Alois Brandstetter
Aluigis Abbild
Roman
Roman
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unter Verwendung des Gemäldes »Campo Santi Apostoli« (1730) von Canaletto
Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien
Lektorat: Jessica Beer
ISBN 987 3 7017 4509 8
DONNA MARTA TANA DI SANTENA SCHREIBT
EINEN BRIEF AN DEN MALER PETER PAUL RUBENS
UND BITTET UM EIN BILDNIS IHRES VERSTORBENEN,
SELIGGESPROCHENEN SOHNES ALOYSIUS GONZAGA
FÜR DAS NEUE HEILIGTUM IN CASTIGLIONE
Donna Marta Tana di Santena war die Witwe nach dem Markgrafen Don Ferrante Gonzaga in Castiglione delle Stiviere und Mutter von sieben Kindern, Mutter des bis 1616 regierenden Markgrafen Francesco Gonzaga und seines Vorgängers, des ermordeten Ridolfo Gonzaga, und seines am 21. Juni 1591 in Rom verstorbenen Bruders Aloysius. Sie schrieb 14 Jahre nach der Seligsprechung ihres Erstgeborenen und Lieblingssohnes Aloysius, den sie liebevoll Aluigi nannte, im Jahre 1619 durch Papst Paul V. einen Brief an den hochberühmten Maler und Diplomaten, Messer Peter Paul Rubens, um ein ritratto, um ein Bildnis also ihres Sohnes Aloysius von seiner »begnadeten Hand« ersuchend. Sie wandte sich also an den ehemaligen Hofmaler, pittore di corte, beim Vetter ihres verstorbenen Gatten, dem Herzog Don Vincenzo Gonzaga in Mantua, und erwähnte auch, wie sie in jener Zeit wiederholt Gelegenheit gehabt hatte, mit Seiner Excellenz Messer Rubens zu sprechen, ihrem Gedächtnis nach auch einmal über ihren heimgegangenen frommen Sohn Aloysius, dessen Ruhm nach seinem frühen Tode im Collegio der Gesellschaft Jesu in Rom durch viele Gebetserhörungen und unerhörte Wunder innerhalb eines Jahrzehnts ins Unermeßliche gewachsen sei. Rubens habe wohl selbst in seiner Mantovaner Zeit oft von Aloysius sprechen gehört und auch später in seiner flandrischen Heimat, wenn auch aus der Ferne, manches über ihn, sein heroisches Leben und seinen frühen Tod erfahren? Ein solches ritratto, ein Gemälde des jungen, seliggesprochenen Aloysius von des reifen Meisters Hand sollte über einem Seiten-, später vielleicht – nach der sicherlich in naher Zukunft erfolgenden Heiligsprechung – über dem Hauptaltare eines Aloysio-Santuario in Castiglione delle Stiviere seinen gebührenden Platz finden und die gläubigen Verehrer in ihrer Andacht seelisch erbauen und zu ihm aufblicken lassen. Ein solches Bildnis, das die seelenvollen Gesichtszüge ihres Sohnes Aloysius wiedergebe, wäre ihrem Verständnisse nach in seiner geistlichen Bedeutung durchaus der Kostbarkeit und dem Werte der Reliquien ihres Sohnes, um die sich so viele Kirchen im Abendlande neuerdings bemühen, an die Seite zu stellen, gleichzusetzen, wenn nicht sogar höher zu achten. Über dem Altare, in dessen Schrein das der Kirche seines Heimatortes Castiglione vom Jesuitenorden in Aussicht gestellte und versprochene Haupt des Aloysius ruhen werde, abzüglich der unteren Kinnlade, welche nach Neapel gehen solle, möge schließlich sein Bildnis, gemalt von der begnadeten Hand des Meisters Peter Paul Rubens, prangen!
Donna Marta Tana schrieb, sie werde zu ihrer Bitte an den verehrten Meister dadurch incorraggiato, »ermutigt«, daß sie wisse, daß Messer Rubens gerade dem Orden der Compagnia di Gesù, der »Gesellschaft Jesu«, dem auch ihr geliebter Sohn als Novize angehört habe, durch unvergleichliche Werke in der Mantovaner Jesuitenkirche und in den beiden Antwerpener Kirchen der Gesellschaft Jesu, und vor allem aber in Rom, in der Hauptkirche der Jesuiten El Gesù selbst, so überzeugend gedient habe und immer noch diene. Neben dem spanischen Ordensgründer Ignatius von Loyola und dem mit gutem Rechte als »Völkerapostel« bezeichneten Indienmissionar Franciscus Xaverius, Societatis Jesu, den beiden überragenden Gründer- und Apostelgestalten, denen Rubens Altarblätter von in jeder Hinsicht unvergleichbarer Qualität gewidmet und geweiht habe, sei es sicher nicht vermessen, ihrem heiligmäßigen, seligen Sohne in Anerkennung seines heroischen christkatholischen Lebens eine ähnliche Huldigung durch Messer Rubens zu wünschen. Zwar sei ihr Sohn, verglichen mit dem Gründer des Ordens der Gesellschaft Jesu Ignatius von Loyola und dem Missionar Franciscus Xaverius, mit seinen nur 23 Lebensjahren, die er auf Erden bis zu seinem seligen Ende gelebt habe, ein Jüngling gewesen und geblieben, der sein Noviziat als Scholastiker in Rom nicht mit der Krönung durch die Priesterweihe abschließen habe können, aber sein kurzes Leben sei gleichwohl randvoll und erfüllt von religiösen Ruhmestaten der Askese und der Nächstenliebe gewesen, die einer Darstellung durch Europas bedeutendsten lebenden Kunstmaler wohl würdig seien. Schließlich habe sich Aloysius im Dienste an den Pestkranken bruciato, wie sie sich in ihrer Piemonteser Muttersprache ausdrückte, also »verzehrt« und sei in jungen Jahren ebenfalls an der schrecklichen Seuche verstorben.
Donna Marta Tana schrieb, sie nehme an und sei sicher, daß Messer Rubens auch durch seine Mantovaner Freunde, mit denen er sich auf einem sogenannten »Freundschaftsbilde« dargestellt habe, über den Lebensweg ihres geliebten Sohnes unterrichtet und in Kenntnis gesetzt sei, sie sei selbst aber jeder Zeit bereit und willens, zusätzlich genaueren Bescheid über die näheren Umstände seines Lebens und seines Todes zu geben und, wenn dies nötig sei, eine freilich beschwerliche Reise nach den Niederen Landen anzutreten. Sie sei indessen nur eine schwache Frau, von der wohl niemand einen Parforceritt von Castiglione nach Gent oder Antwerpen erwarten dürfe, ähnlich jenem, den Meister Rubens, zum Staunen ganz Europas, neulich in politischer Mission in 17 Tagen von Brüssel nach Madrid zurückgelegt habe, wie sie mit Bewunderung erfahren habe … Vielleicht sei es dann, wenn der Meister der Bitte nachkommen und ans Werk schreiten wolle, möglich, Papiere, Dokumente und Unterlagen, auch Bücher und Lebensbeschreibungen ihres geliebten Aluigi, sofern sie in Antwerpen oder Leuwen nicht schon vorhanden seien, per Extrapost dorthin expedieren zu lassen. Das gelte auch für Bilder und Stiche nach bereits von anderen Malern angefertigten Ölgemälden.
Donna Marta Tana wörtlich: »Als Ihr, Messer Rubens – der um acht Jahre Jüngere im Vergleiche mit meinem Erstgeborenen –, Hofmaler in Mantova wart, war er bereits verstorben. Doch haben Excellenz Rubens sicher im Castello di Mantova Spuren meines Sohnes, der dortselbst wie auch im toscanischen Florenz bei den Medicis, wie auch vor allem in Madrid bei König Philipp Page gewesen war, entdecken können?«
Es gebe ein Bild ihres Aloysius von seinem, Rubens’, Landsmann, Kollegen und Vorgänger im Amte des Mantovaner Hofmalers, dem Flamen Jan Pourbus, und es gebe natürlich das mit Recht sehr gerühmte Bildnis des auch von ihm, Rubens, so verehrten Paolo Cagliari aus dem benachbarten Verona, den sie darum gern »Veronese« nennen, dessentwegen wie auch Tizians wegen er, Rubens, wie man höre, ja seinerzeit nach Italien gereist und gezogen sei, um von den Werken jener Zelebritäten zu lernen. Von Veronese stamme das früheste Bild ihres Sohnes, das jener 1528 in Verona geborene und 1588 in Venedig verstorbene Meister im Jahre 1585 gemalt habe, als ihr Sohn 17 Jahre alt gewesen sei. Dieses ritratto sei natürlich besonders wertvoll, weil es nach der Natur aus intimer Personenkenntnis gemalt sei, weil Veronese, dem Hause Gonzaga in Mantua tief verbunden, mit dem Pagen Aloysius im Castello Frederico Gonzagas bekannt, ja trotz des Altersunterschiedes befreundet gewesen war. Das Bild zeuge auch von einer großen Empathie und Wertschätzung des alten Malers für den jungen Prinzen. Veroneses Bildnis sei aber nur ein kleines ovales medaillonartiges Brustbild und würde sich, auch wenn es zu erwerben wäre, nicht als Hochaltarbild für das Sanctuarium eignen. Es ist nach England gelangt und ist dort bei London in der Königlichen Sammlung in Windsor Castle ein viel bewunderter, unveräußerlicher Schatz. Es gebe aber von diesem Gemälde Kopien im Kupferdruckverfahren, von denen eine vielleicht auch Rubens bei seiner Arbeit, wenn er sich ihrer annehmen wollte, als Vorlage behilflich sein könnte?
Nun habe Rubens aber alle seine Vorbilder überlebt und weit überflügelt. Die alten Meister seien alle in die Ewigkeit hinübergegangen, Tiziano Vecellio übrigens im Jahre des Herrn 1576, gerade ein Jahr vor Meister Rubens’ Geburt, Aloysius sei damals gerade acht Jahre alt gewesen. Sie wolle sich niemals zur Kunstrichterin und Beurteilerin von Kunstwerken aufwerfen, es sei aber doch jedermann und auch Laien evidente, »einsichtig«, daß die großen Meister Italiens, Buonarotti, Santi, Paolo Cagliari, genannt »Veronese«, Jacopo Robusti, den sie »Tintoretto« nennen, Tiziano Vecellio und wie sie alle geheißen, keine gleichbedeutenden Nachfolger in der Toscana, in der Emilia Romagna, in Umbrien, in der Lombardia, in Ligurien oder in Venezien gefunden hätten. Diese müsse man nun in Deutschland, in Frankreich und in den Niederen Landen suchen. Er, Messer Rubens, aber sei der Meister aller Meister Europas. Sie bitte inständig, ihr dieses freimütige Wort nicht als Schmeichelei auszulegen, sondern als Ausdruck ehrlicher Bewunderung gelten zu lassen.
Donna Marta Tana schrieb, sie sei mit jenen Conterfeis, ritratti, die mittlerweile von ihrem Sohne angefertigt worden seien, den zahlreichen Bildern und Portraits, die italienische Maler guten Willens, aber minderer Begabung von ihrem Sohne hergestellt hätten, nicht zufrieden. Sie finde vor allem wenig Gefallen an jenen Bildern ihres Sohnes, die ihn zu süßlich und zu blaß und kränklich darstellten, obwohl er natürlich zeit seines kurzen Lebens ein Leidender und Schmerzensmann oder »Schmerzensjüngling« gewesen sei. Kaum eine der malattie infantili, »Kinderkrankheiten«, die er nicht gehabt hätte. Sie bitte auch ihn, Rubens, Aloysius als würdigen Kleriker im priesterlichen Gewande und Talare mit dem römischen Kollare wiederzugeben und nicht als stolzen spanischen Gentilhomme mit der hispanischen Halskrause, der Gollia, überhaupt nicht als Höfling und Pagen, sondern als Alumnen und Kandidaten, allenfalls als frommen Pagen der von ihm über alles verehrten Gottesmutter Maria! Neben den gutgemeinten Darstellungen ihres Sohnes, die ihn zu carino, »hübsch« erscheinen lassen, gebe es leider auch einige neuere Bilder, die in die Gegenrichtung übertreiben und ihn verhäßlichen und ihm eine übergroße Nase einzeichnen würden, und die überhaupt mehr den Eindruck erweckten, als möchten sie ihren Sohn weniger ehren als verspotten. Diese Neigung zur caricatura, »Entstellung«, entspreche wohl einem Zeitgeiste, jenem Zeitgeiste, den die Kunstsachverständigen als Manierismo, »Überschwang«, bezeichnen. Besonders die spanischen Maler wie auch der aus Kreta gebürtige Domenico Theotocopoulos, den sie El Greco nennen, neige zu dieser »Manier«, weshalb ja bekanntlich der mit seinem, bei El Greco in Auftrag gegebenem Bilde unzufriedene Kardinal von Sevilla, der Großinquisitor Nino de Guevara, zu seinem Portraitisten gesagt haben soll, ein altes Wahrwort zitierend: Alle Kreter lügen. Die Übertreibungskünstler sind Lügner!
Marta Tana di Santena schrieb an Rubens, sie sei Spanien durch Herkunft und Erziehung zwar tief verbunden, sie habe schließlich als Ehrendame und Favoritin der Königin am spanischen Hofe ihren Gatten Don Ferrante di Gonzaga kennengelernt, und sie denke mit der größten Bewunderung und mit mütterlichem Stolze an jene Ruhmesrede zurück, die ihr 16jähriger Sohn Aloysius am Hofe in Madrid als Page und Kamerad des Kronprinzen Diego an den ewig unbesiegten Philippus, den König beider Spanien, am 29. März 1583 gerichtet, und wie er dort in verblüffender Eloquenz und Wohlredenheit die gesamte gebildete Welt in Erstaunen versetzt habe, sodaß einer der anwesenden Professoren der Universität Salamanca, ein Philologe, gesagt habe, Aloysius di Gonzaga komme nicht von ungefähr aus Mantua und damit aus jener Gegend, aus der der größte aller Dichter des Altertums, der Vater des Abendlandes, nämlich Publius Vergilius Maro, stamme …
Sie, Marta Tana, wünschte sich sehr, daß vielleicht einer der großen Maler Spaniens, vielleicht Alonso Sanchez Coello, wenn er noch am Leben sei, ihretwegen auch El Greco, jene Szene, die Rede des Aloysius vor dem Corte de Espagna, darstellen würde, wobei sich die Art des Manierismo dafür vielleicht sogar sehr eignen möchte, für das Altarbild der im Entstehen begriffenen Castiglioner Aloysius-Kathedrale aber, um das es sich jetzt handle, sei jenes mondäne und säkulare, letztlich martialische Sujet nicht geeignet. Aloysius habe ja erst nach seinen Jahren als Page beim Großherzog der Toscana in Florenz, beim Herzog in Mantua und schließlich bei König Philipp in Valladolid und Madrid und nachdem er seinen Vater, ihren Gatten Ferrante di Gonzaga selig, von seiner geistlichen Berufung überzeugt und ihr Gatte unter Schmerzen und Enttäuschungen akzeptiert hatte, daß Aloysius, sein Erstgeborener, kein Soldat und Kriegsmann und sein Nachfolger in der Markgrafschaft werden würde, also erst dann das geistliche Kleid angezogen, in dem sie ihn dargestellt zu sehen wünschte.
Natürlich würde es sie wie gesagt auch herzlich erfreuen, wenn Rubens oder eben einer der bedeutenden spanischen Maler jene erwähnte Szene am Madrilener Hofe verewigen würde, wie ihr Aluigi vor dem Könige und seinen waffenstarrenden, siegreich aus dem Kriege um Portugal zurückgekehrten Kriegern und Veteranen und der gesamten hocharistokratischen Entourage, auch den Hofgelehrten, Astrologen und Professoren der Universitäten, als bartloser 16jähriger sein panegyrisches Meisterstück in Gestalt einer geschliffenen Laudatio und Ruhmrede auf den unbesiegten König in perfektestem klassischen Latein ausgebracht habe! Und obwohl man dabei nicht ohne Berechtigung an jene biblische Stelle denken könne, wo vom Evangelisten Lukas, Kapitel 2, Vers 47 folgende, das Auftreten des göttlichen Kindes bei den alten Schriftgelehrten im Tempel geschildert wird, wo die alten Weisen über die Rede des Jungen nicht genug staunen können, sodaß vielleicht ein typologisches Verständnis jener eindrucksvollen Szene am Madrilener Hofe kein sacrilegio wäre, Aloysius außerdem ganz beseelt vom christlichen Glauben und in heiligem Feuereifer geredet habe, sodaß alle Zuhörenden auch an das pfingstliche Sprachwunder erinnert wurden – unbeschadet all dessen gehe es jetzt bei ihrer Bitte an den verehrten Meister Rubens um etwas anderes, um ein ritratto oder Portrait, wie die Franzosen sagen, ihres Sohnes für den kirchlichen Gebrauch und um ein Altar- und Andachtsbild.
Marta Tana wörtlich: »Es bleibt ganz Euch, hochverehrter Messer Rubens, überlassen, ob Ihr den Seligen oder präsumptiven Heiligen mit jenen Attributen darstellt, die sich bei den vielen neueren Abbildungen und schon vor Paolo Cagliari, dem ›Veronese‹, eingeführt haben, mit dem Totenkopfe nämlich auf dem Tische vor ihm oder mit der Lilie in seinen Händen als Symbol der Reinheit oder dem Krucifix auf dem Tische oder der auf dem Tische liegenden Geißel, mit welcher er sich seiner nicht vorhandenen Sünden wegen so oft Schmerzen zugefügt hat.«
Sie mache darüber, wie auch über die Frage, ob Rubens vielleicht das Haupt ihres seligen Sohnes im Vorgriff auf die zukünftige Kanonisierung durch den Heiligen Vater mit dem Nimbus oder der Gloriole umgebe, keine Vorschriften. Ein Heiligenschein sei freilich für den Seligen noch eine Vorwegnahme und man müßte sich über diesen Punkt vielleicht mit den Theologen, den Kardinälen der »Congregation der heiligen Gebräuche« und der »Heiligen Inquisition« ins Einvernehmen setzen, um nicht fehlzugehen und einen passo falso, einen »Fehltritt«, zu tun.
Einen solchen Fehltritt hatte bekanntlich Paolo Cagliari, der »Veronese«, getan und war deswegen vor das Tribunal der Heiligen Inquisition in Venedig zitiert worden. Dabei sei es aber nicht um das Bildnis des Prinzen Luigi di Gonzaga, Marta Tanas Sohn, gegangen, das Paolo Veronese 1581 gemalt hatte, sondern um jenes »Abendmahl«, das er für die Galerie der Akademie der Schönen Künste in Venedig geschaffen hatte und das von der rigorosen Obrigkeit als unbiblisch und heterodox eingestuft und beanstandet wurde, weil es viel merkwürdiges Personal im Umkreise Christi und seiner Apostel im Abendmahlsaale aufweise, seltsame Gestalten, betrunkene Zecher und streitendes und gestikulierendes Volk. Paolo Cagliari habe sich, wie Marta Tana an Peter Paul Rubens schrieb und wie er wohl auch selbst erfahren habe, dadurch aus der prekären Lage befreien und salvieren können, daß er seinem großen Leinwandgemälde den Titel »Gastmahl im Hause Levis« gegeben hat. Großzügige Nachsicht und Humor seien sicher nicht Eigenschaften der Heiligen Inquisition, eher Austerität und Seriosität, man habe aber Paolos Entschuldigung doch angenommen oder hingenommen, als er erklärte, da sei eben auf der Riesenleinwand noch so viel Spatium und Freiraum gewesen, daß er diesen mit zusätzlichen Figuren auch aus Sparsamkeitsgründen auszufüllen bestrebt gewesen sei. Paolo Veronese habe damals in Ercole di Gonzaga, dem Leiter des Konzils von Trento und einflußreichen Kardinal, einen großen Mäzen und Bewunderer gehabt, der ihm auch in dieser Causa mit dem Tribunale der Inquisition behilflich gewesen sei, wie Marta Tana wohl ein wenig mit Familienstolze anmerkte. Einen Heiligenschein gebe es ja auf dem ersten und Urbild ihres Sohnes von Veronese nicht, diese Frage stelle sich aber nun nach der Seligsprechung und erst recht nach der Heiligsprechung, die sie fest und zuversichtlich erwarte.
Sie könne sich auch vorstellen, daß man die Nimbusfrage nicht gleich beantworten und man es einer zukünftigen Generation und einem ihrer Maler überlassen könnte, den Heiligenschein nachzutragen und hineinzumalen in die Aura des Kopfes. Vorausgesetzt, schrieb Donna Marta Tana, daß Messer Rubens einen solchen Zusatz und nachträglichen Eingriff in sein Kunstwerk testamentarisch gestatte. Es habe in diesem wie in allen anderen Punkten allein der Gestaltungswille des Meisters zu gelten. Rubens habe natürlich freie Hand und brauche sich auch nicht von den über dreihundert Votivtafeln und Ex-Voto-Bildern in der Kirche des Collegs der Jesuiten in Rom, die sich in den wenigen Jahren seit dem Tode ihres geliebten Sohnes angesammelt hätten, bestimmen und beeindrucken lassen, sofern er diese überhaupt kenne. Viele dieser Bilder seien arte povere, »Volkskunst« und »Armenkunst«, wie es Giorgio Vasari wohl bezeichnet habe. Sie seien ohne allen Zweifel unendlich gut gemeint, aber an ästhetischen Maßstäben nicht zu messen und nicht gut im Sinne anspruchsvoller zeitgemäßer Kunstübung … Und sie seien vor allem fast alle unähnlich. Es habe jeder dieser Maler ein Gemälde eines anderen, seines Vorgängers, als Vorlage benützt. Auf diese Weise seien die ritratti – das Gemälde des Paolo Veronese natürlich ausgenommen – allmählich weit von der Wirklichkeit und von jenem Bilde ihres Aluigi, wie sie es in ihrem mütterlichen Herzen trage, abgewichen.
Rubens aber werde sich sicher aus seiner Zeit als Hofmaler an Erzählungen und Mitteilungen über ihren Sohn als Pagen am Mantovaner Hof erinnern und ihn physiognomisch zu treffen wissen. Er, Rubens, sei ja gerade für die Kinderbildnisse der Söhne und Töchter hervorragender Familien hochberühmt. Er gleiche hierin auch dem »Veronese«, der ebenfalls viel und gern Kinder gemalt habe. Das Bildnis ihres seligen Sohnes, um das sie für das Heiligtum in Castiglione bitte, solle ihn freilich nicht infantiliter, als Kleinkind, sondern vielmehr als Zwanzigjährigen und das heiße auch in Todesnähe wiedergeben und darstellen. Es sei ihr auch bewußt, daß ihr Sohn Aluigi vom Erscheinungsbilde her nicht so carino oder bellissimo, wie sie sich in ihrer piemontesischen Muttersprache ausdrückte, also ähnlich hübsch und bildschön gewesen sei wie die reizenden Söhne des Meisters Rubens. Sie bitte geradezu, bei der Wahrheit zu bleiben und nicht zu verhübschen oder zu beschönigen. Es handle sich nicht um Schonung.
Was nun die »freie Hand« beträfe, von der sie gesprochen habe, so bitte sie freilich einschränkend wirklich um ein Bild ihres Sohnes von des Meisters eigener Hand, »delinata manu propria«, wie Donna Marta Tana hier in lateinischer Sprache formulierte. Das Kunstwerk solle seine Handschrift tragen, das heißt, auch signato, also durch seine Unterschrift als authentisch autorisato, »beglaubigt«, sein.
Marta Tana wußte wohl, daß Rubens eine große Schar von Mal-Eleven und Diszipeln unterrichtete und beschäftigte, und daß es von vielen Bildern des Meisters in letzter Zeit hieß, sie seien aus seiner Werkstatt und genaugenommen nicht vom Meister selbst, oder nur von ihm überarbeitet. Und sie seien aus diesem Grunde auch unsigniert …
Sie vermied es freilich, dieses ihr Wissen um diesen Sachverhalt klar und deutlich anzusprechen oder gar als Vorwurf auszusprechen. Sie fügte aber immerhin hinzu, daß es in Mantua und wohl überhaupt in der ganzen Lombardie trotz der nun ja der Vergangenheit angehörenden Anstellung des Meisters bei Vetter Vincenzo Gonzaga als Hofmaler eigentlich kein großes Hauptwerk des Meisters gebe, wenn man von den Altarblättern für die Jesuitenkirche und der »Anbetung der Dreifaltigkeit durch die Familie Gonzaga« im Palazzo Ducale absehe, und daß in Mantua immer nur oder vor allem von Andrea Mantegna, von Giulio Pippi, »Romano« genannt, und von Rubens’ Landsmann Frans Pourbus, dem Jüngeren, mit seiner »Galerie der schönen Frauen« gesprochen werde, vor allem von der »Camera degli Sposi« im Palazzo Ducale sowie im Palazzo del Te von der »Sala dei Cavalli«, den Fresken in der »Camera di Amore e Psiche« und der »Camera dei Giganti« des Raffael-Schülers und vorerwähnten Giulio Pippi »Romano«, des »Römers«.
Und wenn in Mantua die Stadt Antwerpen genannt werde, denken die Mantovaner wie selbstverständlich, daß es sich dabei um die Geburtsstadt des Frans Pourbus handle, erst in zweiter Linie um die Heimatstadt oder Wahlheimat des im westfälischen Siegen geborenen Peter Paul Rubens. Von den Schätzen und unikaten und originalen Rubensbildern aber, die sich im privaten Besitze des Rubensfreundes und Sekretärs des Herzogs Annibale Chieppo befinden, habe die breite Öffentlichkeit, wie Marta Tana wußte, keine Kenntnis. Ein solches Hauptwerk von des Meisters Rubens eigener Hand aber, ihren Sohn Aloysius von Gonzaga darstellend, wünsche sie sich nun nach der Seligsprechung, ein »Rittrato di S. Luigi commissionato dalla madre in occasione della Beatificatione«, wie sich die Mutter in ihrer Piemonteser Muttersprache ausdrückte … Dann werde jede der vielen Wallfahrten zur Basilica des Aloysius von Gonzaga nach Castiglione delle Stiviere, die es geben werde, auch eine solche zum Malerfürsten »Pietro Paolo van Rubens« sein …
Donna Marta Tana abschließend wörtlich: »Geben Sie, hochverehrter Messer Rubens, Ihrem Herzen einen Stoß! Sie erfüllen mit dem Bilde einer Witwe und leidgeprüften Mutter dreier verstorbener Söhne, Aloysius, Ridolfo und Diego, einen Herzenswunsch und dem Hause Gonzaga und der Kirche Gottes einen großen Dienst. In der Zuversicht, keine Fehlbitte getan zu haben, bin ich mit dem Ausdrucke der größten Hochachtung Donna Marta Tana di Santena in Castiglione delle Stiviere«.
Dies war im wesentlichen jener erste Brief, den Donna Marta Tana, die Mutter des Aloysius von Gonzaga, an den flämischen Maler Peter Paul Rubens nach Antwerpen schrieb und einem der Kardinalstaatssekretäre aus dem Geschlechte der Gonzagas auf eine Reise in die religiös unruhigen Niederlande mit auf den Weg gab. Er blieb vorerst ohne Antwort. Der Überbringer des Briefes, jener Kurienkardinal und Verwandte der Gonzagas in Castiglione und mithin auch jener in Mantua, hatte auf der Rückreise nach Rom Donna Marta Tana seine Aufwartung gemacht und einen kurzen Besuch abgestattet und ihr bei dieser Gelegenheit mitgeteilt, daß er den Brief der Aloysius-Mutter vereinbarungs- und pflichtgemäß in die Sommerresidenz des Malerfürsten Rubens expediert habe. Es sei zwar leider zu keiner Begegnung mit Rubens selbst gekommen, weil dieser auf diplomatischer Mission im Limburgischen unterwegs und abwesend war, es sei ihm aber von kompetenter Seite versichert und zugesagt worden, daß das Schreiben des Herrn Kardinals beziehungsweise seiner Base Donna Marta Tana di Santena so bald als möglich dem Meister zugestellt und übergeben werde.
MARTA TANA UND IHRE VERTRAUTE CAMILLA
ALIPRANDI RÄTSELN ÜBER DAS LANGE AUSBLEIBEN
EINES ANTWORTBRIEFES VON PETER PAUL RUBENS
Das lange Ausbleiben einer Antwort aus Antwerpen bereitete der Bittstellerin Donna Marta Tana viel Kopfzerbrechen und sie suchte Gründe dafür. Sie suchte die Gründe selbstquälerisch zuvörderst bei sich selbst. Ob sie etwa nicht höflich und freundlich genug gebeten habe. Sie zeigte darum ihr Schreiben, das in Abschrift in der markgräflichen Kanzlei vorhanden war, der vertrautesten unter ihren Hofdamen, der Mutter ihrer Schwiegertochter Elena und Schwiegermutter ihres, ein Jahr nach Aloysii Tod ermordeten Sohnes Ridolfo, den aufgebrachte Vasallen aus Rache auf dem Platze vor der Kirche in Castel Goffredo erschossen haben, Camilla Aliprandi, Witwe nach dem ehemaligen Münzmeister der Markgrafschaft Castiglione, mit der Bitte um ihr Urteil.
Camilla Aliprandi, die in Molinello, auf dem Gute ihres verstorbenen Mannes bei ihrer Tochter Elena lebte, aber oft ins nahegelegene Solferino, den Hauptsitz Marta Tanas, aber auch ins Schloß in Castiglione herüberkam, wo der verwitweten Altgräfin bis an ihr Lebensende zwei Gemächer reserviert blieben, Camilla Aliprandi, eine weltkluge Frau und Beraterin, ja, eine zur Freundin der alten Markgräfin Marta Tana gewordene Matrone, kam nun zu dem Ergebnis, dem Briefe ihrer Herrin fehle es an nichts, sicher nicht an Devotion und Courtoisie, was ihm aber abgehe, sei ihrer nüchternen Einschätzung nach ein Hinweis auf die Entlohnung und das Honorarische. Peter Paul Rubens sei der zweifellos größte Maler des Säculums, aber er sei, da er darum wisse, auch der teuerste und reichste. Unter 600 Gulden lasse er nicht mit sich reden, da rühre er keinen Pinsel, wie sich Camilla Aliprandi ein wenig übermütig und spöttisch ausdrückte … Und Donna Marta Tana werde wissen, wie viel Florentiner oder Mantovaner Lombarden 600 flämischen Gulden entsprächen …
Vielleicht sei es darum angebracht, an den Meister ein weiteres Schreiben zu richten und das Versäumnis des ersten Briefes der Donna Marta Tana nachzutragen und nachzuholen und von der Finanzierung zu sprechen, dem »nervus rerum«, wie sie pointierte. Dieses betreffend, sei es vermutlich günstiger, auf den Orden der Jesuiten hinzuweisen, dem Aloysius angehört habe, wie es ganz allgemein im ersten Briefe in Erwähnung auch des Ignatius von Loyola und des Völkerapostels Franz Xaver wohl geschehen sei. Ein vermögender reicher Orden, kein Bettelorden, aber auch kein verarmter Graf stünde hinter dem Auftrage! Die Vertraute der alten Markgräfin erinnerte diese daran, daß Rubens in seiner Mantovaner Zeit nur sehr selten, sie erinnere sich eigentlich nur an zwei Male, von Mantua nach Castiglione herausgekommen sei und daß er eigentlich, was jetzt vielleicht schwerer wog, an den liturgischen Veranstaltungen zu Ehren des Seligen Aloysius in Castiglione wie auch in Brescia, wo sich der Dominikanerpater Sylvester Ugolotti, der Aloysius persönlich gut gekannt hatte, durch eine große Gedächtnisfeier noch vor der eigentlichen Seligsprechung durch den Heiligen Vater, Papst Paul V., seligen Angedenkens, ausgezeichnet habe, nicht teilgenommen, daß also Rubens diese Termine nicht wahrgenommen habe. Er wurde, wie man hörte, bei keiner jener großen Festveranstaltungen unter den Gläubigen gesichtet. Ja, sogar auf ein persönliches Einladungsschreiben soll er nicht respondiert haben. Gab es etwa einen geistigen Vorbehalt für diese »reservatio mentalis«?
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