Alle drei Monate erscheinen bei mikrotext zwei Ebooksingles, die einem übergreifenden Thema gewidmet sind, sowie zwischendurch schnell produzierte „shots“.
Frühjahr 2013: Freiheit im Netz
Alexander Kluge: Die Entsprechung einer Oase. Essay für die digitale Generation. März 2013, etwa 50 Seiten auf dem Smartphone, ISBN 978-3-944543-01-7.
Auszug: In allen solchen Fällen, in denen das Objektive – ich nenne hier das Netz, obwohl es von Menschen gemacht ist, objektiv – zu einem Verhältnis zum Subjektiven steht, braucht das Subjektive eine Abgrenzung, ein Gefäß, wo es zu Hause ist. Ich muss für meine Erfahrung eine Wohnung suchen, denn in dem Häusermeer da draußen, kann sie nicht wohnen. So ungefähr ist das Verhältnis des Einzelnen zum Internet. Lassen Sie es mich literarisch als Gleichnis beschreiben: Überall ist Silizium. In einer Wüste ist zu viel Silizium, deswegen ist in der Wüste eine Oase etwas Schönes. Das Zuviel des Naturstoffs „Information“ im Internet führt zum Bedürfnis des Gartenbaus, zur Abschottung vor „Information“. Zum inneren Gartenbau innerhalb des Netzes.
Aboud Saeed: Der klügste Mensch im Facebook. Statusmeldungen aus Syrien. Aus dem Arabischen von Sandra Hetzl. März 2013, etwa 250 Seiten auf dem Smartphone, ISBN 978-3-944543-02-4.
Auszug: 17. Januar um 20:03. Um fünf Uhr Nachmittag war meine Schicht in der Werkstatt zu Ende / Ich streifte meinen Arbeitskittel ab und rannte los / Alle drehten sich nach mir um, als ich rannte / Ein paar fingen an, hinter mir herzurennen, weil sie dachten, ich renne ins Paradies / Kinder rannten mir hinterher, weil sie glaubten, ein Flugzeug sei irgendwo in der Stadt aufgrund eines technischen Fehlers notgelandet / Hunderte von Hunden rannten mir hinterher / Sicherheitsbeamte rannten mir hinterher, weil sie dachten, ich sei aus dem Gefängnis ausgebrochen / Feuerwehrautos dachten, es gäbe einen Brand / Rettungswagen / Die Intellektuellen, die im Café gesessen hatten / Der Konditor / Die Verräter und Mörder – tausend Mörder waren es, und alle waren sie hinter mir her. Als ich zu Hause ankam / drehte ich mich zu ihnen um, und sagte: „Alles, was los ist, ist, dass meine Freundin gerade online ist.“ 86 Likes.
Sommer 2013: Umgang mit Schöpfung
Franzobel: Steak für alle. Der neue Fleischtourismus. Juni 2013, etwa 60 Seiten auf dem Smartphone, ISBN 978-3-944543-03-1.
Auszug: Während man im Fernsehen nur noch Kochsendungen zeigt und sich die Mehrheit immer noch von Billig- und Gammelfleisch ernährt, ist man dabei, den Fleischkonsum als politisch inkorrekt bloßzustellen. Nicht mehr lange und der Verzehr von Fleisch wird genauso stigmatisiert werden wie das Rauchen oder das Begrapschen von Kindern. Fleischesser werden als rücksichtslose Egoisten hingestellt, als gesellschaftliche Randgruppe, die es in den Griff zu kriegen gilt. Der zukünftige Mensch wird sich von Insekten und Gemüse ernähren, von Vitaminsäften und Bonbons ungesättigter Omega-3-Fettsäure, aber nicht von Fleisch. Allenfalls wird es in der Übergangszeit (wie die Nikotinpflaster für Raucher) noch Schokolade mit Blutwurstgeschmack geben, gefüllt mit Sauerkrautmousse, Mineralwasser mit Speckgeschmack und Schweinsbratenkaugummi.
Jan Kuhlbrodt: Das Elster-Experiment. Sieben Tage Genesis. Juni 2013, etwa 220 Seiten auf dem Smartphone, ISBN 978-3-944543-04-8.
Auszug: Vielleicht ist die Gesellschaft mit Tieren ja ein Ziel, weil wir selbst Tiere sind. Es sei unzulässig, ihnen menschliche Eigenschaften zuzusprechen, sagt man, aber schon in dieser Formulierung steckt eine Problematik, die bislang nicht gelöst ist. Welche Eigenschaften sind menschlich, welche tierisch? Ein Abgrenzungsproblem. Denn bisher konnte noch niemand den Trennstrich ziehen. Vor einiger Zeit wurde in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften von einem Experiment mit einer Elster berichtet, das der Verhaltensforscher Helmut Prior von der Goethe-Universität Frankfurt durchgeführt hatte. Man klebte dem Vogel einen Zettel oder ein Stück Papier auf dem Rücken und stellte einen Spiegel auf. Mit Hilfe des Spiegels entfernte die Elster das Papier. Nicht nur, dass Tiere Werkzeuge benutzen, ist erstaunlich. Jene Elster nämlich musste wissen, dass sie selbst es ist, die sich spiegelt, musste also über ein wie auch immer ausgeprägtes Selbstbewusstsein verfügen.
mikrotext shots!
Thomas Palzer: Spam Poetry. Sex der Industrie für jeden. Juli 2013, etwa 80 Seiten auf dem Smartphone, ISBN 978-3-944543-05-5.
Auszug: Sind Sie damit einverstanden, dass jeder zusatzliche Zoll auf Ihrem macht ihn attraktiver aussehen und wunschenswert? Dann, warum sind Sie noch lesen diese Nachricht, wenn zu diesem Zeitpunkt konnten Sie in den Genuss der großen Wirkung, die nicht halten. Sie warten um Ihre Ergebnisse. Grab einer Kreditkarte. Und gehen Sie für Ihren Traum! freundliche Grüssen. Vielen Dank!
Moritz Rinke, Claudia Roth u.a.: Gezi bleibt. Stimmen zum Aufbruch in der Türkei. Juli 2013, etwa 200 Seiten auf dem Smartphone, ISBN 978-3-944543-06-2.
Auszug: Die gesamte Öffentlichkeit gegen Lüge und Ignoranz läuft nur über die Plattformen der neuen Medien, insofern kann man es schon mit dem arabischen Frühling vergleichen. Ohne diese Plattformen würde es hier gar nicht gehen. In Deutschland nervt mich Facebook, jeder Mist wird gepostet und ge-likt usw., aber hier macht es wirklich Sinn. Ich kenne Eltern von Jugendlichen, die nicht verstanden haben, in welcher Türkei ihre Kinder eigentlich leben. Dann haben sie sich einen Computer gekauft, haben sich bei Facebook angemeldet, sind ihren Kindern bei Twitter gefolgt oder haben sich auf Youtube Videos vom Vorgehen der Polizei angeschaut. Und danach sind sie mit ihren Kindern zusammen in den Gezi-Park gegangen! Man könnte sagen, 68 findet hier vielleicht gerade in zwei Generationen gleichzeitig statt. Ich war 68 nicht dabei, aber so stelle ich mir das vor, so muss es gewesen sein. Ich sehe mich quasi mit meinen Eltern im Gezi-Park. In Deutschland war es die Nazizeit, die noch in der neuen Republik fortlebte, über der Türkei liegt immer noch der September 1980. Da begann die schlimme Militärdiktatur, und seitdem hat es keine demokratische Entwicklung mehr gegeben, nur eine formale. Und 68 hat bei uns die Gesellschaft dann auch erst nach und nach verändert. Ich hoffe, dass es hier auch so sein wird. (Moritz Rinke)
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ich kann nicht zurück, ich bin evolutiv schon beim flughund gerade. (Sabine Scho)
Der mittelalterliche Philosoph Wilhelm von Ockham sagt in seinem Aristoteleskommentar „Kurze Zusammenfassung zu Aristoteles’ Büchern über Naturphilosophie“, Gott habe dem Menschen die Zeit geschenkt, dass er an der Unendlichkeit nicht verzweifle. So beginnt auch die Genesis. Indem Gott das Helle vom Dunkel scheidet und so Tag und Nacht formuliert, bringt er die Zeit ins Rollen. In Umberto Ecos „Der Name der Rose“, das italienische Original erschien 1980, taucht Ockham als der fiktive, englische Franziskanerpater William von Baskerville auf. Die Zeit rollt also, und ihre Protagonisten werden zu Figuren in immer wieder neuen Schöpfungen. (Jan Kuhlbrodt)
Im Anfang war der Tanz und die Musik.
Das erste Ballett, das ich in den Siebzigern an der Oper Karl-Marx-Stadt gesehen habe, hieß „Die Erschaffung der Welt“. Es benutzte Motive einer Comicadaption der Bibel des französischen Zeichners Jean Effél. An die Musik kann ich mich nicht erinnern. (Welche Geräusche machte Gott bei der Schöpfung?) Wahrscheinlich hatte die Inszenierung eine aufklärerische und antireligiöse Tendenz, sonst wäre sie in der DDR der siebziger Jahre kaum auf dem Spielplan eines großen Hauses gelandet.