Cover

 

DAVID BALDACCI

ZERO DAY

THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Uwe Anton

 

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Zero Day
bei Grand Central Publishing / Hachette Book Group, Inc.,
New York
Copyright © 2011 by Columbus Rose, Ltd.
Copyright © 2013 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,
unter Verwendung eines Fotos von shutterstock/ostill
Redaktion: Wolfgang Neuhaus
Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN 978-3-641-12775-6
V005
www.heyne-verlag.de

 

Zum Andenken an meine Mutter

und meinem Freund

Charles »Chuck« Betack gewidmet

 

 

1

Die Kohlenstaubwolke, die sich tief in Howard Reeds Lunge geätzt hatte, brachte ihn beinahe dazu, das Postfahrzeug an den Straßenrand zu lenken und sich auf das verdorrte Gras zu erbrechen. Jedenfalls musste er krampfhaft würgen, husten und spucken. Er trat aufs Gaspedal und raste an den Lkw-Pisten vorüber, auf denen gewaltige Kipplaster rumpelten und schwarzen Grus in die Luft bliesen, als würden sie glühendes Konfetti streuen. Die Luft war mit Schwefeldioxid gesättigt, weil eine Kohlenstaubhalde Feuer gefangen hatte, wie es häufig geschah. Die Gase stiegen in die Atmosphäre, wo sie mit dem Sauerstoff reagierten und Schwefeltrioxid bildeten, das an Wassermoleküle andockte und eine Verbindung schuf, die später als giftiger Säureregen auf die Erde fiel. Nichts davon durfte als verlässliche Rezeptur für eine harmonische Umwelt gelten.

Reed klammerte die Hände fest an die Speziallenkung, sodass sein achtzehn Jahre alter Ford mit dem ratternden Auspuff und dem knirschenden Getriebe auf dem rissigen Asphalt die Spur hielt. Das Postfahrzeug war sein Privatwagen und so umgebaut worden, dass Reed es vom Beifahrersitz aus lenken und auf seiner Strecke unmittelbar neben den Briefkästen halten konnte. Die Vorrichtung, die diese Art des Lenkens ermöglichte, besaß Ähnlichkeit mit einem Riemenantrieb. Dank dieser Apparatur konnte Reed den Wagen von der rechten Fahrzeugseite aus steuern, bremsen und beschleunigen.

Nachdem er Landpostbote geworden war und das Auto auf der »falschen« Seite zu lenken gelernt hatte, kam er auf die Idee, nach England zu reisen und seine frisch erworbene Fähigkeit auf den dortigen Straßen zu erproben, wo alle Fahrzeughalter die linke Straßenseite benutzten. Er hatte erfahren, dass diese Besonderheit auf die Zeiten der Raufhändel zurückging, als ein Mann seinen Degen stets an der einem Angreifer zugewandten Seite trug. Reeds Ehefrau hatte ihn einen Idioten geschimpft und erklärt, er würde in der Fremde höchstwahrscheinlich abkratzen.

Seine Strecke führte am Berg vorbei, beziehungsweise an der Stelle, wo der Berg sich einst erhoben hatte, bevor er von der Trent Mining & Exploration Company gesprengt worden war, um an die darunter befindlichen reichen Kohleflöze zu ge­langen. Weite Bereiche der Umgebung sahen jetzt wie die Mond­oberfläche aus, kahl und übersät von Kratern. Berg­­kuppen­tagebau hieß das Verfahren. Reed hielt die Bezeichnung Landschaftsverwüstung für angebrachter.

Doch hier in West Virginia bot der Kohleabbau den Großteil der gut bezahlten Arbeitsplätze. Also jammerte Reed nicht, wenn Flugascheschlamm aus einem Rückhaltebecken sein Haus überschwemmte. Auch nicht, wenn das Trinkwasser sich schwarz verfärbte und nach faulen Eiern stank. Und ebenso wenig, weil das Dasein in einer dermaßen vergifteten Umgebung ihn eine Niere gekostet und Leber und Lunge geschädigt hatte. Man hätte ihn als Gegner der Kohleindustrie und damit als arbeitsplatzfeindlich gebrandmarkt. Und auf zusätz­lichen Ärger konnte Reed verzichten.

Er bog von der Landstraße ab, um das letzte Poststück des Tages dem Empfänger auszuhändigen, ein Einschreibepäckchen. Reed hatte geflucht, als er die Post eingeladen und das Päckchen gesehen hatte. Es bedeutete, dass er mit einem anderen Menschen in Kontakt treten musste. Dabei wünschte er sich momentan nichts anderes, als schleunigst zur Dollar Bar zu flitzen, wo an Montagen der Krug Bier nur 25 Cent kostete. Dort konnte er dann auf seinem Stammplatz, einem verschlissenen kleinen Barhocker, an der Mahagonitheke sitzen und zu vergessen versuchen, dass er später nach Hause zu seiner Frau musste, die seine Alkoholfahne riechen und ihm während der nächsten Stunden Vorhaltungen machen würde.

Er fuhr auf den Kiesweg. Die Gegend hier war einmal ziemlich hübsch gewesen; auf jeden Fall, wenn man zurück bis in die 1950er-Jahre blickte. Jetzt war sie nicht mehr so schön. Nirgends zeigte sich eine Menschenseele. In den Gärten waren keine Kinder zu sehen, als wäre es zwei Uhr nachts und nicht vierzehn Uhr nachmittags. An einem heißen Sommertag müssten sich die Kinder im Freien aufhalten, unter dem Wasser der Sprinkler­anlage herumtollen oder Fangen spielen. Doch Reed wusste, dass die Kinder heutzutage anders waren. Sie hockten in klimatisierten Zimmern und beschäftigten sich mit dermaßen gewalttätigen und von Blut triefenden Computerspielen, dass Reed seinen Enkeln verboten hatte, so etwas ins Haus zu holen.

Jetzt quollen die Gärten über von Müll und verdrecktem Plastikspielzeug. Verrostete alte Fords und Dodges standen auf Betonklötze aufgebockt. Putz bröckelte von den rissigen Hauswänden. Sämtliche Holzflächen hätten frisch gestrichen werden müssen, und Dächer sackten ein, als übte Gott selbst von oben Druck auf sie aus. Das war so traurig, so erbarmungswürdig, dass Reed sich umso mehr nach einem Bier sehnte, denn in seiner Wohngegend sah es genauso aus. Er wusste, dass einige Privilegierte dank der Kohleflöze ein Vermögen verdienten, aber keiner von ihnen wohnte in einer Gegend wie dieser.

Reed nahm das Päckchen aus dem Postkorb und schlurfte zum Haus. Das heruntergekommene zweistöckige Gebäude hatte eine Seitenwandung aus Kunststoff. Die weiße, verkratzte Eingangstür bestand aus Leichtbauplatten; davor war eine Ganzglastür angebracht. An der Veranda gab es eine Rollstuhlrampe aus Sperrholz. Die Sträucher vor dem Haus waren verwildert und im Absterben begriffen; ihre Zweige hatten sich gegen die Außenwandung gedrückt und sie eingebeult. Vor Reeds schwarzem Ford parkten zwei Autos auf dem Kies: ein Chrysler Minivan und ein brandneuer Lexus.

Reed ließ sich einen Moment Zeit, um das japanische Auto zu bewundern. So ein Schlitten würde ihn wohl mehr als ein Jahresgehalt kosten. Andächtig berührte Reed den blauen Metallic­lack. Am Innenspiegel sah er eine Fliegerbrille hängen. Auf der Rückbank lagen eine Aktentasche und ein grünes Jackett. Die Nummernschilder beider Fahrzeuge gehörten zu Virginia.

Reed ging weiter, umrundete die Rampe, betrat die unterste Stufe der Eingangstreppe, schleppte sich drei Blöcke Guss­beton hinauf und klingelte. Er hörte das Bimmeln aus dem Haus hallen.

Er wartete zehn Sekunden lang. Zwanzig. Seine Gereiztheit wuchs. Er läutete ein zweites Mal. »Hallo? Hier ist die Post. Ich bringe ein Einschreibepäckchen.« Seine Stimme, die er sonst während des gesamten Arbeitstages kaum benutzte, klang in seinen eigenen Ohren fremd, als spräche ein anderer. Reed senkte den Blick auf das flache Päckchen im DIN-A4-Format. Daran befestigt war das Formular, das unterschrieben werden musste.

Nun komm schon, es ist tierisch heiß, und die Dollar Bar wartet auf mich.

Reed schaute auf den Paketschein. »Mr. Halverson?«, rief er.

Er kannte den Mann nicht, aber der Name war ihm von früheren Zustellungen geläufig. In ländlichen Gegenden freundeten manche Postzusteller sich sogar mit den Empfängern an. Reed gehörte nicht zu der Sorte. Er wollte sein Bier, keinen Small Talk.

Er klingelte ein drittes Mal und klopfte mit den Finger­knöcheln zweimal kurz an die Glastür. Mit der Hand wischte er sich einen Schweißtropfen fort, der ihm in den von der Sonne geröteten Nacken rann. Sonnenbrand war sein Berufsrisiko, weil er sich den ganzen Tag bei offenem Wagenfenster heißem Sonnenschein aussetzte. In seinen Achselhöhlen sammelte sich Schweiß und tränkte das Hemd. Er fuhr das Auto nie mit geschlossenen Fenstern, sondern verzichtete auf die Klimatisierung. Sprit war teuer genug, ohne dass man ihn verschwendete.

Nun hob er die Stimme. »Hallo, hier ist Ihr Postzusteller. Ich brauche eine Unterschrift. Wenn die Sendung retourniert wird, können Sie wahrscheinlich ewig darauf warten.« Er konnte die Hitze in der Luft flimmern sehen. Ihm war ein bisschen schwindlig. Allmählich wurde er zu alt für diese Scheiße.

Erneut streifte sein Blick die beiden Fahrzeuge. Jemand musste im Haus sein. Er trat von der Tür zurück und legte den Kopf in den Nacken. Aus den Dachfenstern schaute niemand herunter. Ein Fenster allerdings stand offen.

Reed klopfte nochmals an.

Endlich hörte er, dass jemand kam. Die Holztür war einen Spaltbreit geöffnet, wie er jetzt erst bemerkte. Die Geräusche näherten sich und verstummten. Wegen seiner Schwerhörigkeit bemerkte Reed nicht den sonderbaren Klang der Schritte.

»Post«, rief er. »Ich brauche eine Unterschrift.« Er leckte sich über die trockenen Lippen. Er sah schon einen Halbliterkrug Bier in seiner Hand, konnte es sogar schon schmecken.

Mach die verdammte Tür auf.

»Möchten Sie das Päckchen entgegennehmen?«, erkundigte er sich. Mir soll es egal sein. Ich kann es auch in den Hohlweg schmeißen. Wäre nicht das erste Mal.

Endlich öffnete sich die Tür ein paar Zentimeter weiter. Reed zog die Glastür auf und streckte die Hand mit dem Päckchen aus. »Haben Sie einen Kuli?«, fragte er.

Als die Holztür noch weiter aufschwang, blinzelte er verdutzt. Niemand war zu sehen. Es schien, als hätte sich die Tür von allein geöffnet. Reed senkte den Blick. Ein Zwergcollie beäugte ihn. Die spitze Schnauze und die buschigen Hinterbeine schwenkten von einer Seite zur anderen. Offenbar hatte das Tier die Tür mit der Nase aufgeschoben.

Reed, obwohl Postbote, hatte Hunde gern und hielt selbst zwei. »Na, Freundchen?« Er ging in die Hocke. »Hallo.« Er kraulte dem Hund die Ohren. »Ist jemand zu Hause? Oder willst du die Empfangsbescheinigung unterschreiben?«

Als Reed die Nässe im Fell des Tieres spürte, dachte er zuerst an Hundepisse und zog die Hand ruckartig zurück. Doch als er auf den Handteller blickte, sah er eine rote, klebrige Flüssigkeit, die vom Körper des Collies stammte.

Blut.

»Bist du verletzt, Kleiner?« Er tastete den Hund ab. Da war noch mehr Blut, aber keine sichtbare Wunde. Reed schüttelte verwundert den Kopf. »Zum Teufel«, murmelte er, »was hat das zu bedeuten?« Er richtete sich auf und legte eine Faust auf den Türknauf. »Hallo? Ist da jemand? Hallo?«

Unschlüssig ließ Reed den Blick schweifen. Dann schaute er wieder auf den Hund. Das Tier sah mit traurigen Augen zu ihm hinauf. Erst jetzt wurde Reed bewusst, dass der Hund kein einziges Mal gebellt hatte. Seltsam. Reeds zwei Kläffer schlugen schon Alarm, wenn jemand vor der Haustür stand.

»Scheiße«, entfuhr es ihm. Dann rief er noch einmal: »Hallo? Ist alles in Ordnung?«

Wieder keine Antwort. Kurz entschlossen schob Reed sich ins Haus. Drinnen war es warm, beinahe schwül. Ein unangenehmer Geruch ließ ihn die Nase rümpfen. »Hallo? An Ihrem Hund ist Blut. Ist hier alles in Ordnung? Melden Sie sich doch.«

Er wagte sich noch ein paar Schritte vor, durchquerte den schmalen Vorraum und lugte im Flur um die Ecke in ein kleines Wohnzimmer.

Und erstarrte.

Dann warf er sich herum und rannte los, würgend, keuchend.

Einen Moment später flog die hölzerne Haustür weit auf. Der Türgriff schlug eine Beule in die Trockenmauer. Ein Fußtritt öffnete die Glastür mit solcher Wucht, dass sie gegen das Metallgeländer an der linken Seite der Veranda prallte und das Glas zerbarst. Von der obersten Stufe der Eingangstreppe sprang Howard Reed geradewegs auf den Kies der Zufahrt. Tief kerbten seine Absätze sich in den Untergrund. Er schwankte, sank auf die Knie und erbrach das wenige, das er im Magen hatte. Keuchend raffte er sich hoch, taumelte zum Auto, hustete und würgte, schrie den Schock und das Grauen heraus.

An diesem Tag sollte Howard Reed es nicht mehr bis in die Dollar Bar schaffen.

 

2

Aus mehreren hundert Metern Höhe blickte John Puller durch das Fenster auf den Bundesstaat Kansas. Er neigte sich näher ans Fenster heran, sodass er senkrecht nach unten schauen konnte. Der Kurs zum Flughafen KCI führte über Missouri hinweg und von Westen nach Kansas hinein.

Die Düsenmaschine überquerte soeben ein Regierungsgrundstück, auf dem mehrere Gefängnisgebäude standen, sowohl Militär- als auch Bundesgefängnisse, in denen Tausende Häftlinge einsaßen und Gelegenheit hatten, über den Verlust ihrer Freiheit nachzudenken, der für viele auf Lebenszeit galt.

Puller blinzelte und hob die Hand, um die Augen gegen das grelle Sonnenlicht abzuschirmen. Soeben überflogen sie die alte USDB-Haftanstalt des amerikanischen Militärs, die United States Disciplinary Barracks, auch bekannt unter der Bezeichnung »Zwingburg«. Während das alte Gefängnis Ähnlichkeit mit einer mittelalterlichen, aus Stein und Ziegeln errichteten Festung hatte, ähnelte der neue Knast eher einem College. Aller­dings nur so lange, bis man den doppelten, vier Meter hohen Drahtzaun sah, der die Anlage umschloss.

Das Bundesgefängnis Leavenworth lag mehr als sechs Kilometer weiter südlich. In den USDB-Gefängnissen brachte man ausschließlich Männer unter. Weibliche Militärstrafgefangene lieferte man in den Marineknast in San Diego ein. Die Häftlinge in Leavenworth waren von Militärgerichten verurteilt worden und saßen wegen banaler Vergehen ein, beispielsweise Verstößen gegen die Uniformvorschriften des Militärs. In die USDB-­Gefängnisse hingegen kamen nur Straffällige, die zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt worden waren oder denen man Verbrechen gegen die Innere Sicherheit nachgewiesen hatte.

Innere Sicherheit. Das war John Pullers Metier.

Das Fahrwerk der Düsenmaschine wurde ausgefahren, und sie schwebte hinunter auf den Kansas City Airport, setzte sauber auf und rollte über den Asphalt.

Dreißig Minuten später stieg Puller in einen Mietwagen, verließ das Flughafengelände und lenkte das Fahrzeug westwärts durch eine grüne Hügellandschaft in Richtung Kansas. Die Luft war still und heiß, doch Puller ließ die Klimaanlage aus. Er bevorzugte unverfälschte Naturluft, ob heiß oder nicht.

Barfuß maß Puller genau eins achtundachtzig. Das wusste er deshalb so gut, weil sein Dienstherr, die Armee der Vereinigten Staaten, ihr Personal sehr genau maß. Er wog dreiundneunzig Kilo. Nach der Größe-Gewicht-Alter-Tabelle der Armee hätte man ihm bei seinem Alter von fünfunddreißig Jahren fünf Kilo Übergewicht vorwerfen können. Aber niemand, der sich John Puller anschaute, wäre auf diesen Gedanken verfallen. Falls es an ihm ein Gramm Fett gab, hätte man es mit der Lupe suchen müssen.

Puller war größer als die meisten Infanteristen und fast alle Armee-Ranger, mit denen er schon gedient hatte. Das hatte Vor- und Nachteile. Er hatte lange, durchtrainierte Muskeln von außergewöhnlicher Kraft und Belastbarkeit. Die Schattenseite war, dass er ein weit größeres Ziel bot als der Durchschnitt.

Auf dem College war er ein erstklassiger Sportler gewesen, und er machte noch heute den Eindruck, als könnte er jeden Samstag auf dem Spielfeld antreten. Allerdings hatten ihm schon immer die Schnelligkeit und Beweglichkeit gefehlt, die man benötigte, um es bis in die National Football League zu schaffen; aber das war auch nie sein Ehrgeiz gewesen. John Puller hatte es immer nur dazu gedrängt, die Uniform der US Army zu tragen.

Heute allerdings trug er keine Uniform. Er zog sie nie an, wenn er ein Militärgefängnis aufsuchte.

Er fuhr an einem Hinweisschild vorbei, das auf die einstige Route der Lewis-und-Clark-Expedition verwies. Dann kam die blaue Brücke in Sicht. Nachdem er sie überquert hatte, befand er sich in Kansas, kurz vor Fort Leavenworth.

Schließlich hielt er am Hauptkontrollposten, wo ein Militärpolizist sich seinen Ausweis anschaute und das Fahrzeugkennzeichen notierte. Dann salutierte der Wachposten vor Ober­stabsfeldwebel John Puller. »Danke, Sir«, sagte er schneidig. »Sie können weiterfahren.«

Puller fuhr die Grant Avenue entlang, während aus dem Autoradio ein Eminem-Song wummerte, und betrachtete die Überreste der alten Zwingburg. Man sah noch Überbleibsel der Drahtkuppel, die das Gefängnis früher überspannt hatte. Sie war damals angebracht worden, um zu verhindern, dass Insassen per Hubschrauber befreit wurden. Die Army versuchte an alles zu denken.

Nach knapp drei Kilometern erreichte er die neue USDB-Vollzugsanstalt. Irgendwo im Hintergrund gellte der Pfiff einer Eisenbahn. Vom nahe gelegenen Sherman-Armeeflugfeld hob eine Cessna ab. Ihr bulliger Bug und die dicken Tragflächen kämpften mit Seitenwind.

Puller parkte und ließ den Großteil seiner persönlichen Gegenstände im Wagen, auch seine Dienstwaffe, die SIG P228, die bei der Armee M11 hieß. Während des Fluges hatte er die Waffe in einem Hartschalenköfferchen aufbewahrt. Eigentlich ­sollte er sie jederzeit bei sich tragen, doch Puller kam es wenig ratsam vor, ein Gefängnis bewaffnet zu betreten, ob er nun dazu berechtigt war oder nicht. Im Gebäude müsste er die Pistole sowieso einschließen lassen. Aus offensichtlichen Gründen durfte niemand Waffen in jene Bereiche mitnehmen, in denen sich Strafgefangene aufhielten.

Am Scannerportal stand ein gelangweilter junger Militär­polizist Wache. Obwohl Puller wusste, dass es so etwas nicht gab, hatte er den Eindruck, der Soldat wäre schnurstracks aus einem Umerziehungslager für Jugendliche auf diesen Posten geschickt worden.

Puller legte ihm den Führerschein und die übrigen Papiere vor. Der pausbackige MP beäugte die Ausweiskarte und den Dienstausweis, der John Puller als Spezialagenten der CID identifizierte, der Militärstrafverfolgungsbehörde der US Army. Auf dem Ausweis bildete der sitzende Adler mit dem nach rechts gewandten Kopf den Mittelpunkt. Seine großen Klauen ruhten auf dem Oberrand des Wappenschilds. Das sichtbare Auge hatte einen bedrohlichen Blick, und der kräftige Schnabel schien bereit zum Zuhacken zu sein.

Der MP salutierte und heftete den Blick auf den hünenhaften, breitschultrigen Mann, den er vor sich sah.

»Sind Sie aus dienstlichem Anlass hier, Sir?«

»Nein.«

»John Puller junior? Sind Sie verwandt mit …?«

»Er ist mein Vater.«

Auf dem Gesicht des jungen MP erschien ein beinahe ehrfürchtiger Ausdruck. »Jawohl, Sir. Ich wünsche ihm alles Gute, Sir.«

Die Armee der Vereinigten Staaten konnte sich mit zahlreichen legendären Kriegshelden brüsten. John Puller senior nahm einen Platz weit oben an der Spitze dieser Liste ein.

Puller trat in die Erfassung des Magnetometers. Es piepte. Puller seufzte. Er fiel jedes Mal auf – das Messgerät beanstandete seinen rechten Unterarm. »Titanstab«, sagte Puller, rollte den Ärmel hoch und zeigte die Narbe.

Beim zweiten Mal schlug der Apparat wegen des linken Fußgelenks an. Auf dem Gesicht des MP lag eine stumme Frage, als er Puller erneut anschaute. »Eine Platte mit Schrauben«, erklärte Puller. »Soll ich das Hosenbein anheben?«

»Wenn Sie so freundlich wären, Sir.«

Als Puller das Hosenbein hob und dann wieder rutschen ließ, entschuldigte sich der Wachposten. »Ich halte mich bloß an die Vorschriften, Sir.«

»Ich hätte Ihnen die Hölle heißgemacht, würden Sie es nicht tun.«

»Haben Sie die Verletzungen im Kampf erlitten, Sir?«, erkundigte der MP sich mit großen Augen.

»Ich habe mich jedenfalls nicht selbst angeschossen.«

Puller nahm den Autoschlüssel aus der Schale, in die er ihn gelegt hatte, und steckte Führerschein und Ausweispapiere zurück in seine Hemdtasche. Zuletzt schrieb er sich in das Besucherverzeichnis ein.

Mit einem Summen öffnete sich die schwere Verbindungstür. Nach wenigen Schritten befand Puller sich im Besuchsraum. Zurzeit empfingen drei Häftlinge ihre Besucher. Auf dem Fußboden spielten kleine Kinder, während die Männer sich leise mit ihren Ehefrauen oder Freundinnen unterhielten. Die Kinder durften nicht auf dem Schoß ihrer Väter sitzen. Zu Anfang und am Ende der Besuchszeit waren Umarmungen, Küsse und Händeschütteln erlaubt, wobei die Hände über Hüfthöhe bleiben mussten. Während der Dauer der Besuchszeit war den Insassen und Besuchern ausschließlich Händchenhalten gestattet. Sämtliche Gespräche mussten mit normaler Stimme geführt werden. Besucher durften nur mit den Häftlingen reden, zu deren Besuch sie sich angemeldet hatten. Man durfte einen Kugelschreiber oder Bleistift mitbringen, aber keine Farbfilzstifte oder Malkreide.

Letzteres Verbot, vermutete Puller, ging wohl auf irgendeine Sauerei zurück, die jemand angerichtet hatte, wahrscheinlich ein Kind. Dennoch erachtete er das Verbot als unsinnig, denn ein Bleistift oder Kugelschreiber konnte leicht als Waffe benutzt werden, während Malkreide schwerlich eine Bedrohung darstellte.

Puller wartete im Stehen und beobachtete, wie eine Frau ­einem der Häftlinge, der offenbar ihr Sohn war, aus der Bibel vorlas. Besucher durften Bücher dabeihaben, sie dem Häftling aber nicht übergeben. Auch das Aushändigen von Zeitschriften oder Zeitungen war untersagt, ebenso Nahrungsmittel. Man konnte den Häftlingen allerdings an Automaten, die in der Nähe aufgestellt waren, etwas Essbares kaufen. Den Häftlingen selbst war das nicht möglich. Vielleicht, überlegte Puller, weil es zu sehr an das normale Leben erinnert hätte, und damit sollte das Gefängnisdasein nichts zu tun haben.

Die Besuchszeit endete automatisch mit dem Verlassen des Besuchsraums. Es gab nur eine Ausnahme, die für Puller jedoch nie zur Geltung kommen konnte: Stillen. Dafür gab es eine Etage höher ein eigenes Zimmer.

Auf der anderen Seite des Besuchsraums öffnete sich eine Tür, und ein Mann in orangenem Overall kam herein. Puller blickte ihm entgegen.

Obwohl hochgewachsen, war der Mann drei Zentimeter kleiner als Puller und hatte einen schmaleren Körperbau. Dem Gesicht ließ sich eindeutig die Verwandtschaft zu Puller an­sehen. Allerdings hatte er dunkleres, längeres Haar, das an ei­nigen Stellen weiße Strähnen aufwies, die bei Puller fehlten. Beide Männer hatten ein kantiges Kinn, und der scharfe Nasenrücken hatte bei beiden eine leichte Neigung nach rechts. Die Zähne waren groß und gleichmäßig. Auf der rechten Wange hatte der Häftling ein Muttermal. Seine Augen wirkten im künstlichen Licht grün und im Sonnenschein blau.

Puller hatte an der linken Halsseite eine weitere Narbe, die bis auf den Rücken verlief. Zusätzliche Unterscheidungsmerkmale gab es am linken Bein, am rechten Arm, auf der Brust und am Rücken. Sämtliche Narben waren durch das unwillkommene Eindringen fremder Objekte entstanden, die mit hoher Geschwindigkeit gezielt abgeschossen worden waren.

Der Häftling hatte keine solchen Merkmale. Außerdem war seine Haut blass und glatt. Im Gefängnis konnte man sich keine Sonnenbräune zulegen. Pullers Haut hingegen war von brutaler Hitze und grausamer Kälte gegerbt. Die meisten Menschen hätten ihn als Mann von derbem Äußeren beschrieben, zumindest nicht als gut aussehend. An guten Tagen mochte er attraktiv wirken, oder als Mann mit interessantem Erscheinungsbild. Doch er selbst wäre niemals auf den Gedanken gekommen, sich über so etwas den Kopf zu zerbrechen. Er war Soldat, kein Model.

Die Männer umarmten sich nicht. Stattdessen drückten sie sich kurz die Hand.

Der Häftling lächelte. »Schön, dich zu sehen, Brüderchen.«

Die Brüder Puller nahmen Platz.

 

 

3

»Hast du abgenommen?«, fragte John.

Sein Bruder Robert lehnte sich in den Stuhl und schlug ein langes Bein über das andere. »Die Verpflegung ist hier nicht so gut wie bei der Air Force.«

»Die Navy kriegt nur vom Besten. Die Army liegt weit abgeschlagen auf dem dritten Platz. Aber das hängt damit zusammen, dass sich bei Luftwaffe und Marine nur verzärtelte Weich­eier herumtreiben.«

»Habe gehört, du bist nicht mehr Oberfeldwebel, sondern zum Oberstabsfeldwebel befördert worden.«

»Ich erledige die gleichen Aufgaben wie zuvor. Bei gering­fügiger Solderhöhung.«

»Läuft alles so, wie du es willst?«

»Wie ich es will.«

Sie schwiegen. Puller schaute zur linken Seite, wo eine junge Frau die Hand eines Häftlings hielt und ihm ein paar Fotos zeigte. Zwei kleine Wuschelköpfe spielten zu Füßen der Mutter auf dem Boden. Puller richtete den Blick wieder auf seinen Bruder.

»Was sagen die Anwälte?«

Robert Puller verlagerte das Körpergewicht. Auch er hatte zu dem jungen Paar hinübergeschaut. Im Alter von siebenunddreißig Jahren war er unverheiratet und hatte keine Kinder. »Nichts mehr zu machen. Was ist mit Vater?«

Pullers Mund zuckte. »Unverändert.«

»Warst du mal wieder bei ihm?«

»Vergangene Woche«, antwortete Puller.

»Was sagen die Ärzte?«

»Das Gleiche wie deine Anwälte. Nichts mehr zu machen.«

»Grüß ihn von mir.«

»Er weiß Bescheid.«

Robert Puller zeigte eine gewisse Verärgerung. »Ist mir klar. Ist mir jederzeit klar gewesen.« Seine etwas lauter gewordene Stimme trug ihm seitens des stämmigen Militärpolizisten, der an der Wand stand, einen strengen Blick ein. »Richte ihm trotz­dem meine Grüße aus«, fügte Robert leiser hinzu.

»Brauchst du irgendwas?«

»Nichts, was du besorgen könntest. Und du musst mich nicht besuchen.«

»Das ist meine Entscheidung.«

»Sie beruht darauf, dass du dich als jüngerer Bruder unwohl fühlst und deswegen ein schlechtes Gewissen hast.«

»So ein Quatsch.«

Robert strich mit den Händen über die Tischplatte. »Hier ist es gar nicht so übel. Es ist nicht wie Leavenworth.«

»Doch, es ist. Es ist ein Gefängnis.« Puller beugte sich vor. »Hast du’s getan?«

Robert hob den Blick. »Ich habe mich schon gewundert, dass du mich noch nie gefragt hast.«

»Jetzt frage ich dich«, sagte John.

»Ich habe nichts dazu zu sagen«, gab Robert zur Antwort.

»Glaubst du, ich will dir ein Geständnis abschwatzen? Du bist schon verurteilt.«

»Ja, aber du gehörst zur CID. Ich kenne deinen Gerechtigkeitssinn. Darum möchte ich dich in keinen unlösbaren Interessen- oder Gemütskonflikt bringen.«

Puller lehnte sich zurück. »Ich würde damit fertig, keine Bange.«

»Weil du John Pullers Sohn bist. Ich kenne mich damit aus.«

»Du hast es immer als Bürde empfunden, sein Sohn zu sein.«

»Ist es denn keine?«

»Es ist das, was man daraus macht. Du bist klüger als ich. Eigentlich hätte ich gedacht, dass du dir selbst klar darüber wirst.«

»Trotzdem sind wir beide zum Militär gegangen.«

»Du hattest die Offizierslaufbahn eingeschlagen, so wie Vater. Ich bin nur im Unteroffiziersrang.«

»Und deshalb hältst du mich für klüger?«

»Du bist Atomwissenschaftler. Nuklearwaffenexperte. Ich bin bloß ein Laufbursche mit Dienstausweis.«

»Mit Dienstausweis …«, wiederholte Robert. »Wahrscheinlich kann ich von Glück reden, noch am Leben zu sein.«

»Hier ist seit neunzehnhunderteinundsechzig niemand mehr hingerichtet worden.«

»Du hast dich informiert?«

»Ich habe mich informiert.«

»Innere Sicherheit. Verrat. Doch, ich kann wahrlich damit zufrieden sein, dass man mich nur zu ›lebenslänglich‹ verknackt hat.«

»Bist du zufrieden?«

»Schon möglich.«

»Dann nehme ich an, du hast damit meine Frage beantwortet«, sagte Puller. »Brauchst du irgendwas?«

Sein Bruder versuchte zu grinsen, konnte seine innere Unruhe aber nicht verbergen. »Wieso spüre ich hinter dieser Frage eine gewisse Endgültigkeit?«

»Es ist eine einfache Frage.«

»Es geht mir gut«, lautete Roberts matte Antwort. Er machte den Eindruck, als wäre in diesem Moment all seine Kraft verpufft.

Puller musterte seinen Bruder. Als Jungs, altersmäßig zwei Lebensjahre auseinander, waren sie unzertrennlich gewesen, ebenso später, während sie als junge Männer die Uniform der Heimat trugen. Jetzt fühlte er zwischen ihnen eine Mauer, die viel höher aufragte als die Mauern, die das Gefängnis umgaben. Und er konnte nichts dagegen tun. Vor sich sah er seinen Bruder. Gleichzeitig war sein Bruder eigentlich nicht mehr da. An dessen Stelle war diese Person im orangefarbenen Overall getreten, die den Rest ihres biologischen Lebens in diesem Gebäude verbringen musste. Vielleicht blieb er sogar in alle Ewigkeit. Puller traute es dem Militär zu, sich auch darüber längst Gedanken gemacht zu haben.

»Kürzlich ist hier ein Knastbruder umgebracht worden«, sagte Robert.

Puller hatte davon gehört. »Ja, ein Kalfaktor. Schädelfraktur durch Baseballschläger auf dem Sportplatz.«

»Du hast dich informiert?«

»Ja. Hast du ihn gekannt?«

Robert schüttelte den Kopf. »Ich bin Dreiundzwanziger. Mir bleibt wenig Zeit, Bekanntschaften zu schließen.«

Dreiundzwanziger bedeutete, dreiundzwanzig Stunden des Tages allein eingeschlossen zu sein und eine Stunde lang an einer abgesonderten Örtlichkeit Bewegung haben zu dürfen.

Davon wusste Puller nichts. »Seit wann?«

Robert schmunzelte. »Du hast dich nicht informiert?«

»Seit wann?«

»Seit ich einem Vollzugsbeamten eine geknallt habe.«

»Warum?«

»Weil er etwas gesagt hat, das mir nicht gefiel.«

»Und was?«

»Das brauchst du nicht zu wissen.«

»Weshalb nicht?«

»Glaub’s mir. Dir zufolge bin ich ja der klügere Bruder. Es war nicht so schlimm, dass man mir noch mehr Jahre hätte aufbrummen können.«

»Hing es mit Vater zusammen?«

»Am besten, du machst dich jetzt auf die Socken. Ich möchte nicht, dass du deinen Flieger verpasst.«

»Ich habe Zeit. Ging es um Vater?«

»Hier findet keine Vernehmung statt, Brüderchen. Du kannst mich nicht ausquetschen. Mein Militärgerichtsverfahren ist schon länger her.«

Puller senkte den Blick auf die Fußschellen, die sein Bruder tragen musste. »Verpflegen sie dich durch die Futterklappe?«

In der USDB-Vollzugsanstalt gab es keine Gitter, ausschließlich massive Türen. In Einzelhaft sitzende Sträflinge erhielten das Essen dreimal täglich durch eine Klappe in der Tür. Eine zweite Klappe in Bodenhöhe ermöglichte das Anlegen der Fußschellen, bevor man die Tür öffnete.

Robert nickte. »Ich habe wohl noch Glück gehabt, dass ich nicht zum Querulanten abgestempelt wurde. Sonst säße ich jetzt nicht hier.«

»Sie haben dir Besuchsverbot angedroht?«

»Es wird viel geredet.«

Eine Zeit lang saßen die beiden Männer stumm da.

»Es ist besser, du gehst jetzt«, sagte Robert schließlich. »Ich will noch ein paar Dinge erledigen. Ich habe reichlich Beschäf­tigung.«

»Ich komme wieder.«

»Dafür gibt es keinen Grund. Wahrscheinlich hast du eher einen Grund, darauf zu verzichten.«

»Ich richte Vater deine Grüße aus.«

Sie standen auf und schüttelten sich die Hand. Robert ­klopfte seinem Bruder auf die Schulter. »Vermisst du den Nahen ­Osten?«

»Nein. Ich wüsste niemanden, der dort gedient hat und ihn vermisst.«

»Ich bin froh, dass du heil nach Hause gekommen bist.«

»Viele von uns haben das nicht geschafft.«

»Bearbeitest du gerade interessante Fälle?«

»Eigentlich nicht.«

»Pass auf dich auf.«

»Klar.« Puller wusste, wie hohl die Floskeln waren, noch ehe er sie aussprach. »Und du auf dich.«

Er wandte sich zum Gehen. Sofort kam der Militärpolizist, um Robert abzuführen.

»He, John …«

Puller drehte sich um. Der MP hatte eine Pranke fest um Roberts linken Oberarm gelegt. Am liebsten hätte Puller die Hand weggerissen und den MP durch die Wand gerammt. »Ja?« Er erwiderte Roberts Blick.

»Nichts, Mann. Nichts weiter. Es war schön, dich wieder­zusehen.«

Puller passierte den MP am Scannerportal, der bei seinem erneuten Erscheinen Haltung annahm, und eilte die Treppe hinunter, wobei er jedes Mal zwei Stufen nahm. Als er den Mietwagen erreichte, summte das Handy. Er warf einen Blick auf das Display. Die Rufnummer gehörte dem 701. Militär­polizeiregiment in Quantico, Virginia, dem man ihn als CID-­Spezialagent zugeteilt hatte.

Er nahm den Anruf entgegen. Lauschte. In der Armee lehrte man das Zuhören mehr als das Sprechen. Deutlich mehr.

Seine Antwort fiel knapp aus. »Bin unterwegs.«

Er warf einen Blick auf die Uhr und überschlug kurz Flug- und Fahrtzeit. Die Flugstrecke von Westen nach Osten würde eine Stunde beanspruchen. »Drei Stunden und fünfzig Minuten, Sir.«

Jemand hatte in West Virginia, am Arsch der Welt, ein Blut­bad angerichtet. Eines der Opfer war ein Oberst der Armee. Dies hatte die CID auf den Plan gerufen, doch wieso man den Fall dem 701. zugewiesen hatte, blieb Puller unklar. Aber er war schließlich Soldat. Er hatte einen Befehl erhalten, und den befolgte er.

Er würde zurück nach Virginia fliegen, seine Ausrüstung einladen, sich die dienstlichen Informationen holen und dann schleunigst nach West Virginia aufbrechen. Aber seine Gedanken kreisten nicht um den ermordeten Oberst, sondern um den letzten Gesichtsausdruck seines Bruders.

Die Erinnerungen an seinen Bruder, so wie er ihn in vergangener Zeit und an anderen Orten gekannt hatte, wanderten langsam durch seine Gedanken. Robert hatte als Major in der Luftwaffe gedient – geradezu ein Überflieger, was die Karriere betraf – und hatte beim Überwachen des Atomwaffenarsenals der USA geholfen. Damals galt er als sicherer Anwärter auf einen Stern, vielleicht zwei. Und jetzt war er ein abgeurteilter Landesverräter und würde die USDB-Vollzugsanstalt nicht verlassen, bevor er seinen letzten Atemzug getan hatte.

Aber er war sein Bruder. Daran konnte nicht einmal das US-Militär etwas ändern.

Kurz nach Ende des Telefonats ließ Puller den Motor an und legte den ersten Gang ein. Jedes Mal wenn er hier war, ließ er einen kleinen Teil von sich selbst zurück. Vielleicht kam einmal der Tag, an dem von ihm nichts mehr übrig blieb.

Noch nie hatte er Gefühle gezeigt. Er hatte nicht geweint, wenn rings um ihn auf dem Gefechtsfeld Männer fielen und starben, häufig auf entsetzliche Weise. Allerdings hatte er sie auf ähnlich entsetzliche Weise gerächt. Nie war er mit unbeherrschtem Zorn in den Kampf gezogen, denn Zorn wirkte sich als Schwäche aus. Und Schwäche führte zu Fehlern. Als man seinen Bruder wegen Hochverrats aburteilte, hatte er keine Träne vergossen. In der Familie Puller weinten die Männer nicht.

So lautete die erste Regel.

Die Männer der Familie Puller verhielten sich jederzeit ruhig und beherrscht, weil sich dadurch die Wahrscheinlichkeit des Sieges erhöhte.

Das war die zweite Regel.

Alle sonstigen Regeln betrachtete man im Wesentlichen als überflüssig.

John Puller sah sich nicht als Maschine, aber er konnte erkennen, dass er sich sehr dicht davor befand, eine zu werden. Allerdings lehnte er es ab, sich darüber hinaus mit eingehen­derer Selbstbetrachtung zu beschäftigen.

Er verließ das Gelände der USDB -Vollzugsanstalt erheblich rascher, als seine Ankunft sich vollzogen hatte. Ein noch schnellerer Flug ostwärts sollte ihn mit einem weiteren Fall konfrontieren. Puller hieß die neue Herausforderung willkommen, und sei es nur aus dem Grund, dass sie seine Gedanken von etwas ablenkte, das er nie so richtig hatte verstehen können.

Oder beeinflussen.

Seine Familie.