Über dieses Buch:
Eigentlich hat der hyperallergische Privatdetektiv Bartzsch genug Probleme. Denn er ist gerade auf Kortison-Entzug. Doch ausgerechnet jetzt findet er in Nachbars Garten einen Toten. Sind die Täter nun hinter ihm her? Fürchten sie, dass er etwas gesehen haben könnte? Seine neue Lebensgefährtin, die ihn zu einem gesünderen Lebenswandel anhält, sieht es gar nicht gerne, als Bartzsch zu ermitteln beginnt …
»Die Ungeheuerlichkeiten, die sich Seite um Seite enthüllen, sind von einer so abgründigen Komik und Tragik, wie man sie in der deutschsprachigen Literatur nur selten findet.« Süddeutsche Zeitung
»Was und wie dieser Autor schreibt, das ist selten in der deutschsprachigen Literatur.« Hamburger Abendblatt
»Gunter Gerlach ist ein Autor, der auf intelligente Art zu unterhalten versteht.« Frankfurter Rundschau
Über den Autor:
Gunter Gerlach, Jahrgang 1941, studierte an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Er schreibt Hörspiele, Rundfunkserien, Kurzprosa und außergewöhnliche Krimis, für die er u. a. 1995 mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde. Gunter Gerlach zählt zu den am häufigsten mit dem renommierten Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichneten Autoren, lebt in Hamburg.
Bei dotbooks erschienen bereits Gunter Gerlachs Romane »Herzensach«, »Das Jahr, in dem ich beschloss, meinen Großvater umzubringen«, »Ich bin der andere«, »Der Haifischmann«, außerdem die Krimi-Reihe »Kortison«, »Neurodermitis« und »Melodie der Bronchien« sowie die Literatur-Quickies »Gold im Gebirge« und »Vorlieben«.
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eBook-Neuausgabe Oktober 2015
Copyright © der Originalausgabe 2000 Europäische Verlagsanstalt/Rotbuch Verlag, Hamburg
Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München
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Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de, unter Verwendung von Bildmotiven von Thinkstockphoto/Elna Vegante
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95824-310-1
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Gunter Gerlach
Katzenhaar und Blütenstaub
Kriminalroman
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»Eine Leiche? Bartzsch, ich bitte dich! Das ist doch ein Trick! Was willst du wirklich?«
Bartzsch hatte mich mit seinem Anruf geweckt. Seit ich ihm geholfen hatte, eine Serie von Hundemorden aufzuklären, fühlte er sich in meiner Schuld. Bartzsch hatte damals die Lösung des Falles für sich behalten, so daß ich keines meiner Fotos von Täter und Opfern verkaufen konnte. Worauf es mir übrigens auch gar nicht ankam; ich verdiene mein Geld mit ganz anderen Aufnahmen.
Jetzt bot er mir als Gegenleistung für meine damaligen Dienste die Gelegenheit, ein Foto zu schießen, um das sich die Presse angeblich reißen würde: ein toter Einbrecher. Nur schnell müßte ich sein.
Ich habe Bartzsch anfangs eine Mischung aus Bewunderung und Mitleid entgegengebracht. Seine diversen Allergien und sein schweres Asthma lassen ihn oft dem Tode näher sein als dem Leben. Früher hat er im Übermaß kortisonhaltige Mittel genommen und davon das typische Mondgesicht bekommen, das er seit kurzem mit einem Dreitagebart kaschiert. Seitdem seine Freundin Sylvia mit ihm zusammenlebt, hat sie seinen Medikamentenmißbrauch etwas in den Griff bekommen. Auch Depressionen lähmen ihn nicht mehr so häufig.
»Was ist nun?«
»Bartzsch, ich brauche morgens zwei Stunden, bis ich richtig wach bin. Wenn ich jetzt ohne Frühstück, ohne Zähneputzen, ohne Zeitungslektüre, ohne Hantelübungen im Schlafanzug ins Auto springe und zu dir fahre, ist der ganze Tag gelaufen – egal, ob da eine Leiche in deinem Garten liegt oder nicht. «
Bartzsch würde mich verstehen, mir etwas Zeit geben, denn auch er verließ das Haus nicht gern ohne Frühstück.
Bartzschs Atem ging schwer, selbst durch mein altes Telefon mit seinem Knistern und Prasseln hörte man, daß er Asthmatiker ist.
»Die Leiche liegt nicht in meinem Garten, dennoch habe ich sie wunderbar im Blick. Aber vielleicht hast du recht, hau dich wieder hin. Ich werde dich anrufen, wenn die nächste Leiche im Nachbargarten liegt. Das kommt ja ziemlich häufig vor. Also schlaf gut.«
Natürlich hängte er nicht ein. Ich lauschte der Melodie seiner Bronchien. »Also gut, ich komme. Wie weit ist die Leiche entfernt? Brauche ich ein Teleobjektiv?«
»Pack einfach alles ein.«
Bartzsch ist aufgrund seiner Krankheit ein Krüppel. Aber es ging nicht darum, Behinderten jeden Gefallen zu tun und sie ihre Behinderung damit erst recht spüren zu lassen, was mich dazu brachte, einen Keks und einen Schluck Mineralwasser als Frühstück zu akzeptieren. Bartzsch war mein Freund geworden. Wir sind einander in vielen Dingen ähnlich, haben sogar gleiche Gewohnheiten. Ich liebe seinen Humor, der aus seinem Überlebenswillen resultiert und deshalb ziemlich schwarz ist. Und inzwischen kann ich sogar mit seinen Depressionen umgehen. Ich wusch mich nicht, zog die Kleidung über den nachtschweißigen Körper und kontrollierte den Inhalt meiner Fototasche. Im Treppenhaus fuhr ich mir mit der Zunge über die belegten Schneidezähne, strich mit dem Zeigefinger die Zahnreihen entlang und roch daran. Ich befand mich im Raubtierhaus eines Zoos. Der Mensch ist ein schreckliches Tier, sagte schon Konrad Lorenz, oder war es Walther Birkmayer. Wahrscheinlich beide.
Auf der Uhr in meinem alten Volvo war es noch nicht mal sieben. Der Wagen startete mit Mühe, er zeigte mir seinen Unwillen mit einer Fehlzündung, besann sich dann aber, erhob sich stöhnend, versöhnte sich mit mir und brachte mich schnurrend zu Bartzschs Wohnung im Osten Hamburgs nach Wandsbek. Das kleine dreigeschossige Mietshaus liegt mitten zwischen Einfamilienhäusern. Keine gute Gegend, wenn man von seiner Wohnung aus ein Detektivbüro betreiben will – aber Bartzsch war Amateur. Vor dem Nachbarhaus stand ein Polizeiwagen. Ein Beamter saß darin und telefonierte, ein anderer lehnte gelangweilt am Gartenzaun. Alle Fenster hatten Augen.
Ich parkte brav, stieg aus und versuchte, meine Fototasche vor dem Polizisten zu verbergen. Er beachtete mich gar nicht. Kein großes Aufgebot für einen spektakulären Fall.
»Du stinkst«, sagte Bartzsch.
»Wolltest du mich küssen?«
Ich ließ meine Schuhe in Bartzschs »Allergieschleuse«. In diesem knapp anderthalb Meter langen Teil des Flurs zwischen Wohnungstür und einer weiteren Innentür mußten Schuhe, Jacken und Mäntel abgelegt werden. Bartzsch versuchte mit dieser selbstgebauten Schleuse, so viele Allergene wie möglich auszusperren. Dann führte er mich in sein Allerheiligstes, seine Isolierkammer, ein mit allen erdenklichen Tricks staub- und allergenfrei gehaltenes Schlafzimmer, dessen Wände mit Aluminiumfolie beklebt sind. Sogar der Fußboden ist mit einem glatten Metallbelag abgedichtet. Normalerweise läßt er außer Sylvia niemanden hinein, denn dieses Zimmer sorgt dafür, daß er morgens halbwegs gesund erwacht.
»Meine Anwesenheit wird dich umbringen. Ich bin ungewaschen, voller Milben.«
»Was tut man nicht alles, damit ein Freund ein paar Mark verdient.« Er stellte den Luftreiniger auf volle Touren.
Er hatte nicht zuviel versprochen, der Blick aus dem Fenster bot ein seltenes Motiv. Allerdings hätte ich es besser inszenieren können. Es war kein Blut zu sehen.
»Den ersten Preis bringt es nicht.«
»Aber Geld. Beeil dich. Die Polizisten auf der Straße warten auf die Spurensicherung. Noch hast du es in voller Schönheit. «
»Kann ich das Fenster öffnen, ohne daß dich der herumfliegende Blütenstaub zur zweiten Leiche macht?«
Er öffnete es für mich. Ich ließ das Zoom an der Kamera einschnappen, beugte mich hinaus und stellte scharf. Der Tote lag in einem Rosenbeet. Klick. Einen Einbrecher hatte ich mir eigentlich dünner vorgestellt. Klick. Er lag direkt neben dem Fuß einer Aluminiumleiter. Klick. Seine Arme waren unnatürlich verdreht. Klick. Sein Gesicht war ausdruckslos. Nicht verschlagen genug. Seine Augen starrten in den Himmel. Klick. Mein Blick folgte der Leiter. Klick. Bis hinauf zum geöffneten Fenster im ersten Stock. Klick.
»Wirklich ein Einbrecher?«
Bartzsch nieste eine Antwort. Auf der Straße fuhren zwei Wagen vor. Klick. Die Spurensicherung. Klick. Einer sah zu uns herauf. Klick. Ich sah auf meinem Foto schon den schwarzen Balken über seinen Augen. Klick. Er winkte einen anderen heran. Klick. Er zeigte auf uns. Klick.
»Hast du alles?« Bartzsch drückte die Nasenflügel zusammen, um nicht erneut niesen zu müssen.
Klick.
»Ja.« Klick.
»Wir werden Besuch bekommen.« Klick.
»Ja.« Klick.
Laut Statistik ist Hamburg eine der Städte in Deutschland mit der höchsten Einbruchsrate. Ich selbst bin schon zweimal Opfer geworden. Das alte Mietshaus, in dem ich im Stadtteil Winterhude wohne, ist selten abgeschlossen. Man müßte sich mit ganzer Kraft gegen die Haustür stemmen, damit sich der Schlüssel überhaupt drehen ließe. Hinzu kommt, daß die Bewohner einander kaum oder gar nicht kennen. Gute Voraussetzungen für Einbrecher. Als sie mich das erste Mal besuchten, nahmen sie nichts mit, wahrscheinlich waren sie durch irgend etwas gestört worden. Beim zweiten Mal fanden sie meine Barschecks, nahmen die hinteren drei heraus und reichten sie mit primitiv gefälschter Unterschrift bei meiner Bank ein. Zwei waren eingelöst worden, bis ich es bemerkte. Ich einigte mich mit der Bank und bekam nur die Hälfte der Summe erstattet, weil ich den Verlust nicht schnell genug gemeldet hatte. Seitdem benutze ich keine Schecks mehr, habe mir eine Kreditkarte zugelegt und zwei Sicherheitsschlösser an der Wohnungstür.
Einbrüche sind alltägliche Ereignisse. Ich bezweifelte stark, daß meine Fotos bei den Zeitungen allzu begehrt sein würden, es war schließlich nur ein Dieb, der sich hier zu Tode gestürzt hatte. Ich würde die Bilder heute noch an die Redaktion geben müssen. Davor war Zeit genug, um mit Bartzsch zu frühstücken. Bartzsch überließ sich im Bad einem ausführlichen Niesanfall, dann kam er schniefend in die Küche und kochte, schnüffelnd und mit roter Nase, an der ein Tropfen hing, Tee für mich. Allergien sind nicht ansteckend.
»Was machen die Anfälle? «
»Sylvia sorgt für mich.«
Sylvia war Arzthelferin und hatte das Haus schon vor meinem Eintreffen verlassen. Sie mußte quer durch die Stadt nach Altona zu ihrer Arbeit fahren. Sie hatte ein ausgeprägtes Umweltbewußtsein und bevorzugte öffentliche Verkehrsmittel. Ein weiter Weg.
Ich betrachtete Bartzschs von Kortison gezeichnetes Gesicht. Das einzig wirksame Mittel gegen seine Hyperallergie würde ihn schließlich und endlich umbringen, trotz Sylvias Vorsorge, die Dosis niedrig zu halten. Er hatte zu lange zuviel davon genommen, und vermutlich beschaffte er es sich heute noch heimlich, um sich gelegentlich höhere Dosen zu verabreichen.
»Und was ist an diesem Einbruch Besonderes? «
Er schenkte mir Tee ein, setzte sich und schob mir weiches Toastbrot hin. Ich hätte es gern in einen Toaster gesteckt, aber dieser war von Sylvia wegen der Rauchentwicklung und seines schädlichen Einflusses auf den Organismus von Bartzsch abgeschafft worden.
»Die Leiche ist das Besondere.«
»Berufsrisiko.«
»Einbrecher arbeiten selten allein. Warum läßt also einer seinen toten Freund liegen. Der zeigt doch mit dem Leichenfinger direkt auf seinen Komplizen.«
»Panik? «
»Ich weiß nicht.«
»Was soll er denn deiner Meinung nach machen? Den Toten mitschleppen, im Wald verscharren? Das sähe ja wie Mord aus!«
»Mord. Kein schlechter Gedanke.«
»Wieso.«
»Ich finde es komisch, daß ein Einbrecher von der Leiter stürzt und sich das Genick bricht. Von einer Leiter, seinem Standardarbeitsmittel! «
»Vielleicht ein Amateur.«
»Amateure haben keine Leitern.«
»Du meinst, die haben die Leiter mitgebracht?«
»Nein, die ist aus der Garage. Die müssen gewußt haben, daß da eine Leiter ist.«
»Nicht unbedingt. Viele Leute bewahren in der Garage eine Leiter auf.«
»Trotzdem. Bei diesem Fall ist irgend etwas anders ... Mord? « Bartzsch wiegte den Kopf und rieb sich das Gesicht. Auch das Weiße in seinen Augen hatte durch den Niesanfall eine rosa Färbung angenommen.
»Du siehst wohl nur noch Mörder.«
»Klar. Das macht Spaß.«
Bartzschs Detektivspiele waren immer eine Art Beschäftigungstherapie gewesen, allerdings hatte er sie mit zunehmender Leidenschaft betrieben. Das Asthma hatte ihn zu einem Frührentner mit viel Zeit und die Allergien hatten ihn einsam gemacht. Daß er im Laufe eines Kriminalfalles eine Frau gefunden hatte, die es fertigbrachte, mit ihm zusammenzuleben, war sein großes Glück. Ich fragte mich allerdings, wie lang es eine gesunde Frau mit einem Mann aushielt, dessen Leben weitgehend aus allergieabwehrenden Vorsichtsmaßnahmen bestand. Noch hielt das Glück. Seine Erfolge als Detektiv hatten dagegen wenig Glanz. Er hatte ein paar jugendliche Ausreißer ausfindig gemacht, sie mit Raffinesse zurückgebracht, doch wenig später waren sie wieder ausgerissen. Er hatte einen Mann aufgespürt und überredet, zu seiner Frau zurückzukehren, die ihn dummerweise nach zwei Wochen erneuten Zusammenlebens erwürgte. Aber er hatte auch einen Mord aufgeklärt. Der allerdings galt bei der Polizei bis heute als Unfall. Bartzsch ließ sie in dem Glauben. Auch bei der Mordserie an den Hunden war es Bartzsch nicht gelungen, seine Talente als Detektiv öffentlich zu machen. Er hatte den Täter gefunden und ihn laufenlassen. Mir scheint es typisch für seine Arbeitsweise zu sein, ein tiefes Verständnis, fast könnte man sagen Mitleid, für die Täter zu entwickeln. Dabei weiß ich genau, daß Bartzschs Vorbilder die knallharten amerikanischen Detektive aus dem Kino sind. Zu Hause hat er eine stattliche Krimisammlung und schwärmt oft von dem einen oder anderen Buch. Doch deren Helden leiden nicht wie er an lebensgefährlichen Allergieausbrüchen.
»Schenkst du mir einen Satz von den Fotos?«
»Kann ich machen, aber was willst du damit?«
»Einrahmen und aufhängen.«
»Du kriegst die Fotos nur, wenn du mich einweihst.«
»Ach, du weißt doch, der verwirrte Geist eines Kortisonsüchtigen.« Er grinste. Aber dann zog er unter einem Stapel Zeitungen einen Schnellhefter hervor.
»Weißt du, was ich hier habe? Es ist die Hamburger Einbruchstatistik. Und wenn du dir ansiehst, wie sich die Einbrüche über das Stadtgebiet verteilen, gibt es seltsame Zusammenballungen.
»Klar, da, wo es was zu holen gibt. Oder wo es leicht ist einzusteigen.«
»Mag sein.«
»Was meinst du?«
»Ich glaube, daß diese Einbrüche meist nicht so unorganisiert und spontan ablaufen, wie die Polizei uns glauben machen will.«
»Eine Organisation?«
»Warum nicht? Weißt du, ein Einbrecher sucht vor allem Geld. Es ist die Beute, mit der er unkompliziert umgehen kann. Aber Bargeld findet er selten. Zweitens sucht er kleine, wertvolle Gegenstände, die er leicht mitnehmen kann. Kameras oder so etwas, doch dafür braucht er einen Abnehmer. Dieb und Hehler bilden ja die kleinste Organisationseinheit. Zusätzlich braucht man jemanden, der die lohnenden Objekte risikolos ausspäht und selbst kein Einbrecher ist. Denn auf jemanden, der sich am Tatort herumgetrieben hat, würde zuerst der Verdacht fallen. Späher, Einbrecher, Hehler. Fertig ist die Organisation.«
»So neu ist die Idee nicht.«
»Mir geht es um Risikominimierung. Aufwand und Ertrag müssen in einem äußerst profitablen Verhältnis stehen.«
»Ich würde mal sagen, neunzig Prozent der Fälle werden sowieso nicht aufgeklärt.«
»Du verstehst das nicht. Angebot und Nachfrage regeln die Einbrüche!«
»Marktwirtschaft.«
»Genau. Ein Unternehmen muß her.«
»Aber geschehen die meisten Einbrüche nicht spontan? So von Drogensüchtigen oder so?«
»Die interessieren mich nicht.«
Es klingelte.
»Und was willst du tun?«
Es klingelte stürmischer. Bartzsch zog die Schultern hoch. Ich trank meinen Tee aus. Wir standen gemeinsam auf. Ich reichte ihm die Hand. »Es ist besser, ich gehe jetzt.«
»Ich glaube nicht, daß du das kannst.«
»Was soll das heißen?«
»Du wirst jetzt einiges zu erklären haben.«
»Was?« Es klingelte zum dritten Mal.
»Vor der Tür steht jemand, der wissen will, warum du die Leiche so intensiv fotografiert hast.«
Bartzsch öffnete. Vor der Tür stand ein Polizist und lächelte.
Innere Stärke ist der Quell wahrhaftigen Lächelns, behauptete der chinesische Meister Tsün Wang.
Die Autorität meines von der Gewerkschaft ausgestellten Presseausweises wurde nicht auf die Probe gestellt. Ich durfte den Film behalten, mußte nur meinen Namen und meine Adresse preisgeben. Bartzsch war für den Polizisten wichtiger. Niemand in der näheren Umgebung hatte einen so guten Einblick in den Garten und damit auf den Schauplatz des Einbruchs. Die betroffenen Nachbarn waren verreist.
Aber Bartzsch war ein schlechter Zeuge. Durch die ausgezeichnete Isolierung seines Zimmers drangen kaum Geräusche, und so hatte er vergangene Nacht nichts Auffälliges wahrgenommen. Allein beim morgendlichen Blick aus dem Fenster hatte er die Leiche entdeckt und sofort die Polizei gerufen. Das war gelogen. Mir hatte der erste Anruf gegolten. Ob Bartzsch runtergegangen sei – zu der Leiche? Nein, sagte Bartzsch. Ich wußte nicht, ob ich ihm glauben sollte. Der Polizist tat es.
Ich wurde das Gefühl nicht los, daß Bartzsch von den Fotos mehr erwartete, als daß ich sie gut verkaufen könnte. Sicher, man konnte damit den Einbrecher identifizieren, vielleicht seinen Komplizen finden. Aber das war einfache Polizeiarbeit.
Mein Fotolabor ist eines Profis nicht würdig. Ich verwandle dazu mein Badezimmer, verdunkle das Fenster, klappe ein Brett mit dem Vergrößerungsgerät über die Wanne und knie mich davor. Diese Doppelfunktion des nur vier Quadratmeter großen Raumes stellte mich vor eine schwierige Entscheidung: erst duschen oder erst den Film entwickeln und vergrößern. Ich roch an mir und entschied mich gegen das Badezimmer und für das Fotolabor. Wenn Bartzsch glaubte, die Fotos würden etwas offenbaren, dann wollte ich es vor ihm entdecken.
Ich entwickelte den Film und trocknete ihn mit dem Fön. Ich hatte nur zweiundzwanzig Bilder geschossen, also vergrößerte ich alle. Meinen ästhetischen Ansprüchen genügte keines. Hätte ich mir selbst die Aufgabe »Zu Tode gestürzter Einbrecher« gestellt, ich hätte ein Bild komponiert, das es wert gewesen wäre, in ein Fotojahrbuch aufgenommen zu werden. Eine ganze Reihe meiner Bilder findet man in solchen Werken – allerdings nicht unter meinem richtigen Namen. Ich benutze vier verschiedene Pseudonyme. Ich will nicht, daß ein geschickter Journalist darauf kommt, daß alle meine Fotos perfekte Inszenierungen sind, daß ich nie da war, woher meine Bilder vorgeblich kommen. Ich erfinde Wirklichkeiten mit meinen Fotos. Ich bin Spezialist für das Grauen und das Elend in ästhetischer Vollendung. Das macht meine Bilder so erfolgreich. Sie sind besser als die Wirklichkeit. Bei ihrer perfekten formalen Gestaltung überlasse ich nichts dem Zufall – wie es der Reporter vor Ort tun muß. Deshalb sind meine Bilder auch wirkungsvoller. Gewalt, Elend und Leid faszinieren die Menschen, aber es ist nicht nur Voyeurismus, der sie nach Bildern dieser Art verlangen läßt. Es werden zwei gegensätzliche Gefühle hervorgerufen. Man wird abgestoßen und zugleich angezogen. Ein unerträglicher Zustand, denn die Menschen sind harmoniesüchtig. Dieser Zustand fordert dazu heraus, sich zu engagieren, sich für Menschlichkeit und Gerechtigkeit einzusetzen. Das fotografisch dokumentierte Grauen löst einen kleinen seelischen Schock aus, den verstärke ich und schwäche ihn zugleich ab durch den Einsatz künstlerischer Mittel. Ich mache die Situationen erträglicher, aber auch grausamer. Ich denke, aufgrund dieser Methode brennen sich meine Bilder ins Gedächtnis ein.
Da gibt es das Bild von einem in seinem Wagen erschossenen Mafiaopfer auf Sizilien. Es ist auf einem Schrottplatz am Rande Hamburgs entstanden, und der Tote, dessen Kopf blutüberströmt aus dem Wagenfenster hängt, bin ich selbst. Die Einschußlöcher in der Wagentür habe ich mit einem Stemmeisen fabriziert. Das Foto hat mir so viel eingebracht, daß ich meinen jetzigen Wagen davon finanzieren konnte. Bekannt ist auch das Bild des erfrorenen Bettlers in New York, aus dessen Lumpen sich noch die erstarrte bettelnde Hand reckt. Man ahnt es schon: Ich bin der Bettler, und ich mußte nicht nach New York fahren, um ein solches Foto zu machen. Es gelang mir hier, wo ich alle Details organisieren und komponieren konnte, viel besser. Dieses Bild war der Ausgangspunkt meiner Karriere als Fotograf.
Ich mache nur vier bis fünf Bilder dieser Art pro Jahr. Sie bringen mehr als genug Honorar zum Leben. Natürlich verkaufe ich nur an ausländische Agenturen. Von dort finden die Bilder meist ihren Weg zurück nach Deutschland. Diese Methode ist für mich die sicherste. Ich will nicht, daß jemand weiß, daß ich der Fotograf bin. Auf Ruhm lege ich keinen Wert. Diskussionen über meine Tätigkeit gehe ich aus dem Weg, indem ich sie selbst vor meinen Freunden verheimliche. Bartzsch ist einer der wenigen, die wissen, wie ich mein Geld verdiene.
»Ich weiß, daß es falsch ist, was du tust. Aber ich weiß nicht, was daran falsch ist. Vielleicht will ich es auch gar nicht wissen.«
»Es ist Betrug – möglicherweise sogar in juristischem Sinn –, aber ich habe mir eine kleine Rückversicherung eingebaut.«
»Darum geht es mir nicht. Nehmen wir einmal an, es käme heraus, niemand würde mehr einem Foto trauen. Die Fotografie hätte die Kraft der Dokumentation verloren. Das meine ich.«
»Die Fotografie hat ihre Unschuld längst verloren und trotzdem nicht ihre Wirkung. Denk an die vielen Fälschungen diktatorischer Regimes. Und die elektronische Bildverarbeitung hat alles möglich gemacht und macht ständig davon Gebrauch. Vor allem natürlich in der Werbung. Fast jedes Bild ist hier genaugenommen eine Fälschung.«
»Du magst gute Absichten haben, ein anderer Fotograf hat sie nicht. Wenn man mit dem Falschen das Richtige tut, wird das Richtige irgendwann falsch.«
Ich hatte Bartzsch nicht überzeugen können. Aber er billigte meine Fotos, seit ich ihm das eines Unfallopfers gezeigt hatte. Ein Mann kommt verletzt und schreiend, ein totes Kind in seinen Armen haltend, auf den Fotografen zugelaufen. Im Hintergrund sieht man eine Massenkarambolage, wie sie häufig auf Autobahnen anzutreffen ist. Das Foto trug in Italien mit dazu bei, eine heftige Diskussion über Geschwindigkeitsbegrenzungen auszulösen. Natürlich war ich der Mann, und das tote Kind war eine lebensgroße Puppe. Die Szene hatte ich am Rande eines Schrottplatzes arrangiert. Die Realität hätte mir kein Motiv in solch künstlerischer Perfektion bieten können.
Bartzschs Vorbehalte gegen meine Arbeit waren im Laufe der Zeit geringer geworden. Das lag wohl daran, daß er mich als Piraten anzusehen begann, der die Medien mit seinen Fotos entert, um damit zu ihrem Untergang beizutragen. Vor ein paar Tagen hatte er sich mir sogar als Modell angeboten. Ich hatte ihm von meinem Plan erzählt, ein Foto mit einem hingerichteten bosnischen Milizionär zu inszenieren. Ich denke, Schreckensbilder aus diesem Krieg, die auch ästhetischen Kriterien genügen, würden häufiger abgedruckt werden und damit vielleicht dazu beitragen, dieses Grauen zu beenden, so wie es der Bildberichterstattung in den sechziger Jahren mit dem Vietnamkrieg gelang. Ich gebe zu, diese Theorie ist umstritten.
Die Fotos vom toten Einbrecher hatten keine dieser Qualitäten. Sie schwammen zum Wässern in meiner Badewanne. Vor kurzem hatte ich alle Bilder noch auf der Wäscheleine getrocknet. Es machte mir nichts aus, sie langsam zu trocknen. Ich hatte es ja nie besonders eilig. Meine Fotos besaßen einen anderen Wert als den der Aktualität. Doch jetzt hatte ich eine Trockenpresse und zum ersten Mal einen dringenden Grund, sie zu benutzen. Ich plazierte sie auf dem Klodeckel. Noch heiß betrachtete ich die Fotos unter der Lupe, um vielleicht zu entdecken, worauf Bartzsch aus war. Ich fand nichts von Bedeutung, außer daß der Tote anhand dieser Fotos wirklich gut zu identifizieren sein mußte. Vielleicht hatte Bartzsch doch nichts anderes vor, als parallel zur Polizei Ermittlungen anzustellen.