Ian Malz
Wie ein Stein im tiefen Wasser
ein historischer Roman
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Wie ein Stein im tiefen Wasser
Prolog
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Kapitel XVIII
Kapitel XIX
Kapitel XX
Kapitel XXI
Kapitel XXII
Kapitel XXIII
Kapitel XXIV
Kapitel XXV
Epilog
Impressum
Wie ein Stein im tiefen Wasser
Prolog
Drei Nächte dauerte der verheerende Kampf. Und waren es drei Nächte, so zählte man auch die Tage; Tage voller Zorn, Hass, Blut und Legionen von Römern; von toten Römern, die sich, so weit das Auge über Sümpfe, Hügel und Senken schauen konnte, in ihrem Blut wälzten oder einfach nur mit fassungslosem Blick aus toten Augen gen Himmel starrten.
Hermandum, von den Römern Arminius genannt, einst der große Verräter an seinem Volk, dem dieser Namen von seinen römischen Freunden zuerkannt worden war und die ihn in den Rang eines Offiziers erhoben hatten… - war dies alles nur sein von langer Hand vorbereiteter Plan? Hermandum, der Herr über unsere tapferen Männer? Über so viele Jahre hinweg? Großes Vertrauen hatte Varus in ihn. Ein so großes Vertrauen, dass Varus seinem Wunsche gefolgt war und mit seinen Legionen und Trossen in diese unheimliche, von Sümpfen, Feldern und Wäldern überwucherte Gegend gezogen war, um den vermeintlichen Zänkereien unter einigen Stämmen der Cherusker den Garaus zu machen, anstatt mit seinem Gefolge das sichere Winterquartier in Vetera aufzusuchen. Machthungrig und geldgierig wie Varus war, folgte er blind dem Wunsche seines Verbündeten Arminius. Arminius aber war und blieb doch Cherusker!
Drusus und Tiberius, die beiden Vorgänger des Varus, begannen die Stämme der Cherusker, Brukterer, Marser und Chatten mit all ihren Sippen zu unterwerfen. Varus folgte diesem vermeintlich leichten Unterfangen und wollte den Völkern zwischen Rhenus und Visurgis die römische Rechtsprechung aufbürden. Mit diesen Erfolgen hätte er in Rom bestimmt glänzend dagestanden und vielleicht, vielleicht wäre er der Cäsar geworden und hätte Augustus, diesen alten, unfähigen Mann, abgelöst. Während er sich um die Erweiterung des Römischen Reiches bis in den hohen Norden Sorge machte, vertrieb sich dieser Greis mit Namen Augustus die Zeit mit irgendwelchem Geplänkel in Rom oder er schickte seine Truppen gen Osten. Wozu? Dort war außer Sonne, Sand und ein paar Edelsteinen nichts! Aber hier, im kalten Teil der Welt, dort lagerte das ersehnte Erz tief in der Erde. Ohne Erz kein Eisen und ohne Eisen keine Waffen! Und ohne Waffen kein Sieg. Wenn erst einmal diese Völker, die nur wild vor sich hingrunzten und keinerlei Kultur besaßen, unter seinem Joch stünden, dann würde Rom schon sehen, wer der am weitesten vorausschauende, ja, wer der rechtmäßige Cäsar ist!
Nun lagen die Legionen da! Drei Legionen. An die zwanzigtausend Männer einschließlich der mit ihnen marschierenden Familien, die nach tagelangem Marsch durch unwegsame Wälder endlich eine große Lichtung zwischen zwei Waldgürteln erreichten.. Es war ein mühevoller Weg. Immer wieder mussten Bäume gefällt und Stege über Bäche und Flüsse gebaut werden, bis die Legionen schließlich ihr Ziel erreichten - den Ort, den Hermandum für seinen Hinterhalt ausgesucht hatte, weil der große Thing ihn für geeignet hielt.
Lange Diskussionen gingen dem Beschluss des Things voraus. War es doch nicht so einfach, alle Sippenfürsten von Hermandums’ Plan zu überzeugen. Trotz vieler kleiner Reibereien mit den römischen Besatzern, die mitunter auch für die einzelnen Stämme recht erfolgreich ausgingen, waren die Römer eigentlich zu mächtig und in ihrer Kriegskunst unübertroffen. Doch Hermandum hatte über Jahre hinweg die Kampfkunst der Römer erlernt. Vielen Sippen gab er Unterricht in der Art und Weise, wie sich die römischen Söldner auf dem Schlachtfeld zu bewegen wussten. Mit diesem Wissen war den Kriegern der Sippschaften klar geworden: auch die Römer waren verwundbar! Die vielen Köpfe der Feinde, die in den Wäldern an die Bäume genagelt wurden, zeugten von der tödlichen Verwundbarkeit dieser verhassten Eindringlinge.
Ja, dort, wo Hermandum die Truppen des Varus hinhaben wollte, nämlich in das Gebiet der Sümpfe und Wälder, dort konnten die Soldaten nicht ihre gefürchtete Kampfformation einnehmen, konnte die überlegene Reiterei nicht von den Flanken her angreifen. Auf offenem Feld hingegen hätten sie, die unterdrückten germanischen Stämme, auf verlorenem Posten gekämpft und das Martyrium wäre weiter gegangen. Hatten sie denn nicht schon genug verloren? Hermandum war der Heiling, ihm vertrauten die Stämme und stimmten seinem Plan zu. Aus dem Hinterhalt - die Sümpfe schnitten den Römern den Rückzug ab - würden Varus’ Truppen angegriffen werden, so bestimmte man.
Die Chatten und Marser kamen von Süden her, die Cherusker von Osten und die Brukterer von Norden und stürzten sich auf einige Kohorten, die gerade im Begriff waren, sich geeignete Wehranlagen aus Stämmen und Gräben zu schaffen, während der Großteil der Legionen den mühevollen Marsch durch die Wälder noch vor sich hatte.
Nun lagen sie da in ihrem Blut. Vermischt mit dem Blut vieler junger, unerschrockener aber auch zu stürmisch angreifender Krieger aus eigenen Stämmen.
Die Römer waren besiegt und wer noch von ihnen lebte, wurde in die Sümpfe getrieben, in denen sie qualvoll in ihren schweren Rüstungen versanken oder sie wurden gleich an Ort und Stelle Odin geopfert.
Drei Nächte und Tage dauerte dieses Gemetzel. Die gut ausgerüsteten, aber müden Legionäre hatten keinerlei Chance, diesen aus dem Nichts angreifenden Kriegern eine erfolgreiche Gegenwehr zu bieten. Viele von ihnen waren so entkräftet, dass sie sich kampflos ihrem Schicksal ergaben. Sie ließen sich vor den germanischen Kämpfern in den Morast fallen und erwarteten den erlösenden Hieb.
Nun stand Hermandum auf dem Hügel, auf dem sich Varus voller Verzweifelung in sein Schwert stürzte und hielt, schwer atmend, in der Linken eine Lanze, auf der ein eiserner Adler befestigt war, das Heiligtum dieser Römer, das, voller Stolz, den Kohorten, den Legionen voraus von ausgewählten und sich der Verantwortung dieser Ehre bewussten Soldaten getragen wurde.
Das Kampfgeschrei wich nach und nach einem ohrenbetäubenden Jubel, als die Germanen Hermandum dort oben mit dieser Trophäe stehen sahen. Die Krieger klopften mit den Schwertern auf ihre hölzernen Schilde oder aber auf die Rüstungen der toten, besiegten Feinde. Hermandum, unser Kriegsheil! Unser Siegheil! Fürst! Unser Heiling! Wie ein aus der Ferne sich androhender Sturm klangen der Jubel und das Gebrüll der Siegreichen. Donar muss mit ihnen gewesen sein! Wie sonst sollten die kleinen - wenn auch mächtigen - Kriegerstämme dieses Heer so vernichten können! Donar - unser Gott! Hermandum - unser Heiling!
Hat er seinem Namen wohl alle Ehre gemacht? Er hat gekämpft wie ein Wolf. Wie ein Wolf im Rudel seiner Sippe. Wulfila, so hat ihn sein Vater genannt. So nennen ihn alle. Der Vater seines Vaters hatte schon den Namen. Dessen Kraft wurde ihm übertragen - so erzählte man ihm. Nun hockt er da, immer noch schwer atmend, umgeben von Soldaten - von toten, blutenden und zerstümmelten Soldaten. Vereint mit den tapferen Mitgliedern seiner eigenen Sippschaft, die, Seite an Seite und sich gegenseitig schützend, kämpften, hieben, durchbohrten und von denen manch einer, im mutigen Kampf von einer Lanze oder einem Pfeil getroffen tot zusammenbrach oder schwer verletzt liegen blieb. So hat er tagelang und nächtelang gekämpft. Angst hatte er keine gehabt - oder doch? Blinde Wut und die Seite der Überraschung steigerte die Kampfeslust von Stunde zu Stunde und von einer Nacht zum anderen Tag. Sicher, auch wenn dieser Überraschungsangriff den Römern gleich zu Beginn herbe Verluste beibrachte, konnten sich doch viele kampferprobte Soldaten, die schließlich schon auf der ganzen Welt gefochten hatten, wacker und kraftvoll verteidigen. Am ersten Tag sah es fast so aus, als könne sich das Blatt sogar noch einmal wenden. Doch die immer wieder aus den Wäldern angreifenden Horden der verbündeten Stämme - und es wurden von Mal zu Mal mehr - ließen den Römern keine Zeit, sich zu formieren. Formation war in diesem versumpften, unwegsamen Gelände unmöglich. Hätten die römischen Soldaten mit ihren schweren Panzern und ihren Pferden besseren Halt unter den Füßen gefunden, wären Verteidigungs- und Angriffsstellungen möglich geworden, hätten die Katapulte und Speerwurfmaschinen eingesetzt werden können! Wer weiß!? Dagegen die Germanen: Mit bloßem Oberkörper - nur mit dem Schild und Schwert bewaffnet - waren sie auf dem morastigen Boden viel wendiger; konnten die Reiter auf ihren strauchelnden Pferden umlaufen und sie mit der Lanze erstechen oder aber zumindest solch schwere Verletzungen zufügen, dass sie von ihren Pferden stürzten. Auf der Erde liegend hatte dann der Soldat keine Möglichkeit mehr, sich zu wehren.
Wulfila hat mit vielen Römern gekämpft. Mutige, starke aber auch schwache Soldaten haben mit ihm das Schwert gewetzt. Wulfila war der Sieger aller Kämpfe. Wie viele es waren, kann er nicht mehr nachvollziehen. Seine Arme wurden von Hieb zu Hieb immer schwerer. Auch musste er sich immer wieder auf Baumstümpfen oder aber auf einem der toten Pferde ausruhen, um neue Kraft zu schöpfen. Aber die Abstände zwischen den Zweikämpfen wurden immer länger und dann kam der Zeitpunkt, wo sie ganz abflauten, bis man nur noch hier und da Schreie von verletzten Kämpfern hörte. Ob es nun die der eigenen oder aber die der geschlagenen Kämpfer waren - wer konnte es wissen? Wulfila sollte mit den Angehörigen seiner Sippe Seite an Seite kämpfen, so wollte es Hermandum. Der Bruder seines Vaters - wie alle Männer dieser Familie ein Hüne mit derbem, kantigem Gesicht, doch freundlich blinzelnden, blassgrauen Augen - führte die Gruppe an. Bei ihm dessen drei Söhne, dem Vater fast wie aus dem Gesicht geschnitten; sie alle kämpften vereint mit den Brüdern, Onkeln und Väter derer Familien. Nicht selten wurde manch gefährliche Situation durch ein anderes Familienmitglied gelöst. Die sonst so geordneten, kampferprobten Römer schlugen in panischer Angst wild um sich und nicht selten griffen sie hinterrücks in Zweikämpfe ein, um ihrem Kameraden zur Seite zu stehen. Genau dies taten die verbündeten Familien auch! Wulfilas Sippe bekam den Auftrag, auf der kleinen Lichtung unweit des Hügels, auf dem Hermandum nun stand, die verdutzten Römer in die Zange zu nehmen. Man wartete, bis ein Großteil des Trosses an ihnen vorüber war und fiel diesem dann in den Rücken, wohl wissend, dass auf der anderen Seite des Waldes neue Kohorten nachrückten, die aufgrund der nun immer lauter werdenden Kampfgeräusche versuchten, seitlich aus den Wäldern hervor zu brechen. Aber dort standen die Chatten und warteten. Ein Rückzug war mit den schweren Wagen, Tieren und dem ganzen Tross auf den schmalen Wald- und Feldwegen nicht möglich! Wenn es denn überhaupt Wege gab! Der verzweifelte Kampf begann! Varus gab den Befehl, dass alle Wagen, mit denen die Vorräte transportiert wurden, zu verbrennen seien, damit sie nicht den Barbaren in die Hände fielen.
Tote gab es auch um Wulfila herum. Nicht nur Römer, auch Sippenmitglieder lagen dort in ihrem Blut. Doch beklagt wurden sie von den Männern nicht! Denn sie hatten es geschafft! Odin würde diese Opfer wohlwollend annehmen. Wenn die kampfesmüden Krieger sich erholt haben würden, würde jeder einzelne Tote zu seiner Familie gebracht, um dann, seiner Stellung in der Sippschaft entsprechend, würdig bestattet zu werden. Und eine würdige Bestattung bekam ein jeder. Trotzdem waren Lücken in die Familien gerissen worden, die - wenn überhaupt - nach einigen Jahren erst wieder geschlossen werden könnten.
Schwer geht Wulfilas Atem. Nun kauert er neben seinem letzten Gegner. Es muss wohl ein gleichaltriger oder ein wenig älterer Römer gewesen sein. Aber diese Gedanken kommen ihm erst viel, viel später, als er dem Römer den Helm vom Kopf zieht, um seinem Schwert freie Bahn zum Hals des Besiegten zu geben. Dunkle, kurz geschnittene, wenn auch blutdurchtränkte Haare kommen zum Vorschein. Das Gesicht - sicherlich einmal schön und markant - ist mit Hieb und Stichwunden übersät. Die größte Wunde aber hat der Soldat, der wohl schon eine höhere Position in der Hierarchie der Legion inne gehabt haben muss, am Hals. Wulfila hat sie ihm zugefügt. Verbissen haben beide gekämpft, bis der junge Römer rücklings über eine Wurzel stolpert und strauchelt. Wulfilas Schwert folgt der fallenden Bewegung seines Gegenübers. Eigentlich sollte der Hieb den Kopf treffen. Doch die Kraft versagt ihm und es wird nur ein Schnitt. Ein todbringender Schnitt durch die Halsschlagader. Mit schreckengeweiteten Augen lässt der Soldat daraufhin sein Schwert fallen und greift sich an den Hals. Im Rhythmus des Herzschlages pulsierend dringt das Blut durch die zusammengepressten Finger. Der junge Römer schaut mit glasigen Augen in den immer dunkler werdenden, von Wolkenfetzen durchfurchten Himmel. Langsam gleitet sein Blick zu Wulfila, der immer noch mit ausholender Gebärde sein Schwert kreisen lässt. An Wulfila vorbei starrt er nun in die Wolkenfedern, als sähe er dort Gestalten ihm zuwinken. Ein leichtes Zucken geht über sein Gesicht, so, als habe er eine Frage nicht verstanden oder aber so, als wolle er lächeln. Seine Lippen beginnen sich zu bewegen. Wulfila kann diese Worte nicht verstehen. Obwohl er weiß, dass diese Römer, die sein Land unterdrücken, sich mit ganz anderen Lauten verständigen als er und seine Familien, beugt Wulfila sich langsam, auf sein Schwert gestützt, zu dem im Todeskampf liegenden Soldaten herunter. Plötzlich ergreift der Römer Wulfilas Arm. Wulfila wundert sich noch über die Kraft dieses jungen Mannes und will schon wieder aufspringen, um mit einem Hieb diesem Treiben ein Ende zu machen, da spürt er, wie dieser erst so feste Griff sich lockert und fast streichelnd vom Oberarm bis zum Handgelenk herabrutscht. Sind dies Tränen in den Augen des Römers, die das Dunkelrot des Blutes in seinem Gesicht nun zu hellen Bahnen werden lassen? Die Hand des Soldaten rutscht von Wulfilas Handrücken herab und schlägt mit einem klatschenden Geräusch auf die gepanzerte Brust. Die Augen der beiden Kontrahenten treffen sich wieder. Als ob er seinem Bezwinger etwas mitteilen will, klopft der Römer nun ungelenk auf seinen Brustpanzer, da ihn seine Kräfte immer mehr zu verlassen scheinen. Mit dem Zeigefinger deutet er immer wieder, erst heftig, dann langsamer werdend, auf den Brustpanzer, die Augen immer auf Wulfila gerichtet in der Hoffnung, aus dessen Augen eine Bestätigung zu erhalten, dass dieser die Geste verstanden habe. Doch Wulfila sieht nur, immer noch kurzatmig, in diese dunklen, weinenden Augen. Was für ein Kämpfer! denkt Wulfila. Ein Kämpfer, der weint! Wie konnten die Römer mit solchen Weichlingen nur so stark werden?! Fast zufällig gleitet sein Blick über den blut- und dreckverschmierten Panzer hin zu dem immer noch auf die rechte Brust deutenden Finger. Dies waren eigentlich schon keine Bewegungen mehr. Der Finger klebte fast schon auf dem Eisen und bog sich nur noch, bis er abrutschte und die Hand seitlich in den Morast glitt. Wulfila blickt zurück in die leeren Augen, die durch ihn hindurchzublicken scheinen. Er steht mühsam auf. Die Wunden am Arm und an den Beinen und die vielen kleinen Schnitte auf der Brust und dem Rücken haben ihn doch wohl zu sehr geschwächt. Jetzt, wo ihn die Kampfeslust und -wut nicht mehr so sehr stärkt, merkt er doch, wie unendlich müde er ist. Mit hängenden Armen steht er dort, in der einen Hand den Helm des Besiegten und in der anderen sein Schwert - den Schild hatte er schon in den Kämpfen, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben, einfach weggeworfen. Der Schild hatte dabei noch einen letzten Zweck erfüllt - einem auf dem Boden kriechenden römischen Soldaten, den Wulfila zuvor vom Pferd gerissen hatte, schlug er mit der Schildkante das Genick ein und ließ den Schild dann, wie ein Leichentuch, auf ihm liegen, um sich anderen Gegnern zuzuwenden.
Wulfila dreht sich nun noch einmal zu seiner allerletzten Tat um. Irgendetwas bewegt ihn dazu, noch einmal zu dem Erschlagenen zurückzugehen. Er lässt sich seitlich von dem Toten in den aufgeweichten Boden niedersinken. Wulfila schneidet die ledernen Befestigungsschnüre des Panzers durch, hebt ihn ab und wirft ihn zur Seite. Um den Hals trägt der Römer eine goldene Kette, die nur am Halsausschnitt seines Unterhemdes hervorschaut. Hat der Römer darauf hinweisen wollen? Wollte er dem siegreichen Germanen noch ein Geschenk machen? Als Dank für seine Niederlage? Mit zwei Fingern nestelt Wulfila die Kette unter dem Hemd hervor. In seiner offenen Hand liegt ein goldenes Amulett mit Zeichen darauf, die er nicht deuten kann. Der Rand verläuft, als sei es die Verlängerung der wuchtigen Kette, um diese handtellergroße Platte wie ein geflochtenes Band herum. Wulfila hat schon viele Schmuckstücke gesehen. Seine Großmutter bekam in ihr Grab Schmuck und Werkzeuge, die ihr jenseits dieser Zeit nützlich sein sollten. Auch Helmgard, seine kleine Schwester, die schon so viele Winter von der Familie fort war, hatte so ein Amulett, dass ihr Wulfila aus einem flachen Stein gefertigt hat, den sie am Bachlauf gefunden haben. Aber der war viel, viel kleiner! Plötzlich gehen Wulfila Fragen durch den Kopf: Wie viele Winter ist Helmgard eigentlich schon fort? Lebt sie noch? Wo ist sie nur? Wulfila blickt sinnend über das Schlachtfeld in alle Himmelsrichtungen, als hoffe er, irgendwo dort hinten seine geliebte, kleine Schwester zu sehen. Vermeintlich schwer wiegt das edle Metall in Wulfilas von Dreck und von Blut verkrusteten Hand. Wulfila dreht das Goldstück auf die andere Seite. Dort ist das Profil einer Frau abgebildet. Als wolle er das Bildnis wiegen, hebt und senkt er die Hand. Regentropfen fallen in seine Handfläche, das mit Blut behaftete Stück scheint sich selbst reinigen zu wollen. Mit dem Daumen hilft er dem Regen dabei, die goldene Fläche zu säubern. Über seinen Besiegten hinweg blickt Wulfila in eine unendliche Ferne. Wie kam es nur, dass dieses Schmuckstück am Hals seines Feindes, seines von ihm getöteten Feindes, solche Erinnerungen in ihm wach werden ließ?
Mit einem leisen Seufzer erhebt sich Wulfila er aus seiner knienden Haltung und will gerade das Amulett mit einem Ruck vom Hals des Toten reißen, da, als hätte Wotan mit seinem Hammer zugeschlagen, lässt Wulfila die Kette auf die Brust des Getöteten zurückfallen und steht im gleichen Moment, wie vom Blitz getroffen, starr neben der Leiche. Ungläubig stiert auf den Toten. Ohne es zu bemerken, hatte Wulfila beim Herausziehen der goldenen Kette noch etwas unter dem Hemd des Römers zum Vorschein gebracht.
Kapitel I
Es war wieder einer dieser wunderschönen, warmen Tage. Die Sonne stand zur Mittagszeit nicht mehr so hoch am Himmel und deutete an, dass es bald Herbst werden würde.
Der Sommer war sehr heiß gewesen und so, als wolle er mit letzter Kraft seine Wärme in die nun kälter werdende Jahreszeit retten, ließ er die Sonnenstrahlen auf die Dächer von Travestra sinken. Die braunroten Dachpfannen speicherten diese Wärme und selbst die Zisternen hatten noch genug davon abbekommen, um einem Badenden noch warmes Wasser zu spenden. Dicht an dicht standen die Häuser, als rückten sie zum Winter hin noch enger zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen. Selbst in den engen Gassen, die vom Capitol her parallel zwischen den Häuserzeilen verliefen, bis sie am befestigten Ufer des Mare Mediterrane mündeten, dort, wo die Handelsschiffe an den Pollern vertaut wurden, selbst hier stand noch die warme Luft. Der leichte Wind kam vom Meer her und verwirbelte so manchen Geruch in den schmalen Straßen, der sich mit den Gerüchen der Kanalisation und den Fischständen am Hafenbecken vermengte. Kinder liefen spielend und lachend die leicht abwärts führende Straße hinab, übersprangen gleich drei, oder, wer konnte, vier und mehr Stufen, bis sie unten an der Kaimauer standen. Der Kai hatte eine Länge von vielen hundert Schritten. In gleichmäßigen Abständen waren Poller in den Kai eingelassen, an denen schon einige Fischerboote vertäut lagen. Am Ende des Kais, zu den fast senkrecht abfallenden Felsen hin, befand sich ein großes Tor, vor dem Soldaten standen und aufpassten, dass kein Unbefugter in den militärischen Teil des Hafens eindringen konnte. Zum Land hin, vor den ersten Häuserzeilen, verlief eine breite Straße, die für die Wagengespanne im mittleren Bereich gepflastert war. Zwischen Straße und Häuser gab es einen unbefestigten, sandigen Streifen.
Der Jubel war bei den Kindern riesig, als sie auf das Meer hinausschauten und die heimkehrenden Fischerboote erspähten. Sie liefen zu den Booten hin, die gerade mit ihren Fängen in den Hafen einliefen. Stundenlang konnten die Knaben auf den Steinsockeln sitzen und den Fischern bei der Arbeit zusehen, wie sie die Netze an Land brachten und die Körbe mit den Fischen den Händlern feilboten, die aus den nahe liegenden Tavernen, wo sie die Zeit bis zur Ankunft der Fischer bei Wein und Gesprächen verbracht hatten, an ihre Verkaufstische eilten, um sogleich das günstig Erworbene mit einem entsprechenden Preisaufschlag weiter zu verkaufen. Andere wiederum verstauten ihre Waren in großen Körben und brachten sie auf ihren Lasttieren ins Landesinnere, um sie dort auf Märkten zu verkaufen. Ein hartes Geschäft, mussten doch die Fische schnellstens an Ort und Stelle gebracht werden, damit sie noch mit einer einigermaßen frisch verkauft werden konnte. Die Nacht war durch ihre Kühle ein guter Garant dafür, dass die verderbliche Ware noch gut erhalten ihr Ziel erreichte. Einige Frauen, zum Teil von ihren Sklavinnen begleitet, gingen von Tisch zu Tisch und deuteten - die Nase mit einem Tuch vor dem doch unangenehmen Geruch der Fische schützend - auf diesen oder jenen gefangenen Meeresbewohner. Worauf der Händler mit dem Feilschen begann. Schnell war man sich aber meistens über den Preis einig und die Sklavinnen oder die Herrin selber legten den Fisch in den mitgebrachten Korb auf die Kräuter oder das kurz zuvor erstandene Gemüse, das am Morgen, beim ersten Einkauf, noch nicht vorrätig gewesen war. Alles zusammen wurde natürlich dringend für das abendliche Essen benötigt; sei es, um dem heimkehrenden Ehemann mit seinem Lieblingsmahl eine Freude zu bereiten, sei es, um überraschend eintreffende, ehrwürdige Gäste standesgemäß zu bewirten.
Die Sonne verschwand nun doch recht schnell hinter der felsigen Landzunge, die sich wie ein schützender Arm um die Bucht zu legen schien. Die schneeweißen Häuser veränderten zunehmend ihre Farbe. Erst wurden sie hellgelb, als wenn die Sonnenstrahlen sich in die Wände gefärbt hätten. Aus dem hellen Gelb wurde nach und nach ein orangenfarbiges Glühen, das zur Grundmauer hin immer dunkler und schattiger wurde. Nun leuchteten nur noch die Ziegel in einem warmen Licht und warfen wellige Schatten. Der Grat der Landzunge schien zu leuchten und es wurde merklich kühler. Die Händler begannen ihre Tische zu räumen und die Ware zu verstauen. Die Frauen machten sich auf den Heimweg, um das Gekaufte zu verarbeiten. Wie würde sich der Gemahl über den Fisch freuen und wie mehr noch würde er der Hausherrin’ Kochkunst bei seinen Gästen zu rühmen wissen?
Den ganzen Nachmittag saß Quintus am Kai oder ging die Mole entlang bis hin zu der Stelle, an denen Soldaten ihm den Zugang zum Hafen verweigerten. Er wusste schon, dass er nicht weitergehen durfte. Hatte er doch schon oft genug einen Rüffel bekommen, der ihn darauf aufmerksam machte, dass es bis hierhin und nicht weiter ging. Aber was er sehen wollte, sah er auch von hier aus. Wie gerne würde er einmal eines dieser majestätischen Schiffe sehen, die auf der anderen Seite der Bucht, im Militärhafen, vor Anker lagen. Wie gerne würde er einmal auf einem solchen Schiff sein dürfen. Sein Weg von zuhause bis hinunter zum Hafen war ziemlich weit, denn er wohnte mit seiner Familie oberhalb von Travestra, gut fünfhundert Schritte vom letzten Haus entfernt, inmitten eines Olivenhains. Sein Vater machte das beste Olivenöl weit und breit und verkaufte es bis in die höchsten Kreise der römischen Senatoren. Trotzdem versuchte Quintus doch täglich hinunter an den Hafen zu kommen, um die ein- und ausfahrenden Schiffe zu sehen. Wenn der Wind von Westen her um die Landzunge wehte, konnte er sogar noch das dumpfe Hämmern der Takttrommeln vernehmen, die die Ruderer auf Tempo hielten. Weiter draußen würden dann die Segel gesetzt und die Riemen eingezogen werden. Sicherlich die angenehmste Zeit der unten im Bauch des Schiffes rudernden Soldaten. Von dort aus, wo Quintus wohnte, sah er zwar noch den Kamm der Landzunge, aber nicht mehr den Hafen. Nur ganz fern, wenn er sich auf das Dach seines Elternhauses stellte, konnte er dort, wo die vor ihm liegenden Häuser niedriger waren als die anderen, noch das Meer weit draußen sehen. Mit viel Glück und Ausdauer erspähte er - wenn auch nur für kurze Zeit - das eine oder andere Schiff, das gen Westen segelte oder aber die Küsten Afrikas anlief.
Auf den Schiffen und in den Tavernen wurden nach und nach die Öllampen entzündet. Zeit für Quintus, nach Hause zu gehen. Er kam an den Stoff-Händlern vorbei und beim Töpfer Macremus, den er freundlich grüßte, lieferte der doch für seinen Vater die Behälter für das Öl. Und Macremus´ Krüge waren die besten. Bevor Quintus in den Weg einbog, der geradewegs zu seinem Elternhaus hinaufführte, blickte er noch einmal zurück zum Hafen, um vielleicht doch noch ein auslaufendes oder einfahrendes Schiff zu erspähen. Aber alles blieb ruhig und der Hafen lag schon im Dunkeln des großen Schattens, den die Landzunge über das Hafenbecken legte.
Zwischen den Häusern, dort, wo die Sonne nicht mehr die Luft erwärmen konnte, wurde es nun merklich kühler. Quintus fröstelte. Mit großen Schritten und manchen Sprüngen eilte er zum Hause seiner Eltern, dem auch die Fabrikationsräume angegliedert waren. Leicht keuchend erreichte Quintus die steinerne Mauer, die, halb hoch, das Anwesen umfriedete. Sie reichte ihm in etwa bis zu den Schultern. Obenauf die gleichen Dachpfannen wie auf den Dächern der Häuser. Er erinnerte sich, dass es eine Zeit gab, da konnte er nicht einmal über diese Mauer hinwegsehen. Nun war er hochgewachsen. Und seine Mutter schien recht gehabt zu haben, als sie ihm prophezeite, er würde einmal ein großer Mann werden. Ihr Vater und ihre Geschwister waren auch von großer Statur. Ja, das habe er von ihrer Familie. Die familiäre Seite des Vaters war eher klein und rundlich. Nur gut, hatte Mutter einmal schmunzelnd bemerkt, dass ihr Sohn nach ihrer Familie zu geraten schien. Die etruskische Abstammung war einfach nicht zu leugnen.
Es war ein schönes Haus. Fast quadratisch und von einem Säulengang umgeben. Der Weg durch den Vorgarten, vom Eingangstor bis zur Halle, war mit Pflaster belegt. Wie zur Dekoration standen einige Krüge und Amphoren seitlich des Weges. Ein überdachter Gang verband das Haupthaus, in dem die Eltern und er wohnten, mit dem Gebäudeteil, aus dem man die gleichmäßigen Mahlgeräusche der Olivenpresse hören konnte. Zwei Sklaven drehten dort einen aufrecht stehenden Stein in einem großen Bottich. Bei dieser Vorarbeit wurde das Fruchtfleisch sorgfältig vom Kern gelöst, denn zermahlene Kernsteine machten das Öl bitter und als Nahrungsmittel fast ungenießbar. Als billiges Lampenöl oder Leinöl war es dann gerade noch zu gebrauchen. Vater wurde auch immer recht zornig, wenn er klein gehacktes Kerngehäuse in der matschigen Masse fand.
Aus diesem Kollergang wurde die Masse der eigentlichen Presse zugeführt. An langen Hebeln hingen mitunter zwei oder drei Arbeiter, um den Druck auf das Presswerkzeug zu erhöhen, bis schließlich aus der Nase am Boden des Bottichs das wertvolle Öl herauströpfelte. Im angrenzenden Raum verhandelte Livius, Quintus’ Vater gerade mit einigen Händlern aus Rom und Pisa. Das Geschäft ging gut und per Handschlag wurde ein solches auch in diesem Moment besiegelt. Sein Verhandlungsgeschick und seine Korrektheit, vor allem aber seine gute Ware machten den Vater berühmt und reich. Hatte doch der Vater seines Vaters die großartige Idee, Olivenbäume anzupflanzen. Das Klima an der Küste von Italien entsprach dem in Hispania oder in Nord-Afrika. Auch der Boden war fruchtbar und - nach einiger Kultivation - für diesen Zweck brauchbar. Auch wenn sein Großvater nur den Grundstock für dieses Gehölz mit der begehrten Frucht legte, so konnte er doch, schon fast am Ende seines Lebens, seinen Sohn mit der Bestellung und Pflege der Plantage, dem Kreuzen verschiedener Arten und dem Verarbeiten der Oliven vertraut machen. Nun war Livius der einzige Olivenbauer weit und breit. Bis die Konkurrenz soweit wäre, dass sie mit ihrer Ernte auf den Markt kommen könnte, würde es ganz bestimmt noch Jahre dauern. In der Zwischenzeit wurde aber seine Plantage immer größer und größer. Alle zwei Jahre konnte ein Baum geerntet werden. Durch geschickte Kreuzung und versetzten Anbau war es ihm aber möglich, das ganze Jahr hindurch seine Bediensteten zu beschäftigen. Und nun war er in einem Alter, wo er sich darauf freute, genüsslich auf seiner Terrasse zu sitzen und sich - wenn auch mit Argusaugen - das Ernten und die Verarbeitung in Ruhe ansehen zu können, sollte doch Quintus bald den Betrieb übernehmen. Zum Fest der Liberalia würde sein Sohn siebzehn Jahre alt sein, dann würde er ihm den Betrieb übergeben. Wenn Quintus erst einmal voll und ganz im Geschäftsleben stünde, würde er sich auch die Flausen aus dem Kopf schlagen, unbedingt zur See fahren zu wollen, um fremde Länder zu sehen und wilde Schlachten zu schlagen, um Roms Vormachtstellung zu behaupten. Aus Schlachten kam man nicht immer heil nach Hause! Sein Bruder lag immer noch irgendwo im Wüstensand, von irgendeinem Krieger erschlagen oder von wilden Tieren zerfleischt. Ja, Marcus, sein Ältester, der sollte und wollte auch in seine Fußstapfen treten. Aber nun, wo er nicht mehr war, würde es Quintus machen. Er muss es machen! Nein, die Welt seines Sohnes sollte nicht irgendwo da draußen sein. Hier war sie, inmitten der Plantagen, inmitten seiner Familie, die er bald gründen würde. Hatte er nicht ein Auge auf Julia, die Tochter des Töpfers, geworfen? Eine gute Kombination wäre es schon, so dachte Livius. Nun, ein wenig nachhelfen würde er schon können. Am besten wäre es, er würde die ganze Familie des Marcremus zum großen Fest einladen, dann, wenn sein Junge zum Manne wird. Das Haus, das Quintus dann beziehen würde, war nun schon, bis auf das Dachgebälk, fertig. Bald würden die Innenbemalungen ausgeführt werden können. Und groß genug für eine Familie würde es auch sein!
Das soeben abgeschlossene Geschäft war gut getan. Herzlich erging eine Einladung an die Käufer, sich am Abendmahl zu beteiligen, was auch dankbar angenommen wurde. Waren nicht nur seine Öle gut und bekannt, auch der Wein, den der Hausherr seinen Kunden kredenzte, kam aus den besten Lagen rund um Siena. Als hervorragende Köchin war seine Frau, Livia, bekannt. Genüsslich ließ man sich im Atrium des Haupthauses auf den Liegen nieder und erhob den Becher mit dem köstlichen Wein. Schon der erste Schluck ließ ein wohliges Gefühl durch den Körper fließen. Der Duft von Gebratenem und Gekochtem unterstrich dieses Wohlsein.
Der Vater rief seinen Sohn, er solle sich doch mit in den Kreis begeben, damit er seine zukünftige Kundschaft - wenn er denn eines Tages das Geschäft übernommen habe - kennen lerne. Gerne gesellte sich Quintus dazu, doch nach einer Geschäftsübernahme stand ihm nicht der Sinn. Seinen heimlichen Wunsch, Seefahrer oder Soldat auf einem Schiff zu werden, hatte er seinen Eltern schon vor Jahren zaghaft gebeichtet. Doch sein Vater hatte diesen Wunsch immer mit einer verächtlichen Handbewegung abgetan. Sein Platz sei hier! Er solle, als sein nun einziger Sohn und Nachkomme, diesen Betrieb einmal übernehmen. So saß Quintus da auf seinem Diwan und hörte zwar die Stimmen der Männer, doch seine Gedanken waren wieder weit draußen auf See. Seine Vorstellung von der See ging aber nur bis zum Horizont, den man von der Landzunge sehen konnte und hinter dem die einst so großen, majestätischen Schiffe immer kleiner werdend verschwanden. War dort wirklich das Ende der Welt? Wohl nicht, denn Seefahrer im Hafen berichteten von langen Fahrten und von fremden und unkultivierten Völkern. Mit einigen konnte man regen Handel treiben. Andere spürten - wenn sie nicht freiwillig nachgaben - die mächtige Hand Roms. Quintus hockte oft an den Säulen vor den Eingängen der Tavernen am Hafen, um die Geschichten der Seeleute mit anzuhören, die von Abenteuern mit wilden, fremden Völkern kündeten. Quintus träumte. Und eines nicht mehr fernen Tages sollte er Öl zu Geld machen?! Niemals! „Wie kann man nur wehrlose Kinder umbringen?!“ Plötzlich wurde Quintus wieder in die Gegenwart zurückgerufen. Kinder? Umbringen? „Wer macht das?“ fragte er den Vater. „Wo warst du schon wieder mit deinen Gedanken? Herodes in Judäa. Der fürchtet um seinen Posten. Man hat ihm erzählt, dass ein neuer König geboren sei. Da ließ er einfach kurzerhand alle neugeborenen Kinder töten. Der ist sowieso nicht ganz klar im Kopf, dieser Herodes!“. “Wann war das?“ wollte Quintus wissen. „Das muss so vor der letzten Ernte gewesen sein. Einige Seeleute, die aus dem Osten kamen, haben es berichtet. - Sei´s drum, wir haben hier auch unsere Probleme. Varus ist aus Syrien zurück und soll nach Gallien und Germanien weiter. Augustus will ihn als Nachfolger des Tiberius einsetzen.“
„Mein lieber Publius“ wandte sich der Vater dann an seinem Nachbarn. „So gerne ich dir auch helfen würde, aber das Land am Fluss unten wirst du nicht bekommen! Ich werde es nicht verkaufen. Mein Sohn wird es brauchen und bestellen. Später, wenn ich einmal nicht mehr bin, kann er damit tun und lassen was er will!“ fügte er an. Publius Spurius brauchte das Stückchen Land unbedingt, um einen direkten Zugang zum Fluss zu bekommen, damit er seine Waren schneller transportieren konnte. Publius gehörte der Grund auf der anderen Seite des Waldes, der den seinen von dem des Vaters trennte. So oft hatte er darum gebettelt und viel Gold geboten, doch Livius willigte nie ein. Dass verärgerte Publius zwar; trotzdem hatte er die Einladung des Nachbarn angenommen und war zu diesem Treffen gekommen. Nun zuckte er leicht verlegen die Schultern, was soviel bedeutet, als ob da wohl nichts mehr zu machen sei.
Dann war das Essen beendet und hatte allen gemundet.
Mit der Zeit wurde es im Atrium kühler und man begab sich in den Wohnraum, der, obwohl nicht beheizt, eine wohlige Wärme ausstrahlte. Geschmackvoll hatten die Eltern hier die Wände bemalen lassen. Ein Rot, so warm und weich wie der Wein, der schon seit geraumer Zeit der Gäste Begleiter war. Unter der Zimmerdecke war mit weißer Farbe ein Fries gemalt, das ein Mäanderband zeigte. An drei Seiten standen Liegen bereit und in der Mitte des Raumes ein Tisch, dessen Beine aus knochigem Olivenholz gefertigt waren. Darauf eine silberne Platte mit Obst. Man machte es sich dort bequem, obwohl man schon Schwierigkeiten mit dem Sprechen, geschweige denn mit dem Offenhalten der Augen hatte. Die Gäste wollten die Gastgeber nicht beleidigen und die Gastgeber nicht die Gäste. So blieb man also sitzen, bis ab und zu bei dem einen und dann bei dem anderen die Sprache verstummte und die Augenlider zufielen. Es wurde noch ein wenig über Politik gefachsimpelt. Darüber, dass Tiberius und zuvor Drusus es nicht in den Griff bekam, die Germanen da oben im Norden davon zu überzeugen, dass es auf Dauer besser wäre, sich den Gesetzen Roms zu unterwerfen. Es käme der Tag, so konstatierte einer der Gäste mit lallender Stimme, dann würde Rom die endgültige Macht auch zwischen Rhenus und Albis innehaben. Quintus hörte, wenn auch wegen der Schwerfälligkeit mancher Zunge amüsiert, gespannt zu. Wie gerne würde er an Expeditionen teilnehmen, um den Germanen das Fürchten zu lehren, dachte er bei sich. Alt genug wäre er ja! Er müsste sich nur in einer Kaserne melden und die würden dann schon einen richtigen Soldaten aus ihm machen! Den Vater müsste er zwar noch überreden, was nicht ganz leicht werden würde. Doch da er ja aus einer hoch geachteten Familie kam und sein Vater darüber hinaus Senator ihrer Heimatstadt war, würde er es sicherlich schnell schaffen, in der Hierarchie der Soldaten aufzusteigen. Wer weiß, vielleicht befehligt er bald eine Kohorte oder aber sogar eine ganze Zenturie! Dann endlich würde man den wilden Stämmen hoch oben im Norden, in diesem kalten und ungemütlichen Land, Einhalt gebieten. Und wenn er seinem Vater erst einmal bewiesen hätte, dass sein Platz an der Seite Roms ist und nicht an der Ölpresse. Die Beziehungen seines Vaters würden ihm schon dabei helfen.
Die Öllampen flackerten noch ein wenig, bis sie nach und nach erloschen. Mit dem Gefühl, einen erfolgreichen Tag gehabt zu haben, begab sich das Ehepaar in ihre Schlafräume, nachdem zuvor die Gäste ihre Zimmer zugewiesen bekommen hatten. Und auch Quintus ging zu Bett. Doch schlafen konnte er noch nicht. Die Gedanken kreisten wie wild in seinem Kopf. Er sah das Abschlachten von Kindern. Sah ruhmreiche Legionen. Sah in den Hafen einlaufende Schiffe – tote Kinder - Legionen - Kinder - Schiffe - Schiffe -Schiffe...
Kapitel II
Versteckt hinter einer Buschgruppe, das Gesicht mit Lehm beschmiert, hockte Wulfila und wartete. Er verhielt sich ganz still. Nur seine Augen wanderten über den freien Platz vor sich und den Weg, der aus dem Wald herausführte, abtastend hin und her. Hörte er nicht ein leichtes Knacken vom Waldrand her? Sofort glitt sein Blick zu der schon fast dunklen Wand aus niedrigen Gehölzen und Buschwerk. Wie ein Frosch vor dem großen Sprung hockte er da. Die Knie reichten ihm links und rechts bis fast an die Ohren. Obwohl er doch recht gelenkig war, begannen seine Oberschenkel zu kribbeln bis hinab zu den Knien. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte seine schmerzenden Glieder gereckt. Aber er konnte diese unbequeme Sitzposition noch nicht verlassen, ohne sich zu verraten. Auf gar keinen Fall durfte er sein Versteck preisgeben. Da! Schon wieder ein Knacken! Jetzt mehr seitlich von ihm. Das, was sein Opfer werden sollte, pirschte sich am Waldesrand entlang, geschützt von Hecken und Büschen, in Richtung der Hütten. Wulfilas Augen konnten nun dem Punkt, von dem das Geräusch kam, nicht mehr folgen. Langsam drehte er den Kopf in die vermeintliche Richtung. Es war nur ein kurzer Moment, in dem er den Blick vom Weg mit den Büschen in seiner Umgebung abwandte. Die immer stärker einsetzende Dunkelheit zwang ihn dazu, für einen Augenblick angestrengter auf eine Silhouette am Waldesrand zu schauen. Ein Busch? Ein Baum? Oder... Das Gebrüll, kurz hinter seinem Rücken, ließ ihn den Kopf zurückschnellen. Zu spät! Das Schwert traf ihn am rechten Arm. Ein kurzer Schmerz durchzuckte ihn. Wulfila sprang aus seiner Hockstellung auf und merkte, dass diese Kauerstellung ihm doch die Blutzufuhr in den unteren Gliedmaßen unterbunden hat. Mit der linken Hand massierte er sich den Arm und mit der anderen umfasste er seine Wade und rieb sie. „Na warte“, sagte er seinem Gegenüber, der mit breitem Grinsen vor ihm stand, „das nächste Mal werde ich dich kriegen“. Lachend, wenn auch ein bisschen ärgerlich darüber, dass er auf den Trick seines Freundes hereingefallen war, boxte er Ansgar gegen die Brust. „Hätte ich ein Schwert aus Eisen gehabt und nicht dieses hölzerne, dann hättest du jetzt einen Arm weniger!“ bemerkte Ansgar. Beide setzten sich auf den Findling, den sie als den ihren ansahen und schauten auf das etwas tiefer gelegene Dorf herab, ihr Dorf am Ufer des Flusses, der ihnen Fische und Wasser gab. Aus einigen der verstreut liegenden Hütten stiegen schmale Rauchsäulen empor. Sicherlich würde es bald etwas zu Essen geben. Dort, wo Wulfila mit seinen Eltern, seiner Schwester, der Großmutter und den vielen Tieren lebte, machte der Fluss eine Biegung in die Richtung, aus der die Sonne schien, wenn sie sehr hoch stand. Nachts sah man an dieser Stelle den Mond. Hier war der Fluss besonders flach und man konnte bequem die Schafe und die anderen Tiere über das Wasser zu den Weideflächen auf der anderen Seite bringen. Hier wuschen auch die Frauen die Kleidung. Manchmal sah man sie auch ihre Haare dort waschen. Brachten die Männer des Dorfes Rehe, Kaninchen oder vielleicht auch schon einmal einen Bär von der Jagd mit nach Hause, so wurden die abgezogenen Felle an dieser Stelle gereinigt. Und wenn die Tage sehr heiß waren, spendete das Wasser hier allen im Dorf Abkühlung.
Trotz des vermeintlichen Durcheinanders der strohgedeckten Holzhäuser war doch eine gewisse Ordnung erkennbar. Im mittleren Bereich gab es einen Platz. Und selbst im Dunkeln konnte man von hier oben aus einen noch dunkleren Fleck, die Feuerstelle, erkennen. Hier traf sich das Thing zu seinen Gesprächen und Beratungen. Hier wurde die Jagd besprochen und hier wurde der Fürst gewählt, der geeignet schien, die Sippe am mutigsten und edelsten anzuführen. Hier wurde viel Met getrunken. An diesem Abend war der Platz aber leer. Außer ein paar Dorfbewohnern, die, vom Fluss kommend, ihn überquerten, um in ihre Hütten zu gelangen. Ein streunender Hund schnupperte an dem schwarzen Kohlefleck in der Hoffnung, dort noch einen Knochen vom vormals im Feuer gebratenen Wildbret zu finden. Doch im Dorf war Ordnung und Sauberkeit höchstes Gebot. Nach Sitzungen oder Gelagen wurde der Platz immer sogleich von allen Essensresten gereinigt. Ein kurzer Tritt eines vorübergehenden Mannes verscheuchte das Tier von der Feuerstelle. Mit eingezogenem Schwanz und kurz aufjaulend verschwand der Hund zwischen den Hütten.
Wulfila und Ansgar - beide kannten sich schon, so lange sie denken konnten - waren die besten Freunde. Heute war es ein besonders schöner Tag gewesen; so saßen die beiden noch auf ihrem Felsen, bis die Sonne in der Richtung unterging, in der so mancher befreundete Stamm lebte, der seine Freiheit nicht mehr genießen konnte, so wie sie hier es taten. Keinem fremden Herrscher waren sie abhängig. Nur ihrer Sippe gegenüber verantwortlich. Und dies sollte auch so bleiben. Die Bergrücken, hinter denen die Sonne nun langsam verschwand, schickten ihre immer länger werdenden Schatten in Richtung Dorf. Schnell verließ die bis dahin wohltuende Wärme die leichte Senke, und Kühle nahm Besitz von der Luft. Um Wulfila und Ansgar herum wurde es immer ruhiger. Auch die Vogelwelt und das übrige Getier, das sich nahe an die Siedlung herantraute, zog es vor, sich aufgeplustert auf den Zweigen oder zusammengerollt in den Erdlöchern zur Ruhe zu begeben. Andere tierische Jäger wurden aber erst jetzt so richtig wach, warteten sie doch auf die Gelegenheit, unter der schlafenden Tierwelt ihre Beute zu machen.
Die beiden Freunde standen auf und schlenderten, ihre Holzschwerter auf den Schultern gelagert, zum Dorf hinunter. Wenn sie doch endlich auch bald ihre eigenen, richtigen Schwerter bekämen oder einen Speer, dann könnten sie mit den Männern ihrer Sippschaft auf die Jagd gehen! Endlich die Kinderspiele hinter sich lassen und wie Männer kämpfen. Sie malten sich die abenteuerlichsten Gefahren aus, die sie dann bekämpfen müssten. Ja, wenn sie erst einmal ihre eigenen Waffen hätten!
Wulfilas Behausung, eine der größten im ganzen Dorf, lag direkt am Versammlungsplatz. Ansgar musste an der Feuerstelle vorbei auf die andere Seite und verschwand hinter einer Hütte, wo seine Familie ein Holzhaus besaß, das nicht ganz so groß wie das seines besten Freundes war. Wulfila schaute ihm noch eine Weile nach. Ansgar war wohl etwas älter als er und für ihn so etwas wie ein Vorbild. Ansgar kannte doch schon so viele Tricks und Techniken des Kampfes. Und erzählen konnte er so, als ob er bei der verwegensten Schlacht dabei gewesen wäre oder aber den stärksten Bär im Kampf mit den bloßen Händen erlegt hätte. Wulfila hörte ihm immer gespannt zu, obwohl er wusste, dass Ansgar die Geschichten doch nur für ihn frei erfand.
Durch die niedrige Tür, die sich beinahe in der Mitte des langgezogenen Baus befand, trat Wulfila ins Haus ein. Rechter Hand lagen die Viehstallungen, die von einem Mittelgang geteilt wurden. Davor, mit Pelzen und Decken belegt, lange Bankreihen, auf denen die Familie sich zur Ruhe legte, in der Nacht der wärmste Ort im Haus. Aus dem Wohnraum zur Linken hörte er Gemurmel und das Knistern des Feuers. Ein feiner, in den Augen beißender Qualm drang durch die Öffnung, vermischt mit dem Duft von gebratenem Fleisch. Wulfila trat ein und begab sich zur Feuerstelle in der Mitte des Raumes. Seine Mutter kniete vor einem Tongefäß, das auf einem am Rande der Glut aus heißen Steinen aufgeschichteten Sockel stand und rührte mit einem Stab darin. Aus Kräutern, Gemüse und Stücken von gebratenem Fleisch kochte sie eine kräftige Suppe. Großmutter drehte das Kaninchen über der offenen Flamme. Seine kleine Schwester, Helmgard, hockte, einen Holznapf in den Händen, erwartungsvoll neben der Mutter, die ihr mit einer Kelle etwas Suppe in das Gefäß füllte. Mutter murmelte ihr das Rezept dieser kräftigen und wohlschmeckenden Speise zu, in der Hoffnung, dass auch ihre Tochter einmal eine gute Köchin werden würde, gerade so wie sie selbst. Zumindest behaupteten dies andere von ihr, hatte sie doch auch bisher die vielen hungrigen Mäuler ihrer Familie stopfen können.
Man wartete noch mit dem Essen. Vater war schon am frühen Morgen mit anderen Mitgliedern des Stammes zur Jagd in die nahen, das Dorf umgebenden Wälder aufgebrochen. Jetzt, wo es schon dunkel war, würden sie sicherlich bald zurückkommen und mit Glück auch noch einen großen Braten mitbringen, der für den bevorstehenden Winter so wertvoll und notwendig sein würde.
Stimmen wurden draußen laut. Wulfila sprang auf und ging zur Türe, gefolgt von seiner Schwester, die rasch ihre kleine Schüssel abstellte. Mutter schaute den beiden nur kurz nach und wandte sich wieder ihrem Kochgefäß zu. Auch Großmutter blickte kurz auf und drehte dann wieder bedächtig ihr Kaninchen über dem Feuer. Die Männer kamen von der Jagd zurück. Die Stimmen, die die Ankömmlinge draußen eben noch so freudig begrüßt hatten, verstummten nach und nach. Wulfilas Schwester kam plötzlich aufgeregt wieder in die Stube gelaufen und rief, dass Vater verletzt sei. Mutter sprang aus ihrer Hockstellung auf und auch die Großmutter erhob sich rasch, wenn auch schwerfällig, um nach draußen zu kommen. Vater lag auf ein paar zusammengebundenen, knochigen Ästen und blutete stark aus einer tiefen Wunde am Oberschenkel. Mutter lief sofort zu ihm hin und kniete sich neben ihn auf den Boden, nachdem die Träger ihn abgesetzt hatten. Mit ein paar Handgriffen riss sie die ohnehin schon zerrissene Hose auf, um die ganze Wunde frei zu legen. Vaters Gesichtsausdruck war starr. Man konnte sich ausmalen, dass er große Schmerzen haben musste. Ein angestochener Keiler wäre mit seinen Hauern auf ihn losgegangen, erzählten die Jäger. Beim Ausweichen sei er mit seinem Schuhwerk an einer Wurzel hängen geblieben und rücklings auf den Boden gefallen. Im Todeskampf musste das Wildschwein eine enorme Wendigkeit entwickelt haben. Auf kürzestem Raum habe sich der Keiler umgedreht und sei wutschnaubend auf den am Boden liegenden eingedrungen. Mit voller Wucht habe er seine riesigen Zähne in den Oberschenkel seines Widersachers gerammt. Vater hätte kurz aufgeschrieen und sich an die blutende Wunde gefasst. Schon wären die übrigen Jäger mit ihren Speeren zur Stelle gewesen, um sie in das quietschende Tier zu stoßen, das sich gerade anschickte, den Vater von der anderen Seite zu attackieren. Tot sei der Keiler daraufhin neben dem Vater zusammen gebrochen.
Mutter wies die Männer an, den Vater in die Hütte zu schaffen. Sie legten ihn auf eine mit Fellen gepolsterte Bank in der Nähe des Feuers. Mit einem Stück Stoff begann die Mutter, die Haut um die Wunde herum zu reinigen. Sie rief Wulfila zu, er solle zum Druiden laufen und ihn bitten, hierher zu kommen. Großmutter schaute unverwandt auf die nun immer schwächer blutende Wunde am Bein ihres Sohnes. Sie murmelte unverständliche Worte leise vor sich hin und hielt dabei die Handflächen ihrer Hände leicht nach oben. Sie drehte sich langsam vom Krankenbett weg und ging, die Hände immer noch erhoben, zu der Stelle im Stall, an der sie zu schlafen pflegte. Unter ein paar Fellen und Tüchern holte sie ein kleines Säckchen hervor, kam zurück und kniete sich in der Nähe der Feuerstelle nieder. Mit der flachen Hand, so als wolle sie den Boden streicheln, wischte sie eine Stelle vom losen Sand frei, bis der lehmige, feste Boden zum Vorschein kam. Ihr Gemurmel wurde immer lauter. Fast schien sie zu stöhnen. Ihre Augen stierten auf einen imaginären Punkt, als wolle sie Aug in Aug mit den Göttern sprechen. Sie öffnete das kleine Säckchen und griff mit der Hand hinein. Sie hielt kleine Knochen, verdorrte Ästchen und Steinchen zwischen den Fingern. Für einen Augenblick behielt sie die Utensilien noch in ihrer Hand. Ganz langsam senkte sie den Arm, die Handfläche öffnend nach oben, dann hob sie den Arm wieder an, als wolle sie das Gewicht in ihrer Hand bestimmen. Mit einem plötzlichen Ruck dreht sie die Hand nach unten und warf deren Inhalt auf den zuvor geglätteten Boden. Steine, Knochenreste und Hölzer fielen wild durcheinander, blieben über- und nebeneinander liegen und formten sich dabei zu einem undurchschaubaren Bild. Jetzt erst senkte sich der Blick der Großmutter langsam zum Boden, um den kleinen Haufen vor sich zu betrachten. Mit sanften Augenbewegungen tastete sie das Muster vor sich auf dem Boden ab. Bis auf Mutter und Helmgard, die immer noch bei dem unterdrüößüßüäüöüäöüäßäöäößä