches schwarzes Kleid, das nur an Hals und Bünden mit Seidenspitze abgesetzt war. Gleichmäßig im Gesicht aufgetragener Puder verstärkte den Kontrast noch.
Gerhard hingegen lehnte sich zurück, als erwarte er eine Theateraufführung. Die Arme vor dem Körper verschränkt, blickte er spöttisch in die Runde. Offenkundig amüsierte ihn die Versammlung der Familie, dem traurigen Anlass zum Trotz. Wie gewöhnlich kümmerte er sich nicht um sein Äußeres. Das strähnige Haar fiel ihm ins Gesicht, das Wams war verschmutzt, und ein Dunst aus Schweiß und Alkohol drang zu Jacob herüber. Gott allein wusste, wo er sich in der Nacht zuvor wieder herumgetrieben hatte. Wahrscheinlich in der Engelsgrube oder ähnlichen Budenquartieren im Norden der Stadt, in denen das gemeine Volk seine Gelage abzuhalten pflegte.
Der Sohn des Patriziers atmete tief durch, bevor er das Wort ergriff. »Dominus vobiscum!«
Nach einigem Zögern antworteten die anderen mit: »Et cum spiritu tuo.« Verwunderung stahl sich in die Züge seiner Schwester, und Jacob musste innerlich schmunzeln, dass er ihre Selbstbeherrschung auf so einfache Art und Weise hatte durchbrechen können, richtete doch sonst nur ein Priester diese Worte an seine Gemeinde. Er hatte lange darüber nachgedacht, wie er die Sitzung beginnen sollte. Die Beratung unter den Geist des Herrn zu stellen, schien ihm eine angemessene Geste zu sein, benötigten sie doch mehr als je zuvor den himmlischen Beistand. Sich gewissermaßen nicht ganz alleine an den Kopf des Tisches zu setzen, erfüllte Jacob mit etwas mehr Zuversicht.
»Unter dem Schutz des Herrn sind wir nach dem Verscheiden unseres geliebten Vaters und unseres ebenso geliebten Bruders zusammengekommen, um Entscheidungen darüber zu treffen, wie unsere Familie ihrer ungewissen Zukunft begegnen wird«, fuhr er umständlich fort. »Die Aufgabe, das Haus zu führen, fällt mir zu, obwohl ich mich nur leidlich darauf vorbereitet fühle, diese Bürde zu tragen.«
Margarethe schüttelte den Kopf. »Bürde. Dass ich nicht lache!«
»Liebe Schwester«, erwiderte Jacob, »in der Tat fasse ich es in erster Linie als Bürde auf, eine über Jahrzehnte erfolgreiche Unternehmung fortzuführen, und, lass mich das ganz offen sagen, mehr als einmal habe ich in den vergangenen Tagen darüber nachgedacht, mich dieser Herausforderung zu entziehen.«
»Was bei Gott keinesfalls in Frage kommt«, unterbrach ihn jetzt seine Mutter, die zum ersten Mal den Kopf hob. »Wir empfangen Lohn, und wir empfangen Strafe durch den Herrgott. Ob er es ist, der all dies zulässt, oder ob uns der Teufel noch schlimmer mitspielt: Ein Wallersen steht immer zu seiner Verantwortung, seinem Erbe und seiner Familie.«
»Das habt Ihr mir mehr als deutlich gemacht, Mutter«, gab Jacob nickend zurück und schluckte den Kloß herunter, der sich in seinem Hals gebildet hatte. Er spürte die Hand seiner Frau Elisabeth auf der seinen, was ihm Mut machte weiterzusprechen. »Ich renne nicht davon, wenngleich ich mich am Anfang eines Noviziats wähne, dessen Ende kaum zu erfassen ist in Anbetracht der Lebensleistung des Vaters.«
Die Mutter machte eine abwinkende Handbewegung. »Stell dein Licht nicht unter den Scheffel, Jacob. Du hast wie deine Brüder sieben Jahresläufe die beste Winkelschule Lübecks besucht – die deinen Vater im Übrigen ein Vermögen gekostet hat. Dort hast du alles gelernt, was für die Aufgabe notwendig ist.«
»Und ein gerüttelt Maß an Prügel bezogen«, warf Gerhard lachend ein, was ihm einen bösen Blick seiner Schwester einbrachte.
»Auch das hat dich hoffentlich eine gewisse Demut gelehrt, ja«, fuhr die Mutter fort. »Du magst nur ein Geselle sein, dennoch wirst du unter Ludewijks Führung zur Meisterschaft gelangen. Du wirst dem Vater späte Dankbarkeit für seinen Großmut erweisen und das Haus zu führen wissen, wie es dein Bruder getan hätte.« Sie lehnte sich zurück und blickte Jacob in die Augen. Er erkannte darin Entschlossenheit, die für den Moment über die Trauer obsiegte.
Als er etwas entgegnen wollte, ergriff seine Schwester das Wort. »Nein, Mutter, nein!«, rief sie und sprang auf. »Ihr wollt diesen … Hans-guck-in-die-Luft tatsächlich mit Hermann vergleichen? Das lasse ich nicht zu!«
»Wir fragen dich nicht um Erlaubnis, Margarethe. Er ist dein Bruder, und du hast ab jetzt zu tun, was er sagt, ob es dir gefällt oder nicht.«
»Mag sein, aber Hermann war bereit dafür, diese Aufgabe zu übernehmen. Er stand seit Jahren an Vaters Seite, kannte seine Geschäfte und Handelspartner. Er war Bergenfahrer, hat Brügge und Reval gesehen. Er hat uns die Tuchverträge beschafft und die Gewandschneiderei eröffnet. Hermann hätte es zum Ratsmann schaffen können, er war angesehen und beliebt, ein echter lübischer Kaufmann.«
Sie deutete auf Jacob. Ein zornerfüllter Blick traf ihn. »Und jetzt seht Euch Jacob an. Jacob, der lieber Kritzeleien angefertigt hat, anstatt richtig schreiben zu lernen. Jacob, der sich bei seiner einzigen Seefahrt ohne Unterlass übergeben musste, bis man ein Einsehen hatte und umkehrte. Jacob, der flandrisches Tuch nicht von englischem Leinen unterscheiden kann. Jacob, der Vater immer wieder zum Gespött der Leute gemacht hat mit seinen Phantastereien, mit seinen Zeichnungen, mit seinem zweifelhaften Umgang. Seht Ihr das denn nicht? Jacob wird unser Untergang sein, Mutter!«
Einen Moment lang herrschte Stille. Keiner wusste etwas auf den Ausbruch von Margarethe zu entgegnen. Jacob war überrascht und schockiert darüber, welcher Hass ihm von Seiten seiner Schwester entgegenschlug.
»Erzittert vor dem Zorn der Jungfer! Fürchten müssen sich jene, denen sie Rache geschworen!«, durchbrach Gerhard lachend die Stille. »Ganz ehrlich, ich fühle mich gerade als Teil einer fahrenden Schauspieltruppe, die sich über die sogenannte bessere Gesellschaft lustig macht. Was schlägt denn die feine Dame vor? Will die werte Schwester etwa an die Stelle des Vaters treten? Ich fürchte, dann machen wir nur noch in Tuch und Seide oder kaufen sämtliche Talkumbestände in Goslar auf. Unser gesamtes Handelsvermögen wird in ihr persönliches Wohlgefallen investiert. Da scheint mir Jacob fähiger zu sein.«
Margarethe fuhr bei seinen Worten herum. »Schweig! Der Teufel soll dich holen, Gerhard!«
Mutter Wallersen sprang nun ebenfalls auf. Sie zog Margarethe zu sich und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige. Als die Tochter vor Überraschung und Schmerz aufschrie, folgte eine weitere. »Still jetzt! Hüte deine Zunge und setz dich hin!«
»Aber Mutter, seht Ihr denn nicht …«, schluchzte Margarethe.
Ein dritter Schlag mit der flachen Hand folgte. »Dich hat niemand gefragt, und du hast dazu nichts zu sagen. Ich will nichts mehr hören!«
Margarethe sank auf dem Stuhl zusammen, eisern um Fassung bemüht.
Die Mutter nahm ihren Platz wieder ein. Die Trauer hatte tiefe Furchen in ihr Gesicht gegraben, dennoch hatte sie jetzt jene Beherrschung zurückerlangt, die sie als starke Frau an der Seite des Patriziers Johann Wallersen ausgezeichnet hatte. Während Margarethe die Tränen übers Gesicht liefen, erschien auf ihrem Antlitz nun jene Maske, die ihre Tochter zuvor zur Schau getragen hatte. »Ihr bereitet dem Andenken Eures Vaters bereits Schande, kaum dass er verschieden ist. Demut und Dankbarkeit sind die Tugenden, die ihr euch auf die Fahnen schreiben solltet. Jeder von euch.« Sie blickte Jacob mit festem Blick in die Augen. »Es ist beschlossen. Jacob, und Jacob allein, wird das Haus führen. Er wird dabei nicht versagen.«
Jacob schüttelte endlich die Verwirrung über die so offen ausgetragenen Konflikte zwischen den Geschwistern und der Mutter ab und rief sich das in Erinnerung, was er sich ursprünglich einmal als Ansprache an die Familie zurechtgelegt hatte. »Euch … Euch sei gedankt für Euer Vertrauen, Mutter. Es mag ihr nicht zustehen, so zu sprechen, aber Margarethe hat nicht ganz unrecht. Zumindest, was meine Erfahrung als Kaufmann angeht. Ja, es stimmt, dass ich anderen Dingen wie der Malerei oder der Dichtkunst zugeneigter gewesen bin als dem Abschluss von Geschäftsverträgen. Ich habe mich immer darauf verlassen, dass Hermann in die Fußstapfen des Vaters treten wird. Nie habe ich einen Zweifel daran gehegt, dass er derjenige sein würde, der dem Namen Wallersen einen noch größeren Wohlklang verleiht, es vielleicht gar zum Bürgermeister oder Ältermann bringt. Doch der Herrgott hat es anders gefügt. Wir können zaudern und hadern, wir können in Trauer versinken oder uns gegenseitig zerfleischen. Es ändert nichts daran, dass es nun uns obliegt, zu bewahren, was aufgebaut wurde. Elisabeth und ich können euch nur darum bitten, an unserer Seite zu stehen und unser Schiff in den Stürmen des Schicksals, durch die wir es nun manövrieren müssen, über Wasser zu halten. Ich mag ein unbedarfter Kapitän sein, doch ich habe mit Ludewijk den erfahrensten Steuermann an meiner Seite, den man sich vorstellen kann. Alleine werden wir es schwer haben, aber gemeinsam werden wir Kummer und Zwist überwinden und bald schon frohen Mutes in die Zukunft blicken. Lasst uns dafür zum Herrgott beten.«
Er atmete tief durch, faltete die Hände und blickte erwartungsfroh in die Runde. Doch wo Jacob auf Zuversicht und Zuspruch gehofft hatte, las er in den Gesichtern lediglich Trauer, Hass und Spott.
Im Halbdunkel des Frühabends herrschte an den Anlegestellen der Untertrave immer noch reges Treiben. Solange es noch Licht gab, nutzten die Kaufleute jede Gelegenheit, ihre Waren auf Schiffe oder in die nahe dem Hafen gelegenen Lagerhäuser zu schaffen.
Jacob hatte das Haus gleich nach dem Ende des Familienrats verlassen. Er musste noch einmal Luft schnappen, was nicht nur nach der Sommerhitze Abkühlung verschaffte, sondern seine Gedanken ein wenig ordnete. Während er an den vor Anker liegenden Koggen, Kraiern und Schniggen vorbeischlenderte, versuchte er, nicht an Streit und Tod zu denken. Stattdessen beobachtete er die Seeleute und Lagerarbeiter, die unter den Argusaugen der Kontorverwalter und städtischen Zöllner Schwerstarbeit verrichteten.
Für die gewaltigen Mengen an Waren, die hier jeden Tag umgeschlagen wurden, stand nur ein kümmerlicher Lastkran zur Verfügung, sodass vor allem die Händler der Mittelschicht ihre Fracht von Hand durch ganze Hundertschaften von Trägern verladen lassen mussten. Flachs und Hanf für die Tuchproduktion in Flandern, dutzendweise Fässer mit dem Exportbier der lübischen Seebrauer, das »weiße Gold« aus den Salinen des norddeutschen Hinterlands sowie die Erzeugnisse regionaler Handwerker wurden von Karren auf die Schiffe geladen. Hier an den Anlegerkähnen, den sogenannten Prähmen, ankerten gewöhnlich auch die Koggen des Hauses Wallersen, wenn sie in Lübeck waren. Doch derzeit war keiner der Handelssegler in der Stadt, alle wurden erst in den kommenden Wochen zurückerwartet.
Jacob bahnte sich den Weg zwischen Ochsenkarren und schreienden Lastenträgern hindurch und blickte zum Stadthügel hinauf. Während sich rechter Hand von ihm die Doppeltürme der Marienkirche schattengleich vor dem östlichen Horizont abzeichneten, erkannte er am Nordende der Stadt den schlanken Turm der Burgkirche des Dominikanerklosters. Sie war der Heiligen Maria Magdalena geweiht, und Jacob schmunzelte, war sie doch erst während des Gewitters vor wenigen Tagen bei tausendfachen Stoßgebeten in aller Munde gewesen.
Der junge Kaufmann wünschte, dass auch über ihn ein Heiliger wachen möge angesichts der künftigen Herausforderungen. St. Nikolaus, der den Kaufleuten und Seefahrern der Hanse allgemein als Schutzpatron diente, schien doch allzu oft bemüht zu werden, als dass er auch ihm persönlich in seinen Belangen beistehen könnte. Nicht nur die Händler, auch viele andere Gruppen hatten sich den Heiligen als Patron erwählt, sodass er in den Straßen und Gassen Lübecks allerorten präsent war, sei es bei Handwerkern wie den Schneidern, Küfern und Bäckern oder gelehrten Berufen wie den Juristen oder Apothekern. Auch bei den Scholaren der Dom- und Winkelschulen wachte er, ebenso bei den Huren und Lustknaben, selbst den Gefangenen und ihren Wärtern diente der Bischof von Myra als Segens- und Trostspender.
Die Wucht, mit der seine neue Stellung über ihn hereingebrochen war, hatte Jacob trotz aller Vorbereitung aus der Fassung gebracht. Es war in seiner Familie nicht üblich, dass Meinungsverschiedenheiten so offen ausgetragen wurden, schon gar nicht vor den Eltern. Zu Lebzeiten des Vaters war so etwas nie vorgekommen, und wenn doch, hätte es Johann Wallersen nicht bei einigen Backpfeifen bewenden lassen.
Jacob war vor allem von seiner Schwester enttäuscht. Gut, sie hatten sich nie sonderlich nahegestanden, stets hatte sie zu Hermann, dem ältesten der vier Kinder, aufgeblickt. Allerdings konnte sich Jacob nicht daran erinnern, dass Margarethe jemals derart abwertend über seine Interessen oder seinen Umgang gesprochen hätte. Tatsächlich war er davon ausgegangen, dass er von ihr Unterstützung und Beistand erhielte, während die Mutter ihn mit aller Härte spüren ließe, wen sie lieber auf dem Stuhl am Kopf der Familientafel sähe. Stattdessen war es umgekehrt gekommen.
Als der junge Kaufmann die Beckergrube hinauf zur Breiten Straße lief, wurde ihm klar, dass er die heftigsten Kämpfe in der nächsten Zeit vor allem gegen seine Nächsten führen musste. Der Vater hatte stets mit harter Hand regiert, doch selten war er gezwungen gewesen, diese auch einzusetzen, denn die ganze Familie respektierte ihn als Oberhaupt, dessen Wort Gesetz war. Margarethe hingegen konnte nicht akzeptieren, dass er, der unbedarfte Jacob, nun diese Stellung bekleiden würde. Eigentlich konnte er es ihr nicht verübeln, war doch viel zu wenig Zeit seit dem Ableben von Vater und Bruder vergangen, als dass man bei klarem Verstand sein konnte. Überraschenderweise hatte seine Mutter eben jenen bewiesen. Dies war das zweite Ergebnis des Familienrats, das für Jacob unerwartet eingetreten war. Sollte sie letztlich doch das Vertrauen in ihn entwickeln, das sie ihm bislang versagt hatte? Oder unterwarf sie sich ganz einfach den Notwendigkeiten, vor die das Haus Wallersen im Zuge der tragischen Ereignisse gestellt wurde?
Jacob grübelte einige Zeit über diese Frage. Ihm wurde bewusst, wie schlecht er seine Familie eigentlich kannte und wie sehr er sich in den vergangenen Jahren nur um seine eigenen Belange gekümmert hatte. Dass ihn ein einziges Streitgespräch derartig verwirrt zurückließ, war demnach keine Überraschung. Das Einzige, das ihm gewiss zu sein schien und nicht hinterfragt werden musste, war der Rückhalt seiner Ehefrau. Die Mutter konnte er nicht einschätzen, und von der Schwester war er enttäuscht worden. Sie hatte sich seine Unsicherheit zunutze gemacht, sozusagen seine heruntergenommene Deckung ausgenutzt und ihn kalt erwischt.
Als er den Rundgang durch die Stadt beendet hatte und die Stufen zur Eingangstür des Giebelhauses an der Obertrave hinaufstieg, reifte eine Erkenntnis in ihm. Früher oder später musste er seiner Schwester die Grenzen aufzeigen, wenn er in seiner neuen Stellung einigermaßen respektiert werden wollte. Er durfte ihr nicht erlauben, erneut so offen gegen ihn das Wort zu ergreifen und seine Autorität in Frage zu stellen. Noch konnte er ihr in Anbetracht von Wut und Trauer verzeihen. Zukünftig war ein solches Verhalten jedoch nicht mehr duldbar, wenn er auch nur halbwegs in die Fußstapfen seines Vaters treten wollte.
Jacob fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken daran. So etwas hatte er sich nie gewünscht.
Zwei Stunden später kam Jacob mit Ludewijk in der Schreibstube des Kontors zusammen. Der alte Flame sollte ihm einen Überblick über die letzten Transaktionen und Geschäftsbeziehungen des Vaters verschaffen.
Draußen prasselte der Regen wieder auf die Pflastersteine an der Obertrave. Das Wasser floss in Strömen durch die Straßen und Gassen im Kaufmannsviertel oberhalb des Doms. Marles-, Dankwarts- und Hartengrube glichen eher einem Zufluss der mittlerweile wieder gut gefüllten Trave, wie es sie vor den Toren der Stadt in Form von Bächen und Weihern zuhauf gab.
Wenigstens spülen sie den Unrat in den Fluss, dachte Jacob, als er den Blick von dem Butzenfenster und dem Schleier aus Tropfen abwandte. Er war dankbar dafür, dass sein Vater vor einigen Jahren die Fenster mit venezianischem Glas hatte ausfassen lassen. Nur die Oberschicht konnte sich einen derartigen Luxus leisten, hinaus in den Regen zu sehen, ohne dass die Nässe hereinkam. Auch der Gestank, der sich in den vergangenen Wochen wie eine Glocke über die Travestadt gelegt hatte, war mit dem Niederschlag verschwunden. Wo man ging und stand, überall hatte es nach jenem gerochen, was die Lübecker Bürger täglich in die Abflussrinnen und den Fluss entsorgten. Mehr als eine begüterte Dame war unter dem Eindruck des fauligen Odems, der sich vor allem im Süden der Stadt um den Dom herum festgesetzt hatte, vor Jacobs Augen in Ohnmacht gefallen. Dort, an Mühlen- und Krähenteich, hatte es am schlimmsten gestunken, waren von den Wasserreservoirs doch nur noch schlammige Löcher übrig geblieben, die großen Jauchegruben glichen. Stand der Wind ungünstig, war es beim Gottesdienst im Dom kaum auszuhalten gewesen. Daran konnten auch die Unmengen an Weihrauch, die die Messdiener entzündet hatten, kaum etwas ändern.
Doch Jacob musste sich heute Abend mit ganz anderen Problemen auseinandersetzen, die der Regen nicht einfach in die See spülen konnte. Nachdem er sich seit längerer Zeit nicht mehr für die Bücher des Unternehmens interessiert hatte und die vergangenen Tage der Bestattung von Vater und Bruder gegolten hatten, war es dazu höchste Zeit. Schon am nächsten Tag standen Entscheidungen an, denen er wenigstens einigermaßen belesen begegnen wollte. Viel Schlaf würde er heute Nacht nicht bekommen, das war ihm klar. Nicht weit entfernt schlug St. Peter zur neunten Abendstunde, einer Zeit, zu der sich jeder ehrbare und vernunftbegabte Lübecker in die Sicherheit seiner eigenen vier Wände zurückzog. In der heraufziehenden Dunkelheit konnte man in manchen Straßen kaum die Hand vor Augen erkennen, führte man nicht eine Öllampe oder Fackel mit sich, die wiederum die Aufmerksamkeit der falschen Leute auf sich ziehen konnte. Abends machte sich nämlich allerlei lichtscheues Gesindel in den Gassen breit.
Wenn Jacob darüber nachdachte, wie spät es bereits war und wie wenig Überblick er über die Aufstellungen von Einnahmen und Kosten, Buchungen und Verbindlichkeiten hatte, zweifelte er erneut daran, der Aufgabe an der Spitze der Familie gewachsen zu sein. Doch er vertrieb diese Gedanken und blickte den Kontorverwalter an, der ihm gegenüber auf einer Bank Platz genommen und mehrere Stapel Papiere um sich herum ausgebreitet hatte.
»Also, Ludewijk, sagt mir, wo wir stehen«, kam Jacob direkt zur Sache. »Auch wenn die Zeit heute nicht ausreicht, um mich mit den Einzelheiten jeder Transaktion vertraut zu machen, möchte ich dennoch wissen, wie es um das große Ganze bestellt ist«, fügte er lächelnd hinzu.
»Frei heraus, mein Herr: Wir sind am Ende«, kam es postwendend zurück.
Jacobs Lächeln gefror, und er spürte, wie sein Herzschlag einen Moment lang aussetzte. Er befürchtete, in wenigen Augenblicken das gleiche Schicksal zu erleiden wie sein Bruder Hermann, doch nach dem Schreck kehrte das Organ heftig pochend zu seiner Arbeit zurück. Gleichzeitig bemerkte der junge Kaufmann, wie ihm Schweiß auf die Stirn trat und seine Hände zu zittern begannen. »Am … am Ende?«, brachte er stammelnd hervor. »Wie meint Ihr das?«
»Mein Herr, es fällt mir nicht leicht, es Euch so deutlich zu sagen, aber lasst es mich so ausdrücken: Die Liquidität des Hauses Wallersen ist aufgebraucht. Die letzten Reserven wurden für das Begräbnis der Herren Johann und Hermann nebst dem durchaus aufwendigen Leichenschmaus aufgezehrt.«
»Das ist nicht Euer Ernst!«
»Ich fürchte doch, mein Herr.«
Jacob spielte nervös mit dem Rechenschieber herum, der vor ihm auf dem Tisch stand. »Vielleicht … vielleicht haben wir gerade kein Geld in der Kasse, aber uns gehören Häuser, Werkstätten, Güter. Soweit ich weiß, fahren zu dieser Zeit fünf Koggen unsere wichtigsten Niederlassungen an. Soll nicht kommende Woche die ›Ingeborg‹ mit Wein aus Kastilien von Brügge zurückkehren? Alleine das sollte unsere Kassen wieder füllen, meint Ihr nicht?«
»Nein, mein Herr. Die ›Ingeborg‹ wird nicht zurückkehren. Sie wurde in Sluis auf die Reede gelegt und wird überholt. Danach fährt sie unter anderem Namen für Edwin van de Meijde.«
»Van de Meijde? Ist das nicht der Händler, der uns den Wein liefert?«
»So ist es. Ich fürchte, die letzte Lieferung wurde nicht bezahlt. Man sieht es in Brügge nicht gerne, wenn hansische Händler die einheimischen Kaufleute auf ihren Unkosten sitzen lassen, weshalb eine Pfändung der Kogge angeordnet wurde.«
»Unglaublich! Das dürfen wir uns nicht bieten lassen! Was sagt man im Haus der Osterlinge dazu? Wir werden die Älterleute hinzuziehen und uns das Schiff zurückholen, Ludewijk«, sagte Jacob und pochte auf die Schreibtischplatte, ohne zu wissen, ob sein Ärger berechtigt war oder nicht.
Der Kontorverwalter verneinte. »Das wird nicht möglich sein. Vor zwei Tagen erreichte uns ein Brief aus dem Brügger Kontor. Darin wird die Sachlage geschildert und die Pfändung als rechtlich einwandfrei festgestellt. Unterschrieben und gesiegelt von den Älterleuten im Haus der Osterlinge.«
Jacob sackte in den gepolsterten Stuhl zurück. »Wie konnte das geschehen? Hat der Vater versäumt, die Rechnung zu begleichen? Hat der Kapitän das Geld unterschlagen?«
»Ich kann es Euch nicht sagen, junger Herr. Mich traf das Schreiben ebenso überraschend wie Euch. In den Rechnungsbüchern wird die Transaktion als beglichen geführt, und auch Kapitän Grootekoog war ein vertrauenswürdiger Mann, wie Ihr wisst. Er fuhr mehr als fünfzehn Jahre für Euren Vater. Jetzt allerdings nicht mehr.«
»Wir müssen dieser Sache nachgehen, Ludewijk! Wen haben wir in Brügge, der uns Aufklärung verschaffen kann?«
»Markus Dorpatinger fiele mir ein. Er sitzt bei den Osterlingen und verfügt über Beziehungen zu den Weinhändlern in Kastilien und der Gascogne. Ihm könnte man einen Brief schreiben mit der Bitte um Nachforschungen.«
»Dann tut das.«
»Er wird das nicht umsonst tun, junger Herr«, wandte Ludewijk ein. »Ich bitte Euch, mit konkreten Maßnahmen noch so lange abzuwarten, bis ich Euch das volle Ausmaß dessen geschildert habe, was ich in den Büchern vorfand.«
»Was Ihr vorgefunden habt? Seid Ihr nicht derjenige, der den besten Überblick über unsere Rechnungsbücher haben müsste?«, fragte Jacob verwundert.
»Über diejenigen, die ich zu Gesicht bekam, ja. Demnach sollte die Kasse gut gefüllt sein. Doch es gab weitere, von deren Existenz ich nichts wusste, und die Verpflichtungen auflisten, denen wir dennoch nachzukommen haben.«
»Was sind das für Verpflichtungen?«
»Mir ist es heute Nachmittag gelungen, diese Listen durchzuarbeiten und die wichtigsten offenen Posten für Euch zusammenzufassen.« Ludewijk reichte Jacob ein Papier.
Der junge Mann kniff die Augen zusammen, um die Schrift des Kontorverwalters besser lesen zu können. »Zweitausendeinhundertsechsundfünfzig lübische Mark an Mannerich van Hoyten, zahlbar 5. Holzing 1376. Tausendvierhundert lübische Mark an den Rat der Stadt Lübeck als Konventionalstrafe zur Weigerung, ein Ausliegerschiff zum Schutz des Hafens zu stellen, zahlbar 6. Holzing. Eintausendeinhundert Stralsunder Mark, zahlbar an die Werft in Stralsund für die Instandsetzung der ›Stolzer Jacob‹, zahlbar 7. Holzing.«
Jacob blickte Ludewijk entsetzt an. »Die Termine liegen alle in den nächsten Tagen!«
»In der Tat.«
»Und wir sind nicht liquide, sagt Ihr?«
Der Flame nickte.
»Wie in Herrgotts Namen sollen wird diesen Außenständen dann nachkommen?«
»Ich fürchte, uns bleibt nichts anderes übrig, als erneut Schulden aufzunehmen, bis wir wieder die Mittel haben, diese Verpflichtungen aufzulösen.«
»Noch mehr Schulden? Wir stehen alleine bei diesem Wucherer van Hoyten mit einem Vermögen in der Kreide! Warum hat sich der Vater ausgerechnet bei diesem windigen Gesellen Geld geliehen?« Jacob schüttelte energisch den Kopf. »Nein, es muss auch anders gehen. Was haben wir an Einnahmen zu erwarten in der nächsten Zeit? Wo sind die anderen Schiffe?«, wollte er wissen.
»Auf ihnen ruht unsere Hoffnung. Auch wenn es kurzfristig nicht gut aussieht, kann der Herbst, so Gott will, unsere Misere beenden, junger Herr. Das Wichtigste zuerst: Die ›Stolzer Jacob‹ müsste Reval bereits verlassen haben. Mit den Einnahmen von Bier, Eisenwaren, Tuchen und Wein sollte Kapitän Göste eine Schiffsladung Pelze erstanden haben. In der Stadt wartet man bereits sehnsüchtig darauf, und wie Ihr wisst, sind wir die Einzigen, die russische Zobelpelze in einer derartigen Anzahl liefern können, sehr zum Missfallen des Herrn Philpott, wie Ihr Euch denken könnt«, sagte Ludewijk schmunzelnd.
Jacob rang sich ebenfalls ein Lächeln ab. Zygmunth Philpott war seit jeher der größte Konkurrent der Familie Wallersen, der stets danach getrachtet hatte, dem Vater das Leben schwer zu machen, indem er ihn bei wichtigen Geschäften ausstach oder ihm mit der Lieferung wichtiger Waren zuvorkam. Hermann hatte mit ihm um einen frei werdenden Posten im Rat der Stadt konkurriert, den einem Kampf gleichenden Stimmenfang im Netz gegenseitiger Verpflichtungen und Abhängigkeiten jedoch zu Beginn des Jahres gegen Philpott verloren.
»Und die anderen?«, fragte Jacob.
»Die ›Johann‹ müsste sich derzeit auf dem Rückweg von Antwerpen befinden. Sie sollte Tuche geladen haben, die unsere dringendsten Probleme aus der Welt schaffen könnten. Ich fürchte aber, dass sie nicht bis zur Fälligkeit der ersten beiden Posten hier eintreffen wird. Die ›Ingeborg‹ ist wie erwähnt verloren, während die ›Trutz von Lubice‹ bald wieder aus Malmö eintreffen sollte. Der Erlös wird aber allenfalls kleinere Posten weiter unten auf der Liste tilgen können. Ihr müsst zudem bedenken, dass Heuer- und Lohnzahlungen für die Seeleute, die Lagerarbeiter und die Angestellten der Gewandschneiderei anstehen.«
»Ihr versteht es nicht gerade, mir Mut zu machen, Ludewijk.«
»Besser, wir finden uns erst einmal auf dem Boden der Tatsachen wieder, anstatt in himmlische Sphären zu entschweben, wenn sich wieder ein paar Mark in der Kasse befinden.«
»Ihr habt sicher recht. Was ist mit dem letzten Schiff, der ›Oldenbourg‹?«
»Auf dem Weg nach Bergen, kommt hoffentlich vor Martini zurück, das ist aber höchst ungewiss.« Der Kontorverwalter seufzte. »Lasst mich ganz ehrlich zu Euch sein, junger Herr: Ich fürchte, wir müssen über kurz oder lang Güter abstoßen oder uns von einem weiteren Schiff trennen. Alle Einnahmen, von denen wir sprachen, bilden nur den günstigsten Fall ab, das heißt, wenn alle Schiffe unversehrt mit der kompletten Ladung hier eintreffen. Die Waren müssen zudem unbeschädigt sein und einen guten Preis erzielen. Pauschal muss man aber immer mit zehn bis zwanzig von einhundert Teilen rechnen, die den möglichen Gewinn schmälern. Des Weiteren gilt es, die laufenden Kosten im Auge zu behalten. Es sind nicht nur die Löhne und Warenkosten, sondern auch die Verpflichtungen gegenüber der Stadt, nicht zu vergessen gegenüber der Kirche, wovon wir noch gar nicht gesprochen haben. Außerdem pflegen speziell Jungfer Margarethe und Eure werte Frau Mutter eine Lebensführung, die alles andere als … sparsam ist.«
»Tatsächlich?«
»Nun, alleine Jungfer Margarethe benötigt jeden Monat beinahe so viele Mark lübisch wie die restliche Familie zusammen.«
»Und der Herr Vater hat das gestattet?«
»Nicht direkt, mein Herr«, antwortete Ludewijk. »Ihr Bedarf an persönlicher Gewandung wird über die Schneiderei abgedeckt. Dort wird alleine eine Näherin nur zu ihrem Bedarf beschäftigt. Abgesehen davon sind die Kosten von Gesinde und Lohnarbeitern insgesamt zu hoch, vor allem in Zeiten, in denen das Lager leer steht und kein Schiff vor Anker liegt.«
»Ich sehe, wir müssen Kosten einsparen, wo wir können. Löhne kürzen, Arbeiter entlassen, weniger Rücksicht auf Bedarfsdeckung denn auf die Gewinnspanne legen. Und die Ausgaben des Familienhaushalts begrenzen. Meiner Schwester wird das kaum gefallen. Ich fürchte fast, dass mir an dieser Stelle die härtesten Kämpfe bevorstehen«, murmelte Jacob. »Aber lasst uns das auf die Zukunft vertagen, nun gilt es erst einmal, die obersten Positionen Eurer Liste zu klären, das ist schon schwierig genug. Wie viel befindet sich noch in der Kasse des Kontors, Ludewijk?«
»Drei Mark und zweiundzwanzig Schillinge, junger Herr.«
»Heilige Maria Mutter Gottes!« Jacob fürchtete, gleich in Ohnmacht zu fallen.
»Ihr seht, ich habe mit meiner Ankündigung nicht übertrieben, junger Herr. Es gibt leider Gottes auch keinerlei Rücklagen an Bargeld mehr, auf die wir zugreifen können. Zumindest keine, von denen ich wüsste. Ich sage es nicht gerne, aber Euer Vater hat bereits seit Längerem Geschäfte getätigt und Schulden aufgenommen, von denen mir nichts bekannt war. Die Dinge, aus denen er mich herausgehalten hat, sah ich bei Hermann in guten Händen, denn auf lange Sicht war ja angedacht, dass ich mich aus den Geschäften zurückziehe.«
»Nein, nein, Ludewijk, denkt nicht, dass ich Euch irgendetwas bezichtige. Es scheint mir nur so … unglaublich zu sein. Und Ihr müsst zugeben, dass derartige Ankündigungen sehr überraschend für uns kommen. Ich meine … also, es war doch bekannt, dass Vater nach einem Sitz im Rat gestrebt hat, mit den wichtigsten Herren der Stadt Umgang pflegte und im ganzen Ostseeraum erfolgreich Handel trieb. Und jetzt sind noch drei Mark in der Kasse? Was ist denn da um Himmels willen geschehen?« Ein schrecklicher Verdacht keimte in Jacob auf. Hatten Vater und Bruder am Ende gar ihre Schulden mit dem Leben beglichen? Oder suchten seine Trauer und Bestürzung lediglich nach einem Grund für den so plötzlichen zweifachen Tod? Er blickte Ludewijk fragend an, der jedoch nichts von seinen dunklen Gedanken zu ahnen schien.
Der Kontorverwalter zuckte nur mit den Schultern.
»Mir bleibt nichts anderes übrig, ich werde diesen van Hoyten um eine Stundung bitten müssen, und sei es, dass wir uns mit weiteren Verbindlichkeiten belasten.«
»Ich sehe derzeit auch keinen anderen Ausweg. Sollte diese Sache erledigt sein und wir einen vollständigen Überblick über die Bücher Eures Vaters besitzen, können die wichtigsten Fragen in den nächsten Tagen vielleicht geklärt werden«, sagte Ludewijk.
»Euer Wort in Gottes Ohr«, bestätigte Jacob seufzend. »Aber eines will mir in dieser ganzen Sache nicht in den Kopf: Was hat den Vater dazu getrieben, all diese Schulden aufzunehmen?«
EINE WAISE
Reval, 1. Holzing im Jahr des Herrn 1376
Das Mädchen kauerte seit Stunden im Schatten. Stunden, die wie Ewigkeiten schienen. Ihre Glieder schmerzten, und sie fragte sich schon länger, ob sie Arme und Beine je wieder würde bewegen können, sollte sie es versuchen.
Der Nachmittag war verstrichen, und keinen Augenblick hatte sie in ihrer Konzentration nachgelassen oder gar vergessen, warum es sie in dieses Dreckloch am Rand der Unterstadt gezogen hatte. Weder als die Glocken von St. Olai mit ihrem vollen Klang von den Stunden des ausklingenden Tages kündeten, noch als ein Aufruhr im Hafen die Ordensritter auf den Plan rief.
Der Hunger zwang sie ans Tageslicht, das sie so lange gemieden hatte. Aus Angst war sie Wochen zuvor in den Schatten verschwunden, mit dem Wissen, ihr altes Leben mit einer einzigen Entscheidung hinter sich gelassen zu haben. Doch das Verlangen nach Essen konnte ohne Mühe auch den stärksten Willen brechen. Die Bauchkrämpfe hatten sie schon länger begleitet, hatten sie nach und nach ermattet und dennoch ihren Willen gestärkt, so lange zu warten, bis sie den Hunger tatsächlich stillen konnte, anstatt ziellos durch die Stadt zu irren. Wenn sie etwas in den Gassen und Straßen von Reval gelernt hatte, dann, auf eine günstige Gelegenheit zu warten.
Genau diese schien gekommen zu sein, als ein Mann den Durchlass zwischen den Häusern am Rande der Langstraße betrat, die durch die Viertel der Unterstadt hinunter zum Hafen führte. Er trug die Kluft eines Bäckers. Eine von Mehl und Teig verschmutzte Schürze spannte sich über seinen massigen Bauch. Unweit des Mädchens leerte er zwei Leinenbeutel auf einen Haufen Unrat. Nachdem er sich an der Hauswand erleichtert hatte, verschwand er wieder.
Sie wartete noch einen Augenblick und schälte sich dann aus der Nische im Mauerwerk, die ihr für die letzten Stunden Schutz geboten hatte. Im Zwielicht des Spätnachmittags war sie dort nicht auszumachen gewesen. Sie huschte auf die andere Seite der Gasse und durchsuchte den Abfall.
Schnell fand sie, worauf sie gehofft hatte. Brot, leicht angeschimmelt zwar, aber noch genießbar, daneben die Überreste von Kuchen, von denen sie sich sofort einige Brocken in den Mund stopfte. Sie zwang sich, den trockenen Teig in Ruhe zu kauen, bevor sie den Klumpen herunterwürgte. Das würde ihrem rebellierenden Magen endlich etwas Beruhigung verschaffen.
Gerade als sie den Rest der Beute in ein Tuch wickeln wollte, traf sie ein Hieb in den Rücken. Sie fiel vornüber und schlug hart auf die Straße. Dabei ließ sie den behelfsmäßigen Beutel fallen, und die Brotstücke verteilten sich auf dem Boden.
Instinktiv rollte sie herum und riss die Hände zur Abwehr hoch. Doch die Gestalt, die sie zu Boden geworfen hatte, trachtete ihr nicht nach dem Leben, sondern sammelte lediglich die Brotreste auf. Das genüssliche Kichern, das sie dabei von sich gab, kam dem Mädchen nur allzu bekannt vor.
»Borrek!«, stieß sie hervor, als sie wieder auf die Beine kam.
»Sveiks!«, kam es auf Lettisch von einem dicklichen Jungen zurück, der sich spöttisch verbeugte, während er das Brot in eine Tasche stopfte. »Das Brot vom alten Andersen ist doch immer noch das Beste, hab ich nicht recht?«
»Das hab ich gefunden, gib’s sofort zurück!«
»Komm und hol’s dir doch«, feixte Borrek und hob eine fleischige Faust. »Dann machst du Bekanntschaft hiermit.«
»Du bist ein gemeiner Dieb«, spie sie ihm entgegen. Sie spürte, wie sich ihr Magen erneut schmerzhaft zusammenkrampfte.
»Genau wie du, Zobelchen«, kam es zurück. »Jeder nimmt sich das, was er braucht, von dem, der es gerade hat.«
»Geh zum Teufel mit deinen Sprüchen! Gib mir das Brot, oder ich hol es mir wirklich selber!« Sie kramte in ihrer Tasche und brachte nach einem Augenblick ein Messer zum Vorschein. Die Klinge richtete sich auf Borrek. Der Junge wich ein, zwei Schritte zurück, doch sie folgte ihm. Die Selbstgefälligkeit war aus seinem Gesicht gewichen, er machte allerdings immer noch keine Anstalten, seine Beute zurückzugeben.
»Was willst du tun? Mich erstechen? Wegen ein paar Scheiben Brot?«
Sie zögerte keine Sekunde. »Ja. Wegen ein paar Scheiben Brot.« Sie ging weiter auf ihn zu, das Messer zielte auf seinen Bauch. Sein letzter Rest an Arroganz löste sich von einem auf den anderen Moment in Luft auf.
»Du bist ja wie besessen, dass du so was sagst!«
»Macht keinen Unterschied, wenn ich ein Loch in dich steche.«
Borrek schluckte. »Das meinst du nicht ernst, oder? Du würdest … ich meine … wir können es doch auch teilen.«
»GIB ES MIR!« Sie sprang nach vorne und stach zu. Die Klinge streifte seine Hand und hinterließ einen blutigen, wenngleich nicht besonders tiefen Schnitt.
Nichtsdestotrotz kreischte der dicke Junge wie ein Kleinkind und umschlang die getroffene Stelle mit der Linken. »Du … du …«, keuchte er.
»Dein Leben ist mir nichts wert. Ich bring dich um, Borrek!«, zischte sie und richtete erneut das Messer auf ihn.
Der eben noch so vorlaute Bengel blickte sich gehetzt um, riss die Brotscheiben aus den Taschen und warf sie vor ihr auf den Boden. Dann rannte er die Gasse so schnell hinunter, wie es ihm mit seiner massigen Statur möglich war.
Das Mädchen wartete noch einen Augenblick und kniete sich dann hin. Sie stopfte sich ein paar Brotkrumen in den Mund und packte den Rest in die Tasche. Dabei versuchte sie, auch die kleinsten der teilweise zerbröselten Scheiben einzusammeln. Gott allein wusste, wann ihr erneut der Segen sättigenden Brotes zuteilwurde. Doch ein Dankgebet musste warten, denn ihr war bewusst, dass sie nicht mehr lange an diesem Ort bleiben durfte. Borrek hatte Freunde. Kräftige Freunde, die nicht so feige waren wie er und gegen die sie selbst mit dem schärfsten Messer wenig ausrichten konnte.
Als sie sicher war, nichts übrig gelassen zu haben, verschwand sie aus der Gasse. Sie zwang sich, nicht zu rennen, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Während sie die Langstraße entlanglief, die vom Domberg kommend quer durch die Unterstadt bis hinunter zur Großen Strandpforte führte, merkte sie erst, dass sie am ganzen Leib zitterte. Es war weder der Hunger noch die aufziehende abendliche Kälte, sondern es war die Anspannung der Auseinandersetzung mit Borrek, die jetzt von ihr abfiel. Sie hatte dem deutlich größeren und stärkeren Jungen die Grenzen aufgezeigt, ihr Eigentum bis aufs Blut verteidigt. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass das ganz anders hätte ausgehen können. Was, wenn er ebenfalls bewaffnet gewesen wäre? Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken. Das Mädchen wusste nur eins: Sie hätte ihn getötet. Sie hätte ihn für einige Krümel Brot abgestochen wie ein Schwein beim Schlachter, und es hätte ihr keineswegs leidgetan.
Der kaltblütige Gedanke jagte ihr einen Schauer über den Rücken, und sie malte sich aus, wie es sich anfühlen musste, wenn man einem Menschen das Leben nahm.
Wenig später war sie bei St.