Birte Pröttel
Hau ab! Flüchtlingskind!
Eine behütete Kindheit trotz Flucht, Hunger und Vertreibung
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort
Maikäfer flieg...
… dein Vater ist im Krieg...
… Mutter ist im Pommernland …
… Pommernland ist abgebrannt...
… Maikäfer flieg...
Großvaters Schatz
Landleben
Frohe Feste
Der Gänsebraten
Vaters Autobahn
Vater beim Vermessen der Welt in Norwegen
Es gibt Nachwuchs: eine kleine Schwester
Weihnachten 1944
Mit dem Fahrrad ins Wochenbett
Kindliche Aufklärung
Telepathie
Vater kommt nach Plassenburg
Abschied vom Pommernland
A n der Ostsee
Das Ferienhäuschen in Binz
Vater muss Rekruten ausbilden
Im Flüchtlingszug
Das „normale“ Leben in Pasewalk
Wir kommen nach Flensburg
Es geht zu Ende
Tschüss, Flensburg
B Oldemor, unsere Urgroßmutter Petrea, Laurine ei Oldemor in Dänemark
Tante Alwine
Kino und Zirkus
Mutter muss Geld verdienen
Der Smaragdring
Die Taufe
Im deutschen Gemeindehaus
Neujahr 1946
Jesajas Prophezeiung
Kaffeekränzchen
Wir müssen ins Internierungslager 1946
Auch die Großeltern verlieren auch ihre Freiheit
Geschenke von unseren Bewachern
Erbsensuppe und Kartoffelpuffer
Eine neue Bleibe hinter Gittern
Heimlich ausgerissen
Verschönerung
Theater spielen
Zwei Klassen Weihnachtsfeier
B leistifte und Pappe
Briefwechsel
Impfen
„Heim ins Reich“
Im Auffanglager für Heimatvertriebene
Eis, Eis, Eis
Das Schwarzwalddorf
Das Plumpsklo
Kennenlernen
Die Großeltern kommen
Der wilde Peter
Dänische Möbel
Wir leben uns ein
Pilze und Beeren sammeln
Enttäuschungen
Fotoalben
Sonntagmorgens dürfen wir zu Vater ins Bett. Mutter rollt sich zur Seite und will in Ruhe gelassen werden. Vater kann wunderbare Geschichten erzählen. Von Herkules, dem Starken, von Helena der Schönen, von Odysseus aber auch aus den nordischen Heldensagen berichtet er. Dass die Erzählungen nicht immer dem Originalen entsprechen, merken wir nicht. Am meisten beeindruckt mich die Geschichte von Medusa mit den Schlangenhaaren, die so hässlich war, dass jeder der sie sah, zu Stein erstarrte. Und ich stellte mir vor, wie ich mit dem abgeschlagenen Medusenhaupt, die Dorfbewohner erschrecken könnte und dass das ganze Dorf sich in einen Steinhaufen verwandelte. Ob die Hügel des Schwarzwaldes auch erstarrte Menschen waren?Anne ist noch zu klein, um die Geschichten zu verstehen, wenn es ihr langweilig wird, quengelt sie oder tobt auf Mutter rum, die dann fluchtartig das Ehebett verlässt. Auch Anne hat eine Lieblingsgeschichte, in der Vater vom Marsmenschen erzählt, der einen Reißverschluss im Bauch hatte und wenn ihm was nicht schmeckte, einfach aufmachte, den Teller in den Bauch leerte und fertig. Ein Traum für die Kleine, denn es gab fast nichts, was ihr schmeckte und sie verbrachte Stunden – wie ich damals vor der Erbsensuppe – vor ihrem Teller mit dem kalt gewordenen Mittagessen.
Winterfreuden
Vater findet endlich Arbeit
Badetag
Das Glück ist eine Nähmaschine
Räuber und Gespenster
Großvaters Garten
Zwergschule
Handarbeitsunterricht
Fotobeweise
Zwei Heiratsanträge
Großmutter schlägt zu
Angst und Schrecken
Carepakete
Freiherr von Knigge lässt grüßen
Arbeitslos
Großvaters Mantel
Die Taschenuhr
Ährensammeln, Ersatzkaffee und Co.
Poesiealbum
Tränen
Es gibt neues Geld
So ging’s weiter
Vater erzählt Geschichten
Impressum neobooks
Birte Pröttel
Hau ab!
Flüchtlingskind!
Die Geschichte einer unbeschwerten Kindheit
trotz Flucht, Verlust
der Heimat, Verlust von Hab und Gut
Für meine Familie und
Alle Flüchtlingskinder der Erde
Es muss wohl eine der letzten Liebesnächte meiner Eltern gewesen sein, in der ich gezeugt wurde. Ende August 1939 wird mein Vater eingezogen. Er muss als Fernmeldegefreiter in den Krieg, den es eigentlich zu diesem Zeitpunkt noch nicht gibt. Und genau 9 Monate später erblicke ich das Licht der Welt, das nun schon vom Krieg überschattet ist. Vater bekommt Urlaub, um mich zu sehen.
Urlaub vom Krieg – was für eine abstruse Idee? Entweder es ist Krieg oder kein Krieg. Und wenn Krieg ist, dann kann man sich doch nicht einfach davon beurlauben lassen. 1942 werden wir ausgebombt und finden Unterschlupf in Hinterpommern bei Verwandten. Dort wird im Januar 1945 unsere kleine Schwester geboren. Mit vier kleinen Kindern macht sich unsere Mutter auf die Flucht. Für mich ein großes Abenteuer, für sie Angst und Schrecken. Wir landen in Dänemark und später im Schwarzwald.
In meinen dreizehn Schuljahren bin ich viermal mit meiner Familie umgezogen. Jeder Umzug ist wie das Häuten einer Schlange. Jedes Mal bin ich eine andere, fange von vorne an. Neue Wohnung, neue Schule, neue Lehrer, neue Mitschüler und ich bin immer wieder die Neue.
Bei jedem Neubeginn bin ich ein bisschen weniger das „Flüchtlingskind“, dem man die Armut an Kleidung und Sprache anmerkt. Jedes Mal gelingt mir die Mimikry besser und ich gehe in der neuen Umgebung auf. Ich lerne die feinen Unterschiede der Dialekte nachzuahmen, passe mich an. Lauf barfuß nicht, weil ich keine Schuhe habe, sondern, weil die anderen auch ohne Schuh und Strümpfe in Pfützen planschen. Und wenn ich nicht in den Klassenverband aufgenommen werde, dann versuche ich, die anderen zum Lachen zu bringen, den Klassenkasper zu geben.
Der Grat zwischen Angeben und ehrlicher Leistung ist schmal. Wenn du ein Habenichts bist, kein Haus hast, kein Auto oder Telefon zu deinen Statussymbolen gehören, dann musst du dich durch anderes hervortun. Entweder besonders freundlich, besonders schlau sein, gute Zeugnisse haben, gut erzogen sein oder lustig, frech, aufmüpfig auf dich aufmerksam machen. Alles lenkt vom Manko des Andersseins ab. Ich sehnte mich nach Aufmerksamkeit, Anerkennung, Liebe und Bewunderung, die mir mein Status Flüchtlingskind nicht geben konnten
Sonntagmorgen, das Haus liegt im tiefen Schlaf. Im Spalt der Gardine tanzen die Staubkörnchen auf dem Lichtstrahl. Leise schlüpft Marie zu mir ins Bett, Max folgt und kuschelt sich auf die andere Seite. Im Bett nebenan schnauft der Großvater leise im tiefen Schlaf.
Um ihn nicht zu wecken, flüstert Marie:
"Oma, erzähl, als du klein warst!"
Und dann frage ich erst mal: "Wo waren wir denn das letzte Mal stehen geblieben?" und Max knufft mich ungeduldig und vergisst vor Aufregung zu flüstern:"Immer vergisst du alles! Es war doch, wo die Bomben so geknallt haben ...“ Ja und dann erzähle ich. Ich erzähle den Kindern, wie ich mich schämte ein Flüchtlingskind zu sein, wie peinlich es mir war, arm zu sein, wie weh es mir tat, ausgelacht zu werden, weil ich keine richtige Wolle für den Handarbeitsunterricht hatte. Ich erzähle, wie ich zitternd vor Kälte im Flüchtlingszug saß, aber auch wie schön es an der Ostsee ist. Ich berichte, wie lecker die knallrote dänische Wurst schmeckte und wie stolz ich auf unsere ersten „gekauften“ Sachen war. Und wie dann alles doch ein Glück war, denn ohne Krieg und Vertreibung hätte ich ihren Opa nicht kennengelernt und sie wären jetzt nicht meine geliebten Enkelkinder.
Am nächsten Sonntagmorgen zeige ich meinen Enkeln das Foto ihres Urgroßvaters. Ich fand es beim Rumkramen. Aufgenommen im August 1939. Mein Vater wurde eingezogen zum Kriegsdienst, obwohl noch kein Krieg war. Als Abschiedsgeschenk hinterlässt er mich als kleine Kaffeebohne in meiner Mutter. Er packt seinen Stahlhelm, das Gewehr, die Langschäfter, seine Brotbüchse, eine Militär-Tasche und klemmt einen Gartenstuhl unter den Arm. Wofür er im Krieg einen Gartenstuhl gebraucht hat, ist mir bis heute ein Rätsel. Vielleicht gab es im Kasernenhof eine große Kastanie, unter der sie einen Biergarten einrichteten und jeder musste was mitbringen? Mein Vater sieht ja ziemlich fröhlich aus, wahrscheinlich ist er froh, wegzukommen.
Vater zieht in den Krieg
Als ich klein war, wollte ich alles andere, nur nicht BIRTE heißen. Ich wollte nicht aus der Reihe tanzen. Und wenn ich meinen Namen buchstabieren musste, nannte man mich trotzdem Berta und wurde ich wütend, denn das war der gehasste Spitzname, den mir die Brüder gaben. Ich fand es jedenfalls blöd, Birte zu heißen.
Nun muss ein Kind einen Namen haben und beim Standesamt angemeldet und registriert werden, sonst existiert es überhaupt nicht, auch wenn es noch so schreit. Meine Großmutter übernahm das Kommando zu Hause. Vater musste ja den Erbfeind in Frankreich besiegen und von dort Päckchen schicken. Darin waren für mich und meinen großen Bruder Spielsachen und für Mutter Champagner, Foie gras, Froschschenkel, geräucherte Gänsebrust und allerhand Leckereien, die meiner Mutter die Trennung von ihrem Gemahl versüßen sollten.
Mutter, beschließt mir drei Vornamen zu geben: Birte, Hanna (nach Mutter) und Martine nach der Urgroßmutter. Denn Mutter war zeitlebens beleidigt, dass man ihr nur einen Vornamen gegeben hatte. Sie empfand das als Lieblosigkeit ihrer Eltern, schließlich hatte damals jeder mehrere Vornamen und je vornehmer er war, umso mehr. Um das wieder gut zu machen, bekam ich drei Vornamen und Birte soll der Rufname werden.
Großmutter zieht sich ihr feines kamelhaarfarbiges Kostüm an, setzt den eleganten dunkelbraunen Filzhut mit der wippenden Fasanenfeder auf und geht zum Standesamt und sagt, dass das neue Baby – also ich – Birthe heißen solle.
„Dieser Name steht nicht auf der Liste deutscher Vornamen.“ sagt die strenge Beamtin zu meiner Großmutter.
„Das ist ein dänischer Name und meine Enkelin soll so heißen.“ antwortet meine resolute Großmutter, sie ist nämlich in Dänemark geboren. Dabei trommelt sie ungeduldig mit den frisch manikürten Fingern auf dem Tisch mit den vielen Akten. Deutschland und sein „Herr Hitler“ konnten ihr überhaupt nicht imponieren.
„Wir sind in Deutschland und dieser Name ist nicht erlaubt, er steht nicht auf der offiziellen Namensliste!“
„So, dann zeigen sie mir mal, ob Holdine in der Liste steht. Denn euer Herr Goebbels hat eine Tochter, die so heißt!“
Die Standesbeamtin guckte ängstlich in der offiziellen deutschen Namenliste nach und siehe da, Holdine stand nicht drin.
„Wenn Herr Goebbels seine Tochter Holdine nennen kann, darf meine Enkelin auch Birthe heißen!“
Die Beamtin machte ihren Rücken noch runder als er schon war und schaut verlegen von unten hoch zu meiner frischgebackenen Großmutter, die sich aufrecht, als hätte sie ein Lineal verschluckt vor der Beamtin aufplustert. Sie wirft den Kopf in den Nacken, wie immer, wenn etwas nicht nach ihrem Willen geht und der imposante Busen wogt drohend: „Na???“
Die Beamtin drugst rum, stottert und dann fiel ihr ein: „Aber, dann kann das Kind aber nur Birthe ohne TH heißen.“
Großmutter strahlt: Sieg auf der ganzen Linie!
Großmutter schreitet wie eine Walküre in der Wagneroper aus dem Amt.
Und so kam es, dass ich Birte, Hanna, Martine heiße.
Als wir nach dem Krieg im kleinen Schwarzwalddorf als Flüchtlinge einquartiert wurden, haben die Leute um meinen Namen und den meiner Geschwister ein riesiges Theater gemacht. „Die bilden sich ein, was Besseres zu sein!“ wurde über uns geklatscht.
Ich kann den Ton von Sirenen nicht leiden. Auch ein Krankenwagen mit Martins-Horngeheul lässt meinen Adrenalinspiegel und den Blutdruck in die Höhe sausen. Gänsehaut läuft mir den Nacken runter und die Ohren schreien Alarm. Wenn Sirenen heulen, rasen Gespenster, böse Geister und alle erdenklichen Unholde durch die Lüfte und im Auf- und Abschwellen des grauslichen Lärms gefriert mir das Blut in den Adern, auch heute noch. Warum ist dieses Marterinstrument nach dem lockenden, säuselnden Gesang der Sirenen in der Mythologie benannt? Oder waren die Sirenen gar nicht so zarte Wesen? Aber das ist wohl ein Fall für Historiker oder Altphilologen.
Als ich klein war, bedeutet dieses Getöse das Ende süßer Träume und des nächtlichen Schlafs. Mutter reißt uns gnadenlos aus den kuschelwarmen Betten und wir müssen, so schnell uns unsere Kinderbeine tragen, in den Luftschutzkeller. Wenn der „Volksempfänger“ eine Bombennacht vorhersagt, legt Mutter uns angezogen ins Bett. Ich finde das prima, denn das abendliche Wasch-, Zahnputz- und Umziehritual fällt dann weitgehend flach.
Unser Luftschutzkeller ist im Nachbarhaus. Die Sirenen heulen und wir stolpern und torkeln wie ferngesteuert schlaftrunken die Treppen runter, durch den Vor- in den Nachbargarten, durch die kleine Kellertür ab in den Luftschutzbunker.
Hier ist die Luft nicht geschützt, wie man von dem Namen „Luftschutzkeller“ erwarten könnte. Es miefelt gruselig nach Angstschweiß, ungewaschenen Haaren, feuchten Wolldecken und was sonst noch Menschen in der Nacht ausdünsten. Ein langer, unbelüfteter, spärlich beleuchteter Raum mit Bänken an den Wänden. Wie Sardinen in der Büchse sind wir hier eingefüllt.
Jede Familie hat ihren Stammplatz. Mein großer Bruder und ich hocken mit angezogenen Beinen auf der Bank. Mutter schaukelt das Baby, meinen kleinen Bruder, an ihrer tröstenden Brust. Eine schwarze Locke fällt dem Baby ins Gesicht und es nuckelt glücklich an der Strähne. Mutter lächelt uns zu und wickelt uns in unsere warmen Kuscheldecken. Ich mag es, wenn sie lächelt, dann hat sie immer ein kleines Grübchen und sieht nicht so streng aus. Dann sitzen wir da, dösen und warten. Warten, bis die Sirenen Entwarnung heulen. Die Erwachsenen flüsterten miteinander. Ein alter Mann schnarcht und wir schauen fasziniert auf ihn. Nach jedem Schnarcher sinkt sein Kopf weiter nach vorne, bis er beinahe umkippt. Dann schubst ihn die Frau neben ihn und flüstert: „Opa, schlaf nicht ein!“
Die nächtlichen Besuche im Luftschutzkeller gehören für uns zum täglichen Leben. Schulkinder freuen sich, dass sie nach Bombennächten freihaben.
Unser Haus war ein Mehrfamilienhaus, daneben standen noch zwei oder drei ganz gleiche Häuser. Es waren Gebäude der Reichsbahn und wurden von ihren Mitarbeitern bewohnt. Ob nun alle zusammen einen Luftschutzkeller benützten, das weiß ich nicht, mir jedenfalls kam es vor, als hätte sich das ganze Stadtviertel hier versammelt. Ich mochte die Menschen nicht und nicht ihre stinkige Nähe. Am liebsten hätte ich sie alle ans Schienbein getreten und raus befördert. Aber ein braves Mädchen macht so was ja nicht.
Wir schlummern auf unserer Bank. Plötzlich knallt die eiserne Kellertüre auf und meine Tante Charlotte wankt herein, sinkt auf den kalten Boden aus gestampfter Erde. Ihre dunklen Locken kleben blutgetränkt um ihr Gesicht, ihr eleganter grauer Tuchmantel ist voll Erde, Gras und Schlamm.
„Jetzt jagen sie Menschen wie die Feldhasen, es ist eine Schweinerei!“, schimpft ein alter Mann mit hoher Fistelstimme. Große Aufregung, die Erwachsenen knallen fast mit den Köpfen zusammen, als sie sich über die Frau beugen. Alles schnattert durcheinander. Wir brauchen einen Arzt. Tante Charlotte krümmt sich vor Schmerzen. Sie wollte noch schnell in den rettenden Keller und wurde von Bombensplittern getroffen. Aber Tante Charlotte ist nicht tot. Hellwach schießen auch wir von unseren Plätzen hoch. Neugierig wie Leute, die auf der Autobahn einen Unfall beglotzen, drängen wir uns zwischen die Großen. Sie starrt mich mit ihren grauen Augen an, weint nicht, ist ganz still.
„Warum guckst du so, Tante Lotte?“, sie antwortet mir nicht. Ich wundere mich, sonst ist sie nämlich immer sehr nett zu mir.
„Wir müssen warten, bis der Alarm vorbei ist!“ Tante Lotte rollt sich auf die Seite und wimmert leise. Niemand sagt was. Mir wird langweilig. Ich hocke mich wieder auf die Bank. Später erzählt Mutter uns, dass Tante Charlotte sieben Granatsplitter im Rücken hatte. Eine Operation hat sie aber gerettet.
Während sich noch alles um unsere Tante kümmert, gibt es einen ohrenbetäubenden Lärm. Der Keller, nun notdürftig von Taschenlampen erhellt, scheint zu wackeln und zu beben.
„Wie sind getroffen!“ schreien die Erwachsenen und klammern sich erschreckt aneinander und wir schlüpfen wie Küken unter Mamas Mantel.
Einer der wenigen Männer, die bei uns und nicht im Krieg waren, öffnet vorsichtig die Kellertür. Schutt fließt über seine Füße und Staubwolken vernebelten den Keller.
„Oh, Gott!“ Schnell stemmt er sich gegen die Tür und legt den eisernen, quietschenden Hebel um, der sie sicher verschließt.
„Alles brennt draußen. Wir müssen drinnen bleiben!“
„Mein Gott, wir sind in einem Backofen!“Meine Erinnerung an diese Bombennacht ist eigentlich ziemlich dürftig. Am nächsten Morgen, als wir draußen knietief in qualmendem Geröll und zwischen Mauerstücken stehen, klagt Mutter:
„Wir sind ausgebombt!“
Die Rückseite unseres Hauses ist weg. Die Räume sind offen wie Puppenstuben. Ich bin begeistert, es sieht einfach toll aus. Die Küche mit den bunten Kacheln, daneben das Zimmer von Emma, unserem Kindermädchen. Es ist wie in einer Möbelausstellung. Über Emmas Bett schaukelt das Kruzifix, das ich immer mit Schauern betrachte. Ein toter Mann auf einem Kreuz. Nun ist er staubig und geholfen hat er auch nicht. Emma glaubt aber doch, denn ohne den Toten am Kreuz wäre alles viel schlimmer gekommen, flüstert sie und bindet sich ihre Kittelschürze fest. Mutter ist ganz steif und still und streicht sich eins ums andere Mal die verschwitzten Haare aus dem Gesicht.
„Sag, dass das ein böser Traum ist!“
Nun haben wir eine eigene Ruine, es ist zwar keine Burgruine, aber immerhin. Wir tasten uns vorsichtig in unsere Wohnung. Mutti will das Nötigste holen. Aber das interessiert mich nicht weiter. Doch eines ist mir ins Gedächtnis gebrannt: Arnes Tasse.
Ich war so eifersüchtig, als er die Tasse wenige Tage zuvor zum Geburtstag bekommen hatte. Ich hätte ihm gegönnt, dass die Tasse auch ausgebombt worden wäre, aber nein, sie steht da wie zum Hohn. Mit Goldrand! Ob wir die schöne Goldrandtasse mitgenommen, oder ob sie gar die Flucht überstanden hat, weiß ich nicht. Wenn sie meine gewesen wäre, ich hätte mich nie von ihr getrennt.
H
Mutter in ihrer schönen Wohnung in Stettin
Ich war schon immer eine Sachen- und Schatzsucherin. Jetzt im Oma-Alter sind allerdings Hausschlüssel und Brillen Objekte meiner Begierde. Auslöser dieser permanenten Schatzsuche ist sicher mein Großvater Hermann. Als Mutter mit uns längst auf der Flucht war, ist er in Stettin geblieben. Die blank polierte Glatze war sein Markenzeichen.
Er hat eine Dienstwohnung in einer großen Behörde an der Hakenterrasse. Die russischen Truppen kommen näher. Großvater harrt im März 1945 so lange aus, bis die Stadt auf Anordnung der Militärs geräumt werden muss. Und je näher der Russe kommt, desto fester ist sein Entschluss, die Wertsachen zu verstecken. Sie sollen auf keinen Fall den Russen in die Hände fallen.
Wenn wir später mal so gemütlich Anekdoten aus alten Zeiten vor kramen, wird Großvater regelmäßig wegen der Sache mit dem Schatz Zielscheibe des Familienspotts. Er hatte nämlich einen Schatz vergraben, und jedes Mal, wenn davon erzählt wird, nennt ihn Großmutter Martha einen Dummkopf. Er zieht sich dann zurück, kriecht halb in sein Radio und lernt die Nachrichten auswendig:
„Konnte ja keiner wissen, dass der Krieg so lange dauert.“ brummelt er.
Die Sache war die: Er war allein, verbrachte schließlich fast jede Nacht bei Fliegeralarm auf dem Dach, um die Brandbomben zu löschen.
Schließlich packte er Schmuck, Silber, Ketten und Goldstücke in eine große Truhe, buddelte im Fußboden in der riesigen Eingangshalle der Versicherungsanstalt ein großes Loch und versteckte dort den „Schatz“. Aber da Großvater ein praktisch denkender Mann war, dachte er:
„Was soll man mit silbernen Gabeln, wenn man nichts zu essen hat?“
Und so packte er auch noch einen Sack Saatkartoffeln – „für nach dem Krieg“ - in die Grube. Dann gab er sich viel Mühe und setzte die Bodenplatten so ein, dass man nicht sehen konnte, wo der Schatz unter dem Boden versteckt war.
Und jedes Mal, wenn nun nach dem Krieg die Sprache auf den vergrabenen Schatz kommt, rauft sich Großmutter die grauen Haare und zittert mit ihrem Dreifach-Kinn. Sie stellt sich vor, wie die keimenden Kartoffeln die schweren Steinplatten anheben und den kostbaren Schatz verraten. Ihr ganzer Stolz, das schwere Tafelsilber aus der Aussteuer, ihr schöner Erbschmuck, ihre geliebten Fotos sind fremden Räubern, Plünderern und Tunichtguten in die Hände gefallen. Nicht auszudenken, wenn diese Barbaren dann womöglich das in dänischer Handwerks Kunst fein geschmiedete Silber eingeschmolzen hätten! Und darum schilt Großmutter den Großvater einen Dummkopf. Und der versucht schnell vom heiklen Thema abzulenken, wenn wir Enkel unbedingt wieder die Geschichte vom Schatz hören wollen.
Meine andere Großmutter, die ja auch Martha hieß, hatte ebenfalls eine schwere Schatztruhe gepackt, als Stettin mehr und mehr in Schutt und Asche gebombt wurde. Ihr Sohn, unser Onkel Kurt, hat ihre Truhe aufs Land nach Hinterpommern gebracht und dort vergraben, so wie es sich gehört. Leider hat auch sie nie wieder etwas von ihrem Schatz gesehen. Ich träume davon, den Schatz irgendwann in den Weiten Polens zu heben. Eine Schatzkarte hat sie leider nicht hinterlassen.
Ich hab mir schon überlegt, ob ich nicht wenigstens einmal nach Stettin fahre. Dort weiß ich, wo ein Schatz versteckt ist. Das Gebäude an der Hakenterrasse existiert noch. Zu gern würde ich dort mit einem Metalldetektor den Fußboden der großen Halle an der Hakenterrasse in Stettin absuchen.
Mein Mann meint aber, dass ich das besser bleiben lassen soll. Er fürchtet Komplikationen für die deutsch-polnische Freundschaft, die ja ohnehin ein so zartes Pflänzchen ist.
Inmitten Grüner Wiesen, umgeben von einem Park mit hohen Bäumen liegt das hübsche Gutshaus in Eichenwalde. Eichenwalde besteht aus einem schlichten Herrenhaus und ein paar kleinen Bauernkaten drum herum. Weite Wiesen, hohe Pappelalleen, Knicks und kleine Teiche zieren die liebliche Landschaft Pommerns. Hierhin bringt uns Onkel Kurt.
Mutter lässt sich nicht hängen, sie jammert nicht rum und ihre Trauer um die schöne Wohnung verschließt sie tief im Inneren. Für uns Kinder ist es spannend und aufregend die neue Umgebung auf dem Land zu erkunden. Die Ställe, die Felder, die Bauernkaten rings um den Gutshof. Alles ist Neuland. Arne erkundet es zusammen mit mir. Wir finden keinen Grund, uns zu beklagen.
Der Hof gehört Vaters Cousin, Karl-Hans. Dieser Karl-Hans ist natürlich nicht da, sondern im Krieg wie alle Männer. Seine Frau Inge, eine todschicke, schlanke Frau mit hübschen dunklen Haaren und immer mit roten Lippen ist jetzt die Chefin des Gutes. Sie kümmert sich nicht um die Parole: „Eine deutsche Frau schminkt sich nicht.“ Ihre Haare sind modisch hochgesteckt, die Wimpern getuscht und die Fingernägel knallrot lackiert.
„Wie konnte er nur diese Leute zu uns einladen?“ beklagt sich die mondäne Inge bei ihrer Schwiegermutter.
„Das ist doch unsere Verwandtschaft, die lässt man nicht auf der Straße stehen. Denk doch mal, was sie schon ausgehalten haben. Wenn du die Wohnung verloren hättest, würdest du auch Hilfe erwarten!“ entgegnet Großmutter Sommer.
„Dann kümmre du dich um sie, ich hab dazu keine Zeit und Lust!“ zischt Inge. Doch es ist Krieg und es bleibt Inge nichts anderes übrig. Jeder der Platz hat, muss „Evakuierte“ aufnehmen. Hanna steht mit ihren drei kleinen Kindern und dem Mädchen Emma, noch im Flur und hat sehr wohl den unfreundlichen Empfang gehört. Freundinnen werden die beiden jungen Frauen nicht.
Wir ziehen in zwei düstere Zimmer am Ende eines langen, schrecklich dunklen Flurs. Unser Kindermädchen Emma wohnt in dem einen Zimmer, wir mit Mutter im anderen. Die alten, lange unbenutzten Zimmer sind muffig und ungemütlich. Biedermeiertapeten mit zarten Streifen hängen verblichen, halb runter gerissen an den Wänden. Die ehemals schönen Räume sind vergammelt, es riecht nach Schimmel und alten Klamotten. Die Fenster gehen auf den Park hinaus, dessen düstere hohe Bäume die Räume verdunkeln. Den ganzen Tag brennt elektrisches Licht, damit man lesen oder stricken kann. Uns Kindern ist das egal, wir entdecken die neue Umgebung, treiben uns in den Ställen rum. Die alte Wohnung vermissen wir nicht. Außerdem durften wir in der Stadt nicht einfach aus dem Haus rennen und spielen, wo wir wollten.
Mutter hatte ihren Volksempfänger mitgenommen. Er dudelt den ganzen Tag. Wenn aber die Fanfare von Liszt eine Sondermeldung ankündigt, erstarrt alles. Wir dürfen keinen Mucks von uns geben. Emma wickelt ihre Strickjacke fest um sich, verkreuzt die Arme und stellt sich neben den Lautsprecher. Mutter hört nicht auf zu stricken, aber ihr Kopf neigt sich angestrengt in die Richtung des Radiogerätes. Es wird immer wieder der Endsieg gegen Russland verkündet, Sieg auf der ganzen Linie! Die Flüchtlingstrecks sprechen eine andere Sprache. Emma und Mutter tauschen Blicke, sagen nichts. Und gleich danach trällert Lale Andersen „Lili Marlen“.
Besonders attraktiv ist die große Gutsküche, wo es meist so lecker duftet. Die rundliche Köchin Grete mit der blütenweißen Schürze hat für uns Kinder immer was zum Naschen. Wir setzten uns gerne zu ihr und Hans, dem Faktotum an den blank gescheuerten Tisch in der Mitte. Wenn’s nichts zu naschen gab, gab’s was für die Ohren. Hans und Grete erzählten gerne und viel und immer klatschten sie über Tante Inge und die Offiziere „oben“. Einmal, als sie Tante Inges ausschweifendes Liebesleben lang und breit diskutierten, kam Mutter rein: „Was redet ihr denn da! Kleine Töpfe haben auch Henkel!“
Grete und Hans verstummten auf der Stelle und ich musste lange nachdenken, warum Mutter so etwas Selbstverständliches gesagt hatte:
Kleine Töpfe haben auch Henkel. Ist doch klar, weiß doch jedes Kind. Aber dass daraufhin die beiden verstummten, war mir ein Rätsel.
Der rothaarige, sommersprossige Sohn von Tante Inge heißt wie sein Vater Karl-Hans und ist etwas älter als mein Bruder Arne. Ich hänge wie eine Klette an Arne und Karl-Hans. Christian hätte das auch gern gemacht, aber seine Beine waren zu kurz, um uns zu folgen. Ich will einfach nur mit den Großen mitspielen. Und wenn es den beiden mit mir zu viel wird, spielen sie Indianer und binden mich kurzerhand an den Marterpfahl. Ich lasse das klaglos geschehen. Hauptsache dabei sein, und dazu muss man schon mal was aushalten. Und auf keinen Fall petzen, denn sonst ist man aus dem Spiel.
Es war da an dem Baum im Park, an den sie mich fesselten, durchaus nicht langweilig. Ich beobachtete Käfer, Eidechsen und Rehe. Einmal auch Annika und Boris, wie sie im Gras kullerten, schmatzten und stöhnten.
„Wo ist Birte?“ Wenn dann am Abend ein kleines Mädchen fehlte, fiel des den beiden hoffnungsvollen Knaben wieder ein, wo sie mich stillgelegt hatten.
„Ach, im Park!“
„Im Park?“
„Am Marterpfahl!“
Kleinlaut rannte Arne dann raus und befreite mich.
„Zeig ja nicht die roten Striemen, an den Armen, sonst darfst du nie wieder mitspielen!“ drohte er und zog meine Ärmel bis zu den Fingerspitzen runter.
Christian, der damals so zwischen zwei und drei Jahren gewesen sein muss, wird immer weggeschickt, wenn wir spielen. Brav trabt er dann zu den ukrainischen Zwangsarbeitern. Da wird er beschmust und verwöhnt. Sicher hatten sie Heimweh nach ihren eigenen kleinen Kindern. Es gibt viele Zwangsarbeiter und im Haus, auch Zwangsarbeiterinnen. An eine, die dünne Annika, erinnere ich mich besonders, denn immer wenn sie mich sah, nahm sie mich in den Arm und weinte.
„Warum weint Annika?“
„Das verstehst du nicht, du bist noch zu klein!“ Erst viel später wurde mir klar, dass das moderne Sklaven waren, die als Kriegsbeute und kostenlose Arbeitskräfte aus ihrer Heimat verschleppt wurden.
Für mich ist Eichenwalde das reinste Paradies. Fliegeralarm gibt es fast nie. Nur hin und wieder müssen wir in den Schatten der Scheunen oder des Hauses rennen, wenn Jagdbomber im Anflug sind. Ich finde das spaßig, wie Verstecken spielen, denn ich weiß ja nicht, dass die Piloten auf Menschen, die sich am Boden unter ihnen bewegen, schießen.
Karl-Hans besitzt glitzernde, gläserne Murmeln, die in den Untiefen der Taschen seiner speckigen Lederhose klapperten. Nur Arne darf mit diesen Murmeln spielen. Eines Tages kommt Annika lächelnd zu mir, sie hat wohl gesehen, wie ich sehnsüchtig dem Murmelspiel zuschaute. Sie holt aus ihrer Schürzentasche eine Handvoll erdfarbener Murmeln und schenkt sie mir. Glücklich falle ich ihr um den Hals.
„Musst spielen, musst spielen!“ fordert sie mich in ihrem gebrochenen Deutsch auf. Und ich spiele mit den Jungs, bis die Murmeln in eine Pfütze kullern und weg ist die Pracht. Die Murmeln zerfallen zu dem Lehm, aus dem Annika sie gemacht hatte. Aber eine ziemlich lange Zeit war ich ziemlich glücklich.
Tante Inge hat mehrere smarte, schlanke Offiziere einquartiert und feiert mit ihnen jeden Abend lustige Feste. Mutter wird natürlich nie zu diesen Feiern eingeladen. Sie bleibt auch lieber in unserem kleinen Zimmer. Wenn sie auf dem Sessel beim Socken stopfen eingenickt ist, schleichen Arne und ich durch den langen gruseligen, dunklen Flur nach vorne. Der Salon, wo die Tante mit den Offizieren feiert, hatte große Flügeltüren mit Glasscheiben. Da spicken wir beide heimlich durch und finden es toll, wie Tante Inge als einzige Frau mit den Männern zu den Tönen des Grammofons tanzt.
„Vor der Kaserne, vor dem großen Tor ...“ singen alle mit. Inge wackelt mit den Hüften im engen, seidenen Rock. Heimlich übe ich diesen Hüftschwung. Das Lied mit der „Lili Marlen“ kann ich auswendig und gebe es noch lange zum Besten. Die Erwachsenen wollen es immer wieder hören und ich träume davon, später einmal Halbweltdame, Soubrette, Schauspielerin oder Gutsbesitzerin zu werden.
Die Glasscheiben haben am Rand einen besonderen Facettenschliff und die Szenen innen vervielfachen sich, wenn man schräg darüber in den Raum schaut. Inge raucht Zigaretten durch eine meterlange Zigarettenspitze und trinkt Prickelndes aus langen, hohen Gläsern. Dass das Champagner ist, weiß ich damals noch nicht. Ich finde das jedenfalls ganz toll und will später so werden wie Tante Inge: mondän und elegant und nicht so sorgenvoll wie Mutter in ihrer Kittelschürze.
„Liebe Hanna“, säuselt eines Tages Tante Inge, „darf ich dich und die Kinder heute Abend zum Gänsebraten einladen?“
Es fällt Hanna schwer zu antworten, aber einem Gänsebraten kann sie nicht widerstehen. „Gerne liebe Inge, ich freue mich sehr. Aber die Kinder lasse ich wohl drüben.“
„Nein, nein, bring sie ruhig mit, sie können ja in der Küche essen.“