Zu diesem Buch finden Sie unter http://www.junfermann.de (in der Mediathek zum Titel) ein Glossar, in dem die verwendeten Fachausdrücke und Abkürzungen erläutert werden.

Vorwort

Wenn Sie, wie ich selbst, ein aktiver Therapeut sind und Menschen mit klinischer Depression Hilfe leisten sollen, dann sind Sie mit Sicherheit bereits Leuten begegnet, die die Kriterien für eine Persistierende Depressive Störung (PDS) erfüllen. Vielleicht haben Sie diese Störung nicht richtig erkannt und dann, genauso wie ich seinerzeit, auf die Therapien zurückgegriffen, die Ihnen vertraut sind. In meinem Fall handelte es sich dabei um die Kognitive Verhaltenstherapie für Depressionen (KVT-D), die interpersonelle Therapie und, in jüngerer Zeit, die Verhaltensaktivierung (Beck, 1976; Klerman et al., 1984; Martell et al., 2001). Diese Therapien erfüllen unzweifelhaft alle Anforderungen in Bezug auf Wirksamkeit und Effizienz, wenn es um die Behandlung einer akuten Depression geht. Eben deshalb fragten Sie sich selbst vermutlich ebenso wie ich, weshalb die KVT-D bei einigen Ihrer Patienten mit eher lang andauernder Depression anscheinend so schwierig anzuwenden ist und auf sie wenig bis gar keine Wirkung hat. Ich habe hierzu eine Hypothese: Diese augenscheinlich „widerstrebenden“, „behandlungsresistenten“ oder „persönlichkeitsgestörten“ Patienten, die zwar klinisches Leid verspürten, aber dennoch immun gegenüber Ihren standardmäßigen und routiniert angewendeten psychotherapeutischen Kunstgriffen waren, litten vermutlich an einer Persistierenden Depressiven Störung.

Die Persistierende Depressive Störung gilt mittlerweile als unterdiagnostiziert, fehlbehandelt und deutlich prävalenter, als man früher glaubte. Sie wird weiterhin als Störung angesehen, die sich nur schwer bis zur Remission oder Genesung behandeln lässt und die erfahrene Therapeuten erfordert, welche über einen erheblichen Zeitraum hinweg mit den betreffenden Patienten arbeiten. So viel ist also bekannt. Allerdings war man sich bis vor kurzem sehr unsicher in Bezug darauf, welche Art von psychologischer Behandlung im Zusammenhang mit dieser Störung zum Einsatz kommen sollte.

Ich war 35 Jahre lang ein Verhaltenstherapeut der „ersten Welle“. Im Laufe der vergangenen 25 Jahre habe ich immer wieder Abstecher zur „dunklen Seite“ gemacht, um mich dort der „zweiten Welle“, den im Rahmen der „kognitiven Wende“ aufkommenden kognitiven Therapierichtungen anzuschließen. Aber ich weigere mich aus zwei Gründen, ein Anhänger der „dritten Welle“ zu werden. Erstens kann ich über die vielen Varianten der KVT, die diese „Wende“ inzwischen schon hervorgebracht hat, nicht mehr den Überblick behalten. Zweitens, und das ist viel entscheidender, liefert die vorliegende empirische Evidenz keinen Beleg für die Wirksamkeit der Achtsamkeitsbasierten Kognitiven Therapie (ABKT), der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT), der Verhaltensaktivierung (VA) oder der Compassionate Mind Therapy (CMT) – ich entschuldige mich für jede Therapie, die ich hier nicht mit aufzähle –, wenn es um die Behandlung einer chronischen Depression bzw. Persistierenden Depressiven Störung geht.

Mal ernsthaft: Wer mich kennt, der weiß, dass dieser augenzwinkernde Kommentar zur „dunklen Seite“ einen ganz bestimmten Hintergedanken beinhaltet. Wenn ich mich selbst als Experten bezeichne, dann liegt das hauptsächlich an den vergangenen 25 Jahren, die ich damit verbracht habe, praktizierenden Klinikern in Schottland die Durchführung von KVT in ihrer modernsten Form zu vermitteln. Darüber hinaus stand der Großteil meiner klinischen KVT-Praxis innerhalb der letzten 15 Jahre im Kontext einer spezialisierten tertiären Versorgung, die sich auf die physische und psychologische Behandlung der chronischen Depression1 konzentrierte. Technisch und akademisch gesehen bin ich also ein KVT-Enthusiast.

Und jetzt kommt der Moment in diesem Vorwort, den ich am meisten gefürchtet habe. Nach 25 Jahren KVT-Praxis muss ich leider die folgende Schlussfolgerung ziehen: „Standard-KVT-D taugt einfach nicht für die Behandlung der Persistierenden Depressiven Störung!“

So, jetzt habe ich es ausgesprochen. Einfach geradeheraus. Nun fühle ich mich wie ein Verräter und rechne jeden Moment damit, dass die KVT-Polizei an meine Tür klopft. Vertrauen Sie in Bezug auf meine Aussage aber nicht allein auf mein Wort, denken Sie auch einmal an Ihre eigenen klinischen Erfahrungen in der Arbeit mit Patienten, die an einer PDS leiden. Und betrachten Sie außerdem eine neuere Metaanalyse (Cuijpers et al., 2010) sowie eine aktuelle systematische Übersichtsarbeit (Spijker et al., 2013). Die Autoren beider Publikationen betonen die nach wie vor magere Befundlage in Bezug auf die optimale Therapie für chronische Depression / Persistierende Depressive Störung und vertreten, mit dem gebührenden Maß an Vorsicht, dass das Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP) wahrscheinlich die richtige psychologische Behandlungsform für diese Patientengruppe darstellt.

Ich selbst habe im Jahr 2000 zum ersten Mal vom CBASP gehört, als die Ergebnisse einer großen multizentrischen, randomisierten kontrollierten Studie veröffentlich wurden (Keller et al., 2000). Diese einflussreiche Studie enthüllte, dass CBASP ebenso wirksam war wie antidepressive Medikamente. Darüber hinaus zeigte die Kombination von CBASP und Antidepressiva eine geradezu erstaunliche Wirksamkeit in Bezug auf das Erreichen von Remissions- und Genesungsraten, wie sie zuvor in keiner Studie zur PDS beobachtet worden waren. Bemerkenswerterweise zeigte sich in einer nachträglichen Analyse der Daten, dass CBASP einen positiven differentiellen Effekt in einer Gruppe von Patienten hatte, die frühe negative oder traumatische Lebensereignisse hinter sich hatten (Nemeroff et al., 2003).

Als Kliniker, der fast ausschließlich mit chronisch depressiven Patienten arbeitete und von seinem hauptsächlich eingesetzten psychologisch-therapeutischen Rüstzeug ein wenig desillusioniert war, betrachtete ich CBASP damals als etwas, dem man definitiv einen genaueren Blick widmen sollte. Einige Jahre darauf machte ich mich, ausgestattet mit detaillierten Kenntnissen der wichtigsten CBASP-Lehrbücher (McCullough, 2000, 2001, 2003) und in Begleitung dreier schottischer „CBASP-Freunde“ auf, um beim Begründer des CBASP, Professor James P. McCullough Jr., in Richmond, Virginia, USA eine Ausbildung zu absolvieren.

Ich bin zwar oft losgezogen, um an Trainingsveranstaltungen teilzunehmen, aber ich betrachte meinen Besuch in Richmond, meine „Exposition“ an Theorie und Praxis von CBASP und die während des Trainings und danach mit „Big Jim“ verbrachte Zeit heute als die mit Abstand erfreulichste, herausforderndste und lehrreichste Erfahrung meiner beruflichen Laufbahn. Jim ist gleichzeitig charismatisch, warm, großzügig, ein wundervoller Lehrer, ein herausragender Kliniker, ein durchweg hingebungsvoller und respektierter Forscher und eine wahre Naturgewalt. Er gehört zu einer kleinen Gruppe klinischer Forscher, die unbeirrt daran gearbeitet haben, chronische / persistierende Depression ebenso zu verstehen wie Möglichkeiten zu finden, den therapeutischen Herausforderungen zu begegnen, die die Arbeit mit dieser Patientengruppe beinhaltet. Im Laufe der vergangenen 40 Jahre widmete er seine eigene klinische Praxis Patienten mit Persistierender Depressiver Störung. Dieses knappe halbe Jahrhundert einflussreicher Forschung und klinischer Erfahrung bildet die Grundlage für die Formulierung von CBASP als überzeugende Therapieform.

Es ist ein Vergnügen und auch ein Privileg, um ein Vorwort für dieses neueste Werk der Professoren McCullough, Schramm und Penberthy gebeten zu werden. Das vorliegende Buch wurde von Praktikern für Praktiker geschrieben. Es ist sowohl eine Aktualisierung als auch eine Weiterentwicklung der Theorie und der Leitlinie für die klinische Praxis, die von Jim in seinem wegweisenden Text aus dem Jahr 2000 erstmals dargelegt wurde. Vierzehn Jahre später verfassten Jim, Elisabeth (Schramm) und Kim (Penberthy) einen weiteren integrierten und schrittweise aufgebauten Ansatz für das Verständnis der Prinzipien und der Praxis des CBASP. Der klare und praktische Ansatz des Textes wird in reichhaltiger und effektiver Weise durch klinische Vignetten unterstützt, die wertvolle Einsichten in die Anwendung der diversen Schritte im Rahmen des Behandlungsprotokolls liefern.

Während meiner Reisen im Zusammenhang mit CBASP / KVT begegnete ich vielen Klinikern und „Experten“ in KVT (und anderen Therapien), die mir sagten, dass CBASP doch nur eine andere Form von KVT-D, eine andere Form von Verhaltensaktivierung oder in irgendeiner Weise wie diese oder jene Therapie sie. Dieses oftmals absichtliche Missverstehen / falsche Darstellen von CBASP verwundert mich zutiefst.

Täuschen Sie sich nicht, CBASP ist mit keiner der oben genannten Richtungen vergleichbar. Es ist bis heute die einzige Psychotherapie, die gezielt für die Behandlung der Persistierenden Depressiven Störung entwickelt wurde. CBASP ist eine stark verhaltensanalytisch ausgerichtete Therapie, die sich auf die Verbesserung und Veränderung interpersoneller Konsequenzen fokussiert. Und sie wirkt genau dort, wo wir leben – in Gruppen, mit anderen Menschen zusammen. Gute Beziehungen zu anderen Menschen wirken bereits an und für sich antidepressiv (Lewinsohn et al., 1984, 1985, 1992). Menschen mit PDS sind einfach nicht gut darin, Beziehungen aufzubauen, aufrechtzuerhalten oder zu reparieren. CBASP nutzt daher, in bewusster und transparenter Weise, die Beziehung zwischen Therapeut und Patient als grundlegendes therapeutisches Werkzeug, um eine neuartige Lernerfahrung zu bieten (McCullough, 2006a). Im Rahmen der Sitzung wird eine Reihe von Kontingenzen bereitgestellt, die sich von denjenigen unterscheiden, welche ansonsten in der Welt des Patienten auftauchen. Das Ziel hierbei ist ein Empfinden gefühlter Sicherheit. Es wird eine behavioral und dann emotional korrektive emotionale Erfahrung geliefert, durch die der Patient ein funktionaleres Bewusstsein der Auswirkungen seines eigenen sozialen Verhaltens auf andere Menschen gewinnen kann. Die depressogenen Konsequenzen dieser Auswirkungen werden aufgedeckt. Strategien zur Linderung dieser Konsequenzen werden erkundet und dem Patienten eingeprägt. In diesem sorgsam choreografierten interpersonellen Setting können Patienten beginnen, andere Arten des Umgangs in der Sicherheit des Behandlungsraumes zu erkunden, und diese danach, was wichtiger ist, draußen in der realen Welt in ihrem sozialen Umfeld praktizieren.

Jim, Elisabeth und Kim liefern hier eine umfassende und detaillierte Erläuterung aller Aspekte dieser neuartigen und in klinischer Hinsicht vielversprechenden Therapie. Das vorliegende Buch legt, aus erster Hand, die distinktiven und einzigartigen Prinzipien und Praktiken im CBASP klar und präzise dar. Wenn Sie besser verstehen möchten, wie sich die einzigartige Psychopathologie der chronisch depressiven Person entwickelt und welche Herausforderungen diese für jede Hilfe leistende Partei beinhaltet, dann lesen Sie dieses Buch. Wenn Sie ein paar „Erleuchtungen“ in Bezug darauf haben möchten, weshalb Ihr vertrautes / gewohntes psychotherapeutisches Modell bei Ihren chronisch depressiven Patienten nicht wirkt, dann lesen Sie dieses Buch. Wenn Sie erfahren möchten, wie Sie eine speziell dafür entwickelte, klar protokollbasierte Therapie für chronisch depressive Patienten anbieten können, dann lesen Sie dieses Buch. Wenn Sie Ihren Patienten zu besseren Therapieergebnissen in Form verbesserter sozialer Funktionalität mit einer damit einhergehenden verminderten Belastung durch depressive Symptome verhelfen möchten, dann lesen Sie dieses Buch. Wenn Sie ein Gefühl therapeutischer Wirksamkeit und „Freude“ an der klinischen Arbeit an PDS wiedergewinnen möchten, dann ... LESEN SIE DIESES BUCH!

John Swan

Clinical Senior Lecturer

University of Dundee

April 2014

Einleitung

Dieser Text ist der krönende Abschluss von 30 Jahren an Praxis und Forschung, und er wurde von drei Personen verfasst, die im Zentrum der Entwicklung von CBASP standen. Als wir im Jahre 1984 mit unserer ersten Publikation zum CBASP begannen, gab es noch keine spezifische diagnostische Kategorie für chronische Depression. Aufgrund der Forschung und Arbeit einiger Personen, die auf dem Gebiet der chronischen Depression tätig waren, beinhaltet das DSM-5 der American Psychiatric Association nun seit 2013 eine formale diagnostische Kategorie namens Persistierende Depressive Störung (PDS), um diesen unipolaren Patiententyp zu beschreiben. Der vorliegende Text basiert auf der Nomenklatur der PDS. Die beiden Koautoren, Elisabeth Schramm und J. Kim Penberthy, waren zwei der ersten Psychotherapeuten, die von Jim McCullough in der Anwendung der CBASP-Methode ausgebildet und zertifiziert wurden. Doktor Schramm arbeitet in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in der Universitätsklinik Freiburg und in der psychiatrischen Universitätsklinik in Basel. Sie hat sich verdientermaßen einen Ruf im deutschsprachigen Raum als eine der herausragendsten Psychotherapieforscherinnen und Psychotherapeutinnen aufgebaut. Doktor Schramm führt nach wie vor einige der wegweisenden klinischen Studien durch, in denen CBASP mit diversen anderen zeitgenössischen Behandlungsmodalitäten verglichen wird; ihre Forschungsbemühungen waren – neben der Veröffentlichung des deutschen Manuals für die Einzel- und Gruppentherapie sowie anderen Büchern und wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum CBASP – entscheidend für die Verbreitung von CBASP in Deutschland, Europa, Großbritannien und den USA. Associate Professor Penberthy arbeitet an der School of Medicine der University of Virginia im Department of Psychiatry and Neurobehavioral Sciences. Kim leistete Pionierarbeit in Form von Forschungen an chronisch depressiven alkoholabhängigen Patienten, befasst sich nun mit CBASP-Gruppenarbeit und entwickelt darüber hinaus auch ein Therapiemanual zur CBASP-Gruppentherapie.

In Teil 1 werden die theoretischen Grundsätze des Modells beschrieben, das – wie man betonen muss – den einzigen Behandlungsansatz darstellt, der spezifisch für die Therapie der PDS entwickelt wurde. Das Modell beruht auf einer interpersonellen Betrachtungsweise der Psychopathologie, und die ersten Kapitel beschreiben detailliert das pathologische Dilemma bei einer PDS, mit dem die Patienten sich konfrontiert sehen – insbesondere diejenigen mit frühem Störungsbeginn, von denen viele in von Misshandlungen und / oder Vernachlässigung geprägten familiären Umfeldern aufgewachsen sind. Zur Korrektur der katastrophalen kognitiv-emotionalen und behavioralen Auswirkungen dieser familiären Erfahrungen propagiert CBASP eine neue Rolle des Psychotherapeuten, die als Diszipliniert persönliches Einbringen bezeichnet wird und es dem CBASP-Therapeuten abverlangt, gegenüber den Patienten als interpersoneller „Teilnehmer“ aufzutreten. Wir haben bereits früh erkannt, dass die traditionelle psychotherapeutische Rolle, bei der die Therapeuten den nicht involvierten Part eines „unbeschriebenen Blattes“ übernehmen, für den Umgang mit an einer PDS leidenden Patienten zu begrenzt ist. Die Rolle des „unbeschriebenen Blattes“ ist nicht nur ungeeignet für eine Modifikation des Verhaltens von vielen unserer typischerweise zurückgezogenen und emotional losgelösten Patienten, sie hat auch zu starke Einschränkungen hinsichtlich der Möglichkeiten zur Modellierung zentraler Aspekte einer normalen menschlichen Beziehung. Tatsächlich muss man vielen Patienten mit PDS beibringen, wie sie auf der interpersonellen Ebene funktionieren. Die eben darauf ausgerichtete spezielle Rolle des Therapeuten im CBASP zählt zu den charakteristischen Eigenschaften, die das Modell von anderen heute verfügbaren Psychotherapiesystemen abheben.

In Teil 2 wird die Anwendung des CBASP bei Patienten mit persistierender Depression beschrieben. Alle CBASP-Techniken werden erläutert und zahlreiche Fallbeispiele erleichtern dem Leser das Verständnis. Beispielsweise zeigen Abbildungen, wie man schwierige Patienten mittels des Einsatzes von Kontingenter persönlicher Reaktion (KPR) in den Griff bekommt. Das CBASP hat den Begriff des „Pre-Therapy-Patienten“ geprägt, um Personen zu beschreiben, die ein interpersonell so stark destruktives Verhalten zeigen, dass therapeutische Lernprozesse hierdurch verhindert werden. Im CBASP ist die Etablierung interpersoneller Sicherheit in der Dyade ein entscheidendes Behandlungsziel. Dabei wird die Interpersonelle Diskriminationsübung (IDÜ) dazu genutzt, auf Seiten des Patienten sichere Unterscheidungen zwischen ihm nahestehenden anderen Menschen, die ihn früher misshandelt und verletzt haben, und der Person des Therapeuten zu ermöglichen. Schließlich wird auch noch die am häufigsten verwendete Technik, die Situationsanalyse (SA), beschrieben und anhand zahlreicher Beispiele vertieft. Die Situationsanalyse unterstützt Patienten bei der Herstellung einer perzeptuellen Verbindung mit ihren interpersonellen Umgebungen. Hierzu wird ihnen in aufeinander aufbauenden Einzelschritten beigebracht, dass ihr Verhalten bestimmte Konsequenzen bei anderen Menschen hervorruft, die ihnen entweder helfen oder sie verletzen. Zu lernen, dass das eigene Verhalten identifizierbare interpersonelle Konsequenzen hat, wird als wahrgenommene Funktionalität bezeichnet. Die Situationsanalyse als Maßnahme richtet sich direkt gegen die hilflose Haltung chronisch depressiver Patienten, die in der Regel zu dem Schluss kommen, dass ihr Verhalten keinen Unterschied macht. Mittels der Situationsanalyse bekommen die Patienten wiederholt demonstriert, dass ihr Verhalten einen enormen Unterschied macht!

Schließlich stellt CBASP ein empirisches Lernparadigma dar, und alle CBASP-Techniken wurden in Form von Ausführungs- / Leistungsparametern operationalisiert, damit die Lernprozesse analysiert werden können. Dies bedeutet, dass sich psychologische Einzelfallexperimente mittels CBASP durchführen lassen; der Therapeut hat die Möglichkeit zu einer systematischen Untersuchung der Abhängigkeit zwischen dem Ausmaß des Lernens im Laufe des Therapieprozesses und Veränderungen in den ergebnisabhängigen Variablen der Behandlung.

James P. McCullough Jr.

Elisabeth Schramm

J. Kim Penberthy

15. Das einzigartige strukturelle Format der CBASP-Sitzungen

Die erste Sitzung im CBASP beinhaltet die allererste Begegnung zwischen Therapeut und Patient. Dabei müssen mehrere Dinge erreicht werden. Normalerweise beginnen Therapeuten mit der Frage danach, warum der Patient zur Behandlung erscheint. Alle Patienten haben ihre eigene „Geschichte“ zu erzählen. Diese Geschichte und begleitende Verhaltensweisen müssen aufmerksam angehört und beobachtet werden, da beide essentielle autobiografische Informationen offenlegen. Der Kliniker führt während der ersten Sitzung eine implizite Erhebung des Geisteszustandes durch (mental status examination, MSE: McCullough, 2012a). Die MSE beinhaltet die traditionelle Beobachtung des allgemeinen Verhaltens des Patienten, die Beachtung der kognitiven Inhalte, die die Qualität der Denkprozesse widerspiegeln, eine Einschätzung der Stimmungslage, eine Schätzung des generellen intellektuellen Leistungsniveaus des Patienten und letztlich einen Rückschluss auf den sensorischen Zustand des Patienten (McCullough, 2012a). Der Begriff implizite MSE bedeutet hierbei, dass keine spezifischen MSE-Fragen gestellt werden; stattdessen füllen Informationen, die aus dem Verhalten des Patienten gewonnen wurden, die Lücken in den MSE-Kategorien auf. Als Nächstes wird festgestellt, ob die Beschwerden hinsichtlich der Stimmungslage unipolarer Natur sind, und wenn ja, ob die affektive Störung die Kriterien für eine akute / episodische (Major Depression) oder eine chronische (PDS) Störung erfüllt. Wenn die Störung unipolar ist und die Kriterien für eine PDS erfüllt, besteht der nächste diagnostische Schritt in der Klärung der Frage, ob im klinischen Verlauf eine Dysthymie mit frühem Störungsbeginn vorausging. Dies geschieht mittels einer grafischen Darstellung des klinischen Verlaufs (McCullough et al., 1996). Erwachsene Patienten mit einem Beginn der Dysthymie vor oder während der Pubertät berichten in der Mehrzahl der Fälle von einer schädigenden Entwicklungsgeschichte. Wie wir bereits mehrfach erwähnt haben, werden diese Vorgeschichten von Misshandlung die interpersonellen Erwartungen beeinflussen, die die Patienten auf die Kliniker übertragen.

In der zweiten und oft auch der dritten Sitzung wird die Entwicklungsgeschichte in Bezug auf nahestehende Menschen durchgegangen, und nach dem Ende der Sitzung konstruiert der Therapeut eine Übertragungshypothese. Die letzte Aufgabe der zweiten oder dritten Sitzung besteht darin, dem Patienten das Patientenmanual für CBASP auszuhändigen (McCullough, 2003; dt. (2006): Mein Weg aus der Depression mit dem Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy CBASP. München: CIP), begleitet von der Aufforderung, das Manual zu lesen und sich auf eine Diskussion desselben bei der nächsten Sitzung vorzubereiten.

In der dritten Sitzung stehen drei Aufgaben an. Erstens wird das Patientenmanual besprochen und alle Fragen des Patienten beantwortet. Zweitens wird den Patienten erläutert, weshalb sie ihre CBASP-Behandlungserfahrung und die Rolle ihres Psychotherapeuten wahrscheinlich qualitativ anders finden werden als alle früheren Erfahrungen mit Psychotherapie. Dabei wird der Erklärung der Rolle des Diszipliniert persönlichen Einbringens besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Die dritte Aufgabe ist die erste Anwendung der Situationsanalyse, wobei die Begründung für jeden Schritt und die übergeordneten Ziele der Übung langsam erläutert werden. Die Patienten erhalten diverse Fragebögen zum Bewältigungsverhalten (Coping Style Questionnaires, CSQ) und werden gebeten, zu jeder Sitzung einen ausgefüllten CSQ mitzubringen.

Etwa 70 Prozent der darauffolgenden Sitzungen werden mit der Situationsanalyse verbracht. Außerdem folgen auf die meisten Situationsanalysen Rollenspiele. Diese werden zwischen Therapeut und Patient durchgeführt, um assertives Verhalten zu lehren. Während etwa 30 Prozent der Sitzungen wird die IDÜ durchgeführt, wenn Hotspots auftreten. Wie oben ausgeführt, werden die Patienten rigoros in der IDÜ trainiert, um den Kliniker von verletzenden nahestehenden Menschen zu unterscheiden.

Die weiteren Sitzungen folgen der prozeduralen Beschreibung der dritten Sitzung ohne das Besprechen des Patientenmanuals; allerdings werden die Patienten ermutigt, das Manual von Zeit zu Zeit erneut zu lesen.

30. CBASP-Fallbeschreibung (Teil B)

Die Werte auf dem Childhood Trauma Questionnaire (CTQ; Bernstein & Fink, 1998), die in der fünften Sitzung erhoben wurden, fielen auf den Skalen „emotionaler Missbrauch“, „emotionale Vernachlässigung“ und „körperliche Vernachlässigung“ in den Bereich schwerer Ausprägungen, was Jamies frühe Eigenberichte über ihre Familie bestätigte. Die Zusammenfassung ihrer Lernprozesse in der Situationsanalyse und den IDÜs ist zusammen mit den GBW-Leistungsvariablen in Abbildung 30.1 dargestellt.

Leistungsmaße für die Lerninhalte (siehe Kapitel 28): 1) Die vier Schritte umfassende interpersonelle Diskriminationsübung (IDÜ) wurde während der ersten zehn Sitzungen durchgeführt. JPM stellte Jamie dabei die folgenden Fragen: Schritt 1: „Hast du dich heute um mich gekümmert?“ Schritt 2: „Vergleiche bitte das Sichkümmern in unserer Arbeitsbeziehung mit den Beziehungen zu deinen Bezugspersonen bei dir zuhause.“ 2) Die traditionelle, fünf Schritte umfassende Situationsanalyse wurde verkürzt und in vier Schritten durchgeführt: Schritt 1: „Was ist die Problemsituation (Beschreibung der Situation)?“ Schritt 2: „Was hast du getan (Beschreibung des Verhaltens)?“ Schritt 3: „Wie ist die Situation für dich ausgegangen (tatsächliches Ergebnis)?“, und Schritt 4: „Hast du in dieser Problemsituation bekommen, was du wolltest (erwünschtes Ergebnis)?“ Alle Situationsanalysen wurden auf dem Flipchart in JPMs Büro niedergeschrieben – die ersten von JPM, die restlichen von der Patientin.

Variablen für die generalisierten Behandlungswirkungen (GBWs, siehe Kapitel 28): Die GBWs zur Erfassung der Wirksamkeit der Behandlung waren 1) BDI-II (Beck, 1996); 2) Shapiros (1961, 1964) Personal Questionnaire (PQ); Niveau „Störung“: „Ich werde nie in der Lage sein, meine Depression zu bewältigen“; Niveau „Verbesserung“: „Manchmal denke ich, dass ich in der Lage sein werde, meine Depression zu bewältigen“; Niveau „Gesundheit“: „Die meiste Zeit über denke ich, dass ich in der Lage sein werde, meine Depression zu bewältigen“ (eine Beschreibung dieser Scoring-Niveaus findet sich in Kapitel 28); 3) das Impact Message Inventory (IMI: Kiesler & Schmidt, 1993) wurde nach den Sitzungen 2, 10 und 34 ausgefüllt. Die Werte des IMI zeigten nach den Sitzungen 10 und 34 höhere Werte auf den freundlichen, dominanten und freundlich-dominanten Oktanten, was belegte, dass Jamie mehr auf andere Menschen zuging (> Werte auf dem Oktanten „freundlich“), in aktiverer Weise die Kontrolle über ihr Leben übernahm (> Werte auf dem Oktanten „dominant“) und größere Bereitschaft zeigte, anderen Menschen ihre Stärken zu demonstrieren (> Werte auf dem Oktanten freundlich-dominant); 4) der während Sitzung 34 erneut durchgeführte Eysenck Personality Questionnaire. Ihre Werte für Neurotizismus und Extraversion erreichten dabei das 61. Perzentil (was größere emotionale Stabilität belegt) und das 20. Perzentil (keine Veränderung im Ausmaß der Introversion).

Abbildung 30.1: Zusammenfassung von Jamies Lernprozessen

Abschließende Zusammenfassung der wichtigsten Aspekte

„Hey Big Jim! Ich dachte, ich schicke Ihnen mal eine E-Mail mit ein paar guten Nachrichten, weil ich Ihnen ja ansonsten immer nur schlechte Nachrichten mitteile. Ich bin schon halb durch mein zweites Semester am College, momentan genau in der Mitte der Frühlingsferien. Ich weiß, dass Sie bei sich die Ferien schon letzte Woche hatten, deswegen hoffe ich, dass Sie und Ihre Frau eine nette, erholsame Pause einlegen konnten! Wir (meine Mitbewohner und ich) sind nach Kitty Hawk, North Carolina, gefahren, aber es war zu kalt zum Schwimmen und das war etwas enttäuschend. Ich studiere immer noch Forensik, obwohl ich daran denke, Arabisch als Nebenfach zu wählen. Ich weiß, dass das seltsam klingt, aber ich glaube, dass das eine gute Idee für die Zukunft ist, insbesondere weil ich für die Bundesregierung arbeiten möchte. Ich dachte mir, dass Sie das interessant finden würden, weil ich mich erinnere, dass Sie vor ein paar Jahren im Koran gelesen habe. Wie auch immer, jetzt aber zu den guten Nachrichten! Ich bin auf eine Jobmesse hier in Mason gegangen, weil ich das wegen eines Kurses tun musste. Die Arbeitgeber dort haben hauptsächlich nach festen Angestellten gesucht – also den Absolventen direkt vom College. Ich habe mit ein paar Leuten vom National Air and Space Museum gesprochen und hatte das Glück, dass sie ein Bewerbungsgespräch mit mir führen wollten. Das Lustige ist, dass es offenbar zwei National Air and Space Museums gibt, und ich zum falschen gefahren bin. Am Ende habe ich dann aber doch noch das Bewerbungsgespräch im zweiten bekommen, dem in DC! Das alles ist jetzt vielleicht etwas verwirrend, aber das Ergebnis ist dasselbe, ich fange morgen dort an. Das wollte ich Ihnen unbedingt sagen, denn als ich noch in der Highschool war und in die Therapie bei Ihnen ging, habe ich oft über zwei Dinge geredet, die mir helfen würden, von meinen Eltern unabhängig zu werden: 1) aufs College zu gehen und 2) einen richtigen Job zu finden. Also, Mission erfüllt! Ich wünsche Ihnen ein wundervolles Schuljahr,

Jamie“

Anmerkungen

1 Die Bezeichnung „Persistierende Depressive Störung“ kam erst vor zwei Jahren mit dem DSM-5 auf.

2 In diesem Buch wird ebenso wie im englischsprachigen Original ausschließlich die Terminologie aus dem DSM verwendet, da Verweise auf die diagnostischen Kriterien und Begrifflichkeiten laut ICD den Rahmen sprengen würden. Zum Störungsbild selbst ist anzumerken, dass im 2013 erschienenen DSM-5 die bisherigen diagnostischen Kategorien „chronische Major Depression“ (Symptomatik einer Major Depression über mehr als zwei Jahre) und „Dysthymie“ zur „Persistierenden Depressiven Störung (PDS)“ zusammengefasst wurden. Der in der Literatur oft anzutreffende Namenszusatz „Dysthymie“ in Klammern hinter der Bezeichnung „persistierende depressive Störung“ dient lediglich als Hinweis auf die Integration beider Störungen und wird aus Gründen der Lesbarkeit hier nicht übernommen. (Anmerkung des Übersetzers)

3 Der englische Terminus „Contingent personal responsivity“ wird in der deutschsprachigen Literatur unterschiedlich übersetzt, so auch als „kontingent persönliche Responsivität“ oder als „konsequent-persönliches Einlassen“. In diesem Buch wird durchgängig die Terminologie aus dem deutschsprachigen Therapiemanual verwendet.

4 In der deutschen Version des Interpersonal Message Inventory ist der hier im Original stehende Begriff „stimulus value“ mit „interpersonelle Persönlichkeit“ übersetzt, was sich jedoch in der deutschsprachigen Literatur nicht durchgesetzt hat und daher in dieser Übersetzung nicht übernommen wurde. (Anmerkung des Übersetzers)

5 Zu diesem Textteil ist anzumerken, dass PDS und Dysthymie im DSM-5 zu einem einzigen Störungsbild zusammengefasst wurden. Das Beispiel stammt offensichtlich aus einem Fall, der noch nach DSM-IV diagnostiziert wurde. (Anm. d. Übersetzers)

6 Der Begriff „Minister“ bezeichnet hier das kirchliche Amt im Christentum, keine politische Funktion. (Anm. des Übersetzers)

James P. McCullough, Elisabeth Schramm & Kim Penberthy
CBASP
Chronische Depression effektiv behandeln
Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy

 

Reihe
Therapeutische Skills kompakt
Band 11

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