Inhaltsverzeichnis

1

Claudio will, dass ich meine Geschichte aufschreibe. Ich habe ihn gefragt, was das für einen Sinn haben soll. Da lachte Claudio und meinte, er werde mir das in einiger Zeit erklären …

Ich glaube, mein Leben begann erst in dem Augenblick, als ich einem Herrn, der Claudio Pauls hieß, begegnete. Um ganz genau zu sein: Mein Leben begann an einem Mittwoch im Frühsommer zwischen halb elf und halb zwölf Uhr nachts.

Damals war ich achtzehn Jahre alt, und meine Eltern wussten nicht, was sie mit mir anfangen sollten. Eine Woche vorher hatte ich Matura gemacht. Mein Vater, der in der Vorkriegszeit ein sehr reicher Mann gewesen sein soll, sagte oft: »Ich kann meinen Kindern nichts als gute Schulbildung mit auf den Lebensweg geben.« Unter guter Schulbildung verstand er acht endlose Schuljahre in einem Gymnasium. Ich habe nie darüber nachgedacht, warum ich in diese Schule ging, ich war eine sehr mittelmäßige Schülerin, ich langweilte mich während der meisten Unterrichtsstunden entsetzlich, und vor Prüfungen und Professoren hatte ich eine geradezu körperliche Angst. Wenn ich geprüft wurde, so schien plötzlich mein Herz im Hals zu klopfen, ich konnte kaum sprechen. Es war eine ziemlich ekelhafte Zeit.

Dann brachte ich mein Maturazeugnis nach Hause. Mathematik genügend, Latein genügend, Griechisch genügend, Deutsch gut, Naturgeschichte genügend, Geschichte/Geografie gut. Ein sehr armseliges Zeugnis, aus dem alle ersahen, dass ich leider über gar keine besonderen Fähigkeiten verfügte.

Nun saß die ganze Familie um den runden Speisezimmertisch und beriet über meine Zukunft. Meine Familie: Vater, der in jener Zeit stets materielle Sorgen hatte und leicht gereizt war, Mutter, die gern seufzte und nervös wurde, wenn man ihr widersprach, und meine schöne Schwester Inge, auf die alle Hoffnungen der Familie aufgebaut waren. Vater meinte, ich sollte den Abiturientenkurs der Handelsakademie besuchen, um später in irgendeinem Büro einen Posten zu finden. Mutter war für eine Haushaltungsschule, ich könnte dann daheim helfen, vielleicht würde man später nur mit einer Bedienerin auskommen. Inge löste Kreuzworträtsel, sie sah nur einmal auf, blickte uns starr an und fragte gequält: »Kann mir denn niemand helfen? Eine biblische Persönlichkeit mit drei Buchstaben …?«

Ich beneidete Inge im Stillen, weil sie niemals Berufssorgen hatte. Sie ist zwei Jahre älter als ich, und nach ihrer Matura bekam sie hübsche Kleider, ging mit Mama zu Bällen, ins Theater und besuchte sehr viele Gesellschaften. Von Zeit zu Zeit lernt sie einen jungen Mann kennen, Papa erkundigt sich über seine Vermögensverhältnisse, heimlich, natürlich ganz heimlich, und wenn Papa mit der Auskunft zufrieden ist, darf sie dann mit ihm ausgehen und ihn für Sonntagnachmittag zum Tee einladen. Bisher sind alle diese jungen Männer ein paar Sonntage lang erschienen, dann blieben sie aus.

Inge reißt Witze über sie, aber ich weiß, dass sie sich heimlich kränkt. Es bedrückt sie sehr, dass die Familie von ihr eine reiche Heirat erwartet, damit Papa keine Schulden mehr machen muss und wir nach unserem alten Standard leben können.

Wir haben nämlich einen gewissen Standard. Sehr oft wird davon gesprochen. »Von diesem Standard darf man nicht abgehen«, sagt Papa, und Mama meint: »Schon der beiden Mädchen wegen nicht, es ist eine Investition in die Zukunft der Kinder.« Aber damit war vor allem Inge gemeint, denn von meiner Zukunft versprach sich niemand sehr viel. Ich bin überzeugt, dass Inge zuletzt doch noch einen sehr reichen, vielleicht älteren Herrn heiraten wird. Sie ist so schön. Das bemerkte ich jeden Abend, wenn Inge zu Bett ging und vorher noch in ihrem langen, hellrosa Nachthemd vor dem Spiegel hockte und ihre Wimpern mit Vaselin bürstete, sie sollten noch länger und noch seidiger werden. Aber dass ich sehr hässlich war, wusste ich damals noch nicht. Das erfasste ich erst, als Claudio mich betrachtete.

 

Claudio lernte ich ein paar Tage nach meiner Matura bei Tante Elsa kennen. Jeder Mensch hat sogenannte vornehme Verwandte. Unsere vornehmen Verwandten war die Familie von Tante Elsa. (Wir waren zwar genauso vornehm, nur hatten wir leider immer zuwenig Geld.) Tante Elsa führte ein großes Haus, sie lud alle berühmten Künstler zu großen Empfängen ein. Dass sie manche persönlich nur sehr flüchtig kennt, stört sie gar nicht. Und die Künstler kommen zu ihr, weil bei Tante Elsa Bankdirektoren und Großindustrielle verkehren und weil Künstler immer vor Leuten mit aufregend viel Geld großen Respekt haben. Dagegen platzen Bankdirektoren beinahe vor Stolz, wenn sie mit berühmten Künstlern Tee trinken können. Wegen der reichen Leute kommen auch viele Staatsbeamte zu Tante Elsa. Die wollen wieder von den Großindustriellen Empfehlungen an den Handelsminister, damit sie bei Gelegenheiten für Auszeichnungen und Beförderungen nicht vergessen werden. Dagegen suchen Bankdirektoren und Großindustrielle Freunde unter Staatsbeamten, weil man von denen gesprächsweise doch ganz interessante Informationen bekommt und weil man nie wissen kann, ob ein Staatsbeamter nicht bis zum Sektionschef vorrückt und einmal Minister wird.

Tante Elsa hatte meine Mutter auf der Straße getroffen und so von meiner Matura erfahren. Sie wollte nun besonders freundlich sein – nein, kein Maturageschenk, so weit ging die Freundschaft wieder nicht! – und lud mich für den nächsten Mittwochabend zu sich ein. »Es ist ein Empfang zu Ehren von Claudio Pauls«, bemerkte sie nebenbei. Aber es war natürlich nicht nebenbei gemeint und verfehlte auf meine Mutter nicht die Wirkung.

Zwei Tage lang bekam ich nun zu Hause zu hören, wer Claudio Pauls ist. Ich kannte den Namen natürlich schon, ich kannte auch seine Fotografien, denn viele Klassenkolleginnen trugen sie in den Schulmappen versteckt und holten sie in der Chemiestunde hervor. Die Mehrzahl der Klasse behauptete, dass man gerade in Chemiestunden so schön träumen kann.

Ich hatte Claudio Pauls nur einmal auf der Bühne gesehen. Es war in einem seiner selbst verfassten Stücke, und ich begriff damals nicht recht, warum das Publikum so begeistert war. Ein sehr sympathischer, sehr junger Mann stand auf der Bühne, er sprach sehr leise und schien sich um das Publikum überhaupt nicht zu kümmern. In dieser nachlässigen Art sagte er bitter sarkastische Dinge vor sich hin, alles gelang ihm in dem Stück, und er hätte sich mit der Hauptdarstellerin schon vor der großen Pause verloben können, aber das wollte er nicht und nahm das Mädchen erst im vierten Akt zur Braut. Alles sarkastisch, alles sehr charmant und gleichmütig. Die Zuschauer stürmten nachher zur Rampe vor, Mädchen warfen Blumen auf die Bühne, Claudio Pauls musste sich immer wieder verbeugen. Er tat das sehr gelangweilt und mit einem Lächeln, das sämtliche Frauen des Zuschauerraumes einfach nicht aufhören ließ zu applaudieren.

Nun erfuhr ich zu Hause, dass Claudio Pauls das Ideal jedes lokalpatriotisch veranlagten Wieners sei. Pauls ist nämlich Wiener, und als Sohn eines sehr reichen Vaters, der ihn in Oxford studieren ließ, schrieb er mit fünfundzwanzig Jahren sein erstes Theaterstück. Er spielte selbst die Hauptrolle, und seit diesem Abend ist er eine Wiener Lokalangelegenheit. Er wurde zum Begriff. In jeder Auslage sein Bild, auf jeder Reklame für Krawatten oder Rasierklingen seine Fotografie mit Unterschrift. Dann verschwand Claudio Pauls aus Wien, die Zeitungen berichteten von den Londoner Erfolgen und der Hollywooder Verfilmung seiner letzten Komödie, es wurde behauptet, er wolle nur mehr in englischer Sprache spielen und – ja, jetzt war er also nach Wien zurückgekommen, ein neues Lustspiel war in Vorbereitung, in einem anderen trat er bereits zum hundertfünfundzwanzigsten Male auf.

Dieser Götterliebling war von Tante Elsa eingeladen worden. Das Besondere daran war, dass er – die Einladung angenommen hatte. Und zufällig hatte ich gerade Matura gemacht, zufällig hatte Tante Elsa davon erfahren, und zufällig hatte Inge ein braunes Samtkleid mit schon etwas glänzenden Stellen, das für mich umgearbeitet wurde. Ich kann nicht sagen, dass ich mich auf den Abend besonders freute, ich sah mich bereits hilflos in den Ecken herumstehen, an einem Brötchen würgen, aus Verlegenheit zu heißen Tee trinken, wovon mir zu warm wurde, niemand fand sich, der mich in ein Gespräch zog, und – kurzum: So stellte ich mir den Abend vor! Übrigens – so begann er auch für mich.

Ich stand in den Ecken herum und hatte eben hastig zu heißen Tee getrunken. Es kamen immer mehr Leute. Tante Elsa hatte ein königsblaues Satinkleid an, sie knickste tief vor einem hohen kirchlichen Würdenträger, der eben erschienen war, und gratulierte übertrieben einer jungen Dame zu irgendeinem Erfolg. Später erfuhr ich, dass sich die junge Dame verlobt hatte. Dann stürzte sie plötzlich zur Tür, rief: »Meine Herrschaften, Herr Pauls!«, stellte sich dem Eintretenden entgegen und sagte überglücklich in die entstandene Stille: »O Claudio – wir haben Sie schon sehnsüchtig erwartet!«

Ich drängte mich etwas vor, um Claudio Pauls sehen zu können, aber erst stand die Tante vor ihm, und dann umringten ihn plötzlich unzählige Leute und wollten ihm die Hand geben. Ich sah nur schwarze Frackrücken und gepuderte Frauendekolletés, und weil keine Möglichkeit war, Herrn Pauls genau zu betrachten, ging ich zum Büfett. Dort war seit dem Eintritt dieses Herrn Claudio Pauls gar kein Gedränge mehr, ich häufte schnell ungezogen viel Brötchen auf einen Teller und schlich damit aus dem Raum. Im Nebenzimmer standen zwei Sofas. Auf jedem saßen ein Herr und eine Dame, beide Paare waren angeregt in Gespräche vertieft. Ich störte entsetzlich und sah zu, dass ich wieder hinauskam. Dann flüchtete ich in Onkels Bibliothekszimmer, wo kein Mensch war, weil es sehr ungemütlich eingerichtet ist. Ich stellte meinen Teller auf den großen Schreibtisch – bitte, ich hatte vorher ein Löschpapier untergelegt, damit das feine Mahagoniholz keine Fettflecke bekam –, setzte mich in den tiefen Fauteuil, der dahinter stand, und begann zu essen.

Der Teller war leer, das letzte Sandwich war mit Lachs belegt gewesen, und ich bekam Durst. Ich suchte etwas zu trinken und fand ein Tischchen mit drei dicken Flaschen. Auf der einen stand »Cognac«, und ich schüttete eine seltsam duftende, goldbraune Flüssigkeit in ein Glas. Ich kostete. Zuerst nahm ich nur einen ganz kleinen Schluck: Es brannte teuflisch! Ich nahm mich zusammen – Herrgott, alle Erwachsenen trinken Kognak, sagte ich mir – und machte einen großen Schluck. Dann riss ich schnell den Mund auf. Aaah – so spürt man weniger das Brennen! In der nächsten Sekunde ging ein wunderbar warmes Gefühl durch meinen Körper. Mir wurde ganz heiß. Plötzlich war ich fröhlich gestimmt und wusste nicht warum. Ich trank noch ein Glas Kognak. Diesmal mit einem einzigen ganz großen Schluck. Dann wieder – Mund auf! Wunderschön ist Kognaktrinken …

Alles wurde mir gleichgültig. Die Leute in den Nebenzimmern, die Sorgen um meine Zukunft, mein schäbiges braunes Samtkleid. Ich fühlte mich gar nicht mehr unsicher. Im Gegenteil, ich hatte Lust zu tanzen und Witze zu machen. Damals habe ich eine lebenswichtige Entdeckung gemacht: Kognak!

In dieser Stimmung warf ich mich in einen der Lederfauteuils, machte die Augen halb zu und summte die Melodien mit, die durch eine herabgelassene Portiere zu mir drangen. Jetzt tanzen sie drinnen, überlegte ich. Ein Saxofon quäkte ganz albern. Mich entzückte dieses dumme Gedudel. Es klang so ironisch, so, als ob sich dieses Saxofon über alles lustig machen würde. Ich begann zu pfeifen. Nicht sehr laut, aber dafür intensiv. Ich kam etwas außer Atem und trank noch ein Glas Kognak. Da wurde die Portiere beiseitegeschoben, und Claudio stand vor mir.

Ich wusste sofort, dass der Eintretende Claudio Pauls war. Man kennt das Gesicht doch von tausend Plakaten, von tausend Litfaßsäulen. Es war ein schmales Jungmännergesicht, sehr blass, beinahe krankhaft blass. Die dunkelbraunen Haare waren ganz glatt zurückgestrichen, mir fiel die sehr breite, eckige Stirn auf. Der Mund groß, die Lippen schmal. Irgendetwas fesselte mich an diesem Mund, ich konnte nicht ganz verstehen, was es war. Seltsamerweise ist Claudio viel kleiner, als ich ihn mir vorgestellt hatte, kaum über mittelgroß. Er trug einen wunderbar geschnittenen Frack, sogar ich sah, dass dieser Frack wunderbarer war als alle Fräcke, die ich je auf der Bühne oder im Film gesehen hatte. Der Frack war dunkelblau. Claudio nahm bei meinem Anblick das Monokel aus dem Augenwinkel, kniff die Augen zusammen, es sind so schöne graue Augen, und sagte – nein, zuerst sagte er gar nichts.

Ich stand vor ihm und starrte ihn an. Deshalb sind mir auch in dieser ersten Sekunde gleich alle Einzelheiten seines Aussehens aufgefallen. Ich bemerkte, dass seine Augen flackerten und dass auf der weißen Stirn kleine Schweißperlen standen. Herr Pauls fühlte sich nicht ganz wohl, dachte ich. Damals wusste ich noch nicht, dass Herr Pauls sehr viel getrunken hatte.

»Störe ich dich?«, fragte er plötzlich. Er hatte mich vielleicht zwei Minuten lang stumm angesehen. Nein – angesehen ist nicht das richtige Wort, es war, als hätte er über mich hinweggesehen. Als wäre er ärgerlich über meine Gegenwart, ohne mich doch jemals vorher gesehen zu haben.

Ich schwieg. »Ich bin etwas abgespannt, ich möchte fünf Minuten lang Ruhe haben«, sagte er. Er sprach besonders leise, es klang nachlässig, als langweile es ihn zu sprechen. Mit dieser Sprache erobert er das Theaterpublikum, diese empörend gleichgültige Art begeistert alle Frauen. So erklärte ich mir wenigstens in diesem Augenblick den Zauber, den Claudio Pauls auf eine ganze Stadt ausübt.

»Ich muss ein paar Minuten Ruhe haben, ich will nicht sprechen«, wiederholte er etwas nachdrücklicher, ließ sich dann in einen Fauteuil fallen, presste die Hände an die Schläfen und nahm an, dass ich bereits leise das Zimmer verlassen hatte.

Falsch, ganz falsch! Ich stand noch immer verdutzt an derselben Stelle und zermarterte mir den Kopf, wie ich mit Claudio Pauls ein Gespräch beginnen könnte. Mir fiel nichts ein. Da tat ich das, was mein ganzes späteres Leben entscheiden sollte: Ich ging auf den Zehenspitzen zu dem Tischchen mit der Kognakflasche hin, nahm ein Glas, füllte es bis zum Rand und schlich damit zu Herrn Pauls.

»Kognak erfrischt«, sagte ich und wollte so sprechen, wie ich mir vorstellte, dass Damen von Welt sprechen. Es geriet etwas zu laut, und Herr Pauls schreckte auf.

»So – ach so, du bist noch da. Danke – das ist eine gute Idee. Ich habe zwar schon sehr viel Kognak getrunken, aber man soll nie aufhören zu trinken. Sonst wird man schlapp, was, Kleine?«

»Ja, Herr Pauls.«

Ich stand vor ihm und wartete, dass er mir das leere Glas zurückgeben werde. »Ich könnte die Tante fragen, ob sie Kopfwehpulver zu Hause hat. Aber ich glaube, Kognak ist besser«, bemerkte ich altklug.

Er lachte. Es war das für ihn typische Lachen, das ich hasse. Ein sehr lautes, ganz kurzes Auflachen, es klingt höhnisch und überlegen.

Ich wurde rot. Er lacht mich aus, dachte ich.

»Du bist ein frühreifes Kind«, sagte Claudio und gab mir das leere Glas. »Schenk noch einmal ein!« Ich folgte. »Wie alt bist du?«, fragte er, nur um irgendetwas zu sagen.

»Achtzehn, ich habe vorige Woche Matura gemacht.« Claudio leerte das wieder angefüllte Glas in einem Zug. »Und was machst du jetzt?«

»Das weiß ich noch nicht, was die anderen wollen …«

»Wer sind – die anderen?«

»Die Eltern. Aber sie wissen nichts Rechtes mit mir anzufangen, ich bin nicht sehr gescheit …«

Blitzartig wandte Claudio den Kopf zu mir und sah mir ins Gesicht. Dann kam wieder das hässliche kurze Auflachen. »Nicht sehr gescheit! Das ist für eine Frau kein Unglück, Chérie. Im Gegenteil. Deine Aufrichtigkeit ist originell. Wie heißt du übrigens?«

»Anneliese.«

Claudio lächelte. In diesem Moment wirkte sein Gesicht hinreißend sympathisch: »Schade, Chérie – man könnte dich Li nennen. Oder Anja … aber es geht nicht.«

»Warum nicht, Herr Pauls?«

»Setz dich nieder, Chérie, ich werde es dir erklären. Nein, setz dich noch nicht – bring mir noch einen Kognak – so, danke –, jetzt setz dich nieder! Da her, auf die Lehne meines Fauteuils, da sehe ich dein Gesicht gut! Hör zu, Chérie – Li muss sehr klein, sehr schmal und sehr pikant sein, sie muss eine winzige Stupsnase haben und rotblonde Locken. Sie muss einfach bezaubernd sein. Und eine Anja – eine Anja muss vor allem schön sein, groß, schlank, anschmiegsam, mit einem wunderbar geschwungenen Mund: einem Mund wie eine reife Frucht, in die man hineinbeißen möchte – eine Anja muss eben ausgesprochen hübsch sein. Und du bist leider gar nicht hübsch, Chérie.«

Als Claudio diese entscheidenden Worte sagte, taten sie mir gar nicht weh. Ich sprach mit dem fremden Mann wie im Traum. Alles war so unwirklich und doch – so klar. Ein glänzender brauner Lederfauteuil, wie eine Insel. Die Zimmerwände mit der giftig grünen Tapete waren nicht mehr da und die zwei hässlichen Marmorstatuen im Erker auch nicht. Ich hörte nicht mehr Musik und vergaß die fremden Leute nebenan. Es gab nur noch zwei Menschen: den fremden Mann und mich. Mir war, als könnte ich schneller und klarer denken als sonst. Und das Sonderbarste: Ich konnte aussprechen, was ich gerade dachte. Und deshalb fragte ich ihn, brennend interessiert, aber im Augenblick gar nicht traurig: »Nicht wahr, ich bin sehr hässlich, Herr Pauls?«

Claudio sah mich prüfend an. »Ich muss mir bei dir vieles wegdenken, Chérie. Dein schlecht geschnittenes Kleid, deine etwas ausgetretenen Schuhe, deine roten Hände mit den abscheulich ungepflegten Nägeln. Beißt du am Ende Nägel? Nicht? Dann trage sie etwas länger, Chérie! Nein, auch wenn deine braunen, glatten Haare gewellt wären und einen goldenen Schimmer hätten, wärest du nicht hübsch. Und der Mund! Aber dein Teint wird sich bessern, wenn du etwas älter wirst und dir abends immer den Puder ordentlich vom Gesicht entfernst! Chérie, leider bist du ein hässliches Entlein …«

Wir lachten beide. Nun erinnerte ich mich wieder an die wunderbaren Frauen, die in den Nebenräumen tanzten und flirteten, und fand den Ausdruck »hässliches Entlein« lustig. Mir fiel sofort das alte Kindermärchen vom hässlichen Entlein ein. Ich schenkte mir ein Glas Kognak voll und trank schnell aus.

»Entlein, du bist jetzt meine kleine Freundin. Ich kann dich sehr gut leiden«, sagte der berühmte, viel geliebte Claudio Pauls zu mir.

»Entlein, du musst dein Leben selbst in die Hand nehmen. Haben deine Eltern Geld?«

Claudio fragte so selbstverständlich, dass ich ganz selbstverständlich antwortete:

»Nein, leider nicht. Aber wir tun so …«

»Du wirst einen Posten suchen, um ein bisschen Geld zu verdienen«, erklärte Claudio bestimmt. »Studieren hat gar keinen Sinn. Du bist wirklich nicht sehr gescheit. Und du brauchst bald etwas – es genügt etwas – eigenes Geld, damit du aus deinem äußeren Menschen ein annehmbares junges Mädchen machen kannst. To make the best of it! Verstehst du Englisch? Das Entlein soll versuchen, angenehm auszusehen. Wenn es nun schon als hässliches Entlein zur Welt gekommen ist …«

Ich nickte ernsthaft. »Sie sind sehr lieb, Herr Pauls«, flüsterte ich dankbar.

»Kennst du die kleine Bar im Grand-Hotel?«, fragte er.

»Ich war noch nie dort, aber ich weiß, wo sie ist.«

»Pass auf, Entlein, ich bin täglich nach Tisch dort. So zwischen zwei und vier. Komm einmal vorüber, wir sprechen weiter über dich.«

Es klang sehr bestimmt, ich zögerte nicht einen Augenblick: »Danke, Herr Pauls, ich komme sicherlich.«

»Sag, Entlein – die dicke Dame, die mich beim Eintreten begrüßt hat, ist das die Hausfrau? Ich meine, die in dem blauen Kleid. Ich kenne die Dame des Hauses nur sehr flüchtig. Und ich lerne immerzu so viele Menschen kennen, ich bin nicht immer ganz im Bilde.«

Ich musste lachen. »Über mich sind Sie ganz im Bilde, Herr Pauls?«

»Mein hässliches Entlein, ganz im Bilde!«

Da wurde die Portiere beiseitegeschoben, Tante Elsa rauschte herein, mit ihr rauschten noch ein paar Leute daher, alle blieben ganz erstaunt stehen:

Da lag Claudio Pauls, der Götterliebling, in einem Fauteuil, er hatte die Beine übereinandergeschlagen und auf das Kanapee gegenüber gelegt. Auf der Lehne seines Polstersessels saß ich und hielt die Kognakflasche in der Hand.

»Es ist lieb, dass Sie sich mit meiner kleinen Nichte befassen, Herr Pauls«, brachte schließlich meine Tante hervor. »Das Kind ist in Gesellschaft noch ein bisschen ungeschickt.«

»Clau – ich bin so müde, ich möchte schon gehen, obwohl es hier reizend ist«, sagte eine Dame neben der Tante. Ihre tiefe Stimme klang klagend, sie sprach wie ein verzogenes, sehr, sehr verwöhntes Kind.

»Verzeih, Liebling – dann werden wir uns gleich verabschieden«, sagte Claudio und sprang auf. Er streichelte der fremden Dame zärtlich über das goldblonde Haar und sah ihr sekundenlang unendlich lieb in die Augen.

Die liebt er irrsinnig!, dachte ich. Und sie ist wundervoll! Die blonde Frau, die ebenso groß war wie Claudio, legte den Arm um seine Schultern. »Sag der Kleinen doch Adieu«, meinte sie, und mit einem flüchtigen Lachen: »Dein neuer Flirt, nicht wahr, Clau?«

Ihr Silberfuchscape war zu Boden geglitten. Ich bückte mich eiligst und reichte es ihr.

»Danke, kleines Fräulein«, sagte sie, als ob sie mit einem Kind spräche. »Auf Wiedersehen, Entlein …«, rief Claudio und blinzelte mir zu. »Grüß Gott, Herr Pauls«, sagte ich. Aber er hörte es nicht mehr, die Tante sprach auf ihn ein, und die blonde Frau flüsterte ihm etwas ins Ohr, sie standen bereits im Nebenraum, und ein Dutzend andere Menschen umdrängten Claudio.

 

Irgendjemand brachte mich nach Hause, ich tastete mich durch die dunkle Wohnung in das Schlafzimmer von Inge und mir. Inge erwachte. »Erzähl«, bat sie schlaftrunken.

Ich wollte mit meinen Gedanken allein sein. »Morgen, ich bin zu müde«, sagte ich und vergrub mich in die Polster. »Hast du Claudio Pauls gesehen?«, wollte sie wissen. Ich weiß nicht, warum ich sie angelogen habe. Vielleicht, weil ich nichts erzählen und beschreiben wollte, vielleicht auch, weil ich über etwas sehr Wichtiges nachzudenken hatte.

»Wen meinst du?«, fragte ich sie, um Zeit zu gewinnen.

»Claudio Pauls!«

»Ja, gesehen schon. Aber ich wurde ihm nicht vorgestellt …«

Alles andere interessierte Inge nun nicht mehr. »Gute Nacht«, kam es nur noch zu mir herüber.

»Gute Nacht …«

Entlein – hässliches Entlein ging es mir durch den Sinn. Und dann dachte ich an die vielen fremden Frauen in ihren schimmernden Kleidern. Nicht eine Frau war dort, auf deren Lippen nicht leuchtendes Rouge lag. Silberfuchscape – ich hatte eines aufgehoben, es duftete nach – nein, nicht nach Rosen, aber so ähnlich – vielleicht war das Chypre oder Guerlain, man liest immer solche Ankündigungen. Ich muss meine Hände mit Creme einreiben, sie sind so rau, so ungepflegt. – Die Frau hatte silbern lackierte Nägel. Eine wunderbare Frau. – Clau, sagte sie, Clau. – Und dann schlief ich ein. Das Märchen vom hässlichen Entlein begann …

2

Es dämmerte, als ich aufwachte. Ich hatte ganz tief geschlafen, traumlos, ich war in das schwarze Nichts des Schlafes hineingefallen. Nun erwachte ich, wahrscheinlich, weil mein Kopf schmerzte. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte dreiviertel vier Uhr. Es war, als ob ein eiserner Ring meinen Kopf zusammenpresste. Ein scheußliches Gefühl. Und dabei war ich so entsetzlich wach. Ich habe entweder zu viel oder – zu wenig getrunken, um mich richtig wohlzufühlen, dachte ich.

Ich stieg aus dem Bett und ging zum großen Spiegel. Inge schlief fest. Es störte sie nicht, dass ich Licht machte. Nun stand ich dicht vor dem Spiegel und betrachtete aufmerksam das magere Ding im weißen Chiffonnachthemd, das mich aus dem Spiegel anstarrte. Das magere Mädchen wirkte sogar im Nachthemd sehr unhübsch. Und dabei schmeicheln doch Nachthemden den Frauen.

Das magere Ding hatte eine etwas nach oben strebende Nase, die rötlich glänzte. Die Wangen waren breit und zeigten unreinen Teint. Die Augen lagen hinter etwas hervortretenden Backenknochen, sie hatten eine seltsam grünliche Färbung und wären ja ganz hübsch gewesen, wenn lange, dunkle Wimpern sie in ein kleines Geheimnis gehüllt hätten. Wenn, ja wenn … Es gab aber keine langen, dunklen Wimpern und kein Geheimnis, nur ein paar kurze, sehr lichtbraune Härchen. Von den Augenbrauen ist besser gar nicht zu sprechen. Erst bei sehr liebevoller Betrachtung fanden sich an den Stellen, wo gut geratene Menschen Augenbrauen haben, ganz hellbraune Andeutungen. Dieses Gesicht wurde von halblangem, lichtbraunem, ganz glattem Haar umrahmt. Ein Scheitel teilte diese uninteressanten Haare, sie fielen in Strähnen über die Ohren und machten an der Schulter sehr läppische Versuche, sich zu ringeln. Die ganze Gestalt wirkte eckig und mager. Nun hob das Mädchen ein wenig das lange Nachthemd, um die Beine zu betrachten. Schöne Beine sind bei einer Frau so wichtig! Nun – es zeigte sich, dass das hässliche Mädchen auch hässliche Beine hatte. Die Beine waren zwar ganz gerade gewachsen, aber zu mager, sie waren wie zwei Latten und wirkten noch sehr kindlich. »Auch die Beine misslungen«, seufzte das hässliche Mädchen.

Es knipste das Licht ab, graue, kühle Dämmerung lag in dem kahlen Zimmerchen, das Mädchen kroch ins Bett zurück, zog die Decke über den Kopf und biss in das Polster.

Nein, das Mädchen wollte jetzt nicht an die wunderbaren Frauen denken, die mit Männern in gut geschnittenen Fräcken Cocktails trinken. Aber immer wieder sah es spiegelnden Parkettboden vor sich, es spürte beinahe die Luft, die von Zigarettenrauch blau schimmerte und süß duftete. Nach Guerlain – oder Chypre –, das Mädchen glaubte, dass dies die Luft sei, die man in der »großen Welt« atmet, in der es keine Tischgespräche über nicht bezahlten Dienstmädchenlohn und Schulgeld für Abiturientenkurse gibt. Eine irrsinnige Sehnsucht nach Leben, von dem man auf der Schulbank träumt und das doch »nach der Matura« beginnen soll, erfüllte das hässliche Mädchen. Ganz unklar war seine Vorstellung von diesem Leben. Nur eines wusste es: Man braucht Geld, um es sich kaufen zu können. Geld! Das hässliche Mädchen wird einen Abiturientenkurs besuchen und wieder auf der Schulbank sitzen. Dann wird das hässliche Mädchen Posten suchen und keinen finden. Und so wird das Leben vergehen und gar kein richtiges Leben sein.

Das hässliche Mädchen weinte, bis es das Kopfpolster umwenden musste, weil die eine Seite schon scheußlich nass war. Müdigkeit kam. Im Einschlafen dachte das Mädchen: »Ich werde Herrn Pauls alles fragen –«

Das hässliche Mädchen war ich. Es war eine schlimme Nacht für mich, diese Nacht, in der ich erfasste, wie schwer es ist, als hässliches Mädchen einen Weg ins Leben zu suchen.

 

Am nächsten Tag kam es mittags zu einer großen Diskussion zwischen den Eltern. Sommerfrische, ja oder nein? Es war irrsinnig heiß, alle waren gereizt, und die Diskussion wurde mit parlamentarischer Heftigkeit geführt. Das ist bei uns etwas ziemlich Ungewohntes, denn in unserem Haushalt herrscht eine diktatorische Regierung, alle fügen sich – zwar murrend und widerstrebend – den Entschlüssen von Papa.

Papa siegte auch diesmal: keine Sommerfrische! Er machte nur eine kleine Konzession. Mama sollte mit Inge für zehn Tage an den Wörthersee fahren und dort in der Villa von Mamas Freundin wohnen. Inge sah angegriffen aus, Inge sollte sich erholen, und sie hatte dort Gelegenheit, junge Leute kennenzulernen.

»Und wir zwei werden sehr oft für den ganzen Tag in ein Strandbad fahren«, sagte Papa zu mir und gab mir einen liebevollen Rippenstoß. »Ja, wir werden dort stundenlang in der Sonne liegen und gar nichts tun«, meinte ich begeistert.

Ich werde über vieles nachdenken, überlegte ich im Stillen. Wenn Mama und Inge fort sind, werde ich auch nicht so kontrolliert. Vielleicht kann ich dann einmal nach Tisch in die kleine Bar im Grand-Hotel schauen. Beim Nachtmahl musste ich von Tante Elsas Empfang erzählen. Ganz genau: womit die Brötchen belegt waren, wie viel Stubenmädchen servierten, was Tante Elsa für ein Kleid anhatte, wie Claudio Pauls von der Nähe aussieht. Ich antwortete, so gut ich konnte.

»Hast du auch Frau Markovsky gesehen?«, wollte Mama wissen. Ich wusste nicht, wer Frau Markovsky war. Und wurde nun belehrt, dass Lilian Markovsky, die Frau eines reichen Textilindustriellen, ihren Mann vor vier Wochen unter großem Aufsehen verlassen hatte. Eines Nachts brannte sie durch und rief ihren Mann am nächsten Morgen aus der Wohnung von Claudio Pauls an. Sie liebe Herrn Pauls und wolle bei ihm bleiben. Augenblicklich sei der Scheidungsprozess des Ehepaares Markovsky ein sehr beliebtes Thema in der Wiener Gesellschaft.

»Claudio Pauls hat einen schrecklichen Frauenverbrauch«, sagte Inge. Man wusste nicht, ob sie das tadelnd meinte oder bewundernd.

»Hat Frau Markovsky blonde Haare?«, wollte ich wissen.

Es stellte sich heraus, dass Frau Markovsky blonde Haare hat, sehr schlank und übermittelgroß ist und stets wunderschöne Kleider trägt. »Sie fährt zweimal im Jahr nach Paris, um neue Modelle zu kaufen«, wusste Inge.

»So, dann habe ich Frau Markovsky auch bei Tante Elsa gesehen«, berichtete ich. »Sie ging mit Herrn Pauls weg …«

»Pauls denkt sicher nicht daran, diese Frau zu heiraten«, erzählte Mama. Sie tat das mit einer gewissen Genugtuung, obwohl sie Frau Markovsky bestimmt nicht kannte.

Inge wurde eifrig. »Claudio Pauls liebt schöne Frauen wie ein anderer schöne Porzellanvasen oder Gemälde. Die Frauen laufen ihm geradezu ins Haus, er wirbt niemals um eine. Für ihn gibt es keine Liebestragödien, er erlebt und schreibt nur Komödien.«

»Du redest schrecklichen Unsinn zusammen, Inge«, sagte ich ihr ins Gesicht. Sie wurde wütend. »Das alles hat mir Plumberger erzählt. Plumberger ist der beste Freund von Claudio Pauls. Plumberger kennt ihn durch und durch. Sie sind fast täglich zusammen. Plumberger …«

Du lieber Gott – Plumberger!

Plumberger war täglicher Gesprächsstoff bei uns. Inges Leben drehte sich um die Anrufe dieses Herrn Plumberger, die selten genug erfolgten. Hie und da ging er mit ihr aus, dann sprach sie tagelang davon, wiederholte uns jeden Witz, den Herr Plumberger erzählt hatte, und legte jede seiner läppischen Schmeicheleien hundertmal aus. Inge wollte Frau Plumberger werden, und die Eltern hielten das für das größte Glück eines jungen Mädchens. Denn Herr Plumberger soll sehr reich sein. Er ist – aber es ist schwer zu erklären, was Herr Plumberger eigentlich ist. Man nennt ihn den »jungen Plumberger«. Der junge Plumberger ist ungefähr vierzig Jahre alt, sehr gut, etwas zu gut gekleidet. Sein Benehmen ist »überfeinert«. Überfeinert nenne ich die Leute, die sich feiner benehmen, als sie sind. Solche Plumbergers, die ein nasales Aristokraten-Wienerisch sprechen. Plumbergers, die nur in Lokalen soupieren können, in denen die Speisekarte in französischer Sprache abgefasst ist. Plumbergers, die verarmte Barone und berühmte Künstler zu Drinks einladen und dann sagen, sie verkehren in der Aristokratie und in der Boheme. Der junge Plumberger ist der Sohn vom alten Plumberger, der Präsident eines großen Industriekonzerns ist. Der alte Plumberger schuf aus dem Nichts ein Weltunternehmen und arbeitet heute noch von früh bis spät. Der junge Plumberger verfügt über zahlreiche Verwaltungsratsstellen und geht manchmal mit dem Handelsminister auf die Jagd. Denn der junge Plumberger pachtete die schönste Gamsjagd Österreichs, als er erfuhr, dass der neue Handelsminister leidenschaftlicher Hochwildjäger ist. Nun schießt der Handelsminister plumbergersche Gemsen, und der junge Plumberger glaubt an seine eigene volkswirtschaftliche Begabung.

Und dieser Herr Plumberger, dem sämtliche Mütter heiratsfähiger Töchter ihre Reverenz erweisen, führte unsere Inge manchmal zum Nachtmahl aus, und einmal war er sogar mit ihr in der Oper. Inge träumte die kühnsten Träume von Diamanten, Blaufüchsen und Luxuskabrioletts, Träume, in denen der junge Plumberger einen reizenden schwarzen Wuschelkopf hatte statt seiner leider sehr realen Glatze.

»Plumberger fährt nächste Woche mit Claudio Pauls nach Salzburg, sie verbringen dort zusammen den Sommer«, wusste Inge noch.

Ich wurde sehr traurig. Freilich, Claudio verbringt den Sommer nicht in Wien. Ich hätte daran denken können. Aber Claudio wird sein Entlein nicht vergessen. Ich werde im Herbst in die kleine Bar gehen …

 

Endloser Sommer. Heiße Tage. Ich lag auf den Holzpritschen der verschiedenen Strandbäder und starrte Löcher in den Himmel.

Die Sonne brannte, das tat meinem Teint ganz gut. Ich bekam braune Wangen. Im Sonnenbad blätterte ich meistens in Magazinen und konnte dabei viertelstundenlang die Fotografie einer schönen Schauspielerin anstarren. Ihren Mund. Ihre Augen. Ihr Lächeln …

Einmal fand ich auch ein Bild von Claudio in einer Zeitung. Es war in Salzburg aufgenommen worden. Er stand in kurzen Lederhosen und einem Janker vor dem Festspielhaus, einen Arm hatte er um Lilian Markovsky gelegt, die ein komisches Fantasiedirndl anhatte, den anderen um Marlene Dietrich. Er lachte ein siegessicheres Knabenlachen. Darunter stand: Der Liebling aller Frauen, Claudio Pauls.

Meine Gedanken gingen spazieren. Es muss sehr angenehm sein, von vielen Leuten geliebt zu werden. In Salzburg trägt er eine Lederhose. Abends nimmt er sicher den Frack. Dunkelblauer Frack, eigentlich sehr elegant. Im Herbst muss für mich alles anders werden. Mein Leben wird beginnen. Mein Leben … Ich habe nur noch ein paar Wochen zu warten. Noch dreißig Tage. Oder fünfunddreißig. Nicht wahr, Claudio?

Claudio – Clau –

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Anfang September. Ich ging in die Wollzeile, wo eine Schulbücherhandlung neben der anderen liegt, und führte ernste Unterhandlungen mit den Eigentümern. Es ist heute furchtbar schwer, Geld für zerfetzte Werke von Livius, Horaz und Cicero zu bekommen. Und mein Lesebuch für die Oberstufe konnte ich überhaupt nicht loswerden. Zu Hause langweilte ich mich entsetzlich. Schön war nur in der Frühe das Erwachen. Keine Schule mehr. Umdrehen und gleich weiterschlafen. Keine Schule mehr …

»Geh nach Tisch in die Handelsakademie und erkundige dich nach den Bedingungen des Abiturientenkurses«, sagte Papa. Ich nahm meinen Regenmantel, setzte achtlos die dunkelblaue Baskenmütze auf und schlug so laut wie möglich die Wohnungstür hinter mir zu. (Das mache ich immer, es hallt so schön im Stiegenhaus.)

Lief nun mit langen Schritten durch die Straßen. Prickelnder Wind blies um die Ecken und trieb mir Tränen in die Augen. Der Herbst war so plötzlich gekommen. Ich muss jetzt beginnen, mein Leben einzurichten, fiel mir ein. Schule gibt es nicht mehr. Vorbei. Endgültig vorbei. Und widerwillig nahm ich den Weg zur Handelsakademie.

Abiturientenkurs. Wieder vor einem grün angestrichenen Pult sitzen und mit einem Taschenmesser Monogramme hineinschnitzen. Und wieder auf den Schulschluss warten. Und auf die Abschlussprüfungen. Warten, immerfort warten. Zum Teufel: Ich will nicht.

Die Handelsakademie. Ich stand vor dem Eingang und starrte auf die trostlos graue Fassade des Schulgebäudes. Trotz überkam mich. Ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht. Langsam begann ich rund um den Häuserblock zu marschieren. Hielt den Kopf gesenkt, rempelte Leute an, merkte nichts, sah nichts, dachte nur. Dachte –

Du bist ein hässliches Mädchen, liebe Anneliese, sagte ich zu mir. Du wirst aber in der Handelsakademie bestimmt nicht schöner. Die Luft in einem Klassenzimmer kann für den Teint nicht vorteilhaft sein. Außerdem willst du doch dein eigenes Leben leben. Du bist doch ganz krank vor Sehnsucht nach der großen Welt. Selbstständigsein. Ja, das ist es. Du musst selbstständig sein. Deshalb bleibt dir nichts anderes übrig, als Geld zu verdienen. Du willst doch neue Menschen sehen, neue Kleider tragen, Musik hören, Kognak trinken …

Wieder der Eingang zur Handelsakademie. Ich sah schnell weg und setzte meinen Marsch fort. Ich werde eine Stellung suchen, dachte ich weiter. Jetzt gleich. Dann bin ich frei. Frei … Wenn ich mir ganz allein eine Existenz schaffe, gehört mein Leben mir. Mein Leben … Und ich gehe nie wieder in eine Schule. Muss auch nicht auf einen Mann warten. Ich will auf nichts mehr warten. Das ist keine Beschäftigung für ein hässliches Mädchen. Man darf doch sein Leben nicht versäumen. Das sogenannte große Glück kommt wahrscheinlich nur zu schönen Mädchen. Lieber Gott – vielleicht kann ich doch noch hübsch werden? Hässliche Mädchen müssen sich über ihre Zukunft so sehr den Kopf zerbrechen …

Man braucht Geld, um sich ein hübsches Aussehen zu kaufen. Das hat Claudio gesagt. Claudio ist objektiv, Claudio ist aufrichtig. Ich möchte doch so gern, so von Herzen gern – aber: Wie wird man hübsch? Claudio weiß das ganz bestimmt. Er sagt, dass ich bald Geld verdienen muss. Wir sprechen noch darüber – ja, so meinte er damals.

»Können Sʼ nicht aufpassen? Zwei Schilling!« Ein Wachmann packte mich an der Schulter. »Sehen Sʼ denn nicht – jetzt ist rotes Licht, da dürfen Sʼ nicht hinüber!«

Überall Schimpfen und Tuten. Ich stand mitten auf der Opernkreuzung. Ganz erfüllt von meinen Gedanken, war ich rund um die Handelsakademie gelaufen, dann über die Ringstraße, nun bildete ich ein Verkehrshindernis auf der Opernkreuzung, und von allen Seiten schrie man mich an. Schräg gegenüber liegt die kleine Bar.

»Verzeihung, Herr Inspektor, ich –«

»Zwei Schilling, Sie haben auf die Verkehrsordnung zu achten!«

Ich sah ihn flehend an. Vor Wachleuten und Eisenbahnbeamten bekam ich immer furchtbare Angst. Und in diesem Fall war es ganz besonders schlimm. Ich hatte nämlich kein Geld bei mir.

»Bitte, Herr Inspektor, ich hab kein Geld bei mir«, flüsterte ich.

Der Wachmann sah mich streng an. Er hatte einen Schnurrbart, und Männer mit Schnurrbart flößen mir besonderen Respekt ein.

»Also – schauen Sʼ jetzt, dass Sie weiterkommen! Aber das nächste Mal wird gezahlt, da lass ich Sie nicht nur mit einer Verwarnung davon!«, brüllte der Inspektor. Und wie er mich anschrie! Dann ließ er mich los, und ich stolperte zum Gehsteig. Dort musste ich ein paar Sekunden lang stehen bleiben. Ich zitterte und hatte wieder Tränen in den Augen. Aber nicht vom Wind, sondern weil ich so erschrocken war.

Ich biss die Zähne zusammen. Ich will doch selbstständig werden, sagte ich mir. Hässliche Mädchen brauchen viel Energie. Hässliche Mädchen werden von Wachleuten angeschrien und von Passanten beiseitegestoßen. Ich will nicht beiseitegestoßen werden. Ich muss Energie haben, sehr viel Energie …