Die Re-education der Deutschen und ihre bleibenden Auswirkungen
4. Auflage
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Die Szene, die sich Mitte der 60er Jahre in einer norddeutschen Buchhandlung abspielte, war bezeichnend. Eine ältere Dame kommt herein, verlangt hinter vorgehaltener Hand flüsternd „das verbotene Buch“, die ratlose Verkäuferin ruft den Buchhändler, und nach einigem Hin und Her verläßt die Kundin wieder den Laden, in der Einkaufstasche das gewünschte Buch mit dem Titel „Charakterwäsche“. Mitte der 60er Jahre waren die alles zudeckenden Werbekampagnen der Großverlage, die Verwertungsketten global operierender Medienkonzerne und der ganze Bestsellerrummel erst im Kommen. In Windeseile hatte sich herumgesprochen, daß erstmals ein Buch über die amerikanische Besatzung in Deutschland und ihre Folgen zu haben sei, einem Thema, von dem relativ viele Leser, wie konnte es auch anders sein, sich existentiell betroffen fühlten. Die „Charakterwäsche“ hatte schon ihren Leserkreis, als nach einem Vierteljahr die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ mit einer umfangreichen Rezension (in der Silvesternummer 1965) Aufsehen erregte. Die angesehene Journalistin Margret Boveri verriet, ihr sei dringend geraten worden, „die ‚Charakterwäsche‘ dürfe nicht einmal verrissen, sie müsse totgeschwiegen werden.“ Dieser Rat empörte Margret Boveri so sehr, daß sie schrieb: „Das wäre dieselbe totalitäre Methode, mit der im Dritten Reich eine Figur wie Thomas Mann aus dem Bewußtsein der Deutschen gelöscht werden sollte. Solche Methoden rächen sich früher oder später an denen, die sie anwandten.“
Margret Boveris Rezension ließ in drei Sätzen ebenso viele Katzen aus dem Sack, die am schönen Bild der nach dem Ende der „restaurativen“ Ära Adenauer sich rasch liberalisierenden Bundesrepublik ungebührlich kratzten. Ad 1: Das Totschweigen, amerikanisch „silent treatment“ genannt, war eines unter mehreren Mitteln einer „neuen Zensur“ (J. F. Revel), die sich dem „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (J. Habermas) angepaßt hatte. Das Grundgesetz (Art. 5: „Eine Zensur findet nicht statt“) ahnte noch nichts von der „neuen Zensur“ und ihren technischen und politischen Voraussetzungen, tagte doch der Parlamentarische Rat in der schrecklichen, der fernsehlosen Zeit. Inzwischen haben immer neue Technologien nicht nur die Kommunikationsformen umgewälzt, sondern auch die Politik in ein neues medienbestimmtes Koordinatensystem gestellt. Gleichzeitig breitete sich die „neue Zensur“ fast unbemerkt aus: „Wenn man sich unter Zensur nicht einen fleißigen Beamten vorstellt, der mit dem Rotstift dicke Bände durchgeht, sondern die Technik, mit der eine Seite verhindert, daß die andere zu Wort kommt, dann kann nur unterstrichen werden, daß in der modernen Demokratie die Zensur ihren Höhepunkt erreicht hat. Der größte Erfolg der ‚neuen Zensur‘ ist jedoch, das Publikum überzeugt zu haben, daß es keine Zensur mehr gibt“ (Thomas Molnar).
Ein weiteres Zensurmittel machten die „neuen Zensoren“ in der Zeitschrift „Neue politische Literatur“ publik. Sie fragten sich, ob es dem Verfasser der „Charakterwäsche“ gelungen sei, sich einen Namen zu machen, und befanden, er habe sich eine „kleine Nische in der politischen Publizistik ziseliert“. Dort solle man ihn stehen lassen: „ganz allein und für Vorübergehende deutlich erkennbar.“ Die Nische sei mit abschreckenden Hinweisen auf den schlechten Umgang des Angeprangerten auszuschmücken. Das Zensurmittel der Isolation gegen Gruppen, Parteien und Einzelne, die aus dem „herrschaftsfreien Diskurs“ ausgeschlossen werden sollen, erfreut sich noch heute regen Zuspruchs. Ad 2: Margret Boveri ordnete den Totalitarismus-Begriff nicht mehr ausschließlich dem Kommunismus und dem Faschismus bzw. Nationalsozialismus zu, sondern beging den Tabubruch, totalitäre Tendenzen auch bei liberal-demokratischen Institutionen für möglich zu halten. Ad 3: Margret Boveri warnte, daß ein rücksichtsloser Umgang mit vermeintlich Andersdenkenden auf denjenigen zurückschlägt, der seine Machtstellung mißbraucht. Sie warnte zu einem Zeitpunkt, als die Machtausübung von den Handelnden auf die Meinenden überging und Moralisten das Wort führten. Für diese bestand die Lösung aller Fragen darin, die Mitbürger in Gute und Böse zu unterteilen. Denn ist nicht, wo das Böse unterwegs ist, dem Guten alles erlaubt?
Die Besatzungszeit und ihre Folgen waren für die damaligen Zeitgeschichtler eine terra incognita. Zehn Jahre nach dem formalen Ende der Besatzung wirkte wohl noch nach, daß jede Kritik der Alliierten unter Strafe gestellt worden war. Man hoffte, daß Sachkenntnis eines nicht allzu fernen Tages nachgeliefert werden würde, und behalf sich mit ebenso naheliegenden wie weit hergeholten Argumenten. Die „Frankfurter Rundschau“, die als einzige Lizenzzeitung sich nicht in Schweigen hüllte, nannte den Verfasser eine „zurückgestoßene Kokotte“, eine „gedemütigte, abgewiesene Konkubine“, die einer psychoanalytischen Behandlung bedürfe, denn der Psychoanalytiker würde mehr aus ihm herauskriegen als ihm lieb wäre. Statt des eigentlich zuständigen „Instituts für Zeitgeschichte“, das abgewinkt hatte, da eine Überprüfung des Buches umfangreiche Forschungsarbeiten voraussetze, zu denen es nicht in der Lage sei, saß die „Gesellschaft für Vorurteilsforschung“ in einer Tagung über den Verfasser zu Gericht.
Die „politisch Korrekten“ hatten Mitte der 60er Jahre erst mit dem „langen Marsch“ durch die Institutionen begonnen. So sollte das Presseecho des in der relevanten Öffentlichkeit boykottierten Buches nicht verwundern (100 positive, 13 neutrale, 15 negative Besprechungen). Manche Mitglieder der Kriegsgeneration, die ein neues berufliches Unterkommen gesucht hatten, waren in Fach-, Verbands- und Kulturzeitschriften oder den Lokalzeitungen untergekommen, um so den Gesinnungs-TÜV der Lizenzpresse zu vermeiden. So kam es zu zwei publizistischen Ligen, der ersten der meinungsbildenden Presse, die sich als Sprachrohr der gesamten Öffentlichkeit gerierte, und der zweiten, die zahlenmäßig gar nicht so klein war, aber zunehmend zur „schweigenden Mehrheit“ gerechnet wurde. Diese zweite publizistische Liga ist mittlerweile fast vollständig wegkommerzialisiert worden.
Mitte der 60er Jahre griffen vor allem Angehörige der Kriegsgeneration zur „Charakterwäsche“. Ihnen war es darum zu tun, die eigenen Erlebnisse in einen größeren historischen Zusammenhang einordnen zu können. Es ging ihnen weniger darum, daß die Siegermächte im Lande das Sagen hatten. Denn die Ereignisse hatten sie zu Realisten gemacht. Womit sie nicht fertig wurden, war das Gefühl, daß sie selbst mit ihren Erinnerungen und Erfahrungen im Interpretationsrahmen der fremden Besatzer und der einheimischen „Mit- und Spätsieger“ (Roman Schnur) ungefragt zu beliebig manipulierbaren Objekten sozialwissenschaftlicher, vor allem sozialpsychologischer, Experimente wurden, zu Meerschweinchen im Dienst der Züchtung „demokratischer Charaktere“. Dabei klaffte ein schwer verständlicher Widerspruch zwischen der auf Menschenrechten gegründeten individualistischen Anthropologie des amerikanischen Liberalismus und kollektiven, dem Einzelnen entzogenen Zuordnungen, die später in der Zugehörigkeit zum „Tätervolk“ gipfelten. Die Briefmarke der Bundespost zu Ehren der „großen Rede“ des Bundespräsidenten von Weizsäcker zum 40. Jahrestag der Kapitulation der deutschen Streitkräfte am 7./9. Mai 1945 hob sein Wort „Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung“ hervor. Doch das Menschenrecht auf die eigene Erinnerung des Einzelnen war in den Menschenrechtskatalogen anscheinend vergessen worden. Wie persönlich das re-education-Thema genommen wurde, zeigte sich etwa, wenn sich Vater und Sohn die „Charakterwäsche“ signieren ließen, da die gemeinsame Lektüre den auch in ihre engere Familie durch Vergangenheitsbewältigung hineingetragenen Generationenkonflikt beendet hatte.
Zur Wirkungsgeschichte der „Charakterwäsche“ zählt, daß der Verfasser einer anderen Generation angehörte als seine ersten Leser. Die sog. Flakhelfergeneration, wenige Jahrgänge der zwischen 1926 und 1929 Geborenen, war die eigentliche „skeptische Generation“ (Helmut Schelsky). Sie hatte persönlich den Niedergang und den Zusammenbruch des Dritten Reiches in dem ihr zugänglichen kleinen Ausschnitt erlebt, ohne an den kollektiven Hoffnungen und Erwartungen der Zeit vor Stalingrad teilgenommen zu haben, falls sie nicht gerade in einem nationalsozialistischen Elternhaus aufgewachsen waren. Wenn der Leser aus der Kriegsgeneration in der Besatzungszeit eine Kriegsfolge sah, so sah der Verf. in ihr den Vorboten eines Kulturwandels, dessen einschneidende Auswirkungen sich erst mit dem Fernerrücken des Krieges zeigen würden. Der Zufall wollte, daß der Verfasser den Paradigmenwechsel der Jahre von 1958 bis zum Bau der Berliner Mauer, als dieser Kulturwandel sozialverbindlich zu werden begann, intensiv erleben konnte. Zwischen 1957 und 1961 hatte er drei Winter in Indien zugebracht. Im Sommer hatte ihn das Schreiben eines Buches über die neuere indische Geschichte seit der Gründung des indischen Nationalkongresses beschäftigt. In deutsche Zeitungen hatte er kaum geblickt. Als er nach Erscheinen des Indien-Buches 1962 den Duisburger Historikertag besuchte, bemerkte er völlig überrascht, daß an die Stelle der Bonner Bundesrepublik, die er 1957 verlassen hatte, eine – nicht im Detail, aber in der Tendenz – neue Republik, die Frankfurter (aber auch Hamburger) Meinungs- und Medienrepublik, getreten war. Die Einzelheiten können in dem von Clemens Albrecht u. a. herausgegebenen Sammelband „Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule“ nachgelesen werden.
Der Paradigmenwechsel des Jahres 1960 griff als fortschreitender Wertewandel um sich. In den verschiedensten Lebensbereichen setzte sich die Auffassung fest, daß „nicht Konflikt und Wandel, sondern Stabilität und Ordnung der pathologische Sonderfall des sozialen Lebens“ (Helmut Schelsky) sei. Einsprüche wurden auf einen latenten deutschen Kulturpessimismus zurückgeführt, der einem angelsächsischen Optimismus gegenüberzustellen und „als politische Gefahr“ (Fritz Stern) auszubuhen sei. Paradigmawechsel und Wertewandel kamen unvorhergesehen und überraschend. Sie hatten jedoch ihre Vorgeschichte, zu der die amerikanische Besatzung zählt. Daß just dieser Zeitabschnitt (1945–1955) aus der Betrachtung ausgespart werden sollte, war merkwürdig und weckte die Neugier.
In der Mitte der 60er Jahre wurden Bücher noch von Verlegern herausgebracht, nicht von Wirtschaftsbetrieben, deren Manager sich von denen anderer Branchen kaum unterscheiden. Ein Buch war noch das Resultat der Zusammenarbeit von Autor und Verleger. Die „Charakterwäsche“ schlug den Weg ein, den Heinrich Seewald, der Verleger des Seewald Verlages, vorgezeichnet hatte. Von seinem Wohnhaus an der Stuttgarter Weinsteige aus (er verlegte auch Weinbücher) lancierte Seewald Jahr für Jahr aktuelle Bücher, die auf das politische Bonn zugeschnitten waren. Seine Kontakte führten in diese Zielgruppe, seiner persönlichen Einstellung nach war er ein Konservativer. So mischte sich in den 60er Jahren in die aktuelle Publizistik des offiziellen Bonn eine konservative Unterströmung, die sich gerne eines besonderen Buchtyps an der Grenze von Sachbuch und Streitschrift bediente, während die Ende des Jahrzehnts auftauchenden wissenschaftlichen Grundschriften der gleichen Richtung – von Gehlen, Schelsky, Schoeck, Tenbruck etwa – in wissenschaftlichen Verlagen erschienen. Von deren Lektüre dispensierten sich allerdings die Politiker. Der Wirbel, den das Erscheinen der „Charakterwäsche“ hervorrief, kam daher, daß gefürchtet wurde, das Buch käme in die falschen Hände, nämlich die der Ins statt der Outs.
Die aktuellen Schriften des Seewald Verlages gehörten in Bonn zur politischen Saison. Die „Charakterwäsche“ hingegen entwickelte ihr Eigenleben. Auflage folgte auf Auflage. Als Seewalds Verlag endete, legte die Münchner Verlagsgruppe Langen Müller auf Initiative des Verlegers Herbert Fleißner das Buch unverändert wieder auf. Nur der Untertitel „Die amerikanische Besatzung in Deutschland und ihre Folgen“ mußte weichen, denn die Besatzung hatte auch Folgen, an die der Verfasser nicht gedacht hatte, wie eine großzügige Sammelbestellung des Verbandes der Mütter unehelicher Besatzungskinder belegte. Eine nur durch ein Essay „Wiedersehen mit der Umerziehung“ erweiterte Taschenbuchausgabe des Berliner Ullstein Verlages lief 2002 aus. Der Stocker Verlag in Graz legt nun den unveränderten Text vor. Mit gutem Grund, denn das Buch ist neben dem Eingehen auf die Besatzungszeit, die in den letzten Jahrzehnten umfangreich erforscht wurde, vor allem ein Zeitdokument der 60er Jahre. Der damals entstehende Widerstand gegen die Weichenstellungen dieses zunehmend errötenden Jahrzehnts sind heute jener weiße Fleck auf der Landkarte der deutschen Zeitgeschichte, der bei Erscheinen der „Charakterwäsche“ noch von der Besatzungszeit eingenommen wurde. Für die „neuen Kriege“ (Herfried Münkler) ist die Asymmetrie der Kriegsparteien charakteristisch. Nicht minder für die „neue Öffentlichkeit“, wenn die dominierende Richtung dafür sorgt, daß der Widerspruch nur als Zerrbild wahrgenommen werden kann.
In die Neuauflage wurden vier Kapitel zusätzlich aufgenommen. 1. „Die intellektuelle Luftbrücke New York – Berlin“. Die re-orientation (Umorientierung) war noch zu Zeiten des Generals Clay auf die die Kriegszieldebatte und Militärregierung dominierende re-education (Umerziehung) gefolgt und endete formal am 5. Mai 1955 mit dem Ende der Besatzung und dem deutschen Beitritt zur NATO. Für die re-orientation gab es ein literarisch hochwertiges Leitorgan, den „Monat“, der diesen Abschnitt geistig und nicht nur militärbürokratisch erschließt. Zudem bildet der „Kongreß für kulturelle Freiheit“ eine Frühstufe des amerikanischen Neokonservatismus, der während des Irakkrieges für viele Spekulationen sorgte. 2. „Die Vergangenheitsbewältigung“ ist eine dritte, den Deutschen überlassene Stufe nach der re-education, die allein in den Händen der Militärregierung lag, und der re-orientation, in der die Amerikaner unter der Hohen Kommission als „Berater und Helfer“ tätig wurden. Doch haben die neuen Kommunikationsmittel bewirkt, daß die bewältigende Öffentlichkeit potentiell weltweit ist. 3. „Der sog. Historikerstreit“ ist ein Beispiel für die Vergangenheitsbewältigung. 4. „Von der re-education zur politischen Kultur“ zeigt an einem weiteren Beispiel das Fortwirken der Umerziehung.
Der Irakkrieg wurde 2003 und 2004 von einer weltweiten Flut kontroverser Publizistik begleitet – in Büchern, Zeitungen, dem Internet. Fragen über Fragen wurden aufgeworfen. Doch lassen sich Antworten nicht aus dem tagespolitischen Ärmel schütteln. Historisches Wissen, historische Vergleiche sind notwendig. Welcher Vergleich liegt näher als der mit der amerikanischen Besatzung in Deutschland – völkerrechtlich, kriegsrechtlich, propagandistisch, ideologisch? In Deutschland wurde ein solcher Vergleich nirgendwo angestellt. Amerikanische Neokonservative setzten ihre Hoffnung auf die Umerziehung respektive Demokratisierung der Iraker, so wie sie in Grenada, Panama, Japan – und Deutschland bestens gelungen sei. Ist es nicht ein Beleg für eine gelungene Umerziehung, wenn ein naheliegender historischer Vergleich bei uns undenkbar geworden ist?
Von den „Männern, die für uns begannen“, ist mittlerweile genügend die Rede gewesen. Es mag eingeräumt werden, daß derlei Euphemismen bei Ordensverleihungen und Beisetzungsfeierlichkeiten einen willkommenen und dem Anlaß entsprechenden Beitrag zu liefern vermögen. Doch sollte darauf geachtet werden, daß Festesfreude und Abschiedsschmerz nicht das eindeutige Verhältnis von Ursache und Wirkung auf den Kopf stellen. Seitdem der psychoanalytische Jargon zu unserer Umgangssprache geworden ist, wird häufig von Tabus gesprochen. Das Zentraltabu des heutigen Deutschland in allen seinen Teilen ist das der besatzungsgeschichtlichen Ursprünge und Hintergründe unserer Gegenwart. Es zwingt uns, auf die – den Founding Fathers nachgebildeten – Väter der „jungen“ Demokratie zu blicken, ohne nach eventuellen Zeugungshelfern zu fragen.
Daß die Besatzungsgeschichte1 den weißen Fleck auf der Landkarte der deutschen Zeitgeschichte bildet, ist keinesfalls auf die Unzulänglichkeit der Quellen zurückzuführen. Mag das eine oder andere Schlüsseldokument, insbesondere aus dem Bereich der sowjetischen Besatzungspolitik, noch nicht zugänglich sein, so reicht das vorhandene Material doch für eine lebenslängliche Beschäftigung mit ihm vollständig aus. Die Akten der amerikanischen Militärregierung und die Akten der Civil Affairs Division des Department of War liegen im World War II Records Center in Alexandria (Va.), einem Vorort von Washington. Noch im Februar 1964 wurde dort dem Verfasser von den Archivaren versichert, daß sie bisher keinen Deutschen zu Gesicht bekommen hätten. Die bewiesene zeitgeschichtliche Abstinenz ist ein Akt der Vorsicht. Denn noch wird das Rezept gesucht, das die reibungslose Einordnung der Besatzungsgeschichte in das volkspädagogisch erwünschte Geschichtsbild ermöglichen soll. John Gimbel, der amerikanische Historiker der Besatzung in Marburg, schrieb im Mai 1965: „Wir wissen wohl, daß die Besatzung wichtig ist, aber mangels einer hinreichenden wissenschaftlichen Literatur über den Gegenstand wissen wir nicht genau, weshalb sie für das heutige Deutschland wichtig ist2.“
In unseren Breiten hat man es sich angewöhnt, umgekehrt zu prozedieren. Läge eine Sprachregelung zur Frage des „weshalb?“ vor, so könnten wir sicher sein, daß die „hinreichende wissenschaftliche Literatur“ innerhalb kürzester Frist entstehen würde.
Es ist nicht der Zufall, der die Schritte der deutschen Zeitgeschichtler an Washington vorüberlenkte. Es ist die Vorsicht. Diese ist geboten, da ein Mißverständnis den Lichtkegel der öffentlichen Aufmerksamkeit auf die historischen Studien lenkte. Das kam so: Bei der Jagd auf den Sündenbock in den ersten Nachkriegsjahren wäre es geradezu ein übermenschlicher Heroismus gewesen, hätte man darauf verzichtet, den Nationalsozialismus dem jeweiligen Hausfeind in die Schuhe zu schieben, um so durch kleine Retouchen alte Rechnungen zu begleichen. Da machten sich denn auch einige Geistesgeschichtler auf den Weg, um Historiker des 19. Jahrhunderts wie Treitschke, Sybel und Ranke posthum zu inkriminieren. Aus der privaten Fehde wurde ein öffentliches Glaubensbekenntnis. Man meint seither, daß die getätigte Politik irgendwie vom Geschichtsbild abhängen müsse, und zieht daraus den praktischen Schluß, daß es einen politischen Effekt habe, wenn man die Historiker einer Meinungskontrolle unterwirft3.
Historische Wertungen werden heute mit dem gleichen dogmatischen Eifer umfochten wie theologische Lehrsätze im 16. Jahrhundert. Es breitet sich behende eine Geschichtsinquisition aus, die bereits daran gegangen ist, historische Forschungen in die beiden Kategorien „volkspädagogisch willkommen“ und „volkspädagogisch unwillkommen“ (Golo Mann) einzuteilen. Glaubte man einst, daß das Geschick der Völker auf den Schlachtfeldern oder in den Parlamenten entschieden werde, so sieht man es heute durch die Portale der Volkshochschulen schreiten.
Als „volkspädagogisch willkommen“ gilt derzeit alles, was irgendwie (im negativen Sinne) mit dem „Dritten Reich“ in Verbindung gebracht und somit der „Bewältigung der Vergangenheit“ dienstbar gemacht werden kann. Die Wurzeln der Besatzungsgeschichte liegen jedoch in der amerikanischen Innen- und Außenpolitik, nicht aber in der Geschichte jener Gebiete, die unter dem (derzeit geographischen) Namen Deutschland geführt werden. Daß die Besatzungsgeschichte kaum wesentlich anders verlaufen wäre, wenn es in Deutschland nie eine NSDAP gegeben hätte, ergibt sich schon aus einem Vergleich der amerikanischen Besatzung in Deutschland und Japan4. Man tat gut daran, vor Studien zu warnen, durch die man Gefahr lief, die zeitgeschichtliche Erbauungsstunde unversehens in ein Pfeifkonzert zu verwandeln.
Der entschiedene Widerstand gegen die Erforschung der Besatzungsgeschichte bedient sich gerne des besatzungsapologetischen Arguments, daß Theorie und Praxis der Besatzung „nur“ eine Reaktion auf Theorie und Praxis des „Dritten Reichs“ gewesen sei5. Doch ist, wie so oft in der Weltgeschichte, die „Reaktion“ ungleich wichtiger geworden als das, worauf sie reagierte. Ihr Anlaß ist ausgelöscht, aber die „Reaktion“ ist geblieben. Sie ist mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zur alleinbestimmenden Kraft geworden und hat für Deutschland unter anderem die territoriale Verstümmelung, die Teilung des Rumpfgebietes und dessen Anschluß an verschiedene Besatzungskulturen mit sich gebracht. Führte der nationalsozialistische „Totalitarismus“ zur Erfahrung, was es bedeutete, wenn das innerstaatliche politische Machtzentrum in alle Lebensbereiche einzugreifen vermochte, so sollte eigentlich die Nachkriegsgeschichte lehren, daß die zwischenstaatliche Hegemonie sich nicht auf das Gebiet der Außenpolitik beschränken läßt, sondern quer durch Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur bis in den Bereich privater Lebensführung hineinwirkt. Der hegemoniale Effekt (Cuius regio, eius ordo socialis – Hans Rothfels) ist uns auch aus anderen Geschichtsepochen bekannt. Neu ist jedoch, daß er wissenschaftlich eingeplant wurde.
Die Lehre von den Chancen der „Stunde Null“ gehört wohl zu den sakrosanktesten aller liberalen Dogmen. Deutschland sei 1945 eine Tabula rasa gewesen, auf der die unerhörtesten Dinge hätten eingetragen werden können. Nichts ist falscher. Deutschland war 1945 keine leere, sondern eine dicht beschriebene Tafel. Nur daß die Eintragungen nicht in deutscher, sondern in englischer, russischer und französischer Sprache gemacht worden waren. Die geschichtlichen Dominanten unserer Gegenwart liegen seither weniger in der deutschen als in der russischen und amerikanischen Geschichte. Washington und Lenin sind ungleich mehr Gestalten der Geschichte des heutigen Deutschlands als Bismarck und Friedrich der Große.
Die Entwicklungen der amerikanischen Innenpolitik spielen für das westliche Deutschland heute eine ähnlich entscheidende Rolle wie vor 60 Jahren die der englischen Innenpolitik für Indien. Der Unterschied ist, daß sich die Inder über diese Situation im klaren waren und die mit ihr gegebenen Chancen nutzten. Allerdings hat sich seither die Herrschaftstechnik erheblich verfeinert und ist von der Zensur der Antworten zur Suggestion der Fragen fortgeschritten.
Die besatzungsgeschichtlichen Ursprünge unserer Gegenwart sind tabu, und in den von Bonn und Ostberlin aus verwalteten Teilen Deutschlands wird mit gleichem Eifer an der Legende der autonomen Entstehung deutscher Nachkriegsstaaten gearbeitet. In Ostberlin hat man Stadt und Landkreis Schwarzenberg (Sachsen)6 entdeckt, die im Mai und Juni 1945 in einem toten Winkel zwischen den von russischen und amerikanischen Truppen besetzten Gebieten lagen. Hier hätten ohne Hilfe der Besatzungsmacht „Antifaschisten aus allen Schichten der Bevölkerung unter Führung der Arbeiterklasse ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen und eine antifaschistisch-demokratische Ordnung errichtet“. Das Gift des Nationalsozialismus sei getilgt, Pessimismus und Ausweglosigkeit verdrängt und die Perspektive eines glücklichen Lebens ohne Faschismus und Krieg eröffnet worden. Bei näherer Betrachtung jedoch schrumpft die ordnungs-errichtende Tätigkeit des Schwarzenberger „Bezirksausschusses der Antifaschistischen Bewegung“ auf den Versuch zusammen, die Russen zum Einmarsch in den Landkreis zu bewegen, während Landrat und Pfarrer sehnsüchtig nach den Amerikanern Ausschau hielten.
Diesseits der Elbe blieb man nicht zurück. Man malte in zahlreichen Schriften über die Entstehung der politischen Parteien nach 1945 das anheimelnde Bild politischer Biedermänner, die frei versammelt – wie weiland die Eidgenossen auf dem Rütli – schworen, die heimatlichen Fluren zu säubern und eine alt-junge Demokratie zu errichten. Theodor Heuss und Carlo Schmid gelang ohne Zweifel die meisterhafte Verkörperung der wiederbelebten 1848er-Demokratie7 (oder besser: dessen, was übrigblieb, nachdem man den 48ern im Sinne des jünglingshaften Jugendstils den Volks- und Freiheitsmännervollbart abgeschnitten hatte). Mitten im Wilden Westen der ersten Nachkriegsjahre zauberten sie die Fata Morgana herauf, daß der Dürerbund zur Macht gegriffen habe, um (wenn schon nicht die Einheits-, so doch) die Freiheitsträume der Altvorderen zu verwirklichen. Bonn verwechselten sie mit dem Areopag, auf dem der „Ölzweig“ wächst, „den Athene seit je rankt um die Stirne des Mannes, – der seinem Volke die Burg baut und heiligen Tafeln die Satzung – einschreibt, die ihm das Glück vieler Geschlechter verbürgt …“ (Carlo Schmid).
Die Adenauer-Ära hatte manche noch gar nicht recht erkannte Meriten. Geistige Klarheit zählte nicht zu ihnen. Die Tagesschau maßgebender Meiner, massive transatlantische Interventionen8 und der arglose Eifer der Pädagogen sind in ihr zu einem Geschichtsbild geronnen, das bis heute so etwas wie den Grundstock der Staatsraison der Bundesrepublik bildet. Dieses Geschichtsbild (das sich etwa aus der von der Bundeszentrale für Politische Bildung herausgegebenen Reihe „Aus Politik und Zeitgeschichte“ und den sechs vom Bundesverteidigungsministerium, Abteilung Innere Führung, veröffentlichten Bänden „Schicksalsfragen der Gegenwart“ zusammenstellen läßt) ist ein wohlmeinender Versuch einer rationalen Rechtfertigung der nach dem Entstehen der Bundesrepublik und dem Koreakrieg vorübergehend eingetretenen politischen Situation. Dieses Geschichtsbild stand so wenig auf eigenen Füßen wie der Staat, den es deutete. Es muß erwartet werden, daß eine neue weltpolitische Kräfteverteilung nicht zuletzt im Bereiche der Geschichtsbetrachtung zu einer Krise führen wird. Die beinahe halkyonischen Tage der Adenauer-Regierung – Tage eines weitgehenden Burgfriedens – sind vorüber. Je näher die Parteien zusammenrücken, desto weiter wird der Abstand der Geister voneinander. Niemand wird verhindern können (und kaum jemand will es), daß das schrittweise Wiederzusammenfinden der alliierten Kriegskoalition und die weltweite apertura a sinistra die deutsche Meinungsbildung unter zunehmenden Außendruck stellt. Es ist zu bezweifeln, ob das am Besatzungsspalier hochgezogene Geschichtsbild mit seinen idyllischen Zügen dem stürmisch auffrischenden Ostwind standhalten kann, und der Tag scheint nicht fern, an dem wir aus der Brave New World der Proporz-, UNO- und Gewerkschaftsdemokratie auf die Jahre der Kanzlerdemokratie Konrad Adenauers als auf ein Paradies ungetrübter Geistesfreiheit zurückblicken werden.
Wenn wir in der vorliegenden Schrift des öfteren den Ausdruck „Liberalismus“ verwenden, so folgen wir dem amerikanischen Sprachgebrauch – denn „ohne Amerika würden wir geistig verkümmern“ (Marion Gräfin Dönhoff). Wir beziehen uns also nicht mehr auf die deutsche realpolitische (und horribile dictu: nationale) liberale Tradition von Bennigsen bis Stresemann. Der deutsche Liberalismus ist seither in den tiefen Brunnen der Gefühle gefallen. „Liberal“ ist bei uns ein Sammelbegriff für alle Ressentiments und Idiosynkrasien geworden, die als psychische Endmoränen des Zweiten Weltkriegs in unsere Gegenwart hineinragen. Günter Grass (SPD) hat recht: „Die wirklichen Liberalen sitzen längst nicht mehr bei der FDP.“ Sie sitzen überall dort, wo ein stilistischer und moralischer Endsieg des Menschen, wie er (ihrer Meinung nach) sein sollte, über den Deutschen, wie er ist, angestrebt wird. Sie sind die ZEITgenossen jener Männer (und Gräfinnen), die so überaus anmutig ihre diesbezüglichen Gefühle pflegen und daraus das Recht ableiten, über das Menü zu bestimmen, das der politische und kulturelle Verbraucher herunterzuschlucken hat, wenn er à jour sein will.
In einem Briefe bemerkt der amerikanische Präsident Jefferson (1743–1826) einmal, daß die Menschen von Natur aus in zwei Parteien zerfielen, in 1. diejenige, die dem Volke mißtraue und es fürchte, die alle Gewalt aus seinen Händen nehmen und sie den höheren Klassen anvertrauen wolle; und in 2. diejenige, die sich mit dem Volke identifiziere, die in das Volk Vertrauen setze und es als den redlichsten und sichersten, wenn auch nicht gerade klügsten Verwalter des Gemeinwohls betrachte. Bis vor wenigen Jahren noch griff man im allgemeinen nicht fehl, wenn man die erstere Partei als die konservative, die letztere (je nach dem lokalen Sprachgebrauch) als die liberale, demokratische oder radikale bezeichnete. Hin und wieder kann man bei uns Meinungen begegnen, die davon ausgehen, daß das liberale Denken freiheitlich und volkstümlich, das konservative hingegen obrigkeitlich-reglementierend und elitär sei. Das Gegenteil trifft auf den heutigen Tatbestand zu, und das hat seine Gründe.
Das Ursprungserlebnis des neuen Liberalismus ist nämlich die Entdeckung der Volkstribunen, daß ihnen das Volk davongelaufen ist. Hatte in Frankreich bereits Proudhon (1809–1865) nach der Wahl des Prinzen Louis Napoleon zum Präsidenten der Republik ausgerufen, wenn Volkes Stimme Gottes Stimme sei, dann müsse Gott am Wahltag betrunken gewesen sein, so glaubten die amerikanischen (Alt-)Liberalen noch bis in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts an das Volk. Erst während der Weltwirtschaftskrise begann ihnen zu dämmern, daß es Volksbewegungen waren, die von Father Coughlin und „Kingfish“ Huey Long angeführt wurden, und daß sie als (Neu-)Liberale gut daran täten, die Mobilisierung der Massen durch Palastintrigen in den Vorzimmern von Macht und Meinung zu ersetzen. Der amerikanische Liberalismus begann sich für das Metternich’sche System zu interessieren9. Er stellt sich heute als Hüter von Ruhe und Ordnung, als Vertreter von Vernunft und Mäßigung, als Erben der politischen Erfahrung dar und glaubt seinen Gegnern als Schwärmern und Umstürzlern das Etikett der „Radical Right“10 umhängen zu dürfen. Er ist, wenn man so will, erzkonservativ geworden.
Hat der Liberalismus die Rolle der Beharrungspartei übernommen, so ist der Konservativismus in einer völligen Umkehrung der Fronten zur Bewegungspartei geworden. Daß das Wort „konservativ“ noch Assoziationen mit der wilhelminischen Epoche, den nationalen Verbänden der Weimarer Zeit oder den Ideen des 20. Juli hervorruft, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß ein Prozeß der Umbildung in Gang gekommen ist11. Der Glaubensschwund in den Reihen der Volkstribune hat dazu geführt, daß der Liberale heute dem Volk gegenübersteht wie einstens der Deist Gott. Er bedankt sich für die Schöpfung und verbittet sich jede weitere Einmischung seines Schöpfers. Die Konservativen hingegen finden zunehmend ihre Freunde im Volke und ihre Feinde in den tonangebenden Kreisen. Sie beginnen die Defensivstellungen zu verlassen, die sie seit der Französischen Revolution von 1789 bezogen haben. Hatten sie einst auf der ganzen Linie die bestehenden Institutionen verteidigt, aus dem Geiste der Geschichte gerechtfertigt und in scheinbar zufälligen Erscheinungen einen Sinn gesucht, so kämpfen sie heute gegen den Zwangscharakter gelenkter Meinung, deren Institutionalisierung in einem globalen Establishment und den Versuch, beide durch wissenschaftliche Einkleidung (Psychologie, Soziologie, Politische Wissenschaften) permanent zu machen. Man wird die heutigen Konservativen in der Zahl der Ketzer suchen und bei der Verteidigung des Status quo auf sie verzichten müssen.
Der Liberalismus hat eine Diktatur über den Stil und den Charakter errichtet. Als Arbitri elegantiarum politicarum stellen die liberalen Meiner die Spielregeln für alle auf, wachen über ihre Einhaltung und bestrafen die falschen Zungenschläge. Ihre Idiosynkrasien erheben sie zu Konventionen, ihre privaten Unzulänglichkeiten zu öffentlichen Tugenden. Es wäre fruchtlos, den Männern, die für uns meinen, zu grollen. Sie lesen die Zeichen der Zeit und haben erkannt, daß wir in einer liberalen Epoche leben. Margret Boveri hat einmal festgestellt, daß sich in der amerikanischen Geschichte Perioden von etwa einem halben Menschenalter Dauer ablösen, in denen jeweils ein (übersteigerter) Liberalismus oder ein (übersteigerter) Konservativismus tonangebend sei. Auf die Epoche des Liberalismus unter Roosevelt (1933–1945) folgte die des Konservativismus vom republikanischen Wahlsieg im November 1946 bis zum demokratisch-liberalen Wahlsieg im November 1958. Seither ist Amerika in einen neuen Abschnitt des Liberalismus eingetreten, der, falls alles säuberlich nach der vorgesehenen Ordnung gehen sollte, bis etwa 1970 dauern müßte. Da es das höchste Glück der Deutschen geworden ist, aus zweiter Hand leben zu dürfen, ist mit einer Übernahme des amerikanischen Rhythmus bei uns zu rechnen. Die liberalen Meiner können sich auf eine geraume Frist weiterer Machtausübung freuen. Aber auch der Liberalismus ist kaum gegen das Schicksal gefeit, eines Tages langweilig zu werden und zur Ablösung anzustehen.
„Everybody and everything is democratic in Germany today.“
Herbert Marcuse
Soldaten waren noch immer die besten Missionare. Die arabischen Reiter brachten den Koran, die spanischen Tercios das Christentum und die Rotarmisten den Sozialismus. Auch die amerikanischen G.I.’s mühten sich redlich mit einer Mission ab. Sie waren in der kaum beneidenswerten Lage einer Schauspielertruppe, die bereits auf den Brettern steht, während die Intendanz sich noch nicht über das aufzuführende Stück einig ist. Das Glück der Stunde war jedoch den G.I.’s hold. Was auch immer sie vorbrachten, wurde beifällig aufgenommen. Sie begannen zu spüren, daß es weniger der Inhalt einer Botschaft ist, der zählt, als die Machtstellung, die der Missionar einnimmt oder die man ihm zuschreibt. Und die Machtstellung der amerikanischen Besatzung war recht augenfällig. Der Berichterstatter des „Army Talk“, Julian Bach, schrieb: „In Amerikas Deutschland geschieht, was uns paßt. Paßt es uns, daß die Deutschen verhungern, werden sie verhungern. Paßt es uns, daß sie Aluminiumfabriken in die Luft sprengen, werden sie Aluminiumfabriken in die Luft sprengen. Paßt es uns, daß sie Thomas Jefferson lesen und Mickey Mouse anschauen, werden sie Thomas Jefferson lesen und Mickey Mouse anschauen.“ Die G.I.’s ließen die Deutschen hungern, Aluminiumfabriken in die Luft sprengen, Jefferson lesen, Mickey Mouse anschauen und vergaßen nicht, sie zu demokratisieren (to democratize).
Wenn die amerikanischen Soldaten von „democracy“ sprachen, beriefen sie sich weniger auf den interalliierten Demokratiebegriff des Potsdamer Abkommens als auf den amerikanischen „way of life“, der auch der „democratic way of life“ sei. Es gibt Situationen, in denen der Zuhörer wohlweislich vorlaute Fragen zurückhält. So taten die Deutschen, als ob es sie nichts anginge, daß es keine selbstevidente Formulierung der amerikanischen Lebensart gab, die nicht seit anderthalb Jahrzehnten angezweifelt wurde, und kaum eine, die nicht schon begraben worden war. Die eilige Exhumierung der Missionsidee des Amerikanismus bei Kriegsbeginn hatte wenig Zusammenhängendes zutage gefördert und zudem, da sich bei ihr jene Amerikaner besonders hervortaten, auf deren Einbürgerungsurkunden die Tinte noch nicht getrocknet war, die verschiedensten Relikte der politischen Ideenkämpfe Europas als echt amerikanisch ausgegeben.
Die Amerikaner beklagten sich, daß die Europäer in der Demokratie eine Staatsform sähen und nicht begreifen wollten, daß sie vor allem eine Lebensform sei. In der Tat war die „democracy“ die Lebensform, die sich an der „frontier“ entwickelte. Das Vorrücken der Besiedlungsgrenze nach Westen schuf neue Gemeinwesen, die sich frei von Bindungen an Vergangenes auf die natürlichen Impulse des Menschen und deren freie Entfaltung gründeten. Wie der Engländer sich noch im Dschungel so gibt, als ob er gerade bei einer Tasse Tee vor dem heimatlichen Kaminfeuer fröstelt, so liebt es der Amerikaner, der längst in ein städtisches Büro eingezogen ist, sich immer noch etwas als Grenzer und Pionier zu fühlen. Die Filmindustrie füllt ihre Kassen, indem sie diese Gefühle mit Wildwest-Streifen füttert; selbst die Kriminalität kann sich durch das an der Grenze geübte Faustrecht rechtfertigen.
Doch die Siedlungsbewegung ist in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts im wesentlichen abgeschlossen worden. Zu Beginn der Präsidentschaft Roosevelts wurde das letzte Stück freien Landes vergeben. Die stilbildende Realität des Lebens an der Grenze flüchtete sich in die Traumfabriken Hollywoods oder in die Philosophie der „new frontier“, wie sie John F. Kennedy entwickelte. Der Ruf zur Freiheit wurde zum Protestruf gegen die „Sachzwänge“ der industrialisierten, verbürokratisierten und verwissenschaftlichten Gesellschaft, der im Objektivismus einer Ayn Rand1 seinen bisher radikalsten Ausdruck fand. Doch der artifiziellen Grenzer-Demokratie gelang es, noch ein letztes Mal durch missionarische Ausbreitung ihre Lebensfähigkeit unter Beweis zu stellen.
Wenige Kriegsjahre genügten, um die Amerikaner schnell und gründlich vergessen zu lassen, daß sie mitten in einer inneren Krise, einer Umwertung aller amerikanischen Werte gesteckt hatten, als sie zur Weltmacht griffen. Das Ende dieser Krise wurde durch eben jene militärische Expansion herbeigeführt, der die G.I.’s ihren Aufenthalt in Afrika, Asien und Europa verdankten. Die amerikanische Krise hatte eine Lösung gefunden, die das Verhältnis von Innen- und Außenpolitik, das die G.I.’s als „demokratisch“ lehrten, genau auf den Kopf stellte. Denn wenn die Europäer der Lehre von der „democracy“ einen Inhalt abzugewinnen versuchten, der über ein allgemeines Bekenntnis zum Guten, Wahren und Schönen hinausging und nicht nur für Amerika Gültigkeit haben sollte, so fanden sie ihn im Primat der Innenpolitik, einem Primat, der sich aus der (bis zum Ersten Weltkrieg) geringen außenpolitischen Belastung der Vereinigten Staaten von selbst ergeben hatte. Die Europäer rechneten sich aus, daß die Amerikaner mit ihrer Landung in der Normandie auch die außenpolitische Sorgenlast des alten Kontinents übernommen hatten und daß nunmehr sie diejenigen waren, die Ferien von der Außenpolitik machen durften. Der Tausch von Staatsform gegen Lebensform schien ihnen kein schlechter zu sein.
Das Wohlwollen, das der Verkündigung der „democracy“ (wie andernorts natürlich auch dem „Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B)“) entgegengebracht wurde, hatte weiter damit zu tun, daß die staatliche Ordnung in Europa schon lange unterhöhlt und schließlich in einem beinahe völligen Zusammenbruch aufgelöst worden war. Bei diesem Zusammenbruch hatten sich Missionsideen aufgebraucht, denen gegenüber die amerikanische bescheiden und der „Kurze Lehrgang“ nüchtern wirkte. Es herrschte verbreitet das Gefühl, daß es vor allem weiterzuleben gelte – unter welchen Bedingungen auch immer. Das nackte Sein war ungleich wesentlicher als jedes moralische Sollen. Der aus Ruinen auferstehende praktische Sinn riet, die Formulierung der politischen Begriffe und Prinzipien denen zu überlassen, die über die Macht verfügten, sie auch durchzusetzen – und das waren allein die Besatzungsmächte in Ost und West. Man verwendete die neuen Begriffe (warum auch nicht?) und gab ihnen eine praktische Wendung. Die tragikomische Folge war, daß fünfzehn Jahre später eine Jugend heranwuchs, die die Ideen, mit denen man sich auf diese Weise arrangiert hatte, wortwörtlich zu nehmen und zu „bewältigen“ begann.
Das deutlichste Zeichen des Untergangs der staatlichen Ordnung in Europa war gewesen, daß an die Stelle des Staatsmannes der Künder eines neuen Menschen2 trat. Auf den Trümmern des Zarenreiches hatte Leo Trotzki (1879–1940) die Geburt des neuen Menschen verkündet. Der Körper des neuen Menschen werde harmonischer, seine Stimme musikalischer sein. Eine dynamische Theatralik werde alle seine Gesten durchdringen. Der sowjetische Durchschnittsmensch werde auf dem Niveau eines Aristoteles, Goethe, Marx stehen. Darüber würden sich neue Gipfel erheben, für die es aus der bisherigen Geschichte keine Vergleiche gebe. – Auf dem Balkon des Palazzo von Fiume hatte Gabriele d’Annunzio (1863–1938) den Arm zum römischen Gruß gereckt und seinen Legionären die erste faschistische Losung zugerufen: „Eia, eia, alalà – viva l’amore!“ Am 8. September 1920 hatte der Commandante die neue Verfassung von Fiume verkündet, nach der die Berufe in neun Korporationen eingeteilt wurden. Die Zehnte Korporation hingegen werde durch eine immer brennende Lampe im staatlichen Heiligtum repräsentiert und dem unbekannten Genie, der Heraufkunft des neuesten Menschen, der idealen Transfiguration der Arbeit geweiht (Art. 19). Die Musik sei eine religiöse und soziale Institution. Aus ihren Pausen bilde sich das Schweigen der Zehnten Korporation (Art. 64).
Am Fuße der Alpen hatte der Dichter und Journalist Kurt Eisner (1867–1919) geprahlt, daß er keine acht Stunden gebraucht habe, um die 800jährige Dynastie der Wittelsbacher vom Throne zu stürzen. Der Revolutionsheld hatte unverzüglich vom Kgl. Nationaltheater Besitz ergriffen und („die Herzen wie rote Fackeln tragend und erleuchtend den dunklen Wolkenpfad der Götter“) seinen Triumphgesang von den Brettern schallen lassen: „Da mußten die Bleichen den Schreitenden weichen. – Du Volk wurdest erweckt, – der Tod war besiegt.“ Die Erweckten stießen die Türen zum Ratsgemach auf und forderten lärmend eine neue Politik. Deutschland erwachte, und die neue Politik kam. Die amerikanischen Truppen ebneten bei ihrem Einmarsch wie eine Planierraupe die kläglichen Reste einer neuen Ära ein. Der freie Raum war geschaffen, in dem nunmehr Sauerkraut verzehrende Siedler in Bürgerversammlungen und Forumsdiskussionen eine democracy, in der sich ihre natürlichen Impulse frei entfalten würden, begründen sollten.
Doch auch die Vereinigten Staaten hatten eine Fahrt ins Ungewisse angetreten. Nicht im August 1914, als die Geschütze, sondern am 24. Oktober 1929, als die Banken zu krachen begannen. Die amerikanische Gesellschaft, deren way of life ohne Prosperität nicht denkbar war, wandte dem Kult des Erfolgs und der Anbetung des rauhen Individualismus den Rücken und setzte alles auf die eine Karte des Wechsels. Der August 1914 hatte einen inappellablen Richterspruch über Weisheit und Führungsqualitäten der europäischen Staatsmänner gefällt. Der Oktober 1929 hielt Gericht über die Wirtschaftskapitäne, die bis dahin das amerikanische Staatsschiff gesteuert hatten.
Die Wirtschaftskrise von 1929 setzte auch in den Vereinigten Staaten die politischen Sekten3 in Marsch. Diese verkündeten nicht (wie in Europa) die Wiedergeburt dieser oder jener vergangenen Epoche, da ja gerade der Abschied von der bisherigen Geschichte der Eckstein des amerikanischen Mythos war. Dafür fanden volkswirtschaftliche Quacksalber für ihre Wunderkuren offene Ohren. Der Arzt Francis Townsend forderte für jeden Bürger (mit Ausnahme der Berufsverbrecher) eine monatliche Pension von 200 Dollar, mit der Maßgabe, daß diese innerhalb eines Monats im Lande aufzuzehren sei. Die älteren Arbeitnehmer würden so den jüngeren Platz machen, die Arbeitslosigkeit wäre auf einen Streich besiegt. 1.200 Townsend-Clubs sammelten 10 bis 25 Millionen Unterschriften für das Projekt des philanthropischen Doktors. Während in Italien der Faschismus die „Giovinezza“ im Frühling ihrer Schönheit besang, bliesen in Amerika nach Eisschränken fiebernde Greise zum Sturm aufs Kapitol.