ZUM BUCH
Die Mission der 100 ist fast schon zum Scheitern verurteilt, ehe sie richtig angefangen hat: Von einer friedlichen Wiederbesiedlung der Erde kann nicht die Rede sein – denn die Menschen, die auf dem blauen Planeten überlebt haben, tun alles, um die Eindringlinge aus dem All in die Flucht zu schlagen.
Komplett überraschend wird das Camp der Jugendlichen von Erdgeborenen überfallen, die vor nichts zurückzuschrecken scheinen. Wells versucht, die Überlebenden in Sicherheit zu bringen, muss aber gegen Anfeindungen aus der eigenen Gruppe kämpfen. Bellamy ist währenddessen auf der verzweifelten Suche nach seiner Schwester Octavia, die spurlos verschwunden ist. Die mutige Clarke, die in ihren Gefühlen zwischen ihm und Wells schwankt, hilft ihm dabei – und stößt auf ein unfassbares Geheimnis. Gleichzeitig droht auf den Raumschiffen der Sauerstoff auszugehen. Das Überleben aller hängt nun allein vom Mut der Jugendlichen ab.
DIE AUTORIN
Kass Morgan studierte an der Brown University bis zum Bachelor und absolvierte anschließend ein Masterprogramm in Oxford. Derzeit lebt sie als Lektorin und freie Autorin in Brooklyn. Noch vor Erscheinen ihres ersten Buches, Die 100, konnte sie bereits die Rechte an der Serienverfilmung verkaufen. Die 100 schaffte es auf Anhieb auf die Spiegel-Bestsellerliste.
Kass Morgan
HEIMKEHR
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Michael Pfingstl
Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel
The 100: Homecoming bei Little, Brown and Company, New York
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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
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Key Artwork © 2015 Warner Bros. Entertainment Inc.
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Redaktion: Lars Zwickies
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-18986-0
V003
www.heyne-fliegt.de
Für Joelle Hobeika, deren Fantasie Geschichten
zum Leben erweckt und verrückte Träume wahr werden lässt.
Und für Annie Stone, Lektorin der Extraklasse.
Dem unfassbar tollen Team von Alloy bin ich zu allergrößtem Dank verpflichtet. Josh, Ihr kreativer Instinkt ist sogar noch zielsicherer als Ihre Schläge beim Golf. Es ist ein Vergnügen zu sehen, wie Ihr Gehirn Idee um Idee ausspuckt. Sara, Ihre Intelligenz und Liebenswürdigkeit schaffen eine Atmosphäre, in der Geschichten gedeihen und ich mich vollkommen zu Hause fühlen kann. Les, danke, dass Sie an dieses Projekt geglaubt und es mit Ihrem ganz besonderen Zauber zur vollen Entfaltung gebracht haben.
Ein riesiger Dank an Heather David, deren Kreativität und Beharrlichkeit mir einen der schönsten Tage meines Lebens beschert haben. Ebenfalls an Romy Golan und Liz Dresner, die mein chaotisches Geschreibe in einen wundervollen Text verwandelten.
Joelle Hobeika versetzt mich nach wie vor in Ehrfurcht mit ihrem Talent, ihrer Erzählkunst und der Fähigkeit, jede Aufgabe in eine Freude zu verwandeln. Das Gleiche gilt für Annie Stone, die klügste und inspirierendste Lektorin, die man sich als Autorin nur wünschen kann.
Tausend Dank an das Team von Little, Brown and Company für Einsatz, Kreativität und verlegerischen Scharfsinn. Ebenfalls an Pam Gruber, deren unbestechliche Klarsicht diese Reihe auf Kurs gehalten hat, und an meine wunderbare Agentin Hallie Patterson.
Ich bin unglaublich dankbar, dass ich mit Hodder & Stoughton arbeiten durfte, deren Engagement und Begeisterung für Die 100 mich schlicht vom Hocker gehauen haben. Ein ganz spezieller Dank geht an Kate Howard, Emily Kitchin und Becca Mundy, die mich (und einhundert jugendliche Delinquenten aus dem All) jenseits des Großen Teichs willkommen geheißen haben.
Wie immer auch ein Dank an meine wundervollen Freunde für ihren Humor und ihre Unterstützung. Ich schulde euch allen einen Drink. Dank euch kam ich während des Schreibens wenigstens ab und zu einmal unter Leute. Eine besondere »Verdienstmedaille« geht an Gavin Brown, der mehr für dieses Projekt getan hat, als irgendjemand von ihm zu verlangen gewagt hätte.
Zu unendlichem Dank bin ich außerdem Jennifer Shotz verpflichtet, deren Talent und Vorstellungskraft diese Geschichte in vielerlei Hinsicht entscheidend geformt haben.
Ein Dank auch an meine Familie, vor allem an meine wundervollen, unendlich hilfsbereiten Eltern Sam und Marcia, derentwegen ich überhaupt erst zur Autorin geworden bin. Ich habe euch verziehen.
Zu guter Letzt ein besonderes Dankeschön an meine Leser, deren Begeisterung mich zum glücklichsten Mädchen auf Erden macht. #Bellarke forever.
Glass
Glass’ Hand war klebrig vom Blut ihrer Mutter. Die Erkenntnis kam langsam, wie durch dichten Nebel, als gehöre die Hand jemand anderem, als wäre das Blut daran ein Bild aus einem Albtraum. Aber es war ihre Hand, und das Blut war echt.
Glass saß wieder angeschnallt in ihrem Sitz, jemand drückte ihre linke Hand. Es war Luke. Er hatte sie nicht mehr losgelassen, seit er Glass von ihrer toten Mutter weggezerrt und zu ihrem Sitz getragen hatte. Er drückte ihre Finger so fest, als wollte er den Schmerz herauspressen, der durch ihre Adern pulsierte, und ihn in seinen eigenen Körper saugen. Glass versuchte, alles auszublenden außer der Wärme von Lukes Hand, dem kräftigen Druck seiner Finger, der selbst dann nicht nachließ, als der Transporter in die Erdatmosphäre eintauchte und heftig zu rütteln begann. Noch vor wenigen Minuten hatten sie direkt nebeneinandergesessen – Mutter und Tochter, bereit, gemeinsam eine neue Welt zu entdecken. Doch jetzt war sie tot, erschossen von einem Gardisten, der unbedingt einen Platz auf diesem Transporter wollte. Denn dies war die letzte Gelegenheit, die todgeweihte Kolonie zu verlassen.
Glass presste die Augenlider zusammen und versuchte, die Bilder aus ihrem Geist zu verbannen: ihre Mutter, die lautlos zu Boden sank. Wie sie neben ihrer röchelnden und stöhnenden Mutter kniete und doch nichts tun konnte, um die Blutung zu stoppen. Wie sie den Kopf ihrer Mutter auf ihren Schoß bettete und ihr Schluchzen niederkämpfte, um ihr zu sagen, wie sehr sie sie liebte. Wie der dunkle Fleck auf dem Kleid ihrer Mutter sich immer weiter ausbreitete und alles Leben aus dem sterbenden Körper wich. Dann die plötzlich erschlaffenden Gesichtszüge, nur einen Wimpernschlag nach den letzten Worten, die ihre Mutter je sagen würde: »Ich bin so stolz auf dich.«
Doch die Bilder verschwanden nicht, genauso wenig wie die schreckliche Wahrheit. Ihre Mutter war tot, und jetzt jagte Glass mit Luke der Erde entgegen, wo sie jeden Moment aufschlagen würden. Das Schütteln wurde immer heftiger, der Lärm lauter, doch Glass bekam es kaum mit. Sie spürte nur vage, wie die Gurte in ihren Brustkorb schnitten, während sie ruckartig von links nach rechts geschleudert wurde. Doch der Schmerz in ihrem Innern war weit schlimmer.
Wenn überhaupt, hatte sie sich Trauer immer als eine Art Gewicht vorgestellt, das auf einem lastete. Aber die alte Glass hatte sich kaum mit Schmerz beschäftigt. Das hatte sich erst mit dem Tod der Mutter ihres besten Freundes Wells geändert, als sie ihn, wie von einem unsichtbaren, tonnenschweren Gewicht gebeugt, durch die Flure des Schiffs schlurfen sah. Doch Glass spürte keine Last. Sie fühlte sich leer und ausgehöhlt, als hätte irgendetwas alle Gefühle aus ihrem Körper gesaugt. Das Einzige, was sie daran erinnerte, dass sie noch lebte, war die tröstende Berührung von Lukes Hand.
Überall um sie herum waren Menschen, jeder Sitz war besetzt, auf jedem freien Quadratzentimeter der Kabine drängten sich im Stehen Männer, Frauen und Kinder zusammen und stützten sich gegenseitig, obwohl sowieso niemand umfallen konnte – dafür war der Transporter viel zu voll. Wie ein großes Knäuel aus Fleisch und Tränen ruckten die Körper der Passagiere unter den heftigen Erschütterungen hin und her. Einige flüsterten die Namen derer, die sie zurückgelassen hatten, andere schüttelten nur stumm den Kopf, als wollten sie nicht wahrhaben, wie viele geliebte Menschen sie nie wiedersehen würden.
Der Einzige, der vollkommen ruhig wirkte, war der Mann rechts neben Glass: Vizekanzler Rhodes. Er starrte stur geradeaus, als bemerke er die verzweifelten Gesichter um ihn herum nicht einmal. Oder als seien sie ihm egal.
Einen Moment lang loderte Wut in ihr auf. Wells’ Vater, der Kanzler, hätte alles getan, um die panischen Passagiere zu beruhigen. Außerdem hätte er niemals einen Platz auf dem letzten Transporter angenommen. Doch Glass stand es kaum zu, Rhodes für sein Verhalten zu verurteilen: Wenn er sie und ihre Mutter nicht mitgenommen hätte, als er sich mit Gewalt einen Platz auf dem Transporter erzwang, wäre Glass gar nicht hier.
Ein gewaltiger Ruck schleuderte sie gegen die Rückenlehne, der Transporter wurde zur Seite gerissen, dann kippte die Nase im 45-Grad-Winkel nach unten, um sich schon im nächsten Moment schlagartig wieder aufzurichten. Glass’ Magen machte einen Satz, das Brüllen eines Kindes übertönte das allgemeine entsetzte Aufkeuchen. Die Hülle des Transporters begann sich an mehreren Stellen nach innen zu biegen, als hätte ein Riese ihn mit der Faust gepackt. Mehrere Leute schrien, dann zerriss ein hochfrequentes Kreischen die Luft und wurde immer lauter, bis Glass die anderen Passagiere nicht mehr hören konnte und glaubte, ihre Trommelfelle müssten jeden Moment platzen.
Sie erwiderte den Druck von Lukes Hand, krallte sich in ihrem Sitz fest und wartete darauf, dass die Angst einsetzte. Doch das passierte nicht. Die Ereignisse der letzten Tage hatten sie emotional taub gemacht. Zu sehen, wie der Kolonie, ihrem Zuhause, der Sauerstoff ausging, war schrecklich gewesen. Der illegale Raumspaziergang von der Walden zur Phoenix, auf der es noch genug Atemluft gab, war verrückt und gefährlich gewesen, doch sie hatten es geschafft. Sie hatten überlebt und waren nun auf dem Transporter. Doch jetzt, da die Landung kurz bevorstand, war ihr die Erde plötzlich vollkommen egal. Sie wollte lieber hier und jetzt sterben, als jeden Morgen aufzuwachen und sich daran erinnern zu müssen, dass ihre Mutter nicht mehr lebte.
Glass drehte den Kopf zur Seite und sah Luke stur geradeaus schauen. Sein Gesicht war eine steinerne Maske der Entschlossenheit. Versuchte er, ihr damit Sicherheit zu geben? Oder hatte er in seiner Offiziersausbildung gelernt, auch unter extremer Anspannung so ruhig zu bleiben? Luke hatte etwas Besseres verdient. Sollte das jetzt wirklich das Ende sein, nach allem, was sie gemeinsam durchgemacht hatten? Waren sie dem sicheren Tod in der Kolonie entronnen, nur um jetzt auf noch grausamere Weise zu sterben? Die Menschheit hätte frühestens in hundert Jahren auf die Erde zurückkehren sollen, erst dann wäre die Strahlung nach der Stunde Null ausreichend zurückgegangen, hatten die Wissenschaftler gesagt. Ihre Heimkehr war verfrüht, eine verzweifelte Flucht ins Ungewisse.
Glass schaute durch eins der Fenster nach draußen und sah nichts als Grau: Sie befanden sich mitten in einer Wolke. Glass bewunderte die eigenartige Schönheit dieses Anblicks, als das Fenster mit einem lauten Knall platzte. Heiße Glassplitter und Metallfetzen schossen durch die Kabine, Flammen züngelten durch den leeren Rahmen herein. Die, die den Fenstern am nächsten waren, versuchten verzweifelt, sich wegzuducken, aber in der Enge konnten sie nirgendwohin. Sie taumelten rückwärts oder zur Seite, stürzten und rissen andere mit zu Boden. Rauch von versengtem Metall brannte in Glass’ Nase. Als dann auch noch der charakteristische Geruch von verbranntem Fleisch hinzukam, musste sie würgen.
Glass zwang sich, Luke wieder anzusehen. Einen Moment lang verstummten das Wimmern der Verletzten und das Kreischen des Metalls, selbst der Anblick ihrer toten Mutter war vergessen. Das Einzige, was sie jetzt noch wahrnahm, war Lukes wunderschönes Gesicht. Monatelang hatte Glass es sich Nacht für Nacht in der engen Arrestzelle vorgestellt, während sie auf die für ihren achtzehnten Geburtstag festgesetzte Hinrichtung wartete.
Ein weiteres lautes Kreischen holte sie zurück in die Gegenwart. Wie eine Nadel bohrte sich das Geräusch in ihren Schädel, durchzuckte ihre Knochen und drehte ihr den Magen um. Glass biss die Zähne zusammen und musste hilflos zusehen, wie das Dach des Transporters weggerissen wurde, als wäre es aus Papier.
Sie zwang ihren Blick zurück zu Luke. Er hatte die Augen geschlossen und hielt ihre Hand jetzt noch fester umklammert. »Ich liebe dich«, sagte sie, doch ihre Worte gingen in dem Inferno einfach unter. Dann schlug der Transporter mit einem lauten Knall auf, und alles wurde schwarz.
In der Entfernung hörte Glass leises, kehliges Stöhnen. Sie versuchte, die Augen zu öffnen, aber jede noch so kleine Anstrengung machte sie schwindlig. Schließlich gab sie es auf und sank wieder zurück in die Dunkelheit. Glass wusste nicht, ob wenige Momente oder Stunden vergangen waren, als sie erneut versuchte, sich aus der Umklammerung der tröstenden, stillen Schwärze zu befreien. Sie fuhr hoch, alles um sie herum drehte sich, und einen kurzen, süßen Moment lang hatte sie keine Ahnung, wo sie war.
Fremdartige Gerüche überfluteten ihre Sinne. Sie hätte nicht gedacht, dass man so viele Dinge gleichzeitig riechen konnte. Einer der Düfte kam ihr vage bekannt vor. Es roch genau wie auf den Solarfeldern, auf denen sie sich immer mit Luke getroffen hatte, doch der Geruch war hundertmal stärker, süßlich wie Parfüm, aber viel tiefer und reichhaltiger. Jeder Atemzug war eine neue Herausforderung für Glass’ Gehirn, das versuchte, all die neuen Reize zu verarbeiten: Süße, dann Gewürzduft, vermischt mit etwas Metallischem, und schließlich ein Geruch, den sie identifizieren konnte – Blut.
Glass riss die Augen auf. Alles um sie herum war dunkel, und der Raum, in dem sie sich befand, schien so groß, dass sie die Wände nicht einmal erahnen konnte. Die Decke war durchsichtig, Sterne funkelten darüber, so blass, als wären sie unendlich weit weg. Ganz langsam setzte ihr Gehirn das Puzzle zusammen, und als das Bild endlich einen Sinn ergab, trat Ehrfurcht an die Stelle ihrer anfänglichen Verwirrung. Was Glass da vor sich sah, war der Himmel – der echte Himmel, wie er von der Erde aussehen musste –, und sie war am Leben! Doch es blieben ihr nur wenige Sekunden, um das Wunder zu genießen, da drängte sich schon der nächste Gedanke in ihr Bewusstsein und ließ ihr kalten Angstschweiß auf die Stirn treten: Wo war Luke? Schlagartig richtete sie sich auf.
»Luke!« Glass kämpfte den Schmerz und die Übelkeit nieder und blickte sich panisch um, betete, irgendwo zwischen all den Schatten Lukes vertraute Silhouette zu entdecken. »Luke!« Doch die Schreie und Schmerzenslaute um sie herum übertönten Glass’ Rufe.
Warum macht niemand das verdammte Licht an?, fragte sie sich wütend, da fiel es ihr wieder ein: Sie war auf der Erde, und es war Nacht. Die Sterne waren nicht mehr als ein blasses Schimmern am Himmel, der Mond schien gerade hell genug, dass sie erkennen konnte, dass all die taumelnden und stöhnenden Gestalten gemeinsam mit ihr auf dem Transporter gewesen waren. Das musste ein Albtraum sein. Dies war nicht die Erde, die Glass sich vorgestellt hatte. Dies war nicht der Ort, für den sie alles aufs Spiel gesetzt hatte. Sie rief noch einmal nach Luke, aber es kam wieder keine Antwort.
Sie musste ihn suchen gehen, aber ihre Muskeln schienen nicht gehorchen zu wollen. Ihr Körper fühlte sich eigenartig schwer an, als hätte jemand eine unsichtbare Bleidecke über sie gebreitet. Die Gravitation auf der Erde war anders als in der Kolonie, rauer. Oder war sie verletzt? Glass streckte die Arme aus, befühlte ihre Oberschenkel und unterdrückte einen Schrei: Ihre Beine waren klatschnass. Blutete sie etwa? Glass begann zu zittern und senkte ganz langsam den Blick: Ihre Hose war zerrissen, und ihre Beine waren übel verschrammt, aber sie schien keine offenen Wunden zu haben. Ganz vorsichtig streckte sie die Arme noch weiter, tastete nach dem Boden und schnappte unwillkürlich nach Luft, als sie ihn nicht finden konnte: Sie stand mitten in einer Wasserfläche, die sich fast bis zum Horizont erstreckte, wo sie vage die Umrisse von Bäumen erkannte.
Glass blinzelte und wartete darauf, dass sie etwas entdeckte, das irgendeinen Sinn ergab, aber das Bild veränderte sich nicht. See. Das Wort tauchte einfach so in ihrem Geist auf. Sie saß am Rand – dem Ufer – eines Sees auf der Erde. Die Erkenntnis fühlte sich genauso unwirklich an wie die Szene um sie herum. Egal in welche Richtung sie schaute, überall lagen reglose Körper, die Glieder grotesk verrenkt. Verwundete riefen flehend um Hilfe. Dazwischen lagen die noch schwelenden Transporter, die Rümpfe aufgerissen und zerfetzt. Überlebende durchsuchten die Trümmer und bargen unzählige Leichen. Aber wer hatte Glass ins Freie getragen? Wenn es Luke gewesen war, wo war er dann jetzt?
Glass kam zittrig auf die Beine. Sie drückte die Knie durch, damit sie nicht gleich wieder einknickten, und streckte die Arme seitlich weg, um das Gleichgewicht zu halten. Das Wasser war eisig, die Kälte kroch bereits in ihren Körper. Glass nahm einen tiefen Atemzug und spürte, wie ihre Gedanken etwas klarer wurden, während ihre Knie immer heftiger zu zittern begannen. Sie wagte ein paar unsichere Schritte und stieß sich sofort die Zehen an den Steinen auf dem Grund des Sees. Als sie nach unten blickte, sog sie scharf die Luft ein: Das Wasser schimmerte rötlich im fahlen Mondlicht. War das eine Auswirkung der Strahlung? Hatte sie die Farbe der Gewässer verändert, oder waren sie in der Gegend, in der sie sich befanden, vielleicht schon immer rot gewesen? Die Geografiestunden in der Kolonie hatten sie nie sonderlich interessiert, was Glass nun von Sekunde zu Sekunde mehr bereute.
Ein Schmerzensschrei gleich neben ihr riss sie aus ihren Gedanken. Glass sah eine Gestalt seltsam verkrümmt am Boden liegen, und plötzlich wusste sie es: Die Farbe kam nicht von der Strahlung oder irgendeiner anderen Nachwirkung der Stunde Null, sondern von Blut.
Glass erschauerte und schleppte sich zu der Frau, die gerufen hatte. Sie war Richtung Ufer gerobbt und dort mit den Beinen noch halb im Wasser liegen geblieben. Glass beugte sich nach unten und berührte ihre Hand. »Keine Sorge, es wird alles gut«, sagte sie und hoffte, dass die Verletzte den Zweifel in ihrer Stimme nicht bemerkte.
Die Augen der Frau waren weit aufgerissen vor Schmerz und Angst. »Hast du Thomas gesehen?«, röchelte sie.
»Thomas?«, wiederholte Glass und ließ den Blick über die Trümmer und Leichen um sie herum schweifen. Sie musste Luke finden. Die Vorstellung, ihn hier irgendwo liegen zu sehen, verletzt und hilflos, war sogar noch beängstigender als die Tatsache, überhaupt hier zu sein.
»Thomas, meinen Sohn«, sagte die Frau und verstärkte den Griff um Glass’ Hand derart, dass ihre Fingernägel in ihre Haut schnitten. »Er war auf einem der anderen Transporter. Meine Nachbarin …« Einen Moment lang konnte die Frau vor Schmerzen nicht weitersprechen. »Sie hat versprochen, sich um ihn zu kümmern.«
»Wir werden ihn finden«, sagte Glass und hoffte, dass der erste Satz, den sie auf Erden gesprochen hatte, sich nicht als Lüge herausstellen würde. Sie dachte an das Chaos in der Kolonie, dem sie gerade noch entronnen war, an all die Menschen auf dem Startdeck, die panisch versuchten, es irgendwie auf einen der Transporter zu schaffen. An die verzweifelten Eltern, die im Gedränge von ihren Kindern getrennt worden waren, die unterdessen mit bebenden Lippen und unter massivem Schock nach ihrer Familie Ausschau hielten und sie doch nie wiederfinden würden …
Glass konnte sich erst wieder von der Frau trennen, als diese, von neuerlichem Schmerz gepackt, ihre Hand losließ. »Ich werde ihn suchen gehen«, sagte sie mit dünner Stimme und machte zögernd einen Schritt zurück. »Wir werden ihn finden.«
Das Schuldgefühl, das in ihr aufstieg, war so stark, dass Glass beinahe wieder kehrtgemacht hätte. Doch sie musste weiter. Sie konnte das Leid dieser Frau nicht lindern. Sie war weder Ärztin wie Wells’ Freundin Clarke, noch wusste sie, wie sie die Frau trösten sollte. Wells oder Luke hätten es gewusst, aber nicht sie. Es gab nur einen Menschen auf diesem Planeten, dem sie jetzt helfen konnte, und sie musste ihn finden, bevor es zu spät war.
»Es tut mir leid«, flüsterte Glass und drehte sich noch einmal zu der mit schmerzverzerrtem Gesicht daliegenden Frau um. »Ich komme zurück, aber zuerst muss ich … jemanden finden.«
Die Frau nickte mit zusammengebissenen Zähnen, Tränen quollen aus ihren Augen, dann schloss sie die Lider.
Glass riss sich von dem Anblick los und begann ihre Suche, versuchte, in der Dunkelheit irgendetwas zu erkennen, woran sie sich orientieren konnte. Aber der Rauch, ihr Schwindelgefühl und der Schock, plötzlich auf der Erde zu sein, ließen sie keinen klaren Gedanken fassen. Überall lagen schwelende Trümmer. Die dahinter am Ufer aufragenden Bäume sahen imposant aus, doch Glass würdigte sie kaum eines Blickes. Wozu waren Bäume oder sogar Blumen gut, wenn Luke nicht bei ihr war?
Ihr Blick sprang von einem verwirrten Überlebenden zum nächsten. Ein alter Mann saß auf einem der Wrackteile, den Kopf in die Hände gestützt. Ein Junge mit blutverschmiertem Gesicht stand mutterseelenallein nur wenige Meter von einem Knäuel knisternder und Funken sprühender Drähte entfernt. Sich der Gefahr nicht im Geringsten bewusst, schaute er hinauf in den Himmel, als suche er nach einem Weg, nach Hause zurückzukehren. Überall um die beiden herum lagen Tote. Die Lippen wie zu einem letzten schmerzverzerrten Abschiedsgruß verzogen, die Augen, die den Himmel, für dessen Anblick sie alles riskiert hatten, nie sehen würden, für immer geschlossen. Wahrscheinlich wären sie besser dran gewesen, wenn sie in der Kolonie geblieben und im Kreis von Freunden und Familie ihr Leben ausgehaucht hätten, statt hier einsam zu sterben.
Immer noch auf wackeligen Beinen stapfte Glass zur nächstbesten regungslos am Boden liegenden Gestalt und betete, dass es nicht Luke war. Doch die Nase war zu breit, die Locken zu dunkel, und Glass seufzte vor bittersüßer Erleichterung. Voller Angst und Hoffnung ging sie weiter zur nächsten Leiche, dann zur nächsten. Mit angehaltenem Atem wuchtete sie Trümmer von den Toten, drehte die auf dem Bauch Liegenden herum und atmete jedes Mal auf, wenn sie das Gesicht nicht erkannte. Vielleicht war Luke doch noch am Leben.
»Alles in Ordnung?«
Glass hob erschrocken den Kopf und sah einen Mann mit einer langen Schnittwunde über dem linken Auge. Er musterte sie besorgt.
»Ja«, antwortete sie wie ein Roboter. »Alles gut.«
»Sicher? Du siehst aus, als hättest du einen Schock.«
»Nein, mir geht’s gut. Ich suche nur …« Glass konnte diese Mischung aus Angst und Hoffnung in ihrem Innern nicht in Worte fassen und verstummte.
Der Fremde nickte. »Gut. Ich habe hier schon überall nachgesehen. Falls du doch noch weitere Überlebende entdecken solltest, ruf einfach. Wir sammeln die Verletzten da drüben.«
Er deutete in die Dunkelheit, und Glass konnte die vagen Silhouetten der Helfer ausmachen, die die Wunden der am Boden Liegenden versorgten. »Dort drüben liegt eine Frau am Ufer. Ich glaube, sie kann nicht gehen«, sagte sie schließlich.
»Okay, danke. Wir werden sie gleich holen.« Der Fremde gab jemandem, den Glass nicht sehen konnte, ein Zeichen, dann lief er humpelnd weiter.
Glass wollte ihm hinterherrufen, lieber zuerst nach ihrem vermissten Sohn zu suchen. Sie hatte das Gefühl, dass die Frau eher dort am Ufer verbluten würde, als ihr neues Leben auf der Erde ohne Thomas zu beginnen, doch der Fremde war bereits verschwunden.
Glass atmete einmal tief durch, dann versuchte sie weiterzugehen, doch es war, als hätte jemand die Nervenverbindung zu ihren Beinen gekappt. Wenn Luke noch lebte, hätte er sie dann nicht längst gefunden? Dass sie seine tiefe Stimme noch nicht nach ihr hatte rufen hören, konnte bestenfalls bedeuten, dass er verletzt oder bewusstlos war. Und im schlimmsten Fall … Glass wollte die düsteren Gedanken niederringen, aber genauso gut hätte sie versuchen können, ihren eigenen Schatten zu verscheuchen. Die Dunkelheit in ihr wollte einfach nicht weichen. Die Vorstellung, Luke so kurz nach ihrem Wiedersehen für immer zu verlieren, war unerträglich. Sie würde den Abschied nicht noch einmal ertragen, nicht nachdem sie auch schon ihre Mutter verloren hatte. Niemals.
Glass unterdrückte ein Schluchzen und stellte sich auf die Zehenspitzen. Die Überlebenden hatten sich aus brennenden Wrackteilen improvisierte Fackeln gebastelt, die zumindest etwas Licht spendeten, doch die flackernden Schatten überall machten den Anblick auch nicht erträglicher, im Gegenteil: Die Wunden und angstverzerrten Gesichter der Leichen waren nur umso deutlicher zu erkennen.
Glass ging weiter. Sie war jetzt so nahe an der Baumlinie, dass sie die Rinde erkennen konnte, die knorrigen Äste und Blätter. In ihrem ganzen Leben hatte sie nur einen einzigen Baum gesehen, der Anblick von so vielen auf einmal war überwältigend. Als wäre sie auf dem Schiff um eine Ecke gebogen und einer Gruppe von tot geglaubten Freunden in die Arme gelaufen. Ein außergewöhnlich großer Baum hatte es ihr besonders angetan. Glass ging näher heran und blieb schlagartig stehen: Ein Junge mit blonden Locken lehnte mit dem Rücken am Stamm. Er trug die Uniform eines Gardisten.
»Luke!« Glass brüllte aus vollem Hals und humpelte los. Als sie fast bei ihm war, merkte sie, dass Lukes Augen geschlossen waren. Entweder war er bewusstlos oder …
»Luke!«, schrie sie noch einmal, bevor sie den Gedanken zu Ende führen konnte. Ihre Glieder fühlten sich taub an, gleichzeitig prickelten sie, als stünden sie unter Strom. Sie versuchte, schneller zu laufen, doch der Boden schien sie festzuhalten. Viel zu langsam legte sie Meter um Meter zurück, doch sie war ganz sicher, dass es sich um Luke handelte. Deutlich sah sie sein Gesicht und die Schultern, die sich unmerklich im Rhythmus der Atmung hoben und senkten. Er lebt noch!
Als sie ihn endlich erreicht hatte, musste sie sich beherrschen, sich nicht mit einer wilden Umarmung auf ihn zu stürzen. Stattdessen sank sie neben ihm auf die Knie. Sie durfte seine Verletzungen nicht noch schlimmer machen, als sie waren. »Luke«, flüsterte sie. »Kannst du mich hören?«
Sein Gesicht war blass, auf der Stirn hatte er eine tiefe Platzwunde, Blut strömte über seine Nase. Glass zog den Ärmel ihres Pullovers über die Handfläche und presste ihn auf den Schnitt. Luke stöhnte leise, bewegte sich aber nicht. Glass drückte noch etwas fester, in der Hoffnung, sie könnte die Blutung stillen, dann musterte sie den Rest seines Körpers. Das linke Handgelenk war blau und geschwollen, ansonsten schien Luke unverletzt. Tränen der Dankbarkeit und Erleichterung stiegen ihr in die Augen, und Glass hielt sie nicht zurück.
Nach ein paar Minuten nahm sie ihre Hand von Lukes Stirn und inspizierte die Wunde. Die Blutung schien tatsächlich aufgehört zu haben. Glass legte ihm eine Hand auf die Brust. »Luke«, sagte sie und strich ihm sanft über die Schulter. »Luke, ich bin’s. Wach auf.«
Als Luke sich endlich bewegte, entfuhr Glass ein Laut, der halb Lachen und halb Schluchzen war.
Luke stöhnte und öffnete für einen Moment die Augen.
»Wach auf, Luke«, wiederholte sie und beugte sich ganz nahe an sein Ohr, wie sie es immer getan hatte, wenn er den Beginn der Frühschicht zu verschlafen drohte. »Sonst kommst du noch zu spät«, fügte sie mit einem kleinen Lächeln hinzu.
Ganz langsam öffnete er die Lider, die Augen starr auf Glass gerichtet. Er versuchte, etwas zu sagen, aber kein Laut kam über seine Lippen. Schließlich erwiderte er ihr Lächeln.
»Hey …« Glass seufzte und spürte, wie Angst und Sorge ein wenig nachließen. »Alles ist gut. Du bist nicht schlimm verletzt, Luke. Wir haben’s geschafft. Willkommen auf der Erde.«