Hanser E-Book
Nemesis
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Dirk van Gunsteren
Carl Hanser Verlag
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2010
unter dem Titel Nemesis bei Houghton Mifflin in Boston.
I’ll Be Seeing You. Musik und Text: Sammy Fain/Irving Kahal
© 1938 by Marlo Music Corp.
Rechte für Deutschland, Österreich, Schweiz:
EMI Music Publishing Germany GmbH.
ISBN 978-3-446-25123-6
© Philip Roth 2010
Alle Rechte vorbehalten
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München 2011/2015
Umschlag: © Peter-Andreas Hassiepen
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
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Für H. L.
DEN ERSTEN POLIOFALL in jenem Sommer gab es Anfang Juni, kurz nach dem Memorial Day, in einem armen italienischen Viertel auf der anderen Seite der Stadt. In unserem jüdischen Viertel Weequahic im Südwesten von Newark hörten wir nichts davon, ebensowenig wie von dem nächsten Dutzend Fälle, die in praktisch allen Vierteln außer unserem auftraten. Erst nach dem 4. Juli, als es bereits vierzig waren, erschien auf der Titelseite der Abendzeitung ein Artikel mit der Überschrift »Gesundheitsamt warnt Eltern vor Polio«, in dem Dr. William Kittell, der Leiter des Gesundheitsamtes, Eltern aufforderte, ein Auge auf ihre Kinder zu haben und unverzüglich einen Arzt aufzusuchen, wenn ein Kind Symptome wie Kopfschmerzen, Halsschmerzen, Übelkeit, Nackenstarre, Gelenkschmerzen oder Fieber zeigte. Er räumte zwar ein, dass vierzig Fälle so früh im Sommer mehr als doppelt so viel seien wie sonst, betonte jedoch, angesichts einer Einwohnerzahl von 429.000 könne man keineswegs von einer Poliomyelitis-Epidemie sprechen. In diesem wie in jedem anderen Sommer gelte es, achtsam zu sein und angemessene hygienische Vorbeugungsmaßnahmen zu treffen, doch bestehe noch kein Grund zu einer »durchaus verständlichen« Unruhe wie vor achtundzwanzig Jahren. Damals war es zu der größten bekannten Epidemie dieser Krankheit gekommen: Bei der Poliowelle, die 1916 durch den Nordosten der Vereinigten Staaten gegangen war, hatte es über 27.000 Fälle und 6000 Tote gegeben, in Newark allein 1360 Fälle und 363 Tote.
Selbst in einem Jahr mit einer durchschnittlichen Anzahl von Infektionen, in dem das Risiko einer Ansteckung weit kleiner war als 1916, bereitete eine Krankheit, die bewirken konnte, dass Kinder gelähmt und ihr Leben lang behindert blieben oder nicht imstande waren, außerhalb eines als »Eiserne Lunge« bekannten Metallapparats zu atmen, eine Krankheit, die manchmal durch Lähmung der Atemmuskulatur unausweichlich zum Tod führte, den Eltern in unserem Viertel täglich erhebliche Sorgen. Auch den Kindern, die den Sommer über schulfrei hatten und den ganzen Tag bis in die lang anhaltende Dämmerung hinein draußen spielen konnten, verdarb sie die Ferienstimmung. Die Angst vor den schlimmen Folgen einer Ansteckung mit Polio wurde zusätzlich verstärkt durch die Tatsache, dass es keine wirksame Behandlung gab und ein Impfstoff, der zuverlässigen Schutz geboten hätte, noch nicht gefunden war. Polio – oder Kinderlähmung, wie die Krankheit genannt wurde, als man dachte, sie befalle in erster Linie Kleinkinder – konnte aus heiterem Himmel jeden treffen. Obwohl hauptsächlich Kinder unter sechzehn darunter litten, konnten sich auch Erwachsene infizieren, wie zum Beispiel der Präsident der Vereinigten Staaten.
Franklin Delano Roosevelt, das berühmteste Polio-Opfer, hatte sich die Krankheit als kräftiger, gesunder Mann von neununddreißig Jahren zugezogen. Er konnte ohne fremde Hilfe nicht gehen, und selbst dann brauchte er schwere Beinschienen aus Stahl und Leder, die von der Hüfte bis zu den Füßen reichten. Die von ihm ins Leben gerufene Hilfsorganisation »March of Dimes«, die »Pfennigparade«, sammelte Geld für die Forschung und die Unterstützung betroffener Familien; obgleich in einigen Fällen eine teilweise oder sogar vollständige Genesung möglich war, erfolgte sie meist erst nach monate- oder jahrelangen teuren Krankenhausaufenthalten mit Therapie- und Rehabilitationsmaßnahmen. Einmal im Jahr, während der Aktionswoche, spendeten Amerikas Kinder in den Schulen ihr Kleingeld für den Kampf gegen diese Krankheit, sie steckten die Münzen in die Sammelbüchsen, die von den Platzanweiserinnen in den Kinos durch die Reihen geschickt wurden, und in den Büros, Läden und Schulkorridoren im ganzen Land hingen Plakate, die verkündeten: »Auch du kannst helfen!« und »Hilf, Kinderlähmung zu bekämpfen!« – Plakate mit dem Bild eines niedlichen kleinen Mädchens mit Beinschienen, das schüchtern am Daumen lutschte, oder eines hübschen, tapferen, heldenhaft lächelnden Jungen im Rollstuhl –, und die Gefahr, diese unheilbare Krankheit zu bekommen, in den Augen der gesunden Kinder nur um so realer und beängstigender erscheinen ließen.
Newark lag nicht weit über dem Meeresspiegel, und die Sommer waren schwül. Weil die Stadt teilweise von ausgedehntem, sumpfigem Marschland umgeben war – einer der Hauptgründe für das Auftreten von Malaria in jener Zeit, als auch sie eine unheilbare Krankheit gewesen war –, mussten wir uns ganzer Schwärme von Moskitos erwehren, wenn wir uns abends in Gassen und Einfahrten auf Gartenstühle setzten, um der stickigen Wärme unserer Wohnungen zu entkommen, wo man die mörderische Hitze nur mit einer kalten Dusche und Eiswasser mildern konnte. Damals gab es noch keine Klimaanlagen für den privaten Gebrauch, und der kleine schwarze Ventilator, der auf einem Tisch stand und die Luft im Zimmer in Bewegung hielt, brachte bei Temperaturen über fünfunddreißig Grad, die in jenem Sommer häufig auftraten und dann eine Woche oder gar zehn Tage lang anhielten, kaum Linderung. Draußen zündete man Zitronellenkerzen an und versprühte Insektenvertilgungsmittel, um die Moskitos und die Fliegen auf Abstand zu halten, die Malaria, Gelbfieber und Typhus übertrugen und von vielen für die Krankheitsüberträger der Polio gehalten wurden, so auch von Newarks Bürgermeister Drummond, der eine »Tod den Fliegen«-Kampagne ins Leben rief. Wenn es einer Fliege oder Mücke trotz der Fliegengitter gelang, durch eine offene Tür ins Haus zu schlüpfen, so wurde sie mit Fliegenklatsche und Insektenspray unbarmherzig zur Strecke gebracht, denn man fürchtete, sie bräuchte mit ihren von Keimen wimmelnden Beinen nur auf einem der schlafenden Kinder zu landen, um es mit Polio zu infizieren. Da damals noch niemand den Übertragungsweg kannte, war man misstrauisch gegenüber allem und jedem – das galt auch für die streunenden Katzen, die sich über unsere Mülltonnen hermachten, oder die herrenlosen Hunde, die ihr Geschäft mitten auf dem Bürgersteig verrichteten, und die Tauben, die gurrend auf den Giebeln der Häuser saßen und unsere Vortreppen beschmutzten. Um die Krankheit einzudämmen, ließ das Gesundheitsamt nach den ersten aufgetretenen Fällen und noch bevor amtlich festgestellt worden war, dass es sich um eine Epidemie handelte, systematisch die überaus zahlreichen streunenden Katzen töten, obgleich niemand wusste, ob sie mit der Ausbreitung der Polio mehr zu tun hatten als Hauskatzen.
Man wusste nur, dass die Krankheit hochansteckend war und schon durch körperliche Nähe zu bereits infizierten Menschen übertragen werden konnte. Als die Fälle – und damit die allgemeine Angst – in der Stadt stetig zunahmen, wurde es daher den Kindern in unserer Nachbarschaft von den Eltern verboten, zum Freibad im Olympic Park im nahegelegenen Irvington zu gehen; verboten waren die »gekühlten« Kinos, verboten war es, mit dem Bus in die Innenstadt zu fahren oder zur Wilson Avenue zu gehen, um unsere Baseballmannschaft, die Newark Bears, im Ruppert Stadium spielen zu sehen. Man warnte uns eindringlich davor, öffentliche Toiletten zu benutzen, unseren Durst an öffentlichen Trinkbrunnen zu löschen, einen Schluck aus der Sodaflasche eines anderen zu nehmen, uns der Zugluft auszusetzen, mit Fremden zu spielen, ein Buch aus der Bibliothek auszuleihen, ein Münztelefon zu benutzen, bei Straßenhändlern etwas zu essen zu kaufen oder irgendetwas zu verzehren, ohne zuvor unsere Hände mit Seife und Bürste gründlich gereinigt zu haben. Wir mussten alles Obst und Gemüse vor dem Essen waschen und Abstand zu jedem halten, der einen kranken Eindruck machte oder über eines der verräterischen Poliosymptome klagte.
Als beste Vorbeugungsmaßnahme gegen Polio galt, die Kinder aus der Hitze der Stadt in ein Sommercamp in den Bergen oder auf dem Land zu schicken. Eine andere Möglichkeit war, sie den Sommer etwa hundert Kilometer entfernt an der Küste von New Jersey verbringen zu lassen. Familien, die sich das leisten konnten, mieteten ein Zimmer mit Kochgelegenheit in einer Pension in Bradley Beach, einem kaum eineinhalb Kilometer langen Dorf mit Strand und Promenade, das seit Jahrzehnten eine beliebte Sommerfrische jüdischer Familien im Norden von New Jersey war. Dort konnten die Mutter und ihre Kinder an den Strand gehen und die ganze Woche lang die frische, kräftigende Seeluft atmen, und an den Wochenenden und Feiertagen gesellte sich dann der Vater zu ihnen. Natürlich gab es auch in Sommercamps oder kleinen Küstenorten Poliofälle, doch weil sie nicht annähernd so zahlreich waren, glaubte man allgemein, die Stadt mit ihren schmutzigen Straßen und der stickigen Luft begünstige eine Ansteckung, während ein Aufenthalt in Sicht- oder Hörweite des Meers, auf dem Land oder in den Bergen die bestmögliche Garantie gegen eine Erkrankung der Kinder darstelle.
Und so fuhren die Glücklichen, Privilegierten den Sommer über fort, und der Rest von uns blieb in der Stadt und tat – angesichts der Tatsache, dass »Überanstrengung« im Verdacht stand, eine der möglichen Ursachen der Krankheit zu sein –, genau das, was wir eigentlich nicht tun sollten: Wir spielten auf dem heißen Asphalt des Sportplatzes ein Baseball-Spiel nach dem anderen, rannten den ganzen Tag in der Gluthitze herum, tranken durstig von dem verbotenen Trinkbrunnen, saßen zwischen den Innings dicht gedrängt mit den anderen auf einer Bank, auf dem Schoß die abgewetzten Baseballhandschuhe, mit denen wir uns während des Spiels den Schweiß von der Stirn wischten, damit er uns nicht in die Augen rann, sprangen und alberten in unseren verschwitzten Polohemden und stinkenden Turnschuhen herum und dachten für den Augenblick nicht daran, dass dieses ausgelassene Rennen in der Sommerhitze für jeden von uns mit lebenslanger Gefangenschaft in einer eisernen Lunge enden konnte, womit sich die schrecklichsten Ängste bewahrheiten würden, die ein Körper nur haben kann.
Nur etwa ein Dutzend Mädchen kam zum Sportplatz, Acht- oder Neunjährige, die meist dort, wo das Baseballfeld zu einer kleinen, für den Verkehr gesperrten Straße neben der Schule abfiel, seilsprangen. Oft spielten sie auf der Straße Himmel und Hölle oder Fangen oder warfen sich stundenlang einen rosaroten Gummiball zu. Manchmal, wenn sie beim Seilspringen zwei Seile gegenläufig wirbeln ließen, rannte ein Junge ungebeten hinzu, schubste das Mädchen, das gerade springen wollte, beiseite und hüpfte selbst in die Seile, wobei er spottend den Singsang nachäffte, den die Mädchen beim Springen aufsagten, und sich absichtlich in den Seilen verhedderte. »N, ich heiße Nilpferd …« Dann schrien die Mädchen: »Hör auf! Hör auf!«, und riefen nach dem Lehrer, der die Aufsicht hatte. Der brauchte dem Störenfried (meist war es derselbe) von dort, wo er gerade war, nur zuzurufen: »Lass das, Myron! Wenn du die Mädchen nicht in Ruhe lässt, musst du nach Hause gehen!« Damit war die Störung dann beendet, und bald schwangen die Seile wieder durch die Luft, und eine Seilspringerin nach der anderen sagte ihren Vers auf:
A, ich heiße Agnes,
Und mein Mann, der heißt Alphonse,
Wir kommen aus Alabama
Und bringen Aprikosen mit.
B, ich heiße Bertha,
Und mein Mann, der heißt Bernard,
Wir kommen von den Bermudas
Und bringen Bälle mit.
C, ich heiße …
Die Mädchen am Ende des Sportplatzes improvisierten sich mit ihren Kinderstimmen durch das ganze Alphabet von A bis Z und wieder zurück, wobei die Substantive in jedem Vers mit demselben Buchstaben beginnen mussten, was manchmal nur mit grotesken Wortentstellungen möglich war. Aufgeregt rannten und sprangen sie umher – außer wenn Myron Kopferman oder seinesgleichen ihr Spiel rüde störte – und legten eine erstaunliche Energie an den Tag; wenn sie nicht von der Aufsicht aufgefordert wurden, sich aus der Hitze in den Schatten des Schulgebäudes zurückzuziehen, spielten sie auf der kleinen Straße, von dem Freitag im Juni, an dem das Schuljahr endete, bis zum ersten Dienstag im September, an dem das nächste begann und sie nur noch in den Pausen und nach der Schule seilspringen konnten.
Die Ferienaufsicht über den Sportplatz hatte in jenem Jahr Bucky Cantor, der, weil er wegen seiner starken Kurzsichtigkeit dicke Brillengläser brauchte, einer der sehr wenigen jungen Männer in unserem Viertel war, die nicht in den Krieg gezogen waren. Im vergangenen Schuljahr war Mr. Cantor als neuer Sportlehrer an die Chancellor Avenue School gekommen, und daher kannte er viele von uns, die sich im Sommer regelmäßig auf dem Sportplatz einfanden, schon vom Sportunterricht. Er war dreiundzwanzig und hatte Newarks South Side Highschool für weiße und schwarze Kinder aller Religionszugehörigkeiten besucht und danach am Panzer College für Sport und Hygiene in East Orange studiert. Er war nur knapp eins siebzig groß, und obwohl er ein überragender Sportler und ernstzunehmender Gegner war, hatten seine geringe Körpergröße und seine Kurzsichtigkeit ihn gehindert, in der Football-, Baseball- oder Basketballmannschaft des Colleges zu spielen und seine Wettkampfteilnahme auf die Disziplinen Speerwerfen und Gewichtheben beschränkt. Auf seinem kompakten Körper saß ein ziemlich großer, scharf konturierter Kopf, der ausschließlich aus schrägen Linien und Flächen zu bestehen schien: ausgeprägte Wangenknochen, ein wuchtiges Kinn und eine lange, gerade Nase mit markantem, kräftigem Rücken, die seinem Profil die Schärfe einer auf eine Münze geprägten Silhouette verlieh. Seine vollen Lippen hatten so klare Konturen wie die Muskeln, und seine Haut hatte das ganze Jahr über einen leichten Bronzeton. Seit seiner Jugend trug er das dunkle Haar militärisch kurz geschnitten. Dadurch fielen einem seine Ohren auf, nicht weil sie besonders groß gewesen wären und nicht unbedingt weil sie so dicht am Schädel anlagen, sondern weil sie, von der Seite betrachtet, große Ähnlichkeit mit einem Pik As oder den Flügeln an den Füßen des Götterboten Hermes hatten: Sie waren oben nicht gerundet wie bei den meisten Menschen, sondern liefen beinahe spitz zu. Bevor sein Großvater ihn Bucky getauft hatte, war er von seinen Spielkameraden Ace genannt worden – ein Spitzname, der sich nicht nur auf seine überragenden sportlichen Leistungen, sondern auch auf die ungewöhnliche Form seiner Ohren bezog.
Durch die schrägen Flächen seines Gesichts wirkten die grauen Augen hinter den Brillengläsern – Augen, die schmal waren wie die eines Asiaten –, als lägen sie tief in den Höhlen, als wären sie gleichsam Krater in seinem Schädel. Die Stimme, die von diesem scharf geschnittenen, durch klare Linien definierten Gesicht ausging, war überraschend hoch, doch das tat der Kraft seiner Erscheinung keinen Abbruch. Es war das robuste, wie aus Eisen gegossene und auffallend kühne Gesicht eines starken jungen Mannes, auf den Verlass war.
Eines Nachmittags Anfang Juli bogen zwei Wagen voller Italiener, fünfzehn- bis achtzehnjährige Schüler der East Side Highschool, in die kleine Straße hinter der Schule ein und parkten an ihrem Ende, dort, wo der Sportplatz war. Die East Side Highschool befand sich in einem heruntergekommenen Arbeiterviertel namens Ironbound, in dem es bis dahin die meisten Poliofälle gegeben hatte. Sobald Mr. Cantor sie sah, ließ er seinen Fanghandschuh fallen – er stand bei einem unserer improvisierten Baseballspiele am Third Base – und ging zum Sportplatzeingang, wo sich die zehn fremden Jungen aufgebaut hatten. Sein athletischer, zielstrebiger, federnder Gang mit leicht einwärts gekehrten Zehen und die Art, wie er dabei die breiten Schultern wiegte, wurden bereits von zahlreichen Jungen auf dem Sportplatz nachgeahmt. Manche Jungen bemühten sich, beim Spiel und anderswo genau dieselbe Haltung einzunehmen wie er.
»Was wollt ihr hier?«, fragte Mr. Cantor.
»Kinderlähmung verbreiten«, erwiderte derjenige, der mit großspurigen Bewegungen als erster ausgestiegen war. »Stimmt’s?«, sagte er und stolzierte vor seinen Kumpanen auf und ab, die, wie es Mr. Cantor schien, nur darauf warteten, einen Streit anzufangen.
»Ihr seht eher so aus, als wolltet ihr Ärger machen. Warum verschwindet ihr nicht?«
»Nein, nein«, sagte der Italiener, »erst müssen wir ein bisschen Kinderlähmung verbreiten. Wir haben sie und ihr nicht, also sind wir zu dem Schluss gekommen, dass wir sie verbreiten müssen.« Er wippte die ganze Zeit auf den Absätzen vor und zurück, um zu zeigen, was für ein harter Bursche er war. Die lässig in die beiden vorderen Gürtelschlaufen seiner Hose gehakten Daumen drückten ebenso wie sein Gesicht Verachtung aus.
»Ich habe hier die Aufsicht«, sagte Mr. Cantor und wies mit dem Daumen über seine Schulter auf uns, »und ich fordere euch auf, vom Sportplatz zu verschwinden. Ihr habt hier nichts zu suchen, und ich fordere euch höflich auf zu gehen. Also?«
»Seit wann ist es verboten, Kinderlähmung zu verbreiten, Herr Aufseher?«
»Pass auf, das ist nicht witzig. Kinderlähmung ist kein Witz. Und es gibt ein Gesetz gegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Ich will nicht die Polizei rufen müssen. Wie wär’s, wenn ihr verschwinden würdet, bevor ich die Polizei anrufe, damit die sich um euch kümmert?«
Der Anführer, der gut einen halben Kopf größer war als Mr. Cantor, trat einen Schritt vor und spuckte Mr. Cantor vor die Füße. Nur Zentimeter von seinen Turnschuhen entfernt war ein zähflüssiger runder Fleck.
»Was soll das?«, fragte Mr. Cantor. Seine Stimme war noch immer ruhig, und mit seinen vor der Brust verschränkten Armen und seiner breiten, muskulösen Statur war er die Verkörperung einer Barrikade. Kein Schläger aus Ironbound würde an ihm vorbei und in die Nähe der Kinder kommen.
»Hab ich doch gesagt: Wir bringen euch Kinderlähmung. Wir wollen nicht, dass eure Leute leer ausgehen.«
»Dies Gequatsche von ›ihr hier‹ kannst du dir sparen«, sagte Mr. Cantor scharf und trat rasch einen Schritt vor, so dass sein Gesicht nur Zentimeter von dem des anderen entfernt war. »Ich gebe euch zehn Sekunden, dann seid ihr verschwunden.«
Der Italiener lächelte. Er lächelte, seit er aus dem Wagen ausgestiegen war. »Und wenn nicht – was machst du dann?«
»Was ich eben gesagt habe. Ich hole die Polizei, damit die dafür sorgt, dass ihr verschwindet und nicht mehr wiederkommt.«
Der Anführer spuckte abermals aus, diesmal knapp neben Mr. Cantors Schuh, und Mr. Cantor rief nach dem Jungen, der bei unserem Spiel gerade als Batter dran war und, wie wir alle, zusah, wie Mr. Cantor sich zehn Italienern entgegenstellte: »Jerry, lauf in mein Büro und ruf die Polizei an. Sag ihnen, du rufst in meinem Namen an, und sie sollen so schnell wie möglich kommen.«
»Und was sollen die dann tun? Mich einsperren?«, fragte der Anführer der Italiener. »Weil ich auf euren kostbaren Bürgersteig gespuckt hab? Gehört dir etwa auch der Bürgersteig, Brillenschlange?«
Mr. Cantor gab keine Antwort, sondern verharrte wie eine Barriere zwischen den Jungen, die auf dem Platz hinter ihm Baseball gespielt hatten, und den beiden Wagenladungen Italiener, die auf der Straße am Eingang zum Sportplatz standen, als könnten sie gleich ihre Zigaretten fallen lassen und eine Waffe zücken. Doch als Jerry aus Mr. Cantors Büro im Keller zurückkehrte – von wo er, wie angewiesen, die Polizei angerufen hatte –, waren die beiden Wagen und ihre bedrohlichen Insassen verschwunden. Wenige Minuten später fuhr ein Streifenwagen vor, und Mr. Cantor konnte den Polizisten die Kennzeichen der beiden Wagen angeben, die er sich während des Wortwechsels eingeprägt hatte. Erst als die Polizisten wieder verschwunden waren, wagten es die Kinder am Zaun, sich über die Italiener lustig zu machen.
Wie sich herausstellte, war überall, wo ein Italiener gestanden hatte, Spucke auf dem Boden. Auf mehreren Quadratmetern hatte der Bürgersteig zahllose nasse, schleimige, widerliche Flecken und wirkte wie eine ideale Brutstätte für Krankheiten. Mr. Cantor schickte zwei Jungen in den Keller der Schule, sie sollten zwei Eimer auftreiben, sie mit heißem Wasser und Ammoniak aus dem Putzraum füllen und es in mehreren Schüben auf den Bürgersteig gießen, bis alles gründlich gereinigt war. Die Jungen, die das Wasser über den Bürgersteig gossen, erinnerten ihn daran, wie er als Zehnjähriger geputzt hatte, nachdem er im Gemüsegeschäft seines Großvaters eine Ratte erschlagen hatte.
»Keine Sorge«, sagte Mr. Cantor zu den Jungen. »Die kommen nicht noch mal. So ist das eben«, sagte er und zitierte einen Lieblingssatz seines Großvaters, »es passiert immer irgendwas Komisches.« Dann wurde das Spiel fortgesetzt. Die Jungen, die von der anderen Seite des zwei Stockwerke hohen Maschendrahtzauns, der den Sportplatz umschloss, zugesehen hatten, waren mächtig beeindruckt von ihrem Mr. Cantor, der sich den Eindringlingen in den Weg gestellt hatte und keinen Zentimeter zurückgewichen war. Seine entschlossene, selbstsichere Art, seine Kraft – die Kraft eines Gewichthebers – und die Tatsache, dass er sich täglich mit Begeisterung an unseren Baseballspielen beteiligte, hatten ihn von dem Tag an, da man ihn zur Ferienaufsicht über den Sportplatz ernannt hatte, zu einem Vorbild für die Jungen gemacht, die regelmäßig dorthin kamen. Nach dem Vorfall mit den Italienern wurde er zum regelrechten Helden, zum verehrten, beschützenden, heldenhaften großen Bruder, besonders für die Jungen, deren große Brüder im Krieg kämpften.
Ein paar Tage später erschienen zwei der Jungen, die bei dem Auftritt der Italiener dagewesen waren, nicht zu unseren üblichen Baseballspielen. Beide waren morgens mit hohem Fieber und steifem Nacken aufgewacht und mussten, nachdem sie in Armen und Beinen eine ausgeprägte Schwäche entwickelt und erhebliche Atemschwierigkeiten bekommen hatten, am Abend des darauffolgenden Tages mit dem Krankenwagen in eine Klinik gebracht werden. Der eine, Herbie Steinmark, war ein dicklicher, unbeholfener, liebenswerter Achtklässler, der wegen seiner Tolpatschigkeit gewöhnlich im Right Field spielen musste und als Letzter schlagen durfte, der andere, Alan Michaels, ebenfalls Achtklässler, gehörte zu den sportlichsten Jungen und war einer derjenigen, die Mr. Cantor am nächsten standen. Herbie und Alan waren die ersten Poliofälle in unserem Viertel; innerhalb von achtundvierzig Stunden gab es elf weitere Fälle, und obwohl keines dieser Kinder an jenem Tag auf dem Sportplatz gewesen war, sprach es sich rasch herum, dass die Krankheit von den Italienern nach Weequahic getragen worden war. Da bis dahin die meisten Poliofälle im italienischen Viertel aufgetreten waren, während es bei uns keinen einzigen gegeben hatte, glaubte man allgemein, dass die Italiener, wie sie es behauptet hatten, an jenem Nachmittag quer durch die Stadt gefahren waren, um die Kinderlähmung unter den Juden zu verbreiten – und dass ihnen das gelungen war.
Bucky Cantors Mutter war bei seiner Geburt gestorben, und er war bei seinen Großeltern mütterlicherseits aufgewachsen, in einem von zwölf Parteien bewohnten Mietshaus an der Barclay Street unweit der Avon Avenue in einem der ärmeren Viertel der Stadt. Sein Vater, von dem er die schlechten Augen geerbt hatte, war Buchhalter in einem großen Kaufhaus in der Innenstadt; er hatte eine Schwäche für Pferdewetten und wurde kurz nach dem Tod seiner Frau und der Geburt seines Sohnes zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er Geld unterschlagen hatte, um seine Wettschulden zu bezahlen – wie sich herausstellte, hatte er vom ersten Tag an in die Kasse gegriffen. Er saß zwei Jahre im Gefängnis und kehrte nach seiner Entlassung nie nach Newark zurück. Auf das Leben wurde der Junge, dessen Name Eugene war, also nicht von seinem Vater, sondern von seinem großen, bärenhaften, hart arbeitenden Großvater vorbereitet, in dessen Gemüsegeschäft in der Avon Avenue er samstags und nach der Schule aushalf. Als er fünf war, heiratete sein Vater wieder und versuchte mit Hilfe eines Anwalts zu erwirken, dass Eugene zu ihm und seiner neuen Frau nach Perth Amboy kam, wo er in einer Werft arbeitete. Anstatt sich ebenfalls einen Anwalt zu nehmen, fuhr der Großvater sogleich nach Perth Amboy, wo es zu einer heftigen Auseinandersetzung kam, in deren Verlauf er seinem ehemaligen Schwiegersohn angeblich androhte, ihm den Hals zu brechen, sollte er es noch einmal wagen, sich irgendwie in Eugenes Leben einzumischen. Danach hörte man nie mehr etwas von Eugenes Vater.
Durch das Herumtragen von Gemüsekisten entwickelten sich die Muskeln in seinem Oberkörper, und weil er täglich unzählige Male zur Wohnung im zweiten Stock hinauflief, bekam er starke Beine. Das Vorbild seines unerschrockenen Großvaters lehrte ihn, sich jeder Widrigkeit zu stellen – unter anderem der Tatsache, dass er der Sohn eines Mannes war, den sein Großvater zeit seines Lebens als »sehr zwielichtigen Charakter« beschrieb. Schon als Junge wollte er stark wie sein Großvater sein und keine dicken Brillengläser tragen müssen, doch seine Augen waren so schlecht, dass er, wenn er abends zu Bett ging und die Brille absetzte, kaum imstande war, die wenigen Möbelstücke in seinem Zimmer zu erkennen. Sein Großvater, der über seine eigenen Schwächen nie lange nachgedacht hatte, sagte zu dem Jungen, als dieser mit acht Jahren zum ersten Mal eine Brille aufsetzte, jetzt könne er so gut sehen wie jeder andere. Danach gab es zu diesem Thema nichts mehr zu sagen.
Seine Großmutter war eine gutmütige, warmherzige kleine Frau, die ideale Ergänzung zu seinem Großvater. Sie ertrug tapfer alle Mühsale, auch wenn sie jedesmal Tränen in den Augen hatte, wenn man ihre mit zwanzig Jahren im Kindbett gestorbene Tochter erwähnte. Sie wurde von allen geliebt, sowohl im Geschäft als auch zu Hause, wo sie die Hände nie in den Schoß legte und, während sie den Haushalt erledigte, mit halbem Ohr Life Can Be Beautiful und andere Seifenopern hörte, bei denen man nervös und gespannt das nächste Unglück erwartete. In den wenigen Stunden, in denen sie nicht ihrem Mann im Geschäft half, widmete sie sich mit Freuden Eugenes Wohlergehen: Sie pflegte ihn, als er Masern, Mumps und Windpocken hatte, sorgte dafür, dass seine Kleider sauber und gepflegt waren und er seine Hausaufgaben erledigte, sie unterschrieb die Zeugnisse, ging mit ihm regelmäßig zum Zahnarzt (was damals in armen Familien eine Seltenheit war), achtete darauf, dass er gesund und reichlich aß, und bezahlte die Gebühren in der Synagoge, wo er nach der Schule als Vorbereitung für seine Bar-Mizwah Hebräischunterricht erhielt. Von den drei genannten Kinderkrankheiten abgesehen, besaß der Junge eine eiserne Gesundheit, gute, regelmäßige Zähne und eine robuste Konstitution, was sicher irgendwie damit zusammenhing, dass sie ihn so gut bemuttert und alles getan hatte, was nach damaliger Meinung der Gesundheit und dem Wachstum eines Kindes förderlich war. Zwischen ihr und ihrem Mann gab es kaum jemals Streit – beide wussten, was sie zu tun hatten und wie es am besten zu tun war, und beide widmeten sich ihren jeweiligen Aufgaben mit einem Eifer, an dem sich der junge Eugene ein Beispiel nahm.
Sein Großvater kümmerte sich um seine männliche Entwicklung, entschlossen, jedwede Schwäche auszumerzen, die der straffällig gewordene Vater – zusammen mit den schlechten Augen – an den Jungen vererbt haben könnte, und Eugene beizubringen, dass alles, was ein Mann tat, mit einer gewissen Verantwortung verbunden war. Dieser väterliche Druck war gewiss nicht leicht zu ertragen, doch wenn der Junge die Anforderungen erfüllte, sparte der Großvater nicht mit Lob. So auch an dem Tag, als der erst zehnjährige Eugene im trübe beleuchteten Lagerraum hinter dem Laden auf eine große graue Ratte stieß. Draußen war es bereits dunkel, als er die Ratte zwischen den aufgestapelten Pappkartons umherlaufen sah, die er zusammen mit seinem Großvater ausgepackt hatte. Sein erster Impuls war, davonzulaufen, doch statt dessen griff er, da er wusste, dass sein Großvater gerade eine Kundin bediente, geräuschlos nach der in der Ecke lehnenden schweren Schaufel, mit der er im Winter Kohlen in den Ofen warf, der den Laden beheizte.
Auf Zehenspitzen und mit angehaltenem Atem näherte er sich vorsichtig der Ratte, die sich panisch in der Ecke zusammenkauerte. Als der Junge die Schaufel über den Kopf erhob, stellte die Ratte sich auf die Hinterbeine, fletschte ihre furchterregenden Zähne und machte sich bereit zu springen. Bevor sie das jedoch tun konnte, schwang er die Schaufel und traf das Tier auf den Schädel. Blut, Knochensplitter und Gehirnmasse rannen in die Ritzen zwischen den Bodendielen. Der Junge konnte einen Brechreiz nicht ganz unterdrücken, kratzte aber die Überreste der Ratte mit dem Schaufelblatt zusammen. Sie war schwerer, als er gedacht hatte, und wirkte noch größer als Sekunden zuvor, als sie sich auf die Hinterbeine gestellt hatte. Seltsamerweise sah nichts – nicht einmal der nackte, leblose Schwanz oder die vier reglosen Füße – so tot aus wie die nadeldünnen, blutverschmierten Schnurrhaare. Als er die Schaufel erhoben hatte, hatte er die Schnurrhaare gar nicht bemerkt. Nur die Worte »Töte sie« waren zu ihm durchgedrungen, als hätte sein Großvater sie in seinem Kopf gesprochen. Er wartete, bis die Kundin mit ihrer Einkaufstasche den Laden verlassen hatte, und ging dann, die Schaufel vor sich haltend, in den Verkaufsraum, um dem Großvater die tote Ratte zu zeigen, bevor er sie hinaus auf die Straße brachte. An der Ecke warf er den Kadaver auf das Gitter des Gullys und schob ihn mit der Kante des Schaufelblatts zwischen den eisernen Stäben hindurch. Dann kehrte er zum Geschäft zurück, säuberte mit Wurzelbürste, Schmierseife, Putzlumpen und einem Eimer Wasser den Boden von seinem Erbrochenen und dem Blut der Ratte und reinigte anschließend die Schaufel.
Nach dieser mutigen, triumphalen Tat nannte der Großvater den zehnjährigen brillentragenden Eugene nur noch »Bucky«, und zwar wegen der Konnotation von Hartnäckigkeit, Stärke und entschlossener, beherzter, willensstarker Tapferkeit, die in diesem Spitznamen mitschwang.
Der Großvater, Sam Cantor, war in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts ganz allein aus einem jüdischen Städtchen in Galizien nach Amerika eingewandert und hatte in den Straßen von Newark gelernt, furchtlos zu sein. Bei Kämpfen mit antisemitischen Banden war ihm mehr als einmal die Nase gebrochen worden. Er verbrachte seine Jugend in einem der ärmsten Viertel einer Stadt, in der Gewalt gegen Juden an der Tagesordnung war, und diese Tatsache prägte nicht nur seine Einstellung gegenüber dem Leben, sondern auch die seines Enkels. Er ermunterte den Jungen, sich vor nichts zu fürchten, sich jederzeit als Mann wie als Jude zu behaupten und zu akzeptieren, dass die letzte Schlacht nie geschlagen war. »Und wenn du den Preis bezahlen musst«, bemerkte er häufig über die täglichen Scharmützel, die das Leben, wie er es kannte, ausmachten, »dann bezahlst du ihn eben.« Die gebrochene Nase im Gesicht seines Großvaters war für den Jungen der Beweis, dass die Welt versucht hatte, diesen Mann zu brechen, es ihr aber nicht gelungen war. Im Juli 1944, als die zehn Italiener vor dem Sportplatz auftauchten und Mr. Cantor sich ihnen entgegenstellte, war der alte Mann längst einem Herzanfall erlegen, und doch war er während des ganzen Zwischenfalls spürbar anwesend.
Ein Junge, der seine Mutter bei der Geburt und seinen Vater nur wenige Jahre später verloren hatte und dessen Eltern in seinen frühesten Erinnerungen keinerlei Rolle spielten, hätte mit den ererbten Ersatzeltern, die ihn groß und stark werden ließen, nicht gesegneter sein können – nur selten ließ er zu, dass der Gedanke an seine fehlenden Eltern ihn quälte, auch wenn sein ganzes bisheriges Leben von ihrer Abwesenheit geprägt war.
Mr. Cantor war zwanzig und im dritten Studienjahr, als am Sonntag, dem 7. Dezember 1941, die amerikanische Pazifikflotte in Pearl Harbor aus heiterem Himmel von den Japanern bombardiert und beinahe vernichtet wurde. Am darauffolgenden Montag ging er zum Rekrutierungsbüro am Rathaus, um sich freiwillig zu melden, doch wegen seiner schlechten Augen wollte man ihn nicht nehmen, weder die Armee noch die Marine, die Küstenwache oder das Marinecorps. Er wurde als untauglich eingestuft und zurückgeschickt zum Panzer College, wo er sich auf eine Laufbahn als Sportlehrer vorbereitete. Sein Großvater war eben erst verstorben, und Mr. Cantor hatte, so irrational dieser Gedanke auch war, das Gefühl, ihn enttäuscht und seine Erwartungen nicht erfüllt zu haben, dem Vorbild seines unverwüstlichen Mentors nicht gerecht geworden zu sein. Wozu waren seine muskulöse Statur und seine athletischen Fähigkeiten gut, wenn er sie nicht als Soldat einsetzen konnte? Er hatte doch nicht seit seiner frühen Jugend Gewichte gestemmt, nur um stark genug zu sein, einen Speer zu werfen. In seiner Vorstellung war er für das Marinecorps geschaffen.
In den Monaten, die dem Kriegseintritt Amerikas folgten, musste er in Zivilkleidung durch die Straßen von Newark gehen, während alle tauglichen Männer seines Alters in irgendwelchen Ausbildungslagern auf den Kampf gegen die Deutschen und die Japaner vorbereitet wurden – darunter auch seine beiden besten Freunde vom Panzer College, die ihn am 8. Dezember zum Rekrutierungsbüro begleitet hatten. Seine Großmutter, bei der er noch immer wohnte – zum College fuhr er mit dem Zug –, hörte ihn in der Nacht, als seine Freunde zur Grundausbildung nach Fort Dix fuhren, in seinem Zimmer weinen, wie sie ihn noch nie hatte weinen hören. Er schämte sich, in Zivil durch die Straßen zu gehen, er schämte sich, im Kino die Wochenschauen mit den Kriegsberichterstattungen zu sehen, ja er schämte sich, die Schlagzeilen zu lesen, wenn er abends während der langen Busfahrt von East Orange nach Newark neben jemandem saß, der die Abendzeitung las. »Bataan gefallen.« »Corregidor gefallen.« »Wake Island gefallen.« Er empfand die Scham eines Mannes, dessen persönlicher Einsatz den entscheidenden Unterschied gemacht hätte, während die amerikanischen Streitkräfte im Pazifik eine gewaltige Niederlage nach der anderen hinnehmen mussten.