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Über dieses Buch:

Seine Geliebte heißt Kortison. Klar, sie ist eine gefährliche Freundin. Eines Tages wird sie ihn ebenso umbringen wie seinen Freund Gerd. Aber was hat im Leben keine Nebenwirkungen?

Detektiv Bartzsch ist hyperallergisch. Da hilft nur Kortison. In rauhen Mengen. Das Problem ist nur, dass Bartzsch ausgerechnet jenen Arzt, der ihm halblegal das zur Droge gewordene Arzneimittel besorgen sollte, tot im Behandlungszimmer vorfindet. Angeblich eine allergische Reaktion auf einen Insektenstich. Doch daran mag Bartzsch nicht so recht glauben und sticht bei seinen Ermittlungen in ein wahres Wespennest.

»Die Ungeheuerlichkeiten, die sich Seite um Seite enthüllen, sind von einer so abgründigen Komik und Tragik, wie man sie in der deutschsprachigen Literatur nur selten findet.« Süddeutsche Zeitung

»Was und wie dieser Autor schreibt, das ist selten in der deutschsprachigen Literatur.« Hamburger Abendblatt

»Gunter Gerlach ist ein Autor, der auf intelligente Art zu unterhalten versteht.« Frankfurter Rundschau

Über den Autor:

Gunter Gerlach, Jahrgang 1941, studierte an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Er schreibt Hörspiele, Rundfunkserien, Kurzprosa und außergewöhnliche Krimis, für die er u. a. 1995 mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde. Gunter Gerlach zählt zu den am häufigsten mit dem renommierten Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichneten Autoren, lebt in Hamburg.

Bei dotbooks erschienen bereits Gunter Gerlachs Romane »Herzensach«, »Das Jahr, in dem ich beschloss, meinen Großvater umzubringen«, »Ich bin der andere«, »Der Haifischmann«, außerdem die Krimi-Reihe »Katzenhaar und Blütenstaub«, »Neurodermitis« und »Melodie der Bronchien« sowie die Literatur-Quickies »Gold im Gebirge« und »Vorlieben«.

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eBook-Neuausgabe Oktober 2015

Copyright © der Originalausgabe 2000 Europäische Verlagsanstalt/Rotbuch Verlag, Hamburg

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de, unter Verwendung von Bildmotiven von Thinkstockphoto/Dennis Vdw

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-273-9

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Gunter Gerlach

Kortison

Kriminalroman

dotbooks.

1. Melodie der Bronchien

Bei meiner Geburt lag mein Immunglobulin-E-Spiegel weit über der Norm. Jedenfalls nehme ich das an. Die Ärzte haben es vor fünfundvierzig Jahren versäumt, mein Blut daraufhin zu untersuchen. Falls sie das damals schon konnten. Hätten sie es getan, wäre die Katastrophe meines Lebens vorhersehbar gewesen.

Mein Kopf schmerzte, und ich starrte auf die stumpfe Metallfolie, mit der ich mein Schlafzimmer tapeziert habe, um es staubfrei halten zu können. Ich habe den Trick aus einer amerikanischen Zeitschrift. Ein Bericht über die Wohnungen von Allergikern. Ich horchte auf meine Bronchien. Mein Atem pfiff ein leises Lied. Ich holte tief Luft, und ein primitives Orchester versammelte sich in meiner Luftröhre. Die Musiker stimmten ihre Instrumente, strichen, bliesen, zupften, bemühten sich redlich um Harmonie und Zusammenspiel, aber unter der rauhen Regie des Luftzuges meiner Lungen konnte nichts gelingen. Ich versuchte die archaische Melodie, die mich seit Jahren immer wieder begleitet, durch Husten und ausgedehntes Räuspern zu unterbrechen. Es brachte nichts. Schließlich stand ich auf, stellte den Luftreiniger auf volle Touren – nachts macht er mir zu viel Lärm – und wankte röchelnd ins Badezimmer. Ich betrachtete mein Gesicht im Spiegel. Es gab die ersten Anzeichen für einen neuen Anfall. Die Nase hatte sich gerötet, war großporig geworden. Dann untersuchte ich meinen Körper. Nur die rechte Armbeuge war grau und rauh. Der Hautausschlag hatte sich vergrößert – war auf dem Weg zum Hals. Aber vielleicht konnte ich die Spritze doch noch hinauszögern. Ich schob die Lider meines rechten Auges auseinander, betrachtete die roten Äderchen auf dem Augapfel, hob das Lid und begutachtete die gerötete Schleimhaut. Es stand schlecht um mich.

Ich öffnete den Badezimmerschrank und sortierte das Außenlager der Pharmaindustrie. Mein Kortisonvorrat war ziemlich am Ende. Noch drei Spritzen. Es war höchste Zeit, einen Arzt zu finden, der mich noch nicht kannte. Sonst blieb nur noch mein Freund Molotow. Er wußte, bei wem man sich das Zeug ohne Rezept besorgen konnte. Ich zahle gut, und manchem ist es genug Anreiz, dafür in eine Arztpraxis oder in eine Apotheke einzubrechen, wenn es nicht allzu schwierig ist oder keine anderen Aufträge vorliegen. Aber wofür ich mich auch entschied, ich mußte das Haus verlassen, und das war nur möglich, wenn ich meinen Abwehrkräften die Kraft raubte.

Ich drückte das Kortison in die linke Armvene, und sofort ging es mir besser. Das Zeug macht einfach mehr mit mir, als nur mein Immunsystem außer Gefecht zu setzen, es erzeugt, zumindest am Anfang, auch eine leichte Euphorie.

Ich übertönte die Melodie meiner Bronchien mit einer gepfiffenen Melodie aus »Carmen«, ging in die Küche und stellte die Kaffeemaschine an. Ja, ich weiß, Kaffee gehört möglicherweise zu den Allergenen, die meinen Organismus in Aufruhr versetzen, aber es war mir egal.

Ich duschte und behandelte den Hautausschlag mit einer kortisonhaltigen Creme. Dann genoß ich den Kaffee mit viel Zucker, den mir jeder Arzt verbietet, und fühlte mich unsterblich. Warum sollte ich kleine Gauner unterstützen, um mir Kortison zu besorgen. Ich war so gut drauf, daß es mir gelingen würde, einen Arzt zu überzeugen. Es mußte nur einer sein, der mich noch nicht kannte. Ich griff zum Telefon. Zuerst meldete sich Gerds Anrufbeantworter, aber dann schaltete er sich direkt ein. Er ließ mich nicht zu Wort kommen.

»Weißt du, wie spät es ist? Sieben Uhr morgens! Verdammt noch mal, es ist mitten in der Nacht. Bist du das, Bartzsch?

»Du hättest nicht rangehen müssen.«

»Was willst du? «

Ich kenne Gerd aus meiner Allergikergruppe. Wir versuchten uns damals gegenseitig bei einer Diät zu unterstützen. Es funktionierte nicht.

»Du weißt, ich habe schon eine Menge Ärzte durch. Kannst du mir noch einen Tip geben. Ich brauche einen, der freizügig mit Kortison umgeht.«

»Ach du Scheiße. Muß das sein? Ruf mich heute nachmittag wieder an.«

»Komm schon, du kennst dich doch aus.«

»Gut, ich habe einen. Nur werde ich ihn anschließend anzeigen, bei der Ärztekammer.«

»Sag seinen Namen, und du kannst dich wieder hinlegen.«

»Das Arschloch heißt Bauer. Wilfried Bauer, Gute Nacht.«

2. Paul Newman und Rita Tushingham

Neurodermitis habe ich mein ganzes Leben lang gehabt, aber vor sechs Jahren war noch etwas anderes ausgebrochen. Über Nacht. Rote Quaddeln hatten sich über den ganzen Körper ausgebreitet. Und meine Lunge röchelte mit der Sirene des Krankenwagens um die Wette. Ich bekam meine erste Kortisonspritze. Sie hielt nicht lange vor. Zwei Jahre wehrte sich mein Körper erfolgreich gegen alle Therapieversuche, dann war ich Frührentner. Ein Allergietest erbrachte, daß ich auf rund ein Dutzend Stoffe hyperallergisch regierte. Meine Haut verwandelte sich in eine rissige, entzündete Schweineschwarte. Ich war niemandem mehr zuzumuten.

Heute habe ich die Sache einigermaßen im Griff, und meine Geliebte heißt Kortison. Klar, sie ist eine gefährliche Freundin. Eines Tages wird sie mich ebenso umbringen wie meinen Freund Gerd. Aber was hat im Leben keine Nebenwirkungen?

Ich suchte die Nummer von Dr. Bauer aus dem Telefonbuch heraus und erwartete, in ein paar Tagen einen Termin zu bekommen. Ich bekam ihn am selben Nachmittag, ohne daß die Sprechstundenhilfe mich nach meinen Beschwerden gefragt hatte. Ärzte, die großzügig mit Medikamenten um sich werfen, haben entweder zuviel oder zuwenig Patienten. Ich kannte mal einen, der spielte in seinem Sprechzimmer ununterbrochen Akkordeon, während die Arzthelferin in die vorbereiteten Rezeptblöcke die Namen der Medikamente schrieb, die ihr die Patienten angaben. Ich habe ihn nie zu Gesicht bekommen. Eines Tages war die Praxis plötzlich geschlossen, der Arzt unauffindbar. Auf einem Foto in der Morgenpost sah ich ihn zum ersten Mal. Man hatte ihn in Südamerika entdeckt. Ich nehme an, er ist immer noch in Brasilien, sitzt auf der Veranda seiner Villa, spielt Akkordeon und hat ein kühles Getränk neben sich. Und es geht ihm gut. Dr. Bauers Praxis lag in Altona, und ich brauchte fast eine Stunde von Wandsbek aus. Erst der Bus, dann die U-Bahn, schließlich die S-Bahn und ein kurzer Fußmarsch. Hamburgs Verkehrssysteme sind in der Regel gut und teuer, bei Querverbindungen nur noch teuer. Mit einem Wagen hätte ich es in der halben Zeit geschafft. Nach meiner Pensionierung hatte ich mir ein Auto gekauft. Ich konnte mich mit meinem Pizzagesicht in keinem öffentlichen Verkehrsmittel zeigen. Kaum saß ich in dem neuen Wagen, bekam ich einen Anfall. Ich ließ ihn in der Trockenkammer einer Lackiererei ausdünsten. Es brachte nichts. Irgend etwas steckte in den Polstern und Kunststoffteilen und versetzte meine Abwehrzellen in höchste Alarmstufe. Ich mußte den Wagen verkaufen. Wenn ich heute ein Auto brauche, rufe ich Molotow an. Er verschafft mir dann einen dreißig, vierzig Jahre alten Oldtimer. Garantiert ohne Konservierungsstoffe.

Die Arzthelferin gefiel mir. Ich mag den männlichen Typ, ohne ausgeprägte weibliche Formen. Sie hatte die glasklaren blauen Augen von Paul Newman und das Lächeln von Rita Tushingham, als sie noch jung war. Der Film war eine fehlerlose Kopie, ohne Flimmern, Streifen und Regen, dazu noch im 3-D-Verfahren. Und ich spielte mit. Wie konnte ich meine Nebenrolle ablegen und in die Person des Helden schlüpfen, der am Schluß die Krankenschwester bekam? Vielleicht sollte ich die Regie übernehmen? Ich versuchte es mit dem Hundeblick.

»Ich brauche eigentlich nur ein Medikament.«

Ich gab ihr den Krankenschein. Sie entzifferte den Namen.

Bartzsch?

» Ja, wie der Kindermörder, nur mit z. Aber keine Sorge, ich bin harmlos.« Ich hoffte, ihr Lächeln würde noch einmal hervorkommen, aber sie gab sich gleichgültig und sah in ihren Terminkalender. »Sie sind der nächste Patient.«

»Ich habe es nicht eilig. Würden Sie für mich noch einmal lächeln?«

Sie hob erstaunt den Kopf, dann lächelte sie.

»Sie können ins Wartezimmer gehen.« Ihre Hand zeigte auf eine Tür, das Lächeln blieb.

»Sehr hübsch. Danke.«

Ich war allein im Wartezimmer mit den üblichen Plastikstühlen, halbvertrockneten Pflanzen und alten Zeitschriften. Es dauerte zwanzig Minuten, dann hörte ich sie mehrmals ängstlich Dr. Bauers Namen rufen. Der Ton alarmierte mich. Ich ging hinaus. Sie hatte die äußere Doppeltür zum Sprechzimmer geöffnet und stemmte sich mit dem Körpergewicht gegen die zweite Tür.

»Helfen Sie mir! «

»Was ist los?«

»Ich weiß nicht. Er antwortet nicht. Ich fürchte ... «

»Gibt es keinen anderen Zugang? «

»Oh doch, ja.« Sie rannte davon.

Ich warf mich gegen die Tür, und es gelang mir, das Gewicht dahinter so weit wegzuschieben, daß ich meinen Kopf in den Raum stecken konnte.

Zu meinen Füßen lag der leblose Dr. Bauer. Das Bild, das er mir bot, kannte ich nur allzugut.

3. Anaphylaktischer Schock

Das Frühstück im Freien gehört für die meisten Menschen zu einer erstrebenswerten Lebensform. Für manche kann es tödlich sein. Und ich habe das dazugehörige Bild nie vergessen können: die leuchtend roten Marmeladenbrote auf den weißgedeckten Tischen vor dem Landschulheim. Es war meine erste Klassenfahrt. Und natürlich hatte die Lehrerin gleich am ersten Morgen die Tische draußen vor dem Haus decken lassen. Wir stürzten uns auf die Brote und den Malzkaffee, blinzelten in die Sonnenstrahlen, und unsere Herzen hüpften in Erwartung der Abenteuer, die Neunjährige in der Holsteinischen Schweiz reichlich erleben können. Aber auch die Wespen entdeckten begierig unsere Marmeladenbrote. Der schmächtige Junge mit den schwarzen Augenrändern und der blassen, fast durchsichtigen Haut schrie. Eine Wespe hatte ihn gestochen. Wir lachten, und dann wurden wir stumm. Es dauerte keine fünf Minuten, und er war tot.

Dr. Bauers Körper war auf die gleiche Weise angeschwollen. Doch bei ihm mußte es noch schneller gegangen sein. Es gelang mir, mich durch die Tür zu zwängen. Ich tastete nach seiner Halsschlagader. Er war tot. Ich ging zu seinem Schreibtisch. Vielleicht hatte er sich ein Medikament gespritzt, das die Anaphylaxie ausgelöst hatte? Eine geöffnete Packung Tavor lag auf dem Tisch. Ich hob sie an. Sie war leer und hinterließ einen nassen Fleck auf der grünen Schreibtischauflage.

Das Beruhigungsmittel konnte kaum die Ursache sein.

Die Arzthelferin kam durch einen zweiten Behandlungsraum herein, ging vor dem Toten auf die Knie, befühlte, wie ich es getan hatte, seine Halsschlagader, öffnete mit zitternden Händen sein hochgeschlossenes weißes Hemd und rief seinen Namen. Schließlich hob sie den Kopf und sah mich an. Den Ausdruck solcher Augen kenne ich. Er zeigt so eine Art flachen hypnotischen Zustand an, der durch unvorhersehbare und unerklärliche Ereignisse ausgelöst wird. Die Leute sind wie gelähmt, oder sie fangen an, Unsinn zu reden. Beides paßt nicht zu ihr. Auf mich hatte sie den Eindruck gemacht, als wüßte sie selbst in verwirrenden Situationen das Richtige zu tun.

Ich beugte mich zu ihr und schüttelte sie an den Schultern. Sie sah durch mich hindurch.

»Er ist tot.« Sie schien sich aus ihrer Trance zu lösen. »Was soll ich jetzt tun?«

Zum zweiten Mal in meinem Leben war jemand in meiner unmittelbaren Nähe gestorben. Ich kann also nicht sagen, daß ich über große Erfahrungen verfüge, wohl aber über mehr als die meisten Menschen.

»Rufen Sie einen Arzt.«

»Aber ... aber er ist der Arzt.«

Wenn ich sie dazu brachte, den Raum, vielleicht sogar die Praxis zu verlassen, konnte ich die Situation für mich ausnutzen und auf die Suche nach Kortison gehen.

»Gibt es keinen Arzt in der Nähe? Rufen Sie einen Unfallwagen, die Feuerwehr oder die Steuerfahndung.«

Ich zog den schweren Körper Dr. Bauers an seinem Arztkittel ein Stück von der Tür weg.

»Kommen Sie.« Ich faßte der Arzthelferin unter den Arm, richtete sie auf und schob sie durch die Tür.

»Rufen Sie irgend jemanden an.«

Sie ging zu ihrem Empfangstisch, begann eine Nummer zu wählen, legte aber wieder auf, zog das Telefonbuch aus einer Schublade, schlug es aber nicht auf, sondern ordnete Blöcke, Bleistifte und Zettel auf ihrem Schreibtisch. Sie stand immer noch unter einem Schock. Meine Chance, das Behandlungszimmer zu durchsuchen.

Der Schreibtisch war eine einzige Enttäuschung. Nichts. Nur Papiere, ein Inhalationsgerät, wie ich es auch selber benutze, und ganz unten ein abgegriffenes, pornographisches Buch, in dem sich schon einige Seiten gelöst hatten. Es waren sterile Fotos von einem nackten Mann und einer nackten Frau auf einem Messingbett. Im hinteren Teil des Buches kam ein weiterer Mann dazu. Und schließlich auch noch eine farbige Frau. Die Geschichte blieb die gleiche, nur das Personal hatte gewechselt. Ich warf das Buch zurück und schloß den Schreibtisch. Kortison! Ich warf einen kurzen Blick zum Empfang. Die Arzthelferin hatte endlich eine Nummer gewählt und wartete auf den Anschluß. Ich hatte nicht mehr viel Zeit.

Die beiden Rollschränke an der rechten Wand des Sprechzimmers quollen über vor Ärztemustern – aber kein Kortison, nicht einmal in Tablettenform. Blieb noch die große Schrankwand. Ich öffnete die erste Tür und nahm keine Rücksicht mehr darauf, ob man meine Durchsuchung bemerken würde. Es war ein großes, leckeres Lager weiterer Arzneimittel. Wäre mehr Zeit gewesen, hätte ich meine allgemeinen Vorräte wunderbar ergänzen können. Aber auch hier kein Kortison. Ich öffnete die nächste Schranktür, und sie gab zu meiner Überraschung den Blick auf eine weitere Zimmertür frei. Irritiert versuchte ich mir den Grundriß der Praxis vorzustellen. Hier durfte eigentlich keine Tür sein.

4. Keine Tränen für Dr. Bauer

Die Besatzung des Unfallwagens hatte mit Erleichterung den unwiderruflichen Tod festgestellt. Dafür waren sie nicht mehr zuständig. Daß ich das Behandlungszimmer durchsuchte, interessierte sie nicht besonders. Erst die beiden Polizisten aus dem Streifenwagen verwiesen mich auf meinen Platz im Wartezimmer und setzten die Arzthelferin zu mir. Klar, sie warteten auf fachkundigere Verstärkung, und wir waren eine Art Zeugen.

Sie sah mich mit glasigen Augen an.

»Wie wär's mit irgend so was wie Tränen?« sagte ich.

Sie schüttelte den Kopf und gewann ihr Lächeln wieder.

»Also gut, keine Tränen für Dr. Bauer.«

»Früher vielleicht mal, jetzt nicht mehr.«

»War da mal was?«

Sie schlug die Augen nieder. »Am Anfang habe ich ihn gemocht, aber je länger ich hier war ...« Sie schien sich daran zu erinnern, daß das Angesicht des Todes zwar verbindet, aber aus Fremden noch lange keine Freunde macht.

»So geht es den Frauen mit mir auch immer. Am Anfang mögen sie mich. Wie geht es Ihnen?«

»Was? Wie meinen Sie das?«

»Mögen Sie mich?«

»Sie erwarten doch wohl keine Antwort.«

»Eigentlich doch.«

Immerhin lächelte sie. Ich wußte nicht, wie ich mich ihr weiter nähern konnte. Hätte sie doch bloß geweint oder geschluchzt, mein Arm hätte längst um ihre Schultern gelegen. Dafür, daß hier gerade jemand gestorben war, war sie jetzt erstaunlich gefaßt.

»Dann eben keine Tränen für Dr. Bauer.«

»Sie kennen ihn ja gar nicht. Sie waren ja nicht mal sein Patient.«

»War das mein Glück?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht.«

»Er war kein guter Arzt, was?«

»Ich weiß es nicht.«

»Das sagt alles. Und eine Einladung zu einem Kaffee würden Sie von mir auch nicht annehmen? Ich stelle mir vor, wir sitzen irgendwo gemütlich beisammen, erzählen von unseren Komplexen, Psychosen, Neurosen und von unserer Kindheit, der mangelnden Nestwärme, der fehlenden Liebe und all diesem Zeug, das uns zu Verbrechern gemacht hat.«

Sie lächelte und schüttelte den Kopf. Es war schon ein halbes Ja.

Er war Kommissar, Inspektor oder was man bei der Polizei auch immer ist. Einer von der angenehmeren Sorte. Er residierte im Labor, saß auf einem Plastikstuhl mit dünnen Metallbeinen am Labortisch, während ich auf der kunstledernen Liege Platz nehmen mußte. Er stellte sich nicht mit seinem Titel vor, sondern nannte nur seinen Namen.

»Wenske.

»Bartzsch, wie der Kindermörder, nur mit z.« Ich kann von diesem Kalauer nicht lassen. Er ließ sich meinen Ausweis zeigen und notierte meine Anschrift.

»Wollen Sie mir Blut abzapfen?«

»Erzählen Sie mir einfach alles, was hier geschehen ist, seit Sie in die Praxis gekommen sind.«

»Es war ein anaphylaktischer Schock, nicht wahr? Ich frage mich nur, wodurch er ausgelöst wurde.«

»Sind Sie Arzt?«

»Nein, Allergiker. Das ist so was ähnliches.«

»Lassen Sie die Witze.«

Ich berichtete ihm, was geschehen war, und ließ natürlich meine Durchsuchung des Behandlungsraumes aus. Er fragte kaum nach und kommentierte nichts.

»Vielleicht müssen wir noch ein Protokoll aufnehmen. Sie hören dann von mir.«

Ich war entlassen.

Die Arzthelferin saß an ihrem Schreibtisch und kaute auf einem Bleistift.

»Es wäre ein Leichtes, Sie zu vergiften. Ich brauchte nur die Bleistifte zu präparieren.«

Sie nahm den Stift erschrocken aus dem Mund.

»Eine meiner Fragen ist nach wie vor unbeantwortet. Wollen Sie mich nicht mal anrufen? Sie haben ja all meine Daten in Ihrer Kartei. «

Sie lächelte wieder. Wenn sie meine Einladung ablehnte, hatte ich keine Chance mehr. Die Praxis würde geschlossen bleiben, und ich kannte nicht einmal ihren Namen.

»Es geht nur um eine nette Tasse Kaffee, ich schwöre es.«