VERSUCHE ÜBER VERDI
Gewidmet dem Andenken meines Vaters
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ISBN ePub:
978-3-7017-4346-9
ISBN mobi:
978-3-7017-4420-6
ISBN Printausgabe:
978-3-7017-3283-8
Vorwort
Werke
Der Rohdiamant – Ernani
Wozzecks älterer Bruder – Macbeth
Wahrheit, neu erfunden – Stiffelio
Der Prototyp des veristischen Monologs – Rigoletto
Brennende Lilie, brennender Mond – Il trovatore
Selten so gelacht – Un ballo in maschera
Krieg, Boogie-Woogie und Erlösung – La forza del destino
»Eine Oper für Kairo … Puh!« – Aida
Der Tag des Zornes – Messa da Requiem
Von der Postkutsche zur Dampflok – Simon Boccanegra
»Il tuo materno suol« – Wo liegt die Heimat? – Otello
»Meine Seele, ich verfluche dich!« – Otello (II)
Wirken
Giuseppe Verdi, Librettist
Giuseppe Verdi, Bühnenbildner
Giuseppe Verdi, Politiker
Weisheiten
»Ich will die Kunst, in welcher Gestalt auch immer«
»Ein halber Erfolg tut keinem gut«
»Die Dämme werden später gebaut«
»… ein Bauer, der aus gutem Holz geschnitzt ist«
Werkregister Verdi
Ausgewählte Literatur
Personen- und Werkregister
Anmerkungen
Bildnachweis
Mit allen möglichen titelverdächtigen Zitaten Giuseppe Verdis fand ich mich beim Verlag ein. »Ich will die Kunst, in welcher Gestalt auch immer« wurde als zu lang befunden; das für Verdis Charakter so bezeichnende, sich wenige Briefzeilen weiter findende »... dass mein Rückgrat nicht so biegsam ist wie das so vieler anderer«1 erwies sich als noch länger; und auch »Ewig wahr, hinter verschiedenen Masken«, das an Falstaff denken lässt, fand nicht den erwünschten Widerhall. »Wenn sie auch schlecht singen, das macht nichts!« hingegen stieß auf so große Begeisterung, dass es schließlich ausgewählt wurde.
Doch wo, um alles in der Welt, hatte ich dieses Zitat her? Dass seine Lady Macbeth nicht etwa schön, sondern überhaupt nicht singe, hatte Verdi gefordert, doch an welcher Stelle hatte er seinen Interpreten den Freibrief zu schlechtem Singen ausgestellt? Trotz intensiven Suchens konnte ich keine Quelle mehr lokalisieren (kam aber sofort auf den Gedanken, etwaige Lesungen aus diesem Buch mit eigenen Gesangsdarbietungen zu garnieren) – wird mir die geneigte Leserin, der gütige Leser das verzeihen können?
Es ist jedenfalls nicht das Einzige, wofür ich um Nachsicht bitten muss; keine umfassende Sicht auf Leben und Werk des Meisters kann ich bieten, wie dies etwa Christoph Schwandt, Christian Springer und zuletzt Georg Titscher gelungen ist.2 Ergebnis meiner freudigen Bemühungen sind nur die vorliegenden »Versuche« (oder »Essays«, wie der Franzose es nennen würde), von denen der Untertitel kündet. Unvollkommen sind sie also, die hier abgedruckten Gedanken, und sehr persönlich gefärbt; spricht das für oder ebenfalls gegen mich?
Ein knappes Dutzend von Verdis an die dreißig großen Werken beleuchte oder »streife« ich im ersten Teil des Buches, alles Werke, mit denen ich im Laufe meiner Theaterarbeit in Berührung gekommen bin. Persönliche Betrachtungen oder Erinnerungen schließen die jeweiligen Essays (die zum Teil auf früher publizierten Artikeln beruhen) ab.
Im zweiten Abschnitt unterstelle ich Giuseppe Verdi drei Berufe, die er so nicht ausgefüllt, aber gleichsam teilweise »mit erledigt« hat: jenen des Librettisten, des Bühnenbildners und des Politikers.
Nein, Verdi war – neben seiner Arbeit als Großlandwirt – ausschließlich Komponist, hat sich auch nicht, wie sein großes deutsches Vis-à-vis Richard Wagner, als Literat versucht. Abgesehen von einer biografischen Skizze sind kaum andere Schriften von ihm erhalten als seine Briefe. Aus diesen montiere ich, im letzten Abschnitt dieses Buches, eine Art »Selbstporträt«, das – abermals – vieles unausgeführt lässt und doch einige Charakteristika dieses außergewöhnlichen Mannes gleichsam im Originalton hervorhebt. Aus dem Ganzen möge sich, so kann ich nur hoffen, ein Bild Giuseppe Verdis ergeben, wie ich ihn zu schätzen und zu verehren gelernt habe.
Vielen bin ich für das Zustandekommen dieses Buches zu Dank verpflichtet, und dieser Dank erstreckt sich auf die Dauer von mehreren Jahrzehnten, umfasst Autoren und Gesprächspartner, Dramaturgen und Künstler (und all diese natürlich auch in der entsprechenden weiblichen Form). Den allerersten, also am weitesten zurückliegenden und sich immer erneuernden Dank schulde ich meinen Eltern, die mir die Welt im Allgemeinen und jene der Musik im Besonderen erschlossen haben. In der letzten Phase meiner Arbeit an diesem Buch, Anfang Dezember 2012, ist mein Vater verstorben, dessen Andenken ich es widme. Vor allzu großer Redseligkeit in Bezug auf dieses Thema bewahrte mich eine Briefstelle Verdis: »Ich glaube, dass große Schmerzen keine großen Worte erfordern. Sie bedürfen des Schweigens, der Isolierung und, ich würde sagen, der Qual des Gedankens. Das Wort verdünnt, versüßt und zerstört das Gefühl! Alle Äußerlichkeiten haben etwas von wenig Erfühltem und sind eine Entwürdigung.«3
Dass meine hier gesammelten Worte über Giuseppe Verdi die Gefühle der Leserinnen und Leser gegenüber dem Schaffen des Meisters nicht »verdünnen« oder gar »zerstören«, sondern konzentrieren und verstärken mögen – das wünsche ich mir von Herzen.
Christoph Wagner-Trenkwitz
Wien, im Januar 2013
Giuseppe Verdi zur Zeit von Ernani (Gemälde von F. Torriani)
Anlässlich der Wiederentdeckung von Italo Montemezzis L’amore dei tre re bei den Bregenzer Festspielen 1998 fragte ein Rezensent rhetorisch, wo es in der Opernliteratur einen vergleichbaren Fall gäbe, dass gleich drei Männer dieselbe Frau begehren. Zumindest ein Beispiel für eine »Vierecksgeschichte« lässt sich anführen: Giuseppe Verdis dramma lirico Ernani, uraufgeführt am 9. März 1844. Vielerlei Untersuchungsansätze erlaubt diese Konstellation: etwa den feministischen (»dient« die Frau doch als Projektionsebene für dreierlei maskuline Fantasien, ja als »Schlachtfeld« für deren Rivalitäten) oder den nationalhistorischen (ist nicht – bei Verdi wie bei Montemezzi – in jenem bemitleidenswerten weiblichen Wesen die eine Frau Italia zu sehen, um deren Besitz gestritten wird?). Wir wählen einen dritten analytischen Pfad, der weniger die Frau als die Beziehungen zwischen den drei Männern beleuchtet. Und diese lassen sich unter dem Schlagwort vom Generationenkonflikt subsumieren.
In Montemezzis Bühnenwerk verkörpert der greise, erblindete Archibaldo die alte Generation; sein Sohn Manfredo nimmt den Platz des Sohnes in den besten Jahren (die für eine junge Frau eben oftmals nicht gut genug sind) ein, und Avito jenen des nachrückenden, rebellischen Enkels. Nicht anders verhält es sich in Verdis fast 70 Jahre älterer Oper. Don Ruy Gomez de Silva ist ein betagter spanischer Grande, Don Carlo der eine Generation jüngere spanische König und Ernani der jugendliche Heißsporn, Adeliger von Herkunft und Bandit aus gekränkter Ehre. Montemezzi wie Verdi halten sich getreulich an die hergebrachte Alterscharakteristik der Stimmlagen: Archibaldo und Silva sind Bässe, Manfredo und Carlo Baritone und Avito bzw. Ernani Tenöre. Letzteren gehört selbstverständlich die Liebe der Hauptdarstellerinnen Fiora und Elvira, die – ebenso selbstverständlich – mit Sopranen besetzt sind. (Die ursprüngliche Stimmenverteilung, die Silva als Bariton, Carlo als Tenor und den »bartlosen Jüngling« Ernani als Altistin vorsah, wurde verworfen, da Verdi nicht willens war, eine Hosenrolle zu schreiben; doch auch in diesem Konzept wären die Fach- und somit Altersrelationen unverändert gewesen.)
Der das Stück prägende Konflikt herrscht zwischen den Randgenerationen, sowohl in L’amore dei tre re als auch in Ernani, dem wir uns nach voranstehenden Vergleichen nun alleinig zuwenden wollen.
Luigi Baldacci führt in seinem Artikel »I libretti di Verdi«4 Verdis Vorliebe für die Darstellung von Generationenkonflikten als einen Grund für des Komponisten nationale Beliebtheit an: »Der Gegensatz zwischen Vätern und Söhnen, der alles andere als eine Einladung zur Rebellion ist, spiegelt aus einem realistischen Blickwinkel jene archaischen Strukturen wider, die der italienischen Gesellschaft innewohnen, für welche die Familie letztlich der wahre, einzige Kern des Zusammenlebens war.« Ein Zusammenleben, so müssen wir ergänzen, in dem die Alten die Oberhand bewahrten. So fordert Silva Ernanis Leben als Opfer, und zwar mit einem musikalischen Effekt: Er stößt in das Jagdhorn, das ihm Ernani als Pfand für sein Leben gegeben hat, wenn das Happy End schon besiegelt scheint.
Worin liegen innere Kraft und Ausstrahlung dieser Bassgestalt begründet? Ein alter Mann erstrebt die Gunst seines jugendlichen Mündels – diese Schablone kennen wir aus unzähligen (Opern-)Komödien. Aber Silva lässt uns keineswegs an Doktor Bartolo (Il barbiere di Siviglia, 1816) oder Don Pasquale (die gleichnamige Buffa Donizettis war übrigens nur ein Jahr älter als Verdis Ernani) zurückdenken, sondern vielmehr den König Philipp im Don Carlo vorausahnen. Verdi stattet den Granden Silva mit wahrer Grandezza und tiefer Liebessehnsucht aus, die in seiner prachtvollen Arie ihren Ausdruck findet. Der vielgeschmähte Piave macht hier die Farbe Weiß zum doppelsinnigen Symbol der (unberührten) Jugend wie des Alters und verstärkt dies durch den Kontrast von Kälte und Hitze: »Infelice! ... e tuo credevi sì bel giglio immacolato! ... Del tuo crine fra le nevi piomba invece il disonor. Ah! perché l’etade in seno giovin core m’ha serbato! Mi dovevan gli anni almeno far di gelo ancora il cor.« (»Unglücklicher! Und du glaubtest sie dein, diese schöne, unberührte Lilie! Auf dein schneeweißes Haar fällt stattdessen Schande. Ach, warum habe ich mir im Alter ein junges Herz bewahrt! Die Jahre hätten mir das Herz zu Eis erstarren lassen sollen.«)
Doch Silva besitzt nicht nur ein liebeswarmes Herz, sondern auch die eisige, grausame Konsequenz, die den jungen Nebenbuhler in den Tod treiben wird. Macht über diesen verleiht ihm ein unausweichlicher Kodex, der den konservativen »Großvater« und den aufbegehrenden »Enkel« aneinanderschmiedet. Der Untertitel von Victor Hugos Drama Hernani, auf dem das Libretto fußt, kündet von diesem Kodex: Er ist l’honneur castillan, die kastilische Ehre. Verständlich, dass die böhmische Gemütlichkeit des Satirikers Leo Slezak (der gleichzeitig ein hinreißender Ernani-Darsteller war) dem letalen Ehrbegriff des spanischen Mittelalters nichts abgewinnen konnte. So nimmt Slezaks unnachahmliche Komik etwa die Verschwörerszene zu Beginn des dritten Aktes aufs Korn: »Silva schlägt Ernani ein Tauschgeschäft vor. Wenn er ihm die Tötung des Königs überlässt, gibt er ihm auch das Horn wieder und damit sein Leben. Ernani sagt nein – weil er ein Tenor ist. Und das muss ich spielen – ich, der ich so gerne Ruhe habe und jedes Aufsehen vermeide!«5
Carlo entsagt seiner Liebe zur schönen Elvira um der Macht willen und blendet sich so aus der Vierecksgeschichte aus. In Aachen – so will es die Opernhandlung – lässt sich der spanische König zum deutschen Kaiser krönen und schließt zuvor mit allen amourösen Abenteuern, aber auch mit lokalen Feindschaften ab. Die historische Machtübernahme verlief etwas komplizierter: 1519 wurde Karl von Kastilien mithilfe der finanzstarken Fugger zum deutschen König gewählt, 1520 erhielt er in Aachen die Königskrone und erst 1530 erfolgte in Bologna die Krönung zum Kaiser. Karls tatsächliches Alter – 20 Jahre zur Zeit der Krönung in Aachen – widerspricht keineswegs der eingangs formulierten These von der Generationenverteilung. Theaterwahrheit fällt eben nicht unbedingt mit historischer Korrektheit zusammen. Niemand anderer als Karl V. wird auch, mittlerweile selbst zur mythischen Großvater-Gestalt aufgestiegen, durch das Kloster San Jerónimo de Yuste im Don Carlo spuken!
Indirekt verweist Karl V. auch auf eine weitere Verdi-Oper. Sein Hauptkontrahent – Gegenkandidat bei der Königswahl und Widersacher in mehreren anschließenden Kriegen – war nämlich der französische König Franz I., Titelfigur von Hugos Drama Le Roi s’amuse; und aus diesem wurde – die Zensur erlaubte keinen lasterhaften König auf der Opernbühne – der Herzog von Mantua in Verdis Rigoletto. Nicht nur das historische Umfeld und der Schöpfer der Stückvorlagen (Victor Hugo) sind den beiden Verdi-Opern Ernani und Rigoletto gemeinsam, auch der Librettist (Piave), der Uraufführungsort (Venedig) und das besonders widersinnige Walten der Zensur, der gegenüber sich der Komponist jedoch in den entscheidenden Punkten zu behaupten wusste.
In einem Brief an den Präsidenten des Teatro La Fenice in Venedig vom 14. Dezember 18506 erzürnte sich Verdi über die versuchten Zensureingriffe in seine Oper Rigoletto (der Hofnarr trug damals noch, dem Hugo’schen Original näher, den Namen Triboletto): »Ich begreife nicht, warum der Sack [in dem der Narr die Leiche seiner Tochter entdeckt] weggenommen wird! Was ging der Sack die Polizei an? Fürchten sie die Wirkung? Aber da sei mir zu sagen gestattet: Warum wollen sie davon mehr verstehen als ich? Wer kann sich zum Lehrer erheben? Wer kann sagen, dies wird wirken und das nicht? Eine Schwierigkeit dieser Art gab es auch mit Ernanis Horn: Nun, und wer hat bei dem Klang jenes Horns je gelacht?«
Niemand hat gelacht, und der furchtsame Fenice-Direktor Graf Mocenigo war im Unrecht gewesen, als er den »gehörnten« Ehemann Silva nicht mit einem Jagdhorn ausgestattet wissen wollte.
Mag der Sack in Rigoletto ein Utensil sein, auf das der ebenso kunst- wie starrsinnige Verdi auch hätte verzichten können, so ist Ernanis Horn ein stücktragendes, nicht nur szenisch, sondern auch musikalisch bedeutsames Instrument, dessen Tilgung Handlung und Partitur nachhaltig durcheinandergewirbelt hätte.
Es blieb also beim Horn. Wäre der Zensor etwas klüger gewesen, hätte er den Rotstift an ganz anderer Stelle angesetzt: kündet Ernani doch von der Bedeutungslosigkeit des Wortes seiner allerhöchsten heiligen römischen Majestät. Wenn der Herrscher in der barocken opera seria sein mildes Machtwort gesprochen hat, bleibt den Umstehenden nur mehr dankbarer Beifall, über dem sich der Vorhang senkt. In Verdis Tragödie wird die allgemeine Vergebung von Kaiser Karl im dritten Akt (der denn auch mit La clemenza übertitelt ist) ausgesprochen. Der vierte Akt aber führt trotz allem den Untergang des Tenorhelden vor – und spricht damit der Milde des Herrschers Hohn. Deutlicher können die alten Operschemata nicht besiegt, der neue Geist nicht besiegelt werden. »La clemenza di Carlo« versagt angesichts der handlungsimmanenten tragischen Gewalt, die sich nicht nur dem Machtwort, sondern auch der Liebe und Vernunft verschließt.
Die Deutschen (und für Verdi waren auch die Österreicher »tedeschi«) neigen dazu, ein Haar in jeder Suppe zu finden, deren Rezept sie nicht ergründen können. Der Standardvorwurf lautet: Ist nicht Piaves Ernani-Libretto schwach? Es ist in Wahrheit wirkungsvoll und inspirierend, besser jedenfalls als Verdi (den eine unergründliche Geringschätzung für seinen meistbeschäftigten Librettisten erfüllte) es zugegeben hätte; und besser, als der empörte Victor Hugo meinte. Aber den hat ja schon George Bernard Shaw in die Schranken gewiesen, als er feststellte, Hugos Hauptverdienst sei es gewesen, Verdi gute Opernvorlagen zu liefern.
Zweiter Vorwurf: Ist nicht gerade der Aufbau des ersten Aktes dramaturgisch altbacken? Chor – Rezitativ-Arie-Cabaletta (Ernani) – Rezitativ-Arie-Cabaletta (Elvira), dann wenigstens Duett und Terzett, weiters aber schon wieder Rezitativ-Arie-Cabaletta des Silva; seine Cabaletta wurde übrigens nachkomponiert, um die Rolle für die Handlung aufzuwerten. Gewiss, Verdi klebt hier (noch!) an den vorgegebenen und von Publikum wie Sängern gewünschten Formen der Frühzeit, die er später Schritt für Schritt überwinden wird. Aber auf diesem langen Wege sind (von der Auftrittsarie des Ernani bis zu der hierzulande »Stretta« genannten Cabaletta des Manrico) Stücke entstanden, die mit ihrer archaischen Urgewalt in unserem Opernschlageralbum nicht fehlen dürfen.
Dritter Standardvorwurf gegen den jungen Verdi: Ist nicht das dauernde »Umtata« ein ärmliches Begleitmuster? Es ist halt leider so wirksam, dass wir uns zuzeiten an unseren Sitzen festklammern müssen, um der oben erwähnten »Urgewalt« standzuhalten. Die Begleitformeln (die sich keineswegs auf das viel zitierte »Umtata« beschränken) bieten weiters die prägnante und stets sängerfreundliche rhythmische Basis der großen melodischen Bögen, die Verdi von Bellini gelernt und aus dem Elegischen ins Dramatische übertragen hat. Im Übrigen genügt das Anhören etwa der Ernani-Aufnahme unter der Leitung des großen Dimitri Mitropoulos, um uns vom Reichtum des Verdi-Orchesters zu überzeugen, wenn es denn von Meisterhand zum Klingen gebracht wird.
Drehen wir es, wie wir wollen: Ernani ist eine umwerfende Oper, ein früher Geniestreich, der seine Fortsetzung im neun Jahre jüngeren Trovatore, seine Vollendung aber im Don Carlo findet – gleich einem Rohdiamanten, der zu immer höheren Stadien der Vollendung geschliffen wird. Wer Ernani trotzdem nicht leiden kann (sich also nicht von ihm umwerfen lassen will), den grüßt Giuseppe Verdi umso herzlicher. An seinen treuen Diener Piave schreibt er am 3. November 1845: »Meine Feinde, sie leben hoch! Ich danke ihnen den Fortschritt meiner Karriere mehr als meinen Freunden. Ohne sie hätte man nicht so viel geredet, und ohne viel Gerede hätte man Ernani nicht in London gegeben.« Im Jahre 1998 zog der immerjunge Bandit nach über siebzigjähriger Abwesenheit wieder an der Wiener Oper ein. Die jenem »Schönheitsschlaf« vorangegangene Wiener Rezeptionsgeschichte begann und endete übrigens mit der Präsenz bedeutender italienischer Kollegen Verdis: Die Erstaufführung am Kärntnertortheater kam unter großem Einsatz von Gaetano Donizetti zustande (der das Werk auch für Wien einrichtete), die bis dahin letzte Ernani-Vorstellung im Jahre 1925 stand unter der Leitung von Pietro Mascagni.
... und Seiji Ozawa dirigierte die Ernani-Premiere im Dezember 1998. Federnd und detailverliebt wie immer, brachte der spätere Musikdirektor der Staatsoper vielleicht etwas zu wenig Bodenhaftung mit, um den »Rohdiamanten« wirklich strahlen zu lassen. Ozawa war übrigens der einzige Protagonist, der nicht zu meiner ersten Staatsopern-Matinee erschien, die immerhin Größen wie Neil Shicoff (der Ernani, hier nur sprechend), Carlos Alvarez (Carlo), Michèle Crider (Elvira) und Roberto Scandiuzzi (Silva) versammelte. Ich ließ die Matinee mit einem Ausschnitt aus dem Film Fitzcarraldo beginnen. Eine Videozuspielung am Beginn einer Matinee? Eine Dame soll geraunt haben: »Samma im Kino?« Ich war nervös wie selten – aber nicht so nervös wie Neil Shicoff vor der Premiere. Er bestand darauf, dass ich ihn ansagte. Dass ich dafür (selbst schwer verkühlt) aus dem Bett geholt wurde, in das ich nach meinem mikroskopischen Auftritt auch wieder entschwand, machte ihm nichts aus. Er sang die Premiere, wie ich nur aus Berichten erfuhr, hervorragend. In den Grau- und Rottönen von Richard Hudsons Bühnenbild wurde die Aufführung ein guter, wenn auch nicht rauschender Erfolg. Noch eine Erinnerung an die Probenarbeit an der Staatsoper: Nachdem Carlos Alvarez als Karl V. seine große Szene mit dem die Verschwörer verstörenden Auftritt »Carlo quinto, o traditor!« abgeliefert hatte, erschien er neben der Bühne, auf dem Arm den kleinen Sohn (der mittlerweile größer ist als ich). Lächelnd stellte er ihn mir vor: »Das ist der eigentliche Karl der Fünfte« – Carlitos ist nämlich der fünfte Träger dieses Namens in der Familie Alvarez ...
»Die Stimme der Vernunft ist leise«, sprach Sigmund Freud und seine Worte sind auf einem Denkmal bei der Universität Wien in Stein gehauen. Dass auch die Stimme des Machtwahns, des tödlichen Ehrgeizes leise sein kann, lehrt uns Giuseppe Verdis Macbeth. Zahlreiche bedrohlich leise deklamierte Passagen des Titelhelden (oft in geschicktem chiaroscuro-Kontrast zu plötzlichen Forte-Ausbrüchen) finden sich in dieser Partitur, der wohl besten, die Verdi bis dahin geschrieben hat.
Nachdem sich die ersten zwei Weissagungen der Hexen bewahrheitet haben, kommentiert dies Macbeth im Duett mit Banquo fra sé, sottovoce, quasi con ispavento (für sich, leise, wie von Schrecken erfasst). Zwei Halbsätze lässt Verdi herausstechen, die sich auf Macbeths Gefühl der Angst (die »gesträubten Haare«) und auf seinen »Gedanken an Blut« beziehen: »Ma perché sento (drizzarsi il crine)« und »Pensier di sangue (donde sei nato)« erklingen jeweils, von scharfem Blech einbegleitet, subito forte; anschließend fordert Verdi wieder mit einer seiner Lieblingsanweisungen eine voce cupa (dumpfe Stimme).
Damit sich auch die Weissagung erfülle, dass Macbeth König von Schottland wird, rät die alles treibende Lady ihrem zaudernden, geradezu von ihr ferngesteuerten Gatten zum Mord an König Duncan. Con voce soffocata e lento, also langsam, mit erstickter Stimme, meldet er ihr den vollzogenen Mord: »Tutto è finito.« Anschließend fragt er seine Frau sottovoce: »Fatal mia donna, un murmure com’io non intendesti?«, erkundigt sich also, ob sie nicht wie er »ein Murmeln« gehört habe. Mit »Schicksalsgenossin« könnte man seine Anrede »fatal mia donna« übersetzen und denkt dabei unwillkürlich an Telramunds »Genossin meiner Schmach«.
Stimmen und Geräusche durchkreuzen, erschüttern Macbeths Stille. »Ogni rumore mi spaventa«, »jedes Geräusch erschreckt mich«, wird er nach dem Duett (das morendo – ersterbend – im Nichts verklungen ist) zusammenzucken, wenn es am Schlosstor klopft. Macbeth ist ein Drama im Flüsterton. Stille und Stillstand sind der Ort des Blutverbrechens, immer lauter aber dröhnt die Anklage des schlechten Gewissens, das Macbeth peinigt, in dieses Vakuum.
Seinem Hauptdarsteller Felice Varesi erklärte Verdi die bedrückte und bedrückende Atmosphäre, die in dem Duett zu schaffen ist:
»Bedenke, dass Nacht ist und alles schläft: das ganze Duett muss sotto voce vorgetragen werden, aber mit dumpfer, Schrecken einflößender Stimme. Nur Macbeth allein sagt (wie in einem Augenblick der Erregung) einige Sätze laut und mit voller Stimme [z. B. »o vista orribile«, »welch schrecklicher Anblick«]; aber das wirst du alles in den Noten erklärt finden. [...] Du siehst, dass das Orchester außerordentlich leise spielen wird, und ihr müsst ebenfalls gedämpft singen.«
In den selbsterklärenden Noten zu Macbeth kreiert Verdi einen nuancenreichen, psychologisierenden, früh-expressionistischen Sprechgesang, der in der italienischen Oper bis dahin unbekannt war.
Dass auch der Chor der Mörder in nächtliches Pianissimo getaucht ist (aus dem nur der Ruf »Trema [Zittre], Banquo!« hervorsticht), entspricht durchaus der Konvention, der übrigens der Kritiker Eduard Hanslick gar nichts abgewinnen konnte: »Das Gespräch der beiden Mörder bei Shakespeare ist bei Verdi zu einem ganzen ›Chor von Mördern‹ aufgebauscht und macht mit seinen geheimnisvollen Pianissimos [sic] und Staccatos [sic] einen überaus erheiternden Eindruck.«7
Als auch dieser Mord vollzogen ist, wird Macbeth beim heiteren Trinkgelage von Schreckensvisionen geplagt: Der soeben erschlagene Banquo erscheint ihm und Macbeth versucht, den Geist mit überaus dramatischem Wechsel von herrischem Fortissimo und furchterfülltem Pianissimo abzuwehren. Schließlich schleudert Macbeth seinem Opfer, das zur Heimsuchung wird, in höchster Lautstärke ein »Fuggi, fantasma tremendo!« (»Flieh, schreckliches Trugbild!«) entgegen, der Orchesterklang verliert sich aus einem Fortissimo (tutta forza notiert Verdi noch dazu) nach und nach in ein dreifaches Piano, während »der Schatten verschwindet« (»l’ombra sparisce«). Macbeth kann – leise – aufatmen: »La vita riprendo!« Die Lady antwortet ebenso halblaut, aber sie spricht nicht von Erleichterung, sondern von Schande: »Vergogna, o Signor!«
Macbeths weit geschwungene, melancholisch-»schöne« Arie »Pietà, rispetto, amore« ist untypisch für den Charakter. (Typisch für die zögerliche Rezeption des Werkes ist allerdings, dass dieses Stück als Einziges eine weiterreichende Wunschkonzert-Popularität errungen hat.) Hektische Streicherfiguren, die auf Macbeths zerfahrene Psyche hindeuten, leiten das Rezitativ ein, in dem er noch einmal den Herrn hervorkehrt, bevor er ins Pianissimo zurückfällt mit der ernüchternden Feststellung, dass »das Leben in meinen Adern verdorrt«. Nach der Kadenz der Arie, bei den Worten »la nenia tua sarà« (»... wird dein Klagelied sein«, d.h. Macbeth erkennt, dass ihm nur Flüche ins Grab nachgesendet werden), findet sich laut Verdi »eine Phrase, die ich fast bebend und sotto voce wünsche«.
Im Anschluss an diese Arie erhält Macbeth Nachricht vom Ableben der Königin. Seine Reaktion zeigt keinerlei Gefühlsregung, wird »mit Gleichgültigkeit und Verachtung« (»con indifferenza e sprezzo«) vorgetragen und lässt das Glaubensbekenntnis des Jago vorausahnen: »La vita ... che importa? ... È il racconto d’un povero idiota; Vento e suono che nulla dinota!« (»Das Leben, was zählt es? Es ist die Erzählung eines armen Irren; Schall und Rauch, die nichts bedeuten.«)
Über die rechte Interpretation der Todesszene erfahren wir vom Komponisten: »Sie kann pathetisch sein; aber mehr noch als pathetisch soll sie beängstigend sein. Alles sotto voce, mit Ausnahme der letzten beiden Verse ...«, schreibt Verdi. Und, sich noch deutlicher abgrenzend gegen das traditionelle melodramma etwa eines Donizetti: »Du begreifst wohl, dass Macbetto nicht so sterben darf wie Edgardo [in Lucia di Lammermoor] und seinesgleichen.«8
Macbeth, der »mich mehr als die anderen [Opern] interessiert« (so Verdi an Salvadore Cammarano im November 1848) bzw. »den ich lieber habe als meine anderen Opern« (an den Widmungsträger, seinen Schwiegervater Antonio Barezzi), bedeutet ein Wegrücken vom schieren Schöngesang, hin zum Ausdruckssingen, das sich noch enger an die im Notentext niedergelegten Vorstellungen der Autoren zu halten hat. Immer wieder ermahnt Verdi seine Sänger, »mehr dem Dichter als dem Komponisten« zu dienen. Dies aus der Feder des Tonschöpfers scheint merkwürdig, bedeutet aber keineswegs, dass dem musikalischen Studium wenig(er) Sorgfalt zu widmen sei. Verdi fordert vielmehr, dass dieses Studium mit genauem Verständnis und Verinnerlichung der Worte zu beginnen hat. Damit drückt er auch seine Überzeugung aus, dem Wortklang und -sinn so genau gefolgt zu sein, dass sich die rechte Gesangslinie wie selbstverständlich daraus ergibt.
Verdi bestand auf Felice Varesi, der weder ein Belcantist noch ein schöner Mann war, als Hauptdarsteller der neuen Oper. »Kein Schauspieler kann derzeit den Macbeth besser darstellen als Varesi; sowohl wegen seiner Art zu singen als auch wegen seiner Intelligenz und auch wegen seiner kleinen, hässlichen Figur«, schreibt der Maestro. »Vielleicht werden Sie jetzt sagen, er singt ohne Stimme; aber das macht nichts, denn die Partie wird fast zur Gänze deklamiert, und das kann er sehr gut.«9
In dem oben bereits zitierten, eineinhalb Jahre nach der Macbeth-Uraufführung (März 1848) geschriebenen Brief an Cammarano charakterisiert Verdi den Stil dieser Oper in aufsehenerregender Weise, indem er zunächst eine durch ihre Qualitäten unbrauchbare Sängerin »tadelt«: »Die Tadolini hat eine gute, schöne Erscheinung; und ich möchte die Lady hässlich und böse haben. Die Tadolini singt vollendet, und ich möchte, dass die Lady nicht singt. [...] ich möchte für die Lady eine raue, erstickte, hohle Stimme haben. [...]«
Noch mehrmals in diesem Brief hält der Komponist fest, dass »nicht gesungen« werden solle und dass an den entscheidenden Stellen das Orchester mithelfen muss, die Stimmung zu »dämpfen«: »Macht darauf aufmerksam, dass die Hauptstücke der Oper diese beiden sind: das [oben besprochene] Duett zwischen der Lady und ihrem Mann und die Nachtwandlerszene [der Lady Macbeth]. Wenn diese Stücke verlorengehen, ist die Oper erledigt; und diese Stücke dürfen absolut nicht gesungen werden. Man muss sie mit einer recht hohlen und verschleierten Stimme darstellen und deklamieren: Ohne das kann es keine Wirkung geben. Das Orchester mit Dämpfer.«
Wozzeck