Über dieses Buch

Cover

Arcanjo, der letzte Sohn einer berühmten Dynastie von Großwildjägern Mosambiks, macht sich auf in ein Dorf, das von menschenfressenden Löwen heimgesucht wird. Nach und nach entdeckt er die dunklen Geheimnisse der Dorfgemeinschaft: Die Frauen sind Opfer brutaler Traditionen. Eines Nachts wird das Dorf erneut von Löwen angegriffen.

Mia Couto

Mia Couto (*1955) gehört zu den herausragenden Schriftstellern des portugiesischsprachigen Afrika. Mehrere Jahre war er als Journalist und Chefredakteur tätig. Für sein Werk wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Prémio Camões, dem Neustadt-Literaturpreis und dem Jan-Michalski-Preis.

Karin von Schweder-Schreiner

Karin von Schweder-Schreiner (*1943) hat in Deutschland und Portugal studiert und mehrere Jahre in Brasilien gelebt. Zu den von ihr übersetzten Autoren aus dem portugiesischen Sprachraum zählen Jorge Amado, Antonio Callado, Bernardo Carvalho, Mia Couto, Rubem Fonseca, Lídia Jorge und Moacyr Scliar.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Mia Couto

Das Geständnis der Löwin

Roman

Aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.

Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel A Confissão da Leoa bei Editorial Caminho, Alfragide.

Die Übersetzung wurde vom SüdKulturFonds in Zusammenarbeit mit LITPROM – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. unterstützt.

Originaltitel: A Confissão da Leoa (2012)

© by Mia Couto 2012

Vermittelt durch die Literarische Agentur Mertin, Inh. Nicole Witt

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30857-2

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 30.11.2021, 19:18h

Transpect-Version: ()

DRM Information: Der Unionsverlag liefert alle E-Books mit Wasserzeichen aus, also ohne harten Kopierschutz. Damit möchten wir Ihnen das Lesen erleichtern. Es kann sein, dass der Händler, von dem Sie dieses E-Book erworben haben, es nachträglich mit hartem Kopierschutz versehen hat.

Bitte beachten Sie die Urheberrechte. Dadurch ermöglichen Sie den Autoren, Bücher zu schreiben, und den Verlagen, Bücher zu verlegen.

http://www.unionsverlag.com

mail@unionsverlag.ch

E-Book Service: ebook@unionsverlag.ch

Unsere Angebote für Sie

Allzeit-Lese-Garantie

Falls Sie ein E-Book aus dem Unionsverlag gekauft haben und nicht mehr in der Lage sind, es zu lesen, ersetzen wir es Ihnen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn Ihr E-Book-Shop schließt, wenn Sie von einem Anbieter zu einem anderen wechseln oder wenn Sie Ihr Lesegerät wechseln.

Bonus-Dokumente

Viele unserer E-Books enthalten zusätzliche informative Dokumente: Interviews mit den Autorinnen und Autoren, Artikel und Materialien. Dieses Bonus-Material wird laufend ergänzt und erweitert.

Regelmässig erneuert, verbessert, aktualisiert

Durch die datenbankgestütze Produktionweise werden unsere E-Books regelmäßig aktualisiert. Satzfehler (kommen leider vor) werden behoben, die Information zu Autor und Werk wird nachgeführt, Bonus-Dokumente werden erweitert, neue Lesegeräte werden unterstützt. Falls Ihr E-Book-Shop keine Möglichkeit anbietet, Ihr gekauftes E-Book zu aktualisieren, liefern wir es Ihnen direkt.

Wir machen das Beste aus Ihrem Lesegerät

Wir versuchen, das Bestmögliche aus Ihrem Lesegerät oder Ihrer Lese-App herauszuholen. Darum stellen wir jedes E-Book in drei optimierten Ausgaben her:

Modernste Produktionstechnik kombiniert mit klassischer Sorgfalt

E-Books aus dem Unionsverlag werden mit Sorgfalt gestaltet und lebenslang weiter gepflegt. Wir geben uns Mühe, klassisches herstellerisches Handwerk mit modernsten Mitteln der digitalen Produktion zu verbinden.

Wir bitten um Ihre Mithilfe

Machen Sie Vorschläge, was wir verbessern können. Bitte melden Sie uns Satzfehler, Unschönheiten, Ärgernisse. Gerne bedanken wir uns mit einer kostenlosen e-Story Ihrer Wahl.

Informationen dazu auf der E-Book-Startseite des Unionsverlags

Solange die Löwen sich nicht ihre eigenen Geschichten ausdenken, werden in Jagdberichten immer Jäger die Helden sein.

Afrikanisches Sprichwort

Vorbemerkung

Im Jahr 2008 schickte das Unternehmen, in dem ich arbeite, fünfzehn junge Leute nach Cabo Delgado im Norden von Mosambik, wo sie als Umweltschutzbeauftragte seismische Bohrungen begleiten sollten. Zur selben Zeit wurden in der Gegend zum ersten Mal Menschen von Löwen angefallen. Innerhalb weniger Wochen kamen mehr als ein Dutzend Menschen ums Leben. Und in rund vier Monaten stieg die Zahl der Opfer auf zwanzig.

Unsere jungen Kollegen arbeiteten im Busch, schliefen in Zelten und bewegten sich zu Fuß von Dorf zu Dorf. Damit waren sie für die Löwen leichte Beute. Es mussten dringend Jäger zu ihrem Schutz entsandt werden. Und natürlich auch zum Schutz der dortigen Landbevölkerung. Wir rieten dem Erdölkonzern, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und die Löwen, denen Menschen zum Opfer gefallen waren, zu erlegen. Man engagierte zwei erfahrene Jäger und schickte sie von Maputo nach Palma, wo die meisten Löwenangriffe stattfanden. Dort engagierten sie weitere ortsansässige Jäger. Die Zahl der tödlichen Opfer war inzwischen auf sechsundzwanzig gestiegen.

Die Jäger erlebten zwei Monate lang Frustration und Schrecken, täglich wurden sie um Hilfe gebeten, bis es ihnen endlich gelang, die Mörderlöwen zu töten. Doch hatten sie es auch noch mit anderen Problemen zu tun. Ständig wurde ihnen suggeriert, die wahren Täter seien Bewohner der unsichtbaren Welt, wo Gewehre und Kugeln nichts mehr auszurichten vermögen. Nach und nach wurde den Jägern klar, dass die Rätsel, vor denen sie standen, lediglich Symptome sozialer Konflikte waren, die zu lösen ihre Möglichkeiten weit überstieg.

Ich habe diese Situation aus nächster Nähe erlebt. Zahlreiche Besuche an dem Ort, wo sich dieses Drama abspielte, haben mich zu der Geschichte inspiriert, die ich hier, auf wahren Begebenheiten und realen Personen basierend, erzähle.

Mariamars Version

1

Die Nachricht

Selig ist der Löwe, den der Mensch isst, und der Löwe wird Mensch werden. Und verflucht sei der Mensch, den der Löwe frisst, und der Löwe wird Mensch werden.

Thomasevangelium

Gott war einmal eine Frau. Bevor er sich weit von seiner Schöpfung zurückzog und als er noch nicht Nungu hieß, glich der jetzige Herr des Universums allen Müttern dieser Welt. Damals, in jener anderen Zeit, sprachen wir dieselbe Sprache wie die Meere, die Erde und der Himmel. Mein Großvater sagt, dieses Reich sei schon lange untergegangen. Aber irgendwo tief in uns steckt noch die Erinnerung an diese ferne Epoche. Erhalten haben sich Illusionen und Gewissheiten, die in unserem Dorf Kulumani von Generation zu Generation weitergegeben werden. Wir alle wissen zum Beispiel, dass der Himmel noch nicht endgültig fertig ist. Es sind die Frauen, die seit Jahrtausenden an diesem grenzenlosen Schleier weben. Wenn ihr Leib sich wölbt, kommt ein Stück Himmel hinzu. Umgekehrt schrumpft dieses Stück des Firmaments wieder, wenn sie ein Kind verlieren.

Vielleicht war das der Grund, warum meine Mutter Hanifa Assulua während der Beerdigung ihrer ältesten Tochter unentwegt die Wolken beobachtete. Meine Schwester Silência war das letzte Opfer der Löwen, die seit ein paar Wochen unser Dorf terrorisierten.

Weil sie verstümmelt war, legte man ihren restlichen Körper auf die linke Seite, den Kopf nach Osten und die Füße nach Süden ausgerichtet. Während der Zeremonie sah es aus, als tanzte unsere Mutter – unzählige Male beugte sie sich über einen von ihr selbst getöpferten Wasserkrug, besprengte die Erde ringsum und trat sie dann im selben Wiegeschritt wie beim Säen mit beiden Füßen fest.

Auf dem Heimweg von der Beerdigung gab es in den Augen meiner armen Mutter zu viel Himmel. Der Weg nach Hause dauerte nur wenige Schritte – der Familienfriedhof lag nicht weit vom Dorf. Hanifa legte am Fluss Lideia eine kurze Pause für das Reinigungsbad ein, während ich weiter hinten die Fußspuren verwischte, die zum Grab führten.

»Schüttelt die Füße ab, der Staub geht gern mit auf den Weg.«

Im heiligen Boden unseres Friedhofs zeigte ein neues Kreuz an, dass wir uns von Muslimen und Heiden unterschieden. Heute weiß ich: Wir legen auf die Toten eine Grabplatte, aber nicht aus Ehrerbietung. Sondern aus Angst. Wir fürchten, sie könnten zurückkehren. Mit der Zeit wird diese Angst stärker als die Sehnsucht.

Alle Angehörigen hielten sich an das Gebot: Für den Rückweg nahmen sie eine ganz andere Strecke als für den Hinweg. Trotzdem ging mir das Bild nicht aus dem Kopf: Silências Leichnam auf Schultern getragen, in weiße Tücher gewickelt, die wippten wie gebrochene Flügel.

Auf der Schwelle unserer Haustür sah Mutter das Haus an, als machte sie ihm Vorwürfe: so lebendig, so alt, so zeitlos. Unser Haus unterschied sich von den Hütten der anderen. Es war aus Zement gebaut, hatte ein Wellblechdach und war mit Wohnzimmer, Schlafzimmern und Küche ausgestattet. Auf dem Fußboden lagen Teppiche, und vor den Fenstern hingen verstaubte Gardinen. Auch wir unterschieden uns von den übrigen Einwohnern von Kulumani. Vor allem meine Mutter Hanifa Assulua war anders, sie war assimiliert und die Tochter von Assimilierten. Auf dem Rückweg von der Beerdigung fiel mir auf, wie schön sie war. Selbst mit kahl geschorenem Kopf, wie es die Trauer verlangt, überstrahlte ihr Gesicht die Traurigkeit. Eine Weile sah sie mich an, als überlegte sie, wie sehr sie mich schätzte. Ich glaubte, in ihrem Blick läge mütterliche Zärtlichkeit. Das war ein Irrtum. Ein anderes Gefühl diktierte ihr die Worte: »Du wirst nie die Trauer einer Mutter erleben.«

»Bitte, Mama, ich habe gerade meine Schwester verloren«, sagte ich.

»Du wirst nie eine Tochter verlieren. Das hat Gott so gewollt.«

Damit drehte sie sich um. Nun barfuß, trat sie durch die Tür und ließ sich aufs Bett sinken. Man kann eine Tochter beerdigen, ja. Das hatte sie schon einmal getan. Doch solch ein Abschied geht nie zu Ende. Niemand verlangt mehr Aufmerksamkeit von einer Mutter als ein totes Kind.

Dann forderte mein Vater die Klageweiber auf, unser Grundstück zu verlassen. Er trat in das Dämmerlicht im Haus, beugte sich über seine Frau und fragte: »Warum hast du dir die Haare abgeschnitten? Sind wir nicht Christen?«

Hanifa zuckte die Achseln. In diesem Augenblick war sie überhaupt nichts. Die Klageweiber waren verstummt, und sie konnte mit solch tiefer Stille nicht umgehen.

»Und was machen wir jetzt, Ntwangu?«

Wie alle Frauen in Kulumani sprach sie ihren Mann mit Ntwangu an. Er hieß Genito Serafim Mpepe. Aus Respekt nannte sie ihn jedoch nie bei seinem Namen. Wir waren assimiliert, ja, aber wir gehörten doch zu sehr zu Kulumani. Unsere Gegenwart war ganz und gar aus der Vergangenheit entstanden. Ihr Mann hatte sich jetzt an sie geschmiegt und sprach in ungewohnt sanftem Ton zu ihr, jedes Wort eine Wolke zur Reparatur des Himmels.

»Was wir jetzt machen? Jetzt, also … jetzt, jetzt leben wir, Frau.«

»Leben, das kann ich nicht mehr, Ntwangu.«

»Niemand kann das. Aber das ist es, was unsere Tochter von uns verlangt: Wir sollen leben.«

»Erzähl mir nicht, was unsere Tochter verlangt. Du hast ihr nie zugehört.«

»Nicht jetzt! Sag das nicht jetzt, Frau.«

»Du hast meine Frage nicht verstanden: Was machen wir mit dem Teil von unserer Tochter, den wir nicht begraben haben?«

»Darüber will ich nicht sprechen. Lass uns schlafen.«

Auf einen Ellbogen gestützt, richtete sie sich halb auf. Die Augen weit aufgerissen wie eine Ertrunkene.

»Aber unsere Silência …«

»Sei still, Frau! Hast du vergessen, dass wir den Namen unserer Tochter nie wieder aussprechen dürfen?«

»Ich muss es wissen: Welche Teile von ihrem Körper haben wir begraben?«

»Ich habe gesagt, du sollst still sein, Frau.«

Ein leichtes Zittern in seiner Stimme – wahrscheinlich kämpfte mein Vater mit inneren Dämonen. Er sah den noch tropfenden blutgetränkten Sack mit den sterblichen Resten seiner Tochter vor sich. Und wieder überkam ihn die Erinnerung, die sich nicht begraben ließ: das Durcheinander von Stimmen und Schreckensschreien, das ihn in der Nacht zuvor geweckt hatte. Genito Mpepe war über den Hof gegangen, er ahnte die Tragödie. Kurz zuvor hatte er gehört, wie die Löwen um das Haus schlichen. Und mit einem Mal hatten sich Löwengebrüll, Schreie und Wehklagen aufgelöst, die Welt war in Trümmer zerfallen, sein Inneres vollkommen entleert. Um so etwas vergessen zu können, darf man nie gelebt haben.

»Das Herz?«, fragte Hanifa weiter.

»Fragst du wieder? Habe ich nicht gesagt, du sollst still sein?«

»Haben wir das Herz begraben? Du weißt genau, was sie mit dem Herz machen …«

Mein Vater atmete tief ein und betrachtete die alten Kleider, die unter der Decke hingen. Er fühlte sich nicht anders als die Kleidungsstücke, schlaff und kraftlos im Leeren. Die Stimme kehrte ihm zurück, nun sanft: »Du musst so denken: Für ein Kind gibt es kein Grab.«

»Ich will nichts hören, ich will hinaus.«

»Hinaus?«

»Ich will nachsehen, was von unserer Tochter noch hier im Busch liegt …«

»Nein. Du gehst nicht aus dem Haus.«

»Daran wird mich niemand hindern.«

Ja, sie wollte hinausgehen, dort suchen, wo es keine Menschenwege mehr gibt, sich die Füße blutig aufreißen, die Augen würden ihr in der Sonne brennen, aber sie musste nach dem suchen, was von Silência, ihrer für immer Kleinen, übrig geblieben war. Mein Vater stellte sich ihr drohend in den Weg: »Ich binde dich mit einem Strick an, so wie man es mit den Tieren macht.«

»Dann binde mich an. Ich bin schon seit Langem ein Tier. Du schläfst schon seit Langem mit einem Tier in deinem Bett …«

Damit war das Thema beendet. Hanifa schlang stumm die Arme um die Beine, als wäre sie zum Einschlafen bereit.

»Willst du auf dem Fußboden schlafen?«, fragte Genito.

Sie streckte den Körper auf dem Boden aus, legte den Kopf auf den Stein. Sie wollte dem Innern der Erde lauschen. Die Frauen von Kulumani kennen Geheimnisse. Sie wissen zum Beispiel, dass die Babys im Mutterleib sich zu einem bestimmten Zeitpunkt drehen. Auf der ganzen Welt drehen sie sich, einer einzigen, tellurischen Stimme gehorchend, um sich selbst. Dasselbe gilt für die Toten: In ein und derselben Nacht – und nur in dieser Nacht – erhalten sie die Anweisung, sich im Leib der Erde umzudrehen. Und dann leuchten über den Gräbern Lichter auf, ein Schwirren von silbrigem Staub. Wer mit dem Ohr auf dem Boden schläft, kann hören, wie sich die Toten umdrehen. Aus diesem Grund – Genito wusste davon nichts – lehnte Hanifa Bett und Kopfkissen ab. Sie lag auf dem Boden und horchte in die Erde. Schon bald würde ihre Tochter sich bemerkbar machen. Und vielleicht würden ihr sogar die Zwillinge Uminha und Igualita, die früher Verstorbenen, Botschaften aus dem Jenseits schicken?

Der Mann legte sich nicht hin, er wusste, dass ihn eine lange Nacht erwartete. Die Erinnerung an den zerfetzten Körper der Tochter würde ihn um den Schlaf bringen. Das Brüllen des Löwen würde in ihm nachhallen, seine schlaflosen Stunden zerreißen. Er verbrachte eine Weile auf der Terrasse und spähte in die Dunkelheit. Vielleicht brachte die Stille ihm etwas Ruhe.

Eine Frage quälte ihn: Wie hatte die Tragödie geschehen können? War die Tochter mitten in der Nacht aus dem Haus gegangen? Und wenn es so war, hatte sie ihrem Leben ein Ende machen wollen? Oder war umgekehrt der Löwe ins Haus eingedrungen, hatte sich also wie ein Einbrecher und nicht wie ein Raubtier verhalten?

Plötzlich zersplitterte die ganze Welt, verstohlene Schritte zerrissen die Stille im Busch. Genito wollte das Herz aus der Brust springen. Jetzt geschah das, was immer geschieht: Die Löwen kamen die Reste vom Vortag fressen.

Als wäre etwas in ihn gefahren, brüllte der Mann los und rannte im Kreis herum: »Ich weiß, dass ihr da seid, ihr Höllensöhne! Zeigt euch, ich will sehen, wie ihr aus dem Dickicht kommt, ihr seid Vantumi va vanu!«

Ich beobachtete vom Fenster aus, wie er in seiner wahnwitzigen Erregung die Raubtiere als Menschenlöwen beschimpfte, als Vantumi va vanu. Plötzlich sank er zu Boden, als hätte man ihm die Knie gebrochen. Langsam hob er den Kopf und sah, dass ihn dunkle Fledermausflügel umarmten. Kein Geräusch war zu hören, kein Blatt, kein Flügel raschelte über seinem Kopf. Genito Mpepe war ein Fährtenleser, er kannte sich mit den kaum wahrnehmbaren Spuren in der Savanne aus. So manches Mal hatte er zu mir gesagt: Nur die Menschen kennen Stille. Für alle anderen Lebewesen ist die Welt niemals still, selbst das Wachsen von Gräsern und Entfalten von Blütenblättern macht enormen Krach. Die Tiere im Busch leben nach dem Gehör. Das wünschte mein Vater sich in diesem Augenblick sehnlichst: ein Tier zu sein. Und fern von allen Menschen in seine Höhle zurückkehren zu können, weder Leid noch Schuldgefühl zu empfinden und einzuschlafen.

»Ich weiß, dass ihr da seid!«

Nun waren seine Worte nicht mehr hasserfüllt. Nur Heiserkeit ließ seine Stimme brüchig klingen. Unter wiederholten Beschimpfungen kehrte er zurück ins Haus und suchte Zuflucht im Schlafzimmer. Seine Frau lag noch immer auf dem Fußboden, so zusammengekauert wie vorher. Als er ihre Decke zurechtzupfte, klammerte sich Hanifa Assulua schlaftrunken an ihren Mann und rief: »Komm, wir lieben uns!«

»Jetzt?«

»Ja. Jetzt!«

»Du bist ganz durcheinander, Hanifa. Du weißt nicht, was du sagst.«

»Du lehnst mich ab, Mann? Du willst es nicht mal schnell mit mir machen?«

»Du weißt, dass wir das nicht dürfen. Wir haben Trauer, das Dorf wird beschmutzt.«

»Genau das will ich – das Dorf beschmutzen, die ganze Welt.«

»Hanifa, hör mir zu: Die Zeit wird vergehen, wir werden vergessen. Die Menschen vergessen sogar, dass sie lebendig sind.«

»Ich bin schon lange nicht mehr lebendig. Und jetzt bin ich auch kein Mensch mehr.«

Mein Vater sah sie befremdet an. So hatte seine Frau noch nie gesprochen. Eigentlich sprach sie fast nie. Sie war immer verschlossen gewesen, hatte sich im Schatten gehalten. Seit dem Tod der Zwillinge hatte sie kein Wort mehr gesprochen. Weshalb ihr Mann sie von Zeit zu Zeit fragte: »Lebst du noch, Hanifa Assulua?«

Doch ging es nicht darum, dass sie so wenig sprach. Das Leben überhaupt war für sie zu einer Fremdsprache geworden. Wieder einmal begab sich seine Frau in eine solche Geistesabwesenheit, dachte Genito und merkte im Dunkeln nicht, dass Hanifa sich auszog. Als sie nackt war, umarmte sie ihn von hinten, und Genito Mpepe ließ sich von der Schlangenzärtlichkeit übermannen. Er schien schon besiegt, da schüttelte er plötzlich die Frau ab und floh in den Innenhof. Dann verschwand er in der Finsternis.

In der Geborgenheit des Schlafzimmers gab meine Mutter sich kühnen Liebkosungen hin, als wäre ihr Mann in Wirklichkeit bei ihr. Dieses Mal bestimmte sie, ritt auf ihrer eigenen Kruppe, tanzte über dem Feuer. Sie schwitzte und stöhnte: »Mach weiter, Genito! Mach weiter!«

Da spürte sie den Schweißgeruch. Säuerlich und scharf, wie von einem Tier. Dann hörte sie das Knurren. Meiner Mutter kam der Gedanke, dass nicht ihr Mann über ihr war, sondern ein Tier aus dem Busch, das es nach ihrem Blut dürstete. Beim Liebesakt hatte Genito Mpepe sich in ein Raubtier verwandelt und verschlang sie buchstäblich. Von seiner Unersättlichkeit erdrückt, war sie wie gelähmt, ganz seinen Raubtiergelüsten ausgeliefert.

Ich bin verrückt, dachte sie, schloss die Augen und atmete tief ein. Als sie jedoch spürte, wie die Kralle ihr den Hals aufriss, schrie sie aus voller Lunge, sodass sie sekundenlang nicht wusste, ob vor Schmerz oder Lust. Mein Vater stürmte ins Haus, er ahnte nicht, was sich da abspielte. Seine Frau lief in entgegengesetzter Richtung durch die Tür, und Genito konnte nicht verhindern, dass sie kopflos hinaus auf den Hof rannte.

Hätte unsere Mutter bewusst entscheiden können, dann wäre sie weit weg geflohen, wäre endlos weitergelaufen. Aber Kulumani ist ein geschlossener Ort, eingeschlossen durch seine Geografie und geschwächt durch Angst. Noch einmal blieb Hanifa Assulua am Eingang zum Hof stehen, neben der Dornenhecke, die uns vor dem Busch schützt. Sie hob die Hände an den Kopf, führte sie über das Gesicht, als wischte sie Spinnweben weg: »Ich habe diesen Ort zerstört! Ich habe Kulumani zerstört!«

Und das würde man im Dorf dann sagen: dass Genito Serafim Mpepes Frau nicht abgewartet hatte, bis die Erde erkaltet war. Sex an einem Trauertag, während das Dorf noch erhitzt war – eine schlimmere Beschmutzung gab es nicht. Durch den Liebesakt an diesem Tag – und dazu noch mit sich selbst – hatte Hanifa Assulua alle unsere Ahnen beleidigt.

Als sie sich wieder hinlegte, schleppte meine arme Mutter die Last der Nacht, sie schwankte zwischen Schlaf und Wachsein. Frühmorgens hörte sie die schläfrigen Schritte von Genito Mpepe.

»Stehst du so früh auf, Mann?«

Unsere Mutter war jeden Morgen vor Sonnenaufgang auf den Beinen – sie sammelte Holz, holte Wasser, machte Feuer, bereitete das Essen, arbeitete auf dem Feld, knetete die Tonerde, das alles erledigte sie allein. Und nun teilte der Mann ohne ersichtlichen Grund die Last des Alltags mit ihr?

»Ich habe Neuigkeiten«, verkündete Genito Mpepe feierlich.

»Neuigkeiten? Du weißt doch, Ntwangu, in Kulumani ist es eine Neuigkeit, wenn eine Eule schreit.«

»Es kommen Leute. Leute von auswärts.«

»Leute? Richtige Leute?«

»Aus der Hauptstadt.«

Meine Mutter sagte nichts, sie überlegte verwundert. Der Mann dachte sich Sachen aus. Seit Jahrhunderten hatte es hier keine Neuigkeiten und keine Fremden gegeben …

»Seit wann weißt du das?«

»Seit ein paar Tagen.«

»Du weißt, dass das eine Sünde ist.«

»Was?«

»Nachrichten erfahren ist gefährlich, Neuigkeiten verbreiten ist eine Sünde. Glaubst du, Gott wird uns vergeben?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, wedelte Hanifa mit den Armen, als wollte sie Gespenster vertreiben, und geriet dabei in das Laubwerk um sie herum. Sie fasste sich mit einer Hand an die Schulter und stellte fest, dass sie blutete.

»Was ist das, Ntwangu? Wer hat mich gekratzt?«

»Niemand. Das waren Dornen, die Dornen von der Akazie. Ich muss sie beschneiden.«

»Nein, das war nicht der Baum. Jemand hat mich gekratzt. Sieh dir meine Schulter an, das sind Krallenspuren, jemand hat mich mit Krallen gekratzt.«

Sie diskutierten. Aber beide hatten recht. In ihrem Dorf hatten selbst die Pflanzen Krallen. In Kulumani ist alles, was lebt, im Beißen geschult. Die Vögel knabbern am Himmel, die Äste zerfetzen die Wolken, der Regen frisst die Erde, die Toten setzen ihre Zähne ein, um sich an ihrem Schicksal zu rächen. Hanifas Augen starrten suchend in den Busch. Auf ihrem Gesicht lag der Ausdruck einer verängstigten Gazelle.

»Da ist einer in der Dunkelheit, Ntwangu.«

»Beruhige dich, Frau.«

»Da ist einer, der hört uns zu. Komm, wir gehen ins Haus.«