Michael Elsaß: Tod unterm Windrad. Ein Wetterau-Krimi
Erschienen im CoCon-Verlag, Hanau
www.cocon-verlag.de
Titelgestaltung: Daniel Nachtigal auf der Grundlage eines
Fotos von Michael Elsaß
Das Rezept für das Schalet auf Seite 159 lieferte Monika Hild aus Gedern.
ISBN 978-3-86314-279-7
Tod |
unterm |
Wetterau-Krimi
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Epilog
Personen
Was für eine Nacht, was für ein herrlicher Abend mit der Frau, die ich liebe! Und wie herrlich ist dieser Morgen! Ich wache ohne Wecker auf, die Sonne scheint durch die Ritzen des Rollladens und sagt mir, dass ich aufstehen darf. Ich kann Menschen nicht verstehen, die bis mittags im Bett liegen und so die schönste Zeit des Tages verschlafen.
Zwei Stunden habe ich jetzt, die ganz allein mir gehören. Radfahren, bis an die Grenzen gehen, den Chemiebaukasten meines Körpers bedienen und Glückshormone produzieren. Danach duschen, ausgiebig frühstücken und dabei das Erlebte noch mal Revue passieren lassen.
Ich freue mich.
Während ich mich anziehe, denke ich wieder an gestern Abend. Sex mit einer Schwangeren ist wunderbar. Wie lange geht das noch? Irgendwann werde ich wohl das unangenehme Gefühl bekommen, mir dabei selbst zu begegnen. Aber jetzt? Ihre Brüste werden runder, fraulicher, ich könnte jetzt schon wieder, aber ich weiß, dass sie Sex am Morgen nicht mag.
Sie will nach Berlin, weg aus der Wetterau, weg von den Zwängen, den Forderungen, den Erwartungen ihrer Eltern. Wie gut kann ich das verstehen. Wenn ich an meine Eltern denke, überkommt mich eine unglaubliche Wut. Diese Verlogenheit, dieses So-tun-als-ob, ich hasse es. Ständig geben sie sich als gute Menschen, gehen sonntags in die Kirche. Aber ihr Leben ist eine einzige Lüge, und das macht mich so wütend.
Meine Wut macht mir manchmal Angst. Dann suche ich nach einem Ventil, um diese Wut loszuwerden. Im Kampf gegen unsinnige Windkraftanlagen, für Stolpersteine, gegen Umweltzerstörung. Ventile gegen die Wut, sonst platze ich.
Ich setzte mich aufs Rad und trete mit Macht in die Pedale. Es fühlt sich gut an, etwas mit seinem Körper zu machen, ihn zu spüren, mich zu spüren. Ich bin am Leben!
Die Häuser der neuen Siedlung rauschen an mir vorbei. Die ersten Bewohner sind schon auf dem Weg zur Arbeit. Viele arbeiten in Frankfurt und sind täglich zwei oder gar drei Stunden unterwegs. Sie wohnen hier, aber sie sind im Dorf nie richtig angekommen. Sie bleiben unter sich.
Jetzt komme ich in die Hauptstraße, vorbei an der Bäckerei, deren Düfte in mir ein richtiges Glücksgefühl wachrufen. Das Dorf hat seinen ganz eigenen Geruch, aus vielen solchen Düften zusammengesetzt. Es hat eine breite Hauptstraße mit viel Licht und Luft, ist nicht so klein und verwinkelt wie viele andere Dörfer. Ich bin gerne hier, deshalb bin ich hierhergezogen.
Endlich erreiche ich den Wald. Hier ist es gleich ein paar Grad kühler. Mal sehen, ob ich die Durchschnittsgeschwindigkeit halte.
Ich trete noch mal so richtig rein, aber es reicht nicht, ich werde zu langsam. Macht nichts, ich genieße einfach nur die Anspannung, die Belastung. Gleichmäßig tretend komme ich den Berg hinauf. Bald bin ich auf der Spitze, ein kleines Stück fahre ich dann noch weiter, um den Blick in den Vogelsberg zu genießen. Immer neu zeigt sich die Sonne über diesem herrlichen Land. Berge, Äcker und Weiden, nur wenige Häuser, die pure Idylle.
Dann wende ich. Am Waldrand steht ein Kombi. Hoffentlich kein Spaziergänger mit Hund. Die sehen und hören nichts und beanspruchen den Weg für sich allein.
Jetzt geht es bergab. Meine Sinne sind aufs Äußerste gespannt. Ich höre jeden Vogel, der im Laub trippelt, jedes Gezwitscher. Jeden Warnruf der Amsel. Der Duft des Waldes. Harzig, feucht und modrig jetzt im Herbst, aber auch frisch und kühl am Morgen. Das Licht. Die Sonne im Rücken. Die Farben des Waldes. Jetzt noch tiefes Grün, bald schon werden die Blätter viele Farben haben. Wie kann man so etwas nicht genießen? Jeder Tag hat sein eigenes Tempo, seine eigene Farbe, seinen eigenen Geruch.
Ich werde schneller und trete noch mal ordentlich in die Pedale. Jetzt die Rampe. Irgendetwas ist verändert. Die Spur ist schmaler, ist das der optimale Weg zum weitesten Sprung? Jetzt noch mal richtig reintreten und abheben …
Da ist etwas, was gestern noch nicht da war. Ich fliege direkt darauf zu, ohne ihm ausweichen zu können. Ein knirschendes, schmieriges Geräusch, etwas reißt.
Schmerzen, wie ich sie nie zuvor hatte, ohne zu wissen, wo genau sie herkommen. Ich liege auf dem Waldboden und kann mich nicht bewegen. Ich glaube, dass ich jetzt sterbe, ich verstehe nicht, warum. Meine Hände krallen sich in den Waldboden. Ich will mich aufrichten, doch es gelingt mir nicht. Mein Körper fühlt sich an wie mit Blei gefüllt.
Ich sehe mich als Kind durch unseren Garten rennen, mein Großvater ruft mich, er will mir etwas zeigen. Meine Mutter, die mich in den Arm nimmt. Mein Vater, der nur Schweigen für mich übrig hat, der enttäuscht ist von allem, was ich mache. Mein Bruder, der mich verleugnet.
Ich sehe mich in der Schule mit den Kollegen, sie wirken hohl auf mich.
Kerstin, hübsch und nichtssagend.
Ich weiß jetzt, es geht zu Ende. Ich spüre keine Trauer, nur Leere. Ich will noch was sagen, die Worte kommen aber nicht mehr richtig über meine Lippen. Etwas Warmes läuft mir aus Mund und Nase. Ein metallischer Geschmack. Wenn ich zu sprechen versuche, schäumt es. Als Kind habe ich versucht, mit meiner Spucke Blasen zu machen. Meine Eltern fanden das eklig, für mich war es etwas, das nur ich konnte. Wenn ich eine besonders große Blase geschafft hatte, hoffte ich auf Lob; vergeblich. Es hätte mir bestimmt gutgetan.
Dann sehe ich Schuhe neben meinem Gesicht. Ich versuche, danach zu greifen und gleichzeitig aufzuschauen. Kommt jetzt Hilfe? Ich weiß noch immer nicht, was überhaupt geschehen ist.
Wer ist so früh unterwegs, und warum bin ich so gestürzt, dass ich mich nicht mehr bewegen kann?
Es tut so weh, die Tränen schießen mir in die Augen, alles verschwimmt. Ich kann den Blick nicht nach oben richten, es gelingt mir einfach nicht, den Kopf zu drehen, nicht einen Zentimeter. Der Fuß zieht sich zurück, ich kann ihn nicht greifen.
Als Kind habe ich mit meinem Bruder oft in der Küche nach Süßigkeiten gesucht. Er kam immer an die Sachen ran, meine Arme waren zu kurz, so ist meine Erinnerung. „Kurze Arme, keine Schokolade!“, sagte Linus und grinste mich mit verschmiertem Mund an. Natürlich wurden wir erwischt, und natürlich wurde ich mit bestraft, denn ich war ja dabei, auch wenn von der Beute nichts für mich abfiel.
Als Jugendlicher hatte ich jahrelang so einen Albtraum. Ich war mit Freunden mit einem Boot auf dem Meer, wir waren schwimmen, aber niemand hatte die Leiter und auch nicht den Anker runtergelassen. Als wir wieder aufs Boot wollten, ist es uns nicht gelungen. Die Bordwand war zu hoch. Ich versuchte es vorne am Bug, dort, wo der Anker abgelassen wird. Aber ich konnte die Ankerkette nicht erreichen, es hat nur ein Zentimeter gefehlt. Dann hätte ich alle retten können. Derweil haben sich die anderen zusammengetan, und einer ist tatsächlich auf das Schiff gelangt, hat die Leiter runtergelassen und alle sind hochgeklettert. Sie haben die Segel gesetzt und sind zurück zum Hafen gesegelt. Mich haben sie vergessen, sie haben mich einfach vergessen.
Ich weiß noch, wie sehr mich der Traum deprimiert hat, ich habe ihn immer wieder geträumt, dabei hatte ich keine richtigen Freunde, erst recht keine mit einem Boot.
Meine Hand krallt sich in den Boden. Ich kann den Geruch wahrnehmen, feucht und erdig, frisch und irgendwie rein. Da kommt wieder der Schuh, er tritt mir auf die Hand. Es tut nicht weh, aber warum tut er das?
Ich will etwas sagen, versuche zu sprechen, will mich beschweren, protestieren, ja, das ist meine Welt, immer demonstrieren, mich beklagen. Ich bin nie zufrieden. Bin ich hier, will ich weg. Bin ich weg, will ich heim. Woher kommt diese ständige Unzufriedenheit? Ich war nie mit mir im Reinen, etwas fehlte immer, ich wusste nicht, was. Meine Beine werden schwer. Ich fange an zu frieren.
Ich höre ein Rauschen, wie Wellen, die mit Macht ans Ufer schlagen. Ein brausendes, sich aufbauendes Donnern, ein Grollen, von großer Kraft verursacht, um sich zu brechen und in einem sanften Schlürfen abzuklingen.
Es erinnert mich an die Sommerferien mit meinen Eltern, ich war vielleicht vier Jahre alt. Wir wohnten in einem kleinen Hotel an der französischen Atlantikküste. Ein Mann, der beim Frühstück neben uns saß, wurde beim Baden von den Wellen ins offene Meer gezogen und blieb für immer verschwunden.
Meine Mutter sagte damals, wir sollten für seine Seele beten. Ist jetzt die Zeit gekommen zu beten?
Ich denke an Lindita und an das Kind, das ich nicht mehr kennenlernen werde. Dann ist alles weiß.
„Knie durchdrücken, Bauchmuskeln anspannen, Handflächen nach außen und über dem Kopf zusammenführen. Arme gegen die Ohren pressen, in die Knie gehen und halten.“ Seit drei Wochen mache ich jetzt mittwochs diese Verrenkungsübungen. Keine Ahnung, ob das gesund ist. Auf jeden Fall sterbenslangweilig.
Der Yogalehrer ist aber ganz begeistert von sich und die fünf anderen Schüler auch. Die Oberschenkel tun weh, mir ist flau im Magen, und ich weiß jetzt schon, dass ich morgen einen steifen Hals haben werde. Yoga ist nichts für mich!
„Yoga ist nichts für mich!“, sage ich und sortiere meine Glieder. Der Yogi steht auf einem Bein und jetzt auch mit offenem Mund da. Die Damen funkeln mich an: Wenn Blicke töten könnten …
Grade, wie ich meine Tasche nehme, klingelt mein Handy. „Wetz, wo sind Sie? Der Rollerdieb hat wieder zugeschlagen und führt uns an der Nase herum. Er hat die Streife abgehängt und müsste jetzt eigentlich bei Ihnen in Echzell sein.“
Ich bin echt froh, dass ich jetzt einen guten Grund habe abzuhauen. Ich setze mich hinters Steuer und fahre los. Der Wagen schnurrt durch den Ort. Mit dem Gasfuß muss man aber aufpassen. Seit die in jedem Ortsteil mindestens zwei Dauerblitzer aufgestellt haben, ist sportliches Fahren teuer geworden. Da gibt es kein Pardon, erst recht nicht von den Kollegen der örtlichen Hilfspolizei. Die fühlen sich nicht so recht für voll genommen von den richtigen Polizisten. Das liegt vielleicht daran, dass wir sie nicht richtig für voll nehmen.
Mit exakt 50 Sachen fahre ich durch den Ort. Da kommt mir ein Roller mit irrem Tempo entgegen. Als er durch den Blitzer fährt, gibt es eine richtige Lichtorgie. Der Typ auf dem Roller ist verwirrt, ich nutze die Gelegenheit und stelle meinen Benz quer. Der Roller bremst viel zu stark ab, einen Moment kann er sich noch halten, dann stellt er sich quer und verabschiedet sich noch während der Fahrt von seinem Steuermann. Der rutscht mir auf dem Hosenboden entgegen. Da brauche ich polizeitaktisch gar nicht groß tätig zu werden – das Bürschlein vor mir hat sich im wahrsten Sinne den Arsch aufgerissen. Dicke Tränen rollen über seine Backen. Sicherheitshalber bleibt er auf der Straße liegen. Aus Mitleid rufe ich den Krankenwagen und gleich danach die Polizeistation in Friedberg.
„Ich hab den Rollerdieb geschnappt“, rufe ich froh dem Kollegen zu. „Leicht verletzt, aber in brauchbarem Zustand“, ergänze ich. Stille.
„Hast du mich gehört?“
„Ähm, den Rollerdieb haben wir vor zehn Minuten in Wölfersheim geschnappt.“
Ups, und wer liegt da vor mir?
Ich nehm jetzt erst mal das Protokoll auf. Strafe muss sein. Schließlich war das Bürschlein ja deutlich zu schnell unterwegs, und die Maschine, auch wenn es seine eigene ist, muss frisiert sein.
Danach gehe ich zur Silke. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was ich morgen zu hören krieg. Aber nach ein paar Bier und einer Runde Flippern geht’s mir wieder besser.
Mein Freund Jockel, mit dem ich schon in die Grundschule ging, lässt mich gewinnen. Das macht er sonst nie, aber er weiß, dass ich das heute brauche.
„Jockel“, frag ich, „findest du das eigentlich gerecht, dass du keinen Job hast und ich bei meinem immer nur in die Scheiße greife?“
Ich guck ihn an, und er hat die Lippen fest zusammengepresst, als wolle er die Worte noch nicht rauslassen. Mit seiner Zunge drückt er gegen die Backen, als ob seine Worte sich einen anderen Weg suchen wollten.
„Die Frage der Gerechtigkeit ist nicht so einfach zu beantworten“, fängt er an. „‚Gerecht ist, was dem Menschen zusteht!‘, sagt Aristoteles. Was aber steht dem Menschen zu? Sagen wir mal, es gibt da eine total tolle und wertvolle Flöte. Wer soll sie bekommen? Der, der am besten spielen kann, oder der, der am meisten dafür bezahlt? Kriegen würde sie wohl der, der am meisten bezahlt, das würde jeder akzeptieren, weil sich niemand über die Alternativen Gedanken macht. Aristoteles gibt sich damit natürlich nicht zufrieden. Er fragt bei der Beurteilung der Gerechtigkeit nach dem Zweck, dem Telos, eines Dings. Welchem Zweck dient eine Flöte? Natürlich dem Flötenspiel. Folglich wäre es gerecht, die Flöte dem zu geben, der damit am besten spielen kann, und nicht dem, der sie in den Safe legt, weil er die Flöte als Wertanlage sieht und auf ihre Wertsteigerung hofft.
Was mich angeht, so ist mein Schicksal gerecht, weil ich mir das selbst so aussuche. Ich könnte nicht jeden Tag in ein Büro gehen und Akten bearbeiten. Und außer meinem Bier bei der Silke und ab und zu mal eine Frau habe ich keine besonderen Bedürfnisse. Meine Bücher hole ich mir aus der Leihbücherei in Friedberg.
Was dich angeht, musst du die Frage selbst beantworten. Aber so schlecht geht es dir doch auch nicht. Du hast einen Job, mit dem du nicht nur Rückschläge hast, sondern auch tolle Erfolge. Denk nur an den Bankräuber, den du im letzten Jahr geschnappt hast. Du siehst gut aus. Bist Ende dreißig und gehst noch für ein paar Jahre jünger durch. Die Haare noch ohne eine Spur von Grau, nur leichtes Übergewicht …“
„Lass gut sein, Jockel“, wehre ich ab, „sonst glaube ich das noch!“ Über solchen Gedanken trinken wir noch einige Biere. Ich kriege noch mit, dass die Silke und der Günni mich in den Benz schleppen und die Silke mich heimfährt und mit der Mutti ins Bett schafft.
So gegen acht wache ich auf. In meinem Kopf klopft es, als würden irische Stepptänzer für die Weltmeisterschaft üben. Mein Hals ist trocken, und der Geschmack in meinem Mund lässt mich befürchten, dass es gestern nicht beim Bier geblieben ist. Der Gestank, der definitiv von mir ausgeht, lässt mich schwindeln, ich schaffe es gerade noch ins Klo, dann muss ich kotzen.
Nach einer langen Dusche und mehreren Aspirin, drei Tassen Kaffee und einem Frühstück von der Mutti laufe ich so gegen zehn in der Polizeidirektion ein. Ich hab vor, später mit der Biggi, der Sekretärin vom Chef, in die Kantine vom Landratsamt zu gehen, da ist donnerstags immer Schnitzeltag. Da wird aber nichts draus.
„Du kannst gleich wieder umdrehen!“, ruft mir Kriminalhauptkommissar Edgar Schwatz zu. „Bei dir im Wald liegt ein toter Radfahrer! Den musst du jetzt übernehmen, wir haben hier alle Hände voll zu tun.“
Na bravo, denke ich, der liegt doch auch noch nachher da, wenn ich mit der Biggi zurückkomme. Aber da ist der Schwatz ziemlich konsequent, der lässt nichts durchgehen.
Also setze ich mich wieder in meinen 280er. An unserem Hausberg, dem Wannkopf, soll er liegen, direkt hinter den Fischteichen. Die Gegend kenn ich gut. Als ich meine Joggingphase hatte, bin ich da öfter den Berg raufgerannt. Da hatten so ein paar Mountainbiker eine Bahn für sich gebaut, mit einer irren Sprungschanze. Nie im Leben wäre ich so ne Strecke gefahren, da hat sich schon manch einer die Knochen lädiert. Gestorben ist aber bislang keiner.
Unten am Waldrand ist schwer was los. Jede Menge Gaffer gammeln da rum, und auch der Christian Schwiers, Journalist vom Kreisanzeiger, steht schon mit seinem Fotoapparat bereit. Ich nehme den Zeitungsmann gleich ins Schlepptau, damit er auch die Bilder für das Protokoll machen kann. Hilfspolizist Florian Jung hebt für uns das rot-weiße Absperrband, und wir laufen die paar Meter. Unterhalb der Rampe sehe ich die Bescherung. Was für eine Sauerei! Mir dreht sich der Magen um, und auch der Schwiers, der schon allerhand gesehen hat, hält sich die Hand vor den Mund. Vor uns liegen ein verbogenes Mountainbike und der dazugehörige Radler. Aufgespießt von einem Holzpfahl direkt unterhalb der Sprungschanze.
Ich ruf in Friedberg bei der Polizeidirektion an. Vielleicht kann die Spurensicherung irgendwas mit dem Pfahl anfangen. Für den Radler kann man definitiv nichts tun, den hat es echt zerbröselt.
Ich hole mir die Handschuhe aus dem Benz und schau nach, ob der Tote Papiere bei sich hat.
Große Hoffnung habe ich nicht, wer hat schon seinen Perso dabei, wenn er auf Radtour geht. Ich persönlich finde ja, dass jeder seinen Ausweis immer dabei haben sollte. Dann fällt eine Identifizierung in Fällen wie diesem hier leichter.
Die Suche in der Sporthose ist wie erwartet negativ. Eine Flasche Wasser, ein Handtuch und einen Schlüssel finde ich in der Fahrradtasche; dazu einen Apfel. In den beiß ich gleich rein, weil: Ich habe einen mordsmäßigen Hunger, und als Beweismittel brauchen wir den ja auch nicht mehr, wir sind ja nicht bei Schneewittchen und den sieben Zwergen.
Das Gesicht des Toten liegt voll im Waldboden, fast so, als wäre ringsum noch ein wenig Laub aufgehäufelt worden. Deshalb will ich da lieber die Kollegen mit ihren weißen Anzügen ranlassen, wenn sie kommen.
Ich geh wieder vor zur Absperrung, um dort für Ordnung zu sorgen. Der Ortssheriff hat die Lage nicht mehr im Griff. Kein Wunder, da treiben sich jetzt mehr Leute rum als beim Heimspiel des SV am Sonntag. Das halbe Dorf steht hier und dazu noch jede Menge auswärtiges Geschmeiß.
„Warum seid ihr nicht auf der Arbeit oder auf dem Acker, habt ihr nix zu tun?“, ruf ich in die Runde. Betretenes Schweigen und Scharren mit den Füßen. Die Menge kommt Zentimeter für Zentimeter näher und drängt gegen das Absperrband. Ich schieb die jetzt unsanft zurück und schrei ein bisschen rum. Da sehe ich den blauen Lieferwagen unseres geliebten hessischen Fernsehsenders. Ich fass es nicht, die Typen vom Hessenfernsehen sind eher da als unsere Spurensicherung. Ich ruf schnell unseren Pressesprecher an, den Goldt, der soll sich mit den sensationshungrigen Pressefritzen rumschlagen.
Was für einen Scheißjob diese Leute doch haben. Schneller, höher, weiter heißt bei denen: Blutiger, brutaler, fieser muss es zugehen, damit die werte Zuschauerschaft auch ordentlich unterhalten wird.
„Wer hat hier die Verantwortung?“, schnarrt der Typ aus dem Sendewagen über die Meute hinweg. Eine Kamera, ein Mikrofon und eine gewichtige Miene öffnen eine Gasse für die Leute vom heimischen TV. Ich stell mich ihm in den Weg.
„Menner, Hessenschau“, stellt er sich schreiend vor, dabei höre ich doch noch ganz einwandfrei. „Unsere Zuschauer und die Öffentlichkeit haben ein Recht darauf zu erfahren, was hier passiert ist.“
Die Kamera ist direkt auf mich gerichtet. Jetzt heißt es, ein gutes Bild machen. Man sollte nicht glauben, wer so was später alles sieht und wie oft man darauf angesprochen wird. Als wir die Bankräuber im letzten Jahr geschnappt hatten, da habe ich bei der Vorführung in der Polizeistation im Hintergrund mit dem Kollegen Hortmann aus Friedberg gewitzelt. Der halbe Ort hat mich später gefragt, ob ich denn mit der Festnahme irgendwas zu tun gehabt hätte. Dabei habe ich der Bande ganz allein, na ja, zusammen mit dem Jockel, das Handwerk gelegt. Die Mutti war ganz frustriert, weil sie doch gehofft hat, dass ich durch den Fall zum Dorfhelden werde.
Ich sag also: „Tut mir leid, zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann ich keinerlei Aussagen zum Tathergang machen, wenden Sie sich bitte an unsere Pressestelle und lassen Sie mich jetzt bitte wieder meine Arbeit machen.“
Dann dreh ich mich um und schiebe ein paar Leute zurück, die immer näher zum Tatort drängen. Mit ihren Handys machen die Fotos vom Waldrand, der heute noch genauso aussieht wie gestern und wie er morgen aussehen wird. Nur dass da im Wald jetzt eine aufgespießte Leiche liegt, von der keiner weiß, wer es ist.
Nach einer halben Ewigkeit treffen gleichzeitig die Spurensicherung und der Pathologe ein. Zusammen mit dem Hipo mach ich kurz die Absperrung auf, damit die Spezialisten bis hoch zum Fundort der Leiche fahren können.
„Das kann dauern, bis wir den von seinem Haken befreien. Die Spurensicherung braucht mindestens bis heute Abend, bestell doch schon mal die Beleuchtung bei der Feuerwehr“, sagt der Thomas Werner, ein erfahrener Mann aus der Spurensicherung der Polizeidirektion.
Froh, bei dieser blutigen Arbeit nicht dabei sein zu müssen, mach ich mich wieder auf den Weg zur Absperrung. Da habe ich schon einige Feuerwehrleute gesehen. Ich wink die Kollegen zu mir und bestell den Einsatzwagen für den frühen Abend. Mittlerweile sind auch noch die Leute von RTL und ein paar überregionalen Zeitungen da. Die fragen sicher die Leute, wie es ist, wenn da ein Toter im Wald liegt und man nicht gucken gehen darf.
Etwas abseits, am Waldrand, steht ein etwa 60 Jahre alter Mann mit einem Schäferhund. Er hat den Toten gefunden, das hab ich vom Ortssheriff erfahren. Ich geh zu ihm hin, ich kenne ihn vom Sehen, aber den Namen weiß ich nicht.
„Kriminalkommissar Wetz, Polizeidirektion Friedberg!“, stelle ich mich vor. „Sie haben den Toten gefunden?“
„Ja, ich bin noch ganz aufgeregt!“
„Das glaube ich Ihnen, wie war noch mal Ihr Name?“
„Spengler, Oswald mit Vornamen.“
„Wann haben Sie den Toten gefunden?“, will ich wissen.
„Das war so kurz nach acht. Seit ich in Rente bin, gehe ich nicht mehr so früh. Und der Rex“, er zeigt auf seinen Hund, „ist ja auch nicht mehr der Jüngste, der schläft auch gerne ein bisschen länger.“
„Laufen Sie immer diese Strecke?“
„Ja, nein, also ich bin da ja nur hin, weil der Rex so aufgeregt war. Das ist er sonst nie.“ Der Hund schaut ihn mit treuherzigen Augen an, als er seinen Namen hört.
„Der Hund hat gebellt?“
„Nein, normalerweise bleibt der ja bei Fuß, aber plötzlich ist er losgerannt, kam wieder zurück, ist wieder losgerannt …“
„Ja und weiter?“
„Na ja, er hatte eine blutverschmierte Schnauze und auch ganz blutige Pfoten. Zuerst habe ich Angst gekriegt, er wäre irgendwo reingetreten, in eine Glasscheibe oder so!“
Jetzt würde ich ihn am liebsten fragen, ob er erleichtert war, dass es nur ein Toter war. Stattdessen wiederhole ich nur: „Eine blutige Schnauze?“
„Ja, da wollte ich natürlich wissen, was los ist, denn der Hund hatte sich ja augenscheinlich nichts getan. Ich bin dem Rex also hinterher, die Stelle, an der der Tote liegt, ist ja vom Waldweg nicht einzusehen. Und da lag er dann!“
„Gut“, sag ich, „und dann haben Sie sich überzeugt, dass der Mensch da am Boden nicht mehr am Leben ist?“
„Ja, nein. Ich habe gleich gesehen, dass da nichts mehr zu machen ist. Da war ja eine ungeheure Menge Blut. Ich bin ja richtig durch einen Blutmatsch gewatet. Das kann man nicht überleben. Ich habe dennoch nach seiner Hand gefasst, die war aber schon eiskalt.“
„Und dann haben Sie die Polizei gerufen?“
„Nein, ich hatte kein Handy dabei. Ich bin erst heim und habe einen Schnaps getrunken. Dann hat meine Frau angerufen. Ich war zu aufgeregt, ich konnte nicht mal den Telefonhörer halten.“
„Der Anruf ging bei uns um 9:55 Uhr ein. Was haben Sie in der Zwischenzeit gemacht?“
„Wie gesagt, ich war sehr aufgeregt, und meine Frau hat dann auch so … na, sie hat mir eben nicht geglaubt und dann ist sie selbst mit dem Rad noch mal hierher gefahren und dann haben wir zusammen die Polizei angerufen.“
„Und zwischendurch haben Sie noch einen Kaffee getrunken?“
„Nein, aber beim Heimfahren hatte ich noch am Kiosk gehalten und mir einen Schnaps gekauft, mir war so flau im Magen. Und es ist von hier zu mir nach Hause schon ein ganzes Stück.“
Hier ist nichts mehr weiter rauszukriegen. Ich verabschiede mich und sage ihm, dass wir seine Aussage protokollieren müssen. Er soll noch mal nach Friedberg in die Polizeidirektion kommen.
Die drei Kollegen von der Spurensicherung wenden jedes Blatt am Fundort um, während der Pfahl wohl schon ausgewertet ist. Der Kollege ist tatsächlich mit der Kettensäge dabei, den Pfahl knapp über dem Rücken des Toten zu durchtrennen.
„Wir haben erst versucht, den Pfahl aus der Erde zu ziehen, das kannste vergessen“, ruft mir Werner zu.
Zu dritt heben sie dann die Leiche vom Pfahl, schön schaut das nicht aus, aber es hilft bei der Identifizierung, denn da vor uns liegt niemand anderes als Malte Reiffenberg, die Obernervensäge im Ort.
Der Reiffenberg hatte immer was zu meckern: Mal wurde zum falschen Zeitpunkt die Hecke geschnitten, dann wurden die Obstbäume gar nicht oder falsch geschnitten, dann haben die Besitzer der alten Häuser die Löcher in den Dachböden verschlossen, und die Fledermäuse verloren ihre Heimat. Am schlimmsten war der Reiffenberg aber, wenn es um Windräder ging, dann sah der echt rot. In der letzten Zeit hat er total rotgesehen, weil bei uns nämlich direkt auf dem Hausberg eine solche Anlage geplant ist.
Der Pathologe sagt zu mir in einem Singsang, der jegliche persönliche Beteiligung bei dieser unschönen Sache gar nicht erst aufkommen lässt: „Todeszeitpunkt: heute Morgen gegen sieben, halb acht. Todesursache – muss man nicht viel sagen: Eindringen eines massiven Holzpfahls in den unteren Brustkorb. Dabei Verletzung des rechten Lungenflügels. So wie das aussieht, hat der Pfahl die Aorta, das ist die große Bauchschlagader, erwischt. Die ist ungefähr drei Zentimeter dick“, der Mediziner zeigt den Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger. „Da läufst du regelrecht aus. Das Herz versucht dann, den Druckverlust durch stärkeres Schlagen auszugleichen. Das erhöht den Blutverlust natürlich noch erheblich. Eine knappe Minute wird er noch gelebt haben. Der Pfahl in Bauch und Brust verursacht vermutlich starke, brennende Schmerzen. Vielleicht hat er sich deshalb so in die Erde verkrallt. Auf jeden Fall ist ihm noch einer mit kräftigen Schuhen auf die linke Hand getreten. Sind aber keine verwertbaren Spuren. Da hat einer gewartet, bis der Reiffenberg, oder wem auch immer diese Falle gegolten hat, seinen letzten Sprung gemacht hat. Wenn du mich fragst, dann war das definitiv kein Unfall.
Übrigens: So ganz todsicher ist die Methode nicht. Man kann durchaus mit so einem Pfahl im Bauch überleben, so einen Fall hatten wir schon mal vor ein paar Jahren. Aber nicht, wenn die Aorta betroffen ist, dann gibt es keine Chance. Das war es in Kürze, den genauen Bericht gibt es morgen per Mail!“ Anschließend fahr ich in die Wohnung vom Reiffenberg. Sie liegt am westlichen Dorfrand, dort, wo in den letzten Jahren gleich zwei Neubaugebiete entstanden sind. Die Straßen wirken menschenleer, entweder haben alle ihre Autos in den Garagen versteckt oder sie sind auf der Arbeit oder sonst wo.
Die Wohnung vom Reiffenberg liegt im Erdgeschoss eines Dreifamilienhauses. Wie zu erwarten, reagiert niemand auf mein Klingeln. Aber der Schlüssel aus der Fahrradtasche passt.
In der Wohnung sieht es aus wie in diesen Architekturzeitschriften, die bei meinem Zahnarzt herumliegen. Überwiegend weiß, helle Fliesen im Küchenbereich, sonst helles Laminat. Aus dem Fenster hat man einen schönen Blick auf die Ausläufer des Vogelsbergs. Auf der kleinen Terrasse stehen ein Tisch und vier Stühle; eine schwarze Gusseisenlaterne mit einer großen Kerze ist das Einzige, was man als Schmuck bezeichnen könnte.
Im Wohnzimmer ein niedriger Tisch, zu beiden Seiten eine mit hellem Stoff bezogene Couch. Der Fernseher klein, deutsches, sehr teures Fabrikat. Er ist an einen schwenkbaren Arm montiert, so kann er ziemlich aus dem Blickfeld genommen werden. Das unterstreicht bei manchen Intellektuellen, dass sie den Fernseher nur selten nutzen.
An das Wohnzimmer reiht sich eine Esszeile an, ein großer, weiß lackierter Tisch mit sechs weißen, lederbezogenen Freischwingern. Auf dem Tisch eine Vase mit drei bunten Stoffblumen.
Die Küchenzeile sieht etwas benutzter aus. Auf dem Herd stehen ein Topf mit einem Rest Nudeln und ein weiterer mit einem Klecks Pastasoße.
Ein Glas in der Spüle, aus dem wohl Orangensaft getrunken wurde, plus zwei Teller und zwei Bestecke, vermutlich vom gestrigen Abend.
Im Arbeitszimmer zwei Regale mit Büchern: Goethe, Schiller und andere Klassiker in Gesamtausgaben, dazu viele Ordner, ich vermute mal Unterrichtsmaterial. Der Reiffenberg war Lehrer in der Gesamtschule Konradsdorf bei Ortenberg.
An der freien Wand drei Poster. Eines fordert gentechnikfreie Landwirtschaft, eines von Attac und ein Greenpeaceposter gegen Atomkraft.
Die Schubladen geben nichts Besonderes preis. Die persönlichen Ordner mit Versicherungen und sonstigen privaten Sachen packe ich in die Kiste, die ich immer im Auto habe.