Cover

NICHOLAS

SPARKS

Kein Ort
ohne dich

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Astrid Finke

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
The Longest Ride

bei Grand Central Publishing / Hachette Book Group, Inc. , New York

Copyright © 2013 by Willow Holdings, Inc.

Copyright © 2013 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Lüra – Klemt & Mues GbR

Covergestaltung und Motiv:

Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,

Stephanie Hirt unter Verwendung eines Fotos

von © Plainpictur e / alt 6 / Jean-François Brière

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN 978-3-641-10244-9
V005

www.nicholas-sparks.de

www.heyne.de

Für Miles, Ryan, Landon, Lexie und Savannah

KAPITEL 1

Anfang Februar 2011

Ira

Manchmal glaube ich, ich bin der Letzte meiner Art.

Mein Name ist Ira Levinson. Ich bin Südstaatler und Jude und auf beides gleichermaßen stolz. Außerdem bin ich ein alter Mann. Geboren wurde ich 1920, dem Jahr, in dem Alkohol gesetzlich verboten wurde und Frauen das Wahlrecht erhielten, und ich habe mich oft gefragt, ob mein Geburtsjahr der Grund dafür war, warum sich mein Leben so entwickelte, wie es sich entwickelt hat. Ein Trinker war ich schließlich nie, und die Frau, die ich geheiratet habe, stand Schlange, um ihre Stimme für Roosevelt abzugeben, sobald sie das erforderliche Alter erreicht hatte. Deshalb könnte man sich leicht vorstellen, dass mein Geburtsjahr das Ganze irgendwie verfügt hatte.

Mein Vater hätte sich über diesen Gedanken lustig gemacht. Er war ein Mann, der an feste Regeln glaubte.

»Ira«, sagte er immer zu mir, als ich noch jung war und bei ihm im Geschäft, einem Herrenausstatter, arbeitete, »ich sage dir mal, was du niemals tun solltest.« Und dann zählte er auf. Seine Lebensregeln nannte er das, und ich wurde mit diesen Regeln zu mehr oder weniger jedem Thema groß. Manche davon waren religiöser Natur und wurzelten in der Lehre des Talmuds; und wahrscheinlich war es das, was die meisten Eltern ihren Kindern beibringen. Zum Beispiel hieß es, ich solle niemals lügen oder betrügen oder stehlen. Doch mein Vater – ein Gelegenheitsjude, wie er sich damals nannte – konzentrierte sich im Zweifelsfall eher auf das Praktische. Geh niemals bei Regen ohne Hut aus dem Haus, schärfte er mir ein. Fass niemals eine Herdplatte an, denn sie könnte noch heiß sein. Ich wurde davor gewarnt, mein Geld in der Öffentlichkeit zu zählen oder Schmuck von einem Straßenhändler zu kaufen, egal, wie gut sich das Geschäft anhören mochte. Und so ging es endlos weiter, niemals dies und niemals das, aber trotz ihrer Willkürlichkeit befolgte ich letzten Endes fast jede dieser Regeln, vielleicht, weil ich meinen Vater nicht enttäuschen wollte. Seine Stimme folgt mir bis heute überallhin auf dieser längsten aller Reisen, dem Leben.

Ähnlich häufig wurde mir gesagt, was ich auf jeden Fall tun sollte. Er erwartete Ehrlichkeit und Integrität in allen Lebensbereichen, aber darüber hinaus brachte er mir bei, Frauen und Kindern die Tür aufzuhalten, Hände mit festem Griff zu schütteln, Namen nicht zu vergessen und dem Kunden immer etwas mehr zu geben, als er erwartete. Seine Regeln, das begriff ich nach und nach, bildeten nicht nur die Grundlage einer Philosophie, die ihm gute Dienste geleistet hatte, sondern sagten auch sehr viel über ihn selbst aus. Da mein Vater an Ehrlichkeit und Integrität glaubte, ging er davon aus, dass andere das auch taten. Er glaubte an Anstand und nahm an, dass andere es genauso hielten. Er glaubte, dass die meisten Menschen, wenn sie die Wahl hätten, das Richtige tun würden, selbst wenn es schwer wäre, und er glaubte, dass das Gute immer über das Böse sie gen würde. Allerdings war er nicht naiv. »Vertrau den Men schen«, sagte er zu mir, »bis sie dir Anlass geben, es nicht zu tun. Und dann kehre ihnen nie wieder den Rücken zu.«

Mehr als jeder andere formte mein Vater mich zu dem Mann, der ich heute bin.

Doch der Krieg veränderte ihn. Besser gesagt, der Holocaust veränderte ihn. Nicht seine Intelligenz – mein Vater konnte das Kreuzworträtsel in der New York Times in weniger als zehn Minuten lösen –, aber seine Ansichten über Menschen. Die Welt, die er zu kennen glaubte, war für ihn plötzlich nicht mehr nachvollziehbar. Damals war er bereits Ende fünfzig, und nachdem er mich zum Teilhaber gemacht hatte, hielt er sich nur noch selten im Laden auf. Stattdessen wurde er zum Vollzeitjuden. Er begann, regelmäßig mit meiner Mutter – zu ihr komme ich später – in die Synagoge zu gehen, und bot diversen jüdischen Organisationen finanzielle Unterstützung an. Am Sabbat arbeitete er nicht mehr. Er verfolgte aufmerksam die Nachrichten über die Gründung Israels und in der Folge den Palästinakrieg und fuhr von da an mindestens einmal pro Jahr nach Jerusalem, als suchte er etwas, von dem er vorher nicht gewusst hatte, dass er es vermisste. Als er älter wurde, machte ich mir Sorgen wegen dieser weiten Reisen, doch er ver sicherte mir, er könne auf sich aufpassen, und viele Jahre war das auch so. Trotz seines fortschreitenden Alters blieb er geistig wach wie eh und je, nur leider war sein Körper nicht ganz so diensteifrig. Mit neunzig erlitt er einen Herzinfarkt, und obwohl er sich davon wieder erholte, schwächte ein Schlaganfall sieben Monate später seine rechte Körperseite stark. Selbst dann noch beharrte er da rauf, sich selbst versorgen zu können. Er weigerte sich strikt, in ein Pflegeheim zu ziehen, obwohl er mittlerweile einen Rollator benötigte, und trotz meiner Bitte, seinen Führerschein abzugeben, fuhr er weiterhin Auto. Das sei gefährlich, sagte ich ihm, woraufhin er nur die Achseln zuckte.

Was bleibt mir anderes übrig?, war seine übliche Antwort. Wie soll ich sonst einkaufen gehen?

Mein Vater starb schließlich einen Monat vor seinem einhundertersten Geburtstag, den Führerschein immer noch in der Brief tasche und ein ausgefülltes Kreuzworträtsel auf dem Nacht tisch neben sich. Er hatte ein langes Leben, ein interessantes Leben, und in letzter Zeit muss ich oft an ihn denken. Was nicht ganz überraschend ist, nehme ich an, denn ich bin in seine Fußstapfen getreten. Seine Lebensregeln hatte ich immer im Kopf, wenn ich morgens das Geschäft aufschloss und wenn ich mit Leuten zu tun hatte. Ich vergaß keine Namen und gab mehr, als erwartet wurde, und bis heute nehme ich einen Hut mit, wenn ich glaube, es könnte möglicherweise regnen. Wie mein Vater hatte ich einen Herzinfarkt und benutze jetzt einen Rollator, und Kreuzworträtsel mochte ich zwar nie, aber mein Verstand ist so wach wie eh und je. Und wie mein Vater bin ich zu störrisch, meinen Führerschein abzugeben.

Rückblickend war das wahrscheinlich ein Fehler. Hätte ich es getan, würde ich jetzt nicht in diesem Schlamassel stecken: mit dem Auto vom Highway abgekommen und halb die steile Böschung hinuntergestürzt, die Motorhaube vom Aufprall gegen einen Baum zerknautscht. Und ich müsste nicht davon träumen, dass jemand mit einer Thermoskanne Kaffee und einer Decke und einer dieser Sänften vorbeikäme, mit denen damals die Pharaonen von einem Ort zum anderen getragen wurden. Denn soweit ich es beurteilen kann, wäre das ungefähr die einzige Möglichkeit für mich, hier jemals lebend herauszukommen.

Ich sitze in der Tinte. Draußen vor der gesprungenen Windschutzscheibe fällt weiterhin Schnee, der mir die Sicht und die Orientierung nimmt. Mein Kopf blutet, und der Schwindel kommt in Wellen. Ich bin mir fast sicher, dass mein rechter Arm gebrochen ist. Das Schlüsselbein auch. Die Schulter pocht, und die geringste Regung ist eine Qual. Trotz meiner Jacke zittere ich schon vor Kälte.

Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, ich hätte keine Angst. Ich will nicht sterben, und dank meiner Eltern – meine Mutter wurde sechsundneunzig – ging ich lange davon aus, ich sei genetisch imstande, noch älter zu werden, als ich bereits bin. Bis vor wenigen Monaten glaubte ich fest daran, noch ein halbes Dutzend guter Jahre vor mir zu haben. Na ja, vielleicht keine guten Jahre. So funktioniert das nicht in meinem Alter. Ich baue schon seit einer ganzen Weile ab. Herz, Gelenke, Nieren – Stück für Stück geben meine Körperteile den Geist auf. Aber vor Kur zem kam noch etwas anderes dazu. Wucherungen in meiner Lunge, hat der Arzt gesagt. Tumoren. Krebs . Meine restliche Lebens zeit bemisst sich jetzt in Monaten, nicht Jahren ... Trotzdem bin ich noch nicht ganz bereit zum Sterben. Nicht heute. Ich habe etwas zu erledigen, etwas, das ich seit 1956 jedes Jahr getan habe. Eine große, alte Tradition kommt zu einem Ende, und mehr als alles andere habe ich mir eine letzte Gelegenheit gewünscht, mich zu verabschieden.

Schon seltsam, woran ein Mensch denkt, wenn er glaubt, dass der Tod unmittelbar bevorsteht. Zum Beispiel möchte ich, wenn denn meine Zeit abgelaufen ist, so lieber nicht abtreten – mit Schüttelfrost und klapperndem Gebiss, bis unausweichlich das Herz versagt. Ich weiß, was passiert, wenn man stirbt, ich war schon auf mehr Beerdigungen, als ich zählen kann. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich am liebsten im Schlaf gehen, zu Hause in einem bequemen Bett. Menschen, die so sterben, sehen bei der Aufbahrung gut aus, deshalb habe ich für den Fall, dass der Sensenmann mir hier auf die Schulter tippen sollte, bereits beschlossen, auf den Rücksitz zu klettern, wenn ich es irgendwie schaffe. Das Letzte, was ich will, ist, dass jemand mich hart gefroren im Sitzen findet wie eine groteske Eisskulptur. Wie bekäme man meine Leiche aus dem Wagen? So wie ich hinter dem Steuer klemme, wäre es, wie ein Klavier aus dem Badezimmer zu schleppen. Ich kann mir gut den Feuerwehrmann vorstellen, der am Eis herumhackt und mich vor- und zurückruckelt und dabei Sachen sagt wie: »Schieb den Kopf mal nach da, Steve« oder »Dreh dem Alten die Arme mal so rum, Joe«, während er versucht, meinen starren Körper aus dem Auto zu bugsieren. Mit Wälzen und Rumpeln, Drücken und Zerren, bis ich nach einem letzten kräftigen Schubs draußen auf den Boden plumpse. Kein Bedarf, vielen Dank. Deshalb werde ich, wie gesagt, mein Möglichstes versuchen, um auf den Rücksitz zu kommen und einfach die Augen zu schließen. Dann können sie mich hinausschieben wie ein Fischstäbchen.

Aber vielleicht kommt es ja gar nicht dazu. Vielleicht entdeckt jemand die Reifenspuren auf der Straße, die direkt auf die Böschung zuführen. Vielleicht hält jemand an und ruft nach unten, leuchtet mit einer Taschenlampe und sieht, dass hier ein Auto steht. Vorstellbar wäre es. Es schneit, und alle fahren ohnehin langsam. Sicher findet mich jemand. Sie müssen mich finden.

Oder?

Vielleicht auch nicht.

Es schneit weiter. Mein Atem bildet kleine Wölkchen, wie bei einem Drachen, und die Kälte schmerzt inzwischen. Aber es könnte schlimmer sein. Weil es schon kalt war, als ich aufbrach, habe ich mich wintergerecht angezogen. Ich trage zwei T-Shirts, einen Pulli, Handschuhe und eine Mütze. Momentan steht der Wagen schief, die Motorhaube zeigt nach unten. Ich bin immer noch angeschnallt, der Gurt hält mein Gewicht, mein Kopf liegt aber auf dem Lenkrad. Der Airbag hat sich aufgeblasen und weißen Staub und den beißenden Geruch von Schießpulver im Wagen verteilt. Bequem ist es nicht, aber es geht schon.

Allerdings pocht mein ganzer Körper. Ich glaube nicht, dass der Airbag richtig funktioniert hat, denn mein Kopf ist auf das Steuer geknallt, und ich wurde bewusstlos. Wie lange, weiß ich nicht. Die Wunde am Kopf blutet weiter, und die Knochen in meinem rechten Arm versuchen offenbar, sich durch die Haut zu bohren. Sowohl mein Schlüsselbein als auch die Schulter brennen, und ich traue mich nicht, mich zu bewegen. Ich sage mir, es könnte schlimmer sein. Es schneit zwar, aber es ist nicht bitterkalt draußen. Heute Nacht soll die Temperatur unter null fallen, morgen aber auf vier Grad klettern. Stürmisch wird es auch werden, mit Böen von bis zu dreißig Stundenkilometern. Morgen, am Sonntag, wird der Wind noch kräftiger, aber spätestens ab Montagabend bessert sich das Wetter allmählich. Bis dahin ist die Kaltfront weitgehend durchgezogen, und der Wind wird sich praktisch vollständig legen. Am Diens tag wird mit Temperaturen von sechs, sieben Grad plus gerechnet.

Das weiß ich, weil ich mir oft den Wettersender Weather Channel ansehe. Der ist weniger deprimierend als die Nachrichten, und ich finde ihn interessant. Da geht es nicht nur um Wettervorhersagen, sondern es gibt auch Sendungen über vergangene Wetterkatastrophen. Ich habe Berichte über Menschen gesehen, die gerade auf der Toilette saßen, als ein Tornado das Haus vom Fundament riss, und andere haben vor der Kamera von ihrer Rettung erzählt, nachdem sie von schweren Überschwemmungen mitgerissen worden waren. Auf dem Weather Channel überleben die Menschen die Katastrophen immer, denn es sind ja diejenigen, die für die Sendungen interviewt werden. Ich weiß gern im Voraus, dass jemand überlebt hat. Letztes Jahr gab es einen Beitrag über Pendler, die im Berufsverkehr in Chicago von einem Blizzard überrascht wurden. Der Schnee fiel so schnell, dass die Straßen gesperrt werden mussten, während die Leute noch unterwegs waren. Acht Stunden lang saßen Tausende von Menschen auf Highways fest und konnten nicht weiter, während die Temperatur sank. Der Bericht, den ich gesehen habe, handelte von zwei Leuten, die diesen Blizzard erlebt haben, aber was mich verblüfft hat, war, dass sie offenbar nicht auf das Wetter vorbereitet gewesen waren. Das, muss ich zugeben, leuchtete mir nicht ein. Wer in Chicago wohnt, weiß doch genau, dass es im Winter regelmäßig schneit. Er kennt die Blizzards, die manchmal aus Kanada kommen, ihm muss klar sein, dass es kalt wird. Wie kann man so etwas nicht wissen? Wenn ich an einem solchen Ort wohnen würde, hätte ich spätestens ab Halloween Rettungsdecken, Mützen, eine extra Winterjacke, Ohrenschützer, Handschuhe, eine Schaufel, eine Taschenlampe, Handwärmer und Wasserflaschen im Kofferraum. Wenn ich in Chicago wohnen würde, könnte ich zwei Wochen lang in einem Blizzard feststecken, ehe ich mir langsam Sorgen machen müsste.

Mein Problem ist allerdings, dass ich in North Carolina wohne. Und normalerweise fahre ich – außer zu einem jährlichen Ausflug in die Berge, meistens im Sommer – nicht weiter als ein paar Kilometer von zu Hause fort. Deshalb habe ich keine solche Ausrüstung dabei, wobei mich etwas tröstet, dass mir selbst ein tragbares Hotel im Kofferraum nichts helfen würde. Die Böschung ist vereist und steil, weshalb ich ihn unmöglich erreichen könnte, selbst wenn sich darin die Reichtümer Tutenchamuns befänden. Gänzlich unvorbereitet bin ich dennoch nicht. Vor der Abfahrt habe ich eine Thermoskanne Kaffee, ein Sandwich, Trockenpflaumen und eine Flasche Wasser eingepackt. Den Proviant hatte ich auf den Beifahrersitz gelegt, neben den Brief, den ich geschrieben habe, und obwohl die Sachen durch den Unfall umhergeschleudert wurden, ist es ein Trost zu wissen, dass alles noch im Wagen ist. Wenn der Hunger allzu groß wird, werde ich versuchen, den Proviant zu finden, wobei mir natürlich bewusst ist, dass essen oder trinken einen Preis hat. Was reinkommt, muss auch wieder hinaus, und noch weiß ich nicht, wie das gehen soll. Mein Rollator liegt auf dem Rück sitz, und der steile Abhang würde mich ins Grab schleu dern. Bei meinen Verletzungen kommt eine Notdurft nicht infrage.

Was den Unfall betrifft: Ich könnte eine aufregende Geschichte über vereiste Fahrbahnen erfinden oder einen wütenden, frustrierten Fahrer beschreiben, der mich von der Straße gedrängt hat, aber so war es nicht. Vielmehr war es so: Es war dunkel und fing an zu schneien, dann schneite es stärker, und plötzlich war die Straße einfach verschwunden. Ich nehme an, dass ich in eine Kurve gefahren bin – ich sage, ich nehme an, denn selbstverständlich habe ich keine Kurve gesehen –, und ehe ich michs versah, krachte ich durch die Leitplanke und schlitterte die steile Böschung hinab. Jetzt sitze ich hier allein im Dunklen und frage mich, ob der Wettersender wohl irgendwann einen Bericht über mich zeigen wird.

Ich kann nicht mehr durch die Windschutzscheibe sehen. Obwohl es mir Höllenqualen bereitet, schalte ich die Scheibenwischer an, ohne etwas zu erwarten, doch kurz darauf schieben sie den Schnee zur Seite und hinterlassen eine dünne Eisschicht. Sie kommt mir erstaunlich vor, diese vorübergehende Normalität, aber widerstrebend schalte ich die Scheibenwischer wieder aus, und auch die Scheinwerfer, wobei ich ganz vergessen hatte, dass sie noch an waren. Ich sage mir, dass ich die Batterie lieber schonen sollte, falls ich die Hupe noch brauche.

Ich verändere meine Position und spüre einen Blitzschlag vom Arm bis hinauf ins Schlüsselbein. Die Welt wird schwarz. Folterqualen. Ich atme ein und aus, warte darauf, dass der weiß glühende Schmerz vergeht. Bitte, lieber Gott. Nur mit Mühe unterdrücke ich einen Schrei, aber dann, wunderbarerweise, lässt der Schmerz allmählich nach. Ich atme gleichmäßig, versuche, die Tränen zurückzuhalten, und als es endlich vorbei ist, bin ich erschöpft. Ich könnte bis in alle Ewigkeit schlafen und niemals mehr aufwachen. Ich schließe die Augen. Ich bin müde, so müde.

Seltsamerweise fällt mir Daniel McCallum ein und der Nachmittag des Besuchs. Ich stelle mir das Geschenk vor, das er hinterlassen hat, und während ich wegdöse, überlege ich träge, wie lange es wohl dauern wird, bis mich jemand findet.

»Ira.«

Zuerst höre ich es wie im Traum, undeutlich und verzerrt, ein Unterwassergeräusch. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass jemand meinen Namen sagt. Aber das kann nicht sein.

»Du musst aufwachen, Ira.«

Meine Augenlider flattern hoch. Auf dem Sitz neben mir sehe ich Ruth, meine Frau.

»Ich bin wach«, sage ich, den Kopf immer noch auf dem Lenkrad. Ohne meine Brille, die ich bei dem Aufprall verloren habe, ist Ruths Bild konturenlos, wie ein Geist.

»Du bist von der Straße abgekommen.«

Ich blinzle. »Ein Irrer hat mich von der Fahrbahn gedrängt. Ich bin auf eine Eisfläche gefahren. Ohne meine Katzenreflexe wäre es noch schlimmer ausgegangen.«

»Du bist von der Straße abgekommen, weil du blind wie ein Maulwurf und zu alt zum Autofahren bist. Wie oft habe ich dir gesagt, dass du am Steuer eine Gefahr bist?«

»Das hast du nie gesagt.«

»Hätte ich aber besser. Du hast die Kurve nicht einmal bemerkt.« Sie macht eine Pause. »Du blutest.«

Ich hebe den Kopf an, wische mir mit der gesunden Hand über die Stirn, und sie wird rot. Auch auf dem Lenkrad ist Blut, und auf dem Armaturenbrett, überall rote Schlieren. Ich frage mich, wie viel Blut ich wohl verloren habe. »Ich weiß.«

»Dein Arm ist gebrochen. Das Schlüsselbein auch. Und irgendetwas stimmt nicht mit deiner Schulter.«

»Ich weiß«, sage ich noch einmal. Wenn ich blinzle, wird Ruth abwechselnd unscharf und wieder scharf.

»Du musst ins Krankenhaus.«

»Da stimme ich dir zu«, sage ich.

»Ich mache mir Sorgen um dich.«

Bevor ich antworte, atme ich ein und aus. Lange Züge. »Ich mache mir auch Sorgen um mich«, sage ich schließlich.

Meine Frau Ruth ist in Wahrheit nicht im Auto. Das ist mir bewusst. Sie starb vor neun Jahren, und an dem Tag kam das Leben für mich zum Stillstand. Ich hatte ihr vom Wohnzimmer aus zugerufen, und da sie keine Antwort gab, stand ich vom Sessel auf. Damals konnte ich noch ohne Gehhilfe laufen, wenn auch ziemlich langsam, und im Schlafzimmer entdeckte ich sie dann auf dem Fußboden, neben dem Bett, auf der rechten Seite liegend. Ich rief einen Krankenwagen und kniete mich neben sie. Ich drehte sie auf den Rücken und legte ihr die Finger an den Hals, spürte aber überhaupt nichts. Ich legte meinen Mund auf ihren und atmete ein und aus, wie ich es im Fernsehen gesehen hatte. Ihr Brustkorb hob und senkte sich, und ich atmete, bis die Welt am Rand schwarz wurde, aber keine Reaktion. Ich küsste sie auf die Lippen und die Wangen und drückte sie an mich, bis der Krankenwagen kam. Ruth, über fünfundfünfzig Jahre lang meine Ehefrau, war gestorben, und mit einem Schlag war alles, was ich geliebt hatte, gleichfalls fort.

»Warum bist du hier?«, frage ich sie.

»Was ist denn das für eine Frage? Deinetwegen.«

Natürlich. »Wie lange habe ich geschlafen?«

»Das weiß ich nicht. Aber es ist dunkel. Ich glaube, du frierst.«

»Ich friere immer.«

»Nicht so.«

»Stimmt«, sage ich. »Nicht so.«

»Warum warst du überhaupt auf dieser Straße unterwegs? Wohin wolltest du?«

Ich spiele mit dem Gedanken, mich zu bewegen, aber die Erinnerung an den Schmerz hält mich davon ab. »Das weißt du doch.«

»Ja«, sagt sie. »Du wolltest nach Black Mountain. Wo wir unsere Flitterwochen verbracht haben.«

»Ich wollte noch ein letztes Mal hinfahren. Morgen ist unser Jahrestag.«

Sie antwortet nicht sofort. »Ich glaube, du wirst langsam senil. Wir haben im August geheiratet, nicht im Februar.«

»Nicht der Jahrestag.« Ich erzähle ihr nicht, dass ich es nach Aussagen meines Arztes nicht mehr bis August schaffe. »Der andere«, sage ich stattdessen.

»Wovon sprichst du? Es gibt keinen anderen Jahrestag. Nur den einen.«

»Ich spreche von dem Tag, der mein Leben verändert hat. Dem Tag, an dem ich dich zum ersten Mal gesehen habe.«

Wieder schweigt Ruth für einen Moment. Sie weiß, dass ich das ernst meine, aber im Gegensatz zu mir fällt es ihr schwer, solche Dinge auszusprechen. Sie hat mich leidenschaftlich geliebt, aber ich habe es an ihrem Gesichtsausdruck gemerkt, an ihren Berührungen, an den zarten Küs sen. Und als ich es am dringendsten brauchte, liebte sie mich auch mit dem geschriebenen Wort.

»Es war am sechsten Februar 1939«, sage ich. »Du warst mit deiner Mutter Elisabeth zum Einkaufen in der Stadt, und ihr beide betratet den Laden. Deine Mutter wollte deinem Vater einen Hut kaufen.«

Sie lehnt sich im Sitz zurück, den Blick weiter auf mich gerichtet. »Du bist aus dem Hinterzimmer gekommen. Und kurz darauf folgte deine Mutter dir.«

Ja, fällt mir plötzlich wieder ein, meine Mutter war mir tatsächlich gefolgt. Ruth hatte immer ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis.

Wie die Familie meiner Mutter stammte auch die von Ruth aus Wien, aber sie waren erst zwei Monate vorher nach North Carolina eingewandert. Nach dem Anschluss Österreichs waren sie aus Wien geflohen. Ruths Vater Jakob Pfeffer, ein Professor für Kunstgeschichte, wusste, was der Aufstieg Hitlers für die Juden bedeutete, und er verkaufte den gesamten Besitz der Familie, um die erforderlichen Bestechungsgelder aufbringen und seiner Familie die Freiheit sichern zu können. Von der Schweiz aus reisten sie nach London und von dort nach New York, bis sie schließlich Greensboro erreichten. Ein Onkel von Jakob besaß ein paar Straßen von dem Geschäft meines Vaters entfernt eine kleine Möbelfabrik, und monatelang wohnten Ruth und ihre Familie in zwei engen Räumen über der Werkhalle. Ruth wurde von den ewigen Lackdämpfen nachts so schlecht, dass sie kaum schlafen konnte, erfuhr ich später.

»Wir kamen in euren Laden, weil wir wussten, dass deine Mutter Deutsch sprach. Man hatte uns gesagt, sie könnte uns helfen.« Ruth schüttelt den Kopf. »Wir hatten solches Heimweh, solche Sehnsucht danach, jemanden von zu Hause zu treffen.«

Ich nicke. Zumindest glaube ich, dass ich das tue. »Meine Mutter hat mir alles erklärt, als ihr wieder fort wart. Das war auch nötig. Ich konnte kein Wort von eurem Gerede verstehen.«

»Du hättest von deiner Mutter Deutsch lernen sollen.«

»Was für eine Rolle spielte das schon? Noch ehe du das Geschäft verlassen hattest, wusste ich, dass wir eines Tages heiraten würden. Uns blieb ja noch alle Zeit der Welt, um uns in irgendeiner Sprache zu unterhalten.«

»Das sagst du immer, aber es stimmt nicht. Du hast mich kaum angesehen.«

»Konnte ich auch nicht. Du warst das schönste Mädchen, das mir je begegnet war. Es war, als würde man versuchen, in die Sonne zu schauen.«

»Ach, Quatsch ...«, schnaubt sie auf Deutsch. »Ich war nicht schön. Ich war ein Kind. Ich war erst sechzehn.«

»Und ich war gerade neunzehn geworden. Letzten Endes hatte ich recht.«

Sie seufzt. »Ja. Du hattest recht.«

Natürlich hatte ich Ruth und ihre Eltern schon vorher gesehen. Sie gingen in unsere Synagoge und saßen immer relativ weit vorn, Fremde in einem noch nicht vertrauten Land. Meine Mutter hatte mich nach den Gottesdiensten auf sie aufmerksam gemacht, hatte sie unauffällig gemustert, wenn sie nach Hause eilten.

Den Spaziergang am Samstagvormittag, von der Synagoge zurück nach Hause, wenn ich meine Mutter ganz für mich allein hatte, habe ich immer geliebt. Unsere Unterhaltung wechselte mühelos von einem Thema zum anderen, und ich genoss ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich konnte ihr von jedem Problem erzählen, das ich hatte, jede Frage stellen, die mir in den Sinn kam, selbst solche, die mein Vater als sinnlos empfunden hätte. Mein Vater bot Ratschläge, meine Mutter Trost und Liebe. Mein Vater kam damals nie mit in die Synagoge; er zog es vor, samstags das Geschäft früh zu öffnen, in der Hoffnung auf Wochenendeinkäufer. Meine Mutter hatte Verständnis dafür. Zu dem Zeitpunkt wusste selbst ich bereits, dass es schwierig war, den Laden überhaupt noch zu halten. Die Depression traf Greensboro heftig, wie eigentlich das ganze Land, und manchmal kam tagelang kein einziger Kunde in unser Geschäft. Viele Menschen waren arbeitslos, und noch mehr litten Hunger. Die Leute standen Schlange für Suppe oder Brot. Viele der örtlichen Banken gingen pleite, Ersparnisse waren verloren. Mein Vater gehörte zwar zu jenen, die in guten Zeiten Geld beiseitelegten, doch 1939 war die Lage selbst für ihn schwer geworden.

Meine Mutter hatte immer mit meinem Vater zusammengearbeitet, wenn auch selten vorn im Verkaufsraum. Damals erwarteten die Männer – und unsere Kundschaft bestand fast ausschließlich aus Männern –, von einem anderen Mann bedient zu werden, sowohl beim Aussuchen eines Anzugs als auch bei den Anproben. Meine Mutter allerdings ließ immer die Tür zum Lagerraum offen stehen, sodass sie einen perfekten Blick auf die Kunden hatte. Ich muss dazu sagen, dass sie in ihrem Handwerk ein Genie war. Mein Vater zupfte und zog und markierte den Stoff an den richtigen Stellen, aber meine Mutter erkannte mit einem einzigen Blick, ob sie die Markierungen meines Vaters noch anpassen musste. Vor ihrem geistigen Auge sah sie den Kunden in dem fertigen Anzug, wusste genau, wo jede Falte und jeder Saum verlaufen würde. Mein Vater hatte das erkannt – genau deshalb positionierte er den Spiegel so, dass sie ihn sehen konnte. Mancher Mann hätte sich von einer solchen Frau vielleicht bedroht gefühlt, aber meinen Vater machte sie stolz. Eine seiner Lebensregeln lautete, dass es gut war, eine Frau zu heiraten, die schlauer war als man selbst. »So habe ich es gemacht«, sagte er immer zu mir, »und du solltest das auch tun. Warum das ganze Denken selbst erledigen, stimmt’s?«

Meine Mutter, das muss ich zugeben, war wirklich schlauer als mein Vater. Zwar konnte sie nicht gut kochen – sie hätte eigentlich Küchenverbot bekommen müssen –, doch sie beherrschte vier Sprachen und vermochte Dostojewski auf Russisch zu zitieren; sie spielte sehr gut Klavier und hatte die Wiener Universität zu einer Zeit besucht, als weibliche Studenten noch selten waren. Mein Vater hingegen war nie auf dem College gewesen. Wie ich hatte er seit Kindertagen im Herrenausstattungsgeschäft seines Vaters gearbeitet, und er konnte gut mit Zahlen und mit Kunden umgehen. Und ebenfalls wie ich hatte er seine zukünftige Frau zum ersten Mal in der Synagoge gesehen, kurz nachdem sie in Greensboro angekommen war.

An dieser Stelle hören die Ähnlichkeiten allerdings auf, denn ich habe mich oft gefragt, ob meine Eltern als Paar glücklich waren. Man könnte natürlich darauf hinweisen, dass die Zeiten damals andere waren, dass die Menschen weniger aus Liebe denn aus praktischen Grün den heirateten. Und ich sage auch nicht, dass meine Eltern nicht in vielerlei Hinsicht zueinander passten. Sie waren gute Partner, und ich habe sie kein einziges Mal streiten hören. Dennoch weiß ich nicht, ob sie je verliebt waren.

In den ganzen Jahren, die ich bei ihnen lebte, sah ich sie nie sich küssen, und sie gehörten auch nicht zu den Paaren, die gern Händchen hielten. An den Abenden erledigte mein Vater in der Küche die Buchhaltung, während meine Mutter im Wohnzimmer saß, ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß. Später, als sich meine Eltern zur Ruhe gesetzt hatten und ich das Geschäft übernahm, hoffte ich, ihr Verhältnis würde enger werden. Ich dachte, sie würden vielleicht auf Reisen gehen, Kreuzfahrten oder Besichtigungen machen, aber nach dem ersten Besuch in Jerusalem fuhr mein Vater immer allein. Sie richteten sich jeder in seinem eigenen Leben ein, entfernten sich immer weiter vom anderen, wurden wieder zu Fremden. Als sie beide über achtzig waren, schien es, als hätten sie einander nichts mehr zu sagen. Sie konnten stundenlang im selben Raum sitzen, ohne ein einziges Wort von sich zu geben. Wenn Ruth und ich zu Besuch kamen, widmeten wir uns oft erst dem einen und dann dem anderen, und hinterher im Auto drückte Ruth immer meine Hand, als verspräche sie damit im Stillen, dass wir nie so enden würden.

Ruth hat die Beziehung meiner Eltern immer mehr zu schaffen gemacht als ihnen selbst. Die beiden hatten offenbar wenig Verlangen, die Kluft zwischen sich zu überbrücken. Sie fühlten sich wohl in ihrer jeweiligen Welt. Während sich mein Vater im Alter stärker seiner kulturellen Herkunft annäherte, entwickelte meine Mutter eine Passion für Gartenarbeit und beschnitt stundenlang hinter dem Haus die Blumen. Mein Vater liebte alte Western und die Abendnachrichten im Fernsehen, wohingegen meine Mutter ihre Bücher hatte. Und natürlich interessierten sie sich für die Kunstwerke, die Ruth und ich sammelten, die Werke, die uns letztlich reich machten.

» D anach bist du lange nicht mehr ins Geschäft gekommen«, sage ich zu Ruth.

Draußen ist die Windschutzscheibe wieder zugeschneit, und es hört nicht auf. Laut Weather Channel dürfte das nicht sein, aber trotz der Wunder moderner Technik sind Wetterberichte oft immer noch unzuverlässig. Ein weiterer Grund, warum ich den Sender interessant finde.

»Meine Mutter hat den Hut gekauft. Für mehr hatten wir kein Geld.«

»Aber du warst der Meinung, ich sähe gut aus.«

»Nein. Deine Ohren waren zu groß. Ich mag zierliche Ohren.«

Damit hat sie recht. Meine Ohren sind groß, und sie stehen genauso ab wie die meines Vaters, aber im Gegensatz zu ihm schämte ich mich früher dafür. Als ich klein war, vielleicht acht oder neun, holte ich mir einen Stoffrest aus dem Laden und zerschnitt ihn zu einem langen Streifen, und den restlichen Sommer schlief ich mit dem Streifen um die Ohren gewickelt, weil ich hoffte, sie würden sich dadurch dichter an den Kopf schmiegen. Meine Mutter beachtete das gar nicht, wenn sie nachts nach mir sehen kam, aber meinen Vater hörte ich manchmal in fast beleidigtem Tonfall flüstern: Er hat meine Ohren. Was ist so schlimm an meinen Ohren?

Diese Geschichte erzählte ich Ruth kurz nach unserer Hochzeit, und sie lachte. Von da an neckte sie mich manchmal mit meinen Ohren, wie sie es jetzt gerade tut, doch in all unseren gemeinsamen Jahren war sie nie gehässig.

»Ich dachte, du magst meine Ohren. Das hast du immer gesagt, wenn du sie geküsst hast.«

»Ich mochte dein Gesicht. Du hattest ein gütiges Gesicht. Deine Ohren gehörten eben zufällig mit dazu. Ich wollte deine Gefühle nicht verletzen.«

»Ein gütiges Gesicht?«

»Ja. Deine Augen hatten etwas Sanftes, als würdest du nur das Gute in den Menschen sehen. Das ist mir aufgefallen, obwohl du mich kaum eines Blickes gewürdigt hast.«

»Ich habe versucht, den Mut aufzubringen, dich zu fragen, ob ich dich nach Hause begleiten darf.«

»Nein.« Sie schüttelt den Kopf. Auch wenn ihr Bild verschwommen ist, klingt ihre Stimme jugendlich, wie die der Sechzehnjährigen vor so langer Zeit. »Danach habe ich dich oft in der Synagoge gesehen, und du hast mich nicht ein einziges Mal gefragt. Manchmal habe ich sogar auf dich gewartet, aber du bist immer wortlos an mir vorbeigegangen.«

»Du konntest kein Englisch.«

»Zu dem Zeitpunkt habe ich schon mehr verstanden und konnte auch ein bisschen sprechen. Wenn du gefragt hättest, hätte ich geantwortet: ›Gut, Ira. Ich gehe mit dir.‹«

Die letzten Sätze sagt sie mit Akzent. Wienerisch, weich und melodisch. Singend. In späteren Jahren wurde dieser Akzent weniger, aber ganz verschwunden ist er nie.

»Deine Eltern hätten es nicht erlaubt.«

»Meine Mutter schon. Sie mochte dich. Deine Mutter hatte ihr erzählt, dass dir eines Tages das Geschäft gehören würde.«

»Wusste ich’s doch! Ich hatte immer den Verdacht, dass du mich wegen meines Geldes geheiratet hast.«

»Welches Geld? Du hattest kein Geld. Hätte ich einen reichen Mann gewollt, hätte ich David Epstein geheiratet. Seinem Vater gehörte die Tuchfabrik, und sie wohnten in einer Villa.«

Auch das war ein beliebter Witz in unserer Ehe. Meine Mutter hatte zwar die Wahrheit gesagt, aber selbst sie wusste, dass man mit dieser Art von Laden nicht reich werden konnte. Er fing als kleines Geschäft an und blieb es auch bis zu dem Tag, an dem ich ihn schließlich verkaufte und mich zur Ruhe setzte.

»Ich weiß noch, dass ich euch in der Eisdiele auf der anderen Straßenseite sitzen sah. Im Sommer hast du dich dort fast jeden Tag mit David getroffen.«

»Ich mochte Schoko-Soda-Eisbecher. Die hatte ich vorher noch nie gegessen.«

»Ich war eifersüchtig.«

»Und das zu Recht«, sagt sie. »Er war reich und gut aussehend, und seine Ohren waren makellos.«

Ich lächele. Ich wünschte, ich könnte sie besser sehen, aber die Dunkelheit verhindert das. »Eine Zeit lang dachte ich, ihr beide würdet heiraten.«

»Er hat mir mehr als einen Antrag gemacht, und ich habe ihm immer geantwortet, ich sei zu jung und er müsse warten, bis ich mit dem College fertig sei. Aber ich habe ihn angelogen. In Wahrheit hatte ich ein Auge auf dich geworfen. Deshalb wollte ich immer unbedingt in die Eisdiele gegenüber von eurem Geschäft gehen.«

Das wusste ich natürlich schon. Aber ich höre es gern von ihr.

»Ich stand am Fenster und habe euch beobachtet, wenn ihr dort saßt.«

»Manchmal habe ich dich gesehen.« Sie lächelt. »Einmal habe ich sogar gewunken, und trotzdem hast du mich nie gebeten, mit dir spazieren zu gehen.«

»David war mein Freund.«

Das stimmt, und er blieb es den Großteil unseres Lebens. Wir hatten viel Kontakt mit David und seiner Frau Rachel, und Ruth gab einem ihrer Kinder Nachhilfe.

»Mit Freundschaft hatte das nichts zu tun. Du hattest Angst vor mir. Du warst immer schüchtern.«

»Da musst du mich mit jemandem verwechseln. Ich war flott, ein Charmeur, ein junger Frank Sinatra. Manchmal musste ich mich vor den vielen Frauen verstecken, die mir nachliefen.«

»Du hast beim Gehen auf deine Füße gestarrt und bist rot geworden, wenn ich dir gewunken habe. Und dann, im August, bist du weggezogen. Zum Studieren.«

Mein College war das William & Mary in Williamsburg, Virginia, und ich kehrte erst im Dezember zu Besuch zurück. Ruth sah ich in diesem Monat zweimal in der Synagoge, beide Male von Weitem, bevor ich wieder zum College musste. Im Mai kam ich abermals, um den Sommer über im Geschäft zu arbeiten, und zu dem Zeitpunkt wütete in Europa bereits der Zweite Weltkrieg. Hitler hatte Polen und Norwegen überfallen, Belgien, Luxemburg und die Niederlande bezwungen und machte Hackfleisch aus den Franzosen. In jeder Zeitung, in jedem Gespräch ging es nur um den Krieg. Niemand wusste, ob sich Amerika an dem Konflikt beteiligen würde, und die Stimmung war düster. Wochen später sollte der Krieg für Frankreich vorbei sein.

»Du hast dich immer noch mit David getroffen, als ich zurückkam.«

»Aber ich hatte mich in dem Jahr, in dem du fort warst, auch mit deiner Mutter angefreundet. Während mein Vater arbeitete, gingen meine Mutter und ich zu euch in den Laden. Wir unterhielten uns über Wien und unser altes Leben. Meine Mutter und ich hatten selbstverständlich Heimweh, aber ich war auch wütend. Mir gefiel North Carolina nicht. Mir gefiel dieses Land nicht. Ich hatte das Gefühl, nicht hierherzugehören. Trotz des Krieges hatte ich das Bedürfnis, nach Hause zu fahren. Ich wollte meiner Familie helfen. Wir machten uns große Sorgen um sie.«

Ich sehe sie den Kopf zum Fenster drehen. Sie wird still, und ich weiß, dass sie an ihre Großeltern, ihre Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen denkt. An dem Abend, bevor Ruth und ihre Eltern in die Schweiz aufbrachen, hatten sich Dutzende von Verwandten zu einem Abschiedsessen versammelt. Es gab bange Abschiedsworte und das Versprechen, in Verbindung zu bleiben, und obwohl manche sich für sie freuten, glaubten fast alle, dass Ruths Vater nicht nur überreagierte, sondern regelrecht dumm war, alles für eine ungewisse Zukunft aufzugeben. Ein paar steckten ihm allerdings ein paar Goldmünzen zu, und in den sechs Wochen, die ihre Reise nach North Carolina dauerte, waren es diese Münzen, die ihnen Unterkunft und Verpflegung verschafften. Ihre gesamte Verwandtschaft war in Wien geblieben. Im Sommer 1940 trugen sie bereits den Davidstern und durften größtenteils nicht mehr arbeiten. Doch da war es zu spät, um zu fliehen.

Meine Mutter erzählte mir von Ruths Besuchen bei ihr und von ihren Sorgen. Wie Ruth hatte auch meine Mutter noch Verwandte in Wien, aber wie so viele ahnte sie nicht, was passieren oder wie schrecklich es letzten Endes werden würde.

»Dein Vater hat damals Möbel gebaut?«

»Ja«, sagt Ruth. »Keine der Universitäten wollte ihn einstellen, also tat er, was nötig war, um uns zu ernähren. Aber es war schwer für ihn. Er war für solche Arbeit nicht geschaffen. Anfangs kam er immer völlig erschöpft nach Hause, mit Sägemehl in den Haaren und Pflaster auf den Händen, und dann schlief er sofort im Sessel ein. Aber er hat sich nie beklagt. Er wusste, dass wir großes Glück gehabt hatten. Wenn er aufwachte, ging er duschen und zog dann zum Abendessen seinen Anzug an. Das war seine Art, sich selbst daran zu erinnern, was für ein Mann er einmal gewesen war. Und bei Tisch haben wir immer lebhafte Gespräche geführt. Er fragte mich, was ich tagsüber in der Schule gelernt hatte, und hörte mir genau zu, wenn ich antwortete. Dann leitete er mich an, Dinge neu und anders zu betrachten. »Warum ist das wohl so?«, fragte er, oder: »Hast du dir dieses und jenes schon einmal überlegt?« Natürlich durchschaute ich, was er da machte. Einmal Lehrer, immer Lehrer, und er war gut darin, weshalb er auch nach dem Krieg wieder unterrichten konnte. Er hat mir beigebracht, eigenständig zu denken und meinen Instinkten zu vertrauen, so wie er es auch all seinen Studenten beigebracht hat.«

Ich betrachte sie und denke darüber nach, wie bedeutsam es war, dass Ruth später ebenfalls Lehrerin wurde, und erneut schweifen meine Gedanken zu Daniel McCallum ab. »Und nebenbei hat dein Vater dich alles über Kunst gelehrt.«

»Ja«, sagt sie verschmitzt. »Das auch.«