VERLAG DIE WERKSTATT
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Iris Hadbawnik
Mount Everest
Ein Berg wird erobert
Mythos
VERLAG DIE WERKSTATT
FÜR OLI:
meine Inspiration,
mein Ruhepol,
mein Laufpartner,
mein bester Freund,
meine Liebe!
„Ich habe mich schon oft gefragt, warum ich Berge besteigen will, aber schon bald
fand ich heraus, dass das nicht nötig ist. Solche Fragen lassen sich nicht beantworten
und werden nur von denjenigen gestellt, die nie selbst Bergsteiger waren.“
Reinhard Karl, erster Deutscher auf dem Everest
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Copyright © 2013 Verlag Die Werkstatt GmbH
Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen
www.werkstatt-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt
ISBN 978-3-7307-0023-5
INHALT
Vorwort von Kurt Diemberger ................................................. 6
Einleitung – Im Bann des Mount Everest ....................................... 11
FASZINATION MOUNT EVEREST
Die Eroberung des Nutzlosen ................................................. 16
Blanke Zahlen, nackte Fakten ................................................ 23
Sicherheit versus Todesfälle: Warum sterben Menschen am Everest? ............... 26
Der Müllberg .............................................................. 42
WARUM AUSGERECHNET EVEREST? EINE BESTEIGUNGSGESCHICHTE
Der dritte Pol soll fallen: Die Pioniere Mallory und Irvine ......................... 46
Der Bastard wird bezwungen ................................................. 60
Frauenpower am Berg ....................................................... 68
Mit oder ohne Sauerstoff? ................................................... 73
REKORDBERG EVEREST
Rekordjägern auf der Spur ................................................... 86
Mit dem Fahrrad zum Everest ................................................ 87
Ohne Grenzen: Altersrekorde am Everest ....................................... 93
Hinunter mit dem Snowboard ............................................... 108
Der erste Blinde auf dem Everest ............................................ 115
Nepalesische Rekordjäger ................................................... 117
BESTEIGUNGEN HEUTE
Familie Studer: Gemeinsam auf dem Everest ................................... 122
Billi Bierling: Auf dem Weg nach oben kommt keiner an ihr vorbei ............... 136
Heidi Sand: „Je ausgesetzter, desto besser“ .................................... 148
Jörg von de Fenn: Träume vom Everest ....................................... 157
Everest changes lives ...................................................... 164
SPORTLERPARADIES MOUNT EVEREST
Läufer-Träume werden wahr ................................................ 172
Atemlos in eisigen Höhen: Apnoetauchen im Gokyo-See ...................... 184
Ein Eisbär im Lake Pumori: Schwimmrekord im Himalaya ........................ 191
Höhenflug in der Todeszone ................................................ 194
WEGE ZUM DACH DER WELT
Nord- vs. Südroute ........................................................ 202
Der Weg zum Gipfel ist steinig – und teuer .................................... 207
Die Vorbereitung: Auch die mentale Fitness muss stimmen ...................... 213
Schlusswort – Was bleibt vom Mythos Everest? ................................ 217
Bibliografie ............................................................... 220
Danksagung .............................................................. 222
Bildnachweis ............................................................. 222
Die Autorin ............................................................... 223
EVEREST – WARUM?
Vorwort von Kurt Diemberger
„Papa – warum gehst du nicht auf den Everest?“, fragten Hildegard und Karen mich, mei-
ne beiden Töchter, als ich 1974 wieder in den Himalaya aufbrach. „Der Makalu ist schö-
ner“, erwiderte ich trocken, „außerdem muss ich da nicht durch den Khumbu-Eisbruch.“
Denn der behagte mir gar nicht.
6
Wider Erwarten landete ich dann aber doch am Everest, allerdings nicht auf der
Khumbu-Seite. Ich setzte mit Hermann Warth bei der Besteigung des schwierigen, rund
7.500 m hohen Shartse die ersten Schritte für die längste Gratüberschreitung im Massiv
des Berges: Sie führt von unserem Gipfel weiter über den Peak 38, den Lhotse Shar und
Lhotse, dann den Südsattel bis auf den Everest hinauf und über die Fortsetzung des
riesigen Grates hinunter nach Tibet – auch heute noch ein ferner Zukunftstraum. In wo-
chenlangem Ringen mit Schlechtwetter und gefährlichen Wechten waren Hermann und
ich gemeinsam mit unserem Sherpafreund Nawang Tenzing Vorgänger für die Verwirk-
lichung dieses Traums geworden, folgten einer Linie am höchsten Berg der Erde, an die
unseres Wissens noch niemand gedacht hatte. Es war eine eigenartige Faszination, anders
als die, die von der wuchtigen dunklen Berggestalt des Makalu ausging!
So haben Berge viele Gesichter, sind immer wieder anders, rühren am Herzen dessen,
der da kommt, nicht nur mit dem Gipfel … Und doch: Wenn ich an den Everest denke, er-
scheint es mir nach vielen Jahren, in denen ich mich ihm näherte, einerseits kaum glaub-
haft, doch absolut gewiss, dass ich den schönsten Tag an der „Göttinmutter der Erde“ (wie
viele diesen Berg nennen)*1
auf ihrem Gipfel erlebte, den ich 1978 auf dem üblichen Weg
mit meinen Freunden aus Frankreich von Süden her erreicht hatte. Es war ein so tiefes
Erlebnis – und so sehr mit der Aussage gewisser Seiten dieses Buches verbunden – dass
ich es, fernab später folgender Überlegungen, hier schildern will:
„Als ich mit Pierre (Mazeaud) um die Mittagszeit des 15. Oktober 1978 die kleine, schrä-
ge, nur wenig geneigte Dachfläche des Everestgipfels betrat, die oben einen niedrigen,
emporgewölbten Rand hatte, vernahm ich kaum die Glückwünsche unserer beiden Jun-
gen, Nicolas und Jean, die schon eine halbe Stunde da waren, sondern wollte vor allem
über den Rand blicken. Ich tat es und vergaß alles! Es war, als stünde ich plötzlich über
einer ungeheuren Brandung, die von der fernen Shisha Pangma Gipfel an Gipfel über der
* Diemberger: Seiltanz, S. 235.
EVEREST – WARUM?
Vorwort
braunen Hochebene von Westen heranrollte und weit, weit hinaus nach Osten ging, wo
sie am Kangchenjunga den Horizont berührte.
Dann sah ich das Staunen in Pierres Gesicht. Es erging ihm wie mir. Als er den Kopf
wandte, lächelte er mir zu, und wir umarmten uns – es war unser „Mont Blanc“, der uns
versagt geblieben war und an diesem Tag im Himmel über Tibet so überwältigend Wirk-
lichkeit wurde. Nun erfasste uns alle eine ungeheure Betriebsamkeit … wir redeten gera-
dezu hektisch, und ich filmte, ich wollte diesen Höhepunkt im Herzen und unter meinen
Füßen samt der unermesslichen Weite festhalten …“
Als Pierre, im Gipfelschnee kauernd, dann freudestrahlend den Wimpel von Paris hisste,
sah ich darauf das Boot mit prallem Segel zum ersten Mal: Der Stoff flatterte im Wind,
und das Schifflein stand in seltsamem Widerspruch – und doch auch wieder nicht – zu
allem hier über der Tiefe. Ich konnte nicht ahnen, dass ich es später in Paris auf einer
dunklen handgroßen Medaille wiedersehen sollte – ein Boot mit Mast und Segel und
rundum die Worte FLUCTUAT NEC MERGITUR. Was das bedeutet? Es dauerte eine Weile,
bis ich es herausfand – denn das war längst vergessenes Latein. Dann schmunzelte ich:
Der Spruch des Stadtwappens passte haargenau auch auf mein Leben, wie eine Glücks-
botschaft: „Von Wogen geschüttelt, wirst du dennoch nicht untergehen!“
In der Stunde auf dem höchsten Punkt der Erde wusste ich freilich noch nicht, dass
mir der erste Tonfilm vom Gipfel des Everest in Frankreich den Titel „Kameramann der
Achttausender“ bescheren würde! Es war der Anfang meiner Karriere – wie ich später
begriff. Dort oben wollte ich nur das Glück einfangen. Während ich mich mit laufender
Kamera mangels Stativ auf dem Absatz herumdrehte, um das unermessliche Panorama
dieser fantastischen „Gipfelbrandung“ festzuhalten, ging ich so völlig darin auf, dass ich
sogar vergaß, einen der Gefährten zu bitten, mich selbst zu filmen! Plötzlich gewahrte ich
mein Schattenbild auf der Schneefläche der Wechte vor mir, knapp an ihrem Rand über
unvorstellbarer Tiefe – und hob, einer Eingebung folgend, die Hand, um doch wenigstens
im/als Schatten die Welt dort unten zu grüßen. Ein Abschied? Nein. Wir wollten nicht
mehr weggehen, keiner von uns, von diesem fantastischen Platz, zuhöchst auf unserer
guten Erde.
Im Buch einer Australierin,*2
die noch vor dem jetzigen Massenansturm die Gedanken
von Everest-Besteigern sammelte, habe ich mich fern aller Zeit daran erinnert, was nach
den Gipfelaufnahmen noch geschah:
7
* C. Gee, M. Gee, G. Weare (Hrsg.): Auf dem Gipfel. S. 51f.
„Als das getan war, saß ich eine Weile still wie auf einem Spaziergang im Park auf einer
Bank aus Eis, die der Wind geformt hatte, und betrachtete die Welt vor meinen ver-
mummten Schuhspitzen in der Tiefe. Es blies nur eine leichte Brise von Tibet her, wo wie
Inseln, vereinzelten Wolken gleich, verschneite Gebirge im braunen Meer der Hochfläche
schwammen.
Es war mir, als schwebte ich selbst darüber, in einem Meer von Glück, und ich fühlte
tiefe Dankbarkeit. Irgendwie wollte ich es den unsichtbaren Mächten des Berges mittei-
len, ein Zeichen geben, und als die andern sich zum Gehen wandten, kniete ich auf dem
Schnee nieder und berührte ihn mit meiner Stirn. Ich wäre gerne noch länger geblieben.“
8
Warum ich nun dieses Vorwort gerade für eine Sportlerin schreibe, die selbst keine
Bergsteigerin ist, ja sogar vor dem Erreichen des Basislagers umgedreht hat – trotz der
Faszination des Everest, trotz ihrer Sehnsucht nach diesem Berg? Weil sie – ich glaube
das – andere Menschen, die im Banne dieses Berges stehen, viel besser begreifen kann als
etwa professionelle Bergsteiger. Diese haben mit ihrer Kritik angesichts der Tragödien der
letzten Jahre gewiss in vielen Dingen recht – und einige versuchen ja auch, durch ernst-
hafte und wohldurchdachte Vorschläge den Auswirkungen des Massenstroms Richtung
Everest-Gipfel Einhalt zu tun (mit geringem oder ohne Erfolg). Doch das Problem lässt
sich nicht einfach mit dem Einhalten von Bergethik lösen, ohne das Phänomen selbst
zu erklären. Im Buch der zähen Sportlerin, die auf mehrfache Superläufe zurückblicken
kann, werden vorurteilslos die verschiedensten Gründe für die Faszination des Berges
dargestellt, wird von Menschenschicksalen im Bann des Everest berichtet. Es wird von
Motivation und Ereignissen gesprochen, die im Für und Wider der Situation am höchsten
Berg der Welt wohl jeden, ob er nun Bergsteiger ist oder nicht, zu kritischem Denken be-
wegen werden, sei es Ablehnung in einem Fall oder Verständnis im andern.
Eins ist ein Faktum: Ob man nun von Norden oder von Süden her kommt – es sind zu
viele Menschen am Berg. Eine gefährliche Situation. Und ich bezweifle, dass es in Aus-
nahmefällen (z.B. plötzliches Schönwetter) der Gesamtheit der kommerziellen Unterneh-
mer wirklich gelingt, die „Herde“ der Gipfelanwärter im Zaum zu halten. Auch wenn nun
am gefürchteten „Flaschenhals“ Hillary Step Mehrfachseile – für Auf- und Abstieg – an-
gebracht wurden, auch wenn ein Sherpa dem von ihm geführten Hochtouristen zu einem
bestimmten Umkehrzeitpunkt sagt: Sahib, wir müssen jetzt umdrehen! (was dieser dann
leider oft nicht respektiert): Es sind noch immer zu viele Menschen am Berg.
Und ein Einziger, der wegen geringer Akklimatisierung nicht vorankommt, stoppt die
ganze Kolonne! Darüber hinaus bedeutet stundenlanges Warten am Fixseil nicht nur
fürchterlichen Stress – es kann sogar den Tod bringen! Als mich vergangenes Jahr Simone
Moro von unterhalb des Everest-Südsattels mit seinem Satellitenhandy anrief, hatte er
EVEREST – WARUM?
Pierre Mazeaud auf dem Everest-Gipfel. Gemein-
sam mit Kurt Diemberger, Jean Afanassieff und
Nicolas Jaeger stand er am 15. Oktober 1978 auf
dem höchsten Punkt der Erde.
zwar die Überschreitung Everest-Lhotse im Sinn, aber er konnte damit wegen der Men-
schenschlange auf dem Normalanstieg zum höchsten Berg der Welt gar nicht beginnen.
Allein in jenen Tagen gab es mehrere Todesopfer. Laut Simone Moro waren es im Bereich
Everest-Lhotse sogar zwölf, und viele Personen erlitten wegen des langen Wartens an den
Fixseilen Erfrierungen!
Ich selbst habe 2003 bei einem großen Everest-Treffen mit weit über tausend Teilneh-
mern in San Francisco die Forderung aufgestellt, dass jeder Everest-Anwärter, der nicht
bereits vergleichbare Aufstiege des Höhenbergsteigens absolviert hat, vorher mindestens
sowohl den Island Peak problemlos bewältigt haben sollte als auch einen leichten Sie-
bentausender – etwa den Mustagh Ata. Ich erhielt großen Applaus (auch von Edmund
Hillary und Maurice Herzog), aber es geschah nichts in dieser Richtung. Dass ich nicht der
Einzige bin, der solche Vorschläge – ohne Ergebnis – gemacht hat, findet sich ebenfalls
in diesem Buch von Iris Hadbawnik, die sich bereits in einem früheren Werk mit dem Vor-
stoß in Grenzbereiche beschäftigt hat.
Um den Vorstoß in einen Grenzbereich handelt es sich am Everest sehr oft. Es ist der
„Aufbruch ins Ungewisse“, das Vordringen in eine unbekannte Dimension, die die meisten
lockt – und das gilt, mit Ausnahme der Sherpas, für fast alle, die da aufsteigen. Schon
Mallory sagte es mit seiner Antwort auf die Frage, warum er den Everest besteigen wolle:
9
„Weil er da ist!“ Er wollte es wissen, erfahren, dieses Unbekannte dort oben – und ich
glaube daran, jenseits aller sonstigen Deutungen. Gewiss spielt manchmal Prestige eine
Rolle – und in unserer Zeit der Rekorde auch der Wettbewerb. Aber das kann meines
Erachtens nicht die alleinige Triebfeder sein, denn der Preis ist zu hoch. Trotz Satelliten-
telefon und Wetterbericht von „Charly“ aus Innsbruck, es lässt sich dort oben nicht alles
berechnen, es bleibt immer ein Aufbruch ins Ungewisse.
Das gilt natürlich noch viel mehr für die schwierigen Routen, wie etwa die Kangshung-
Wand auf der Ostseite des Berges. Dort war ich 1980 mit den Amerikanern, beim ersten
Durchsteigungsversuch überhaupt. Diese Wand mit ihren gewaltigen Lawinen und riesi-
gen Eiszapfen, in deren Falllinie du dich bewegst, hätte leicht ein Opfer fordern können –
wir hatten Glück. Als die Schlüsselstelle – ein gut 900 m hoher Pfeiler – bewältigt war,
verhinderte Lawinengefahr den weiteren Aufstieg, und die Erstdurchsteigung gelang erst
zwei Jahre später. Aber es ist ein Erlebnis, in diesem Kessel zwischen Everest und Lhotse
zu stehen und nach dem Weg durch die Wälder des Kama-Tals mit blühenden Rhodo-
dendren eine der gewaltigen Lawinen dieser Eisriesen herabkommen zu sehen, wenn sie
„wie die Finger einer Hand gerade durch die Luft herab reichen, freischwebend, ehe sie
schließlich donnernd die Platten berühren, abprallen, als wirbelnde langgezogene Wolke
den ebenen Gletscherboden am Wandfuß erreichen, wo sie sich kilometerweit als eisiger
Staub ausbreiten“. *3
Das war 1985, als ich mit Julie Tullis, meiner Gefährtin, auch dieses Gesicht des Everest
10
in unseren Film aufnehmen wollte – denn dieser mächtige Berg hat nicht nur eines oder
die zwei, durch die heute so viele Menschen ihren Weg nehmen. Auf dem langgezogenen
Nordostgrat, der damals noch das Geheimnis der verschollenen britischen Spitzenberg-
steiger Boardman und Tasker bewahrte, hatten Julie und ich in deren schon vier Jahre
alten Eishöhlen biwakiert – wo im Winkel neben dem Einstiegsloch die britische Gipfel-
fahne lehnte, so als hätte sie jemand eben erst hingestellt …
Bald darauf mussten wir auf der üblichen Route oberhalb des Nordcols aufgeben – ein
Sturm hatte unser kleines Zelt unbrauchbar gemacht, wir waren allein, niemand sonst auf
dieser Seite des Berges. Ehe wir abstiegen, blickten wir noch lange nach oben, dorthin, wo
irgendwo über den felsigen Bändern im Bereich der Gratschneide einst Mallory und Irvine
ihren Weg zum Gipfel suchten …
Ich sah die Sehnsucht in Julies Augen.
Kurt Diemberger (geb. 1932) ist Erstbesteiger zweier Achttausender und bereits heute
eine Legende.
* Diemberger, Seiltanz, S. 247
EVEREST – WARUM?
Einleitung
IM BANN DES MOUNT EVEREST
H
eimkehren tut weh. Ich sitze an meinem Schreibtisch und starre entrückt auf den
Bildschirm meines Computers. Die Welt da draußen scheint meilenweit weg. Nichts
davon, was ich gerade lese, dringt zu mir vor oder kann mich im Geringsten berühren. Es
ist mir egal, dass Bank XY mit Staatshilfe gerettet werden soll. Es ist mir auch egal, ob die
Temperaturen mal wieder zu warm oder zu kalt für die Jahreszeit sind, und es fühlt sich
banal an, wenn ich höre, dass das Weihnachtsgeschäft im Einzelhandel in diesem Jahr
besonders schleppend verläuft. Ich fühle mich wie Falschgeld. Nicht dazugehörig und
vollkommen fehl am Platz.
Immer wieder schweifen meine Gedanken zu den hohen Bergen des Himalaya, deren
Anblick ich noch vor wenigen Tagen genießen durfte. Zu den atemberaubenden Land-
schaften Nepals: das saftige Grün in den Tälern und die Hängebrücken, die mich mit
zittrigen Knien über die reißenden Bergflüsse führten. Zur Bevölkerung eines Landes, das
zu den 15 ärmsten Ländern der Welt zählt, dessen Bewohner aber trotz all der Armut ein
einfaches, zufriedenes Leben zu führen scheinen. Aber auch zu den zauberhaften Gerü-
chen der Räucherstäbchen und den himmlischen Gesängen der Mönche in den Klöstern.
Es ist der 7. Dezember 2011, und es wird noch Wochen dauern, bis ich mich wieder in
meinem „alten“ Leben zurechtfinde. Bis ich wieder in den Alltagstrott falle und die vielen
Oberflächlichkeiten der westlichen Welt akzeptieren kann.
„Extrem – und das in jeglicher Hinsicht“, ist stets meine Antwort, wenn mich jemand
nach unserer Trekkingtour zum Mount Everest fragt, zu der ich mit meinem Lebenspart-
ner Oliver und einem befreundeten Paar im November 2011 aufgebrochen war. Extreme
Kälte, extreme Entbehrungen und eine extreme Höhe, die meinem Körper mehr zusetzte,
als ich es mir je hätte vorstellen können, waren auf dieser Reise unsere ständigen Be-
gleiter. Notdürftige Körperpflege und schnelles Zähneputzen mit eisigem Wasser direkt
aus den Bergen. Toiletten, deren Besuch schon mal mit einem Wettlauf gegen feindlich
gesinnte Yaks verbunden sein konnte. Kaltgefrorene Nasen beim Aufwachen am frühen
Morgen und das mühsame Entschlüpfen aus dem warmen Schlafsack, wenn die Tempe-
ratur in unserer Lodge mal wieder um den Gefrierpunkt lag. Erholsamer Luxusurlaub sieht
anders aus. Und doch möchte ich keinen einzigen der faszinierenden Eindrücke Nepals
und der Magie jener Bergriesen missen, wie ich sie in diesen vier Wochen im Himalaya
erlebt habe. Ganz im Gegenteil: Jetzt, zurück im vorweihnachtlichen Deutschland, ver-
misste ich schmerzlich das einfache Leben und die Rückbesinnung auf das Wesentliche.
Ich weiß nicht mehr genau, wann und warum mich der Mount Everest zum ersten Mal
in seinen Bann gezogen hat. Waren es die Bergsteigerfilme, die ich in meiner Kindheit ge-
11
sehen hatte? Die zahlreichen Bücher von Reinhold Messner und Co., die ich verschlungen
habe? Oder die umfangreichen Gespräche mit den unterschiedlichsten Extremsportlern
während der Recherchen zu meinem Buch Bis ans Limit – und darüber hinaus? Im Nach-
hinein kann ich den Beginn meiner ganz eigenen Begeisterung für diesen Berg nicht mehr
nachvollziehen. Ich spürte jedoch, je länger ich mich mit dem Thema beschäftigte, dass
da eine ganz tiefe Sehnsucht in mir existierte. Daher war klar: Einmal in meinem Leben
musste ich den höchsten Berg dieser Erde mit eigenen Augen gesehen haben! Ich wollte
spüren und erleben, was die Anziehungskraft des 8.850 m hohen Gipfels ausmacht, jenes
Bergs, der die Menschen weltweit gehörig spaltet. Der als Müll- oder Sensationsberg ver-
schrien ist und doch seit Jahrzehnten Bergsteiger aus aller Welt dazu bringt, für seine
Besteigung sogar das eigene Leben aufs Spiel zu setzen.
Vernunft statt
Triumph
12
Am achten Tag unserer Trekkingtour, die wir in Jiri, einem Berg-
dorf etwa 170 km östlich von Kathmandu, starteten, präsentierte
sich der Everest das erste Mal in seiner ganzen Herrlichkeit. Nur
wenige Höhenmeter oberhalb des quirligen Ortes Namche Bazaar und nach fünf unge-
mütlichen Regentagen mit dichten Wolken klarte es für einen Moment zumindest so lange
auf, dass wir einen kurzen Blick auf den Berg der Berge erhaschen konnten. Es war eine Art
stille Ehrfurcht, die mich bei seinem Anblick erfüllte. Zugleich hatte dieser Moment auch
etwas Unwirkliches: Da stand er nun, der Berg, der von den Tibetern „Chomolungma“ ge-
nannt wird, was so viel bedeutet wie „Göttinmutter der Erde“, und ich war so nah dran. So
nah, dass ich seine Anziehungskraft förmlich spüren und den Blick lange nicht abwenden
konnte. Zumindest so lange nicht, bis sich die Wolkendecke wieder schloss und der Zauber
von einer Sekunde zur nächsten vorüber war. Und so fieberte ich dem Tag entgegen, in
dem wir endlich das Everest-Basislager, dem nach meinem Empfinden sicherlich magischs-
ten Ort unserer Reise, auf einer Höhe von etwa 5.300 m erreichen sollten.
Wenige Tage später sah die Welt plötzlich ganz anders aus. Dick in meinen Daunen-
schlafsack eingemummelt, lag ich auf meiner dünnen Isomatte, die nur einen geringen
Schutz gegen die brettharte Matratze der Lodge in Chukung (4.743 m) bieten konnte.
Wir waren nur noch drei Tagesetappen vom Basislager des Everest entfernt, und nun ha-
derte ich nach einer durchwachten Nacht, in der mein Herz so schnell und kräftig gegen
meinen Brustkorb gehämmert hatte, wie ich es nur von harten Tempoeinheiten beim
Laufen kannte, mit meinem Schicksal. Übelkeit, Erbrechen und Appetitlosigkeit hatten
dazu geführt, dass innerhalb weniger Tage etliche Kilos meines Körpergewichts sprich-
wörtlich auf der Strecke geblieben waren. Und mit den Kilos fehlte mir auch die Kraft
für einen weiteren Aufstieg. Immerzu schwebte das drohende Unheil der Höhenkrankheit
über unseren Köpfen. Waren dies bereits die ersten Anzeichen? Oder hatte mich wirklich
IM BANN DES MOUNT EVEREST
Kurz oberhalb von Namche Bazaar erhaschen
wir zum ersten Mal einen gigantischen Blick
auf den Mount Everest. Hinten von links:
Iris Hadbawnik, Yves Sendig. Vorne von links:
Oliver Weis, Jürgen Grambow.
„nur“ eine Art Magen-Darm-Geschichte erwischt? Und wie würden sich in diesem Zu-
stand weitere Höhenmeter bemerkbar machen? Bereits auf dem Weg hierher hatten wir
etliche Trekker gesehen, die aufgrund der Auswirkungen der Höhe abtransportiert oder
ausgeflogen werden mussten. Sollte mir dies nun auch blühen?
Nach langem Hin und Her siegte die Vernunft. Um wieder richtig fit zu werden, blieb
mir keine Wahl: Ich musste absteigen. Abstieg bedeutete aber auch, darauf zu verzichten,
das Base Camp zu besuchen, dem Everest ganz nahe zu sein und vom Gipfel des nahe
gelegenen Trekkingberges Kala Pattar einen wunderbaren Blick auf die steilen Flanken
des Berges zu ergattern. Gesundheit und Vernunft statt Zielerreichung und Triumph. Ich
spürte, wie hart es war, an dieser Stelle umkehren zu müssen. Auf einen Traum zu verzich-
ten, um die eigene Gesundheit nicht weiter zu gefährden. Aber wenn es im Kleinen schon
so schmerzhaft und mit bitteren Tränen verbunden war, wie schwer muss es erst sein,
13
wenn man die immensen Kosten und wochenlangen Strapazen einer Everest-Expedition
in Kauf genommen hat und kurz unterhalb des Gipfels umkehren muss?
Ich wollte dem Everest möglichst nahe sein und bin mit meinem Vorhaben geschei-
tert. Dennoch habe ich selbst aus der Ferne die großartige Magie dieses herrschaftlichen
Berges gespürt. Ich erlebte seine intensive Anziehungskraft, die nicht nur mich, son-
dern jährlich Hunderte von Bergsteigern in seinen Bann zieht. Und ganz leise konnte ich
schließlich erahnen, was es heißt, den dringlichen Wunsch zu verspüren, ihn einmal selbst
besteigen zu wollen …
Zu diesem
Buch
Ich erhebe mit diesem Buch keinen Anspruch auf Vollständigkeit der
Everest-Geschehnisse der letzten Jahrzehnte oder auf höchstes berg-
steigerisches Expertenwissen. Es geht mir vielmehr darum, dem Leser
den Reiz des Everest spürbar zu machen. Meine Intention ist es, aufzudecken, welche
Faszination der Berg, trotz seiner Risiken und Tragödien, auch auf ganz „normale“ Leute
ausübt – und warum. Daher stehen in diesem Buch auch weniger die allseits bekannten
Profibergsteiger im Rampenlicht, sondern Menschen wie du und ich.
Ich bin keine ausgewiesene Berg-Expertin, sondern Vollblutsportlerin, die das Über-
schreiten von Grenzen aus eigener Erfahrung kennt. Daher war es eine große Ehre, aber
auch ein wunderbares Erlebnis, mich monatelang mit all den interessanten Persönlich-
keiten dieses Buches zu beschäftigen und diese teilweise persönlich kennenzulernen. Ich
bin inspiriert – und ich hoffe, es geht Ihnen nach der Lektüre genauso. Folgen Sie mir in
das Abenteuer Mount Everest!
14
Iris Hadbawnik, Frühjahr 2013
Eine Episode am Rande:
„Den Everest zu besteigen, ist ja wohl nichts Besonderes mehr“, höre ich meinen Ge-
sprächspartner sagen, „so viele, wie da bereits oben waren.“ „Was meinst du“, frage ich
ihn neugierig, „wie viele Deutsche bislang auf dem Gipfel des Everest standen?“, und
bin sehr gespannt auf die Antwort. „Sicher schon mindestens 500 bis 1.000!“, kommt
es wie aus der Pistole geschossen. „Nicht ganz“, schmunzele ich: „Bis einschließlich
2012 waren gerade mal 60 Deutsche auf dem Gipfel.“ Ungläubiges Staunen meines
Gesprächspartners. „Aber man liest doch ständig von Massentourismus und tausend-
fachen Gipfelerfolgen …!?“, versucht er sich zu rechtfertigen. „Ja“, sage ich, „daher ist
ein Blick ‚hinter die Kulissen‘ auch bitter nötig.“
IM BANN DES MOUNT EVEREST
FASZINATION
MOUNT EVEREST
DIE EROBERUNG DES
NUTZLOSEN
D
er Mount Everest besitzt eine dicke Haut. Die braucht er auch, denn vieles musste er
in den letzten Jahren über sich ergehen lassen. Als Gipfel des Selbstbetrugs, Rummel-
platz für Touristen, höchste Müllkippe der Welt oder Synonym für Größenwahn wird er
in den Medien tituliert. Hat dies seinem Ruf geschadet? Bergsteiger davon abgeschreckt,
den Gipfel zu erklimmen? Nein, denn in all den Jahrzehnten seiner spektakulären Be-
steigungsgeschichte hat der Everest keinen Funken seiner Anziehungskraft verloren – im
Gegenteil, die Faszination ist heute größer als jemals zuvor.
Warum wollen Menschen den Everest besteigen? „Because it‘s there“, ist wohl die be-
rühmteste Antwort auf diese Frage. Andere träumen vom „gewiss unvergleichlichen Blick
in die Runde, wenn man im höchsten Schnee der Erde steht“ (Kurt Diemberger), oder
gehen zum Everest, „weil es das höchste Ziel ist, das man auf Gottes Erden aus eigener
Kraft erreichen kann“ (Herbert Blauensteiner). Als der schwedische Bergsteiger Göran
Kropp zum Everest wollte, wurde er gefragt, ob es die Todessehnsucht sei, die ihn antrei-
be. „Lebenslust“, antwortete er, „nicht Todessehnsucht.“ Denn Bergbesteigungen gaben
ihm das Schönste im Leben: das Zusammentreffen mit anderen Kulturen, Naturerlebnisse,
Herausforderungen und Triumphe.
Bergsteigerlegende Reinhold Messner erbrachte Ende der 1970er Jahre eine bis dahin
16
unvorstellbare Leistung, als er gemeinsam mit Peter Habeler als Erster den Everest ohne
Zuhilfenahme von Sauerstoff bestieg. Später meinte er dazu: „Ich wollte einmal hoch
hinaufsteigen, um tief in mich hinabzublicken.“ Je weiter er in den Gefahrenraum vor-
dringe, desto mehr verstehe er von seinen Ängsten, Zweifeln, von seiner Menschennatur.
Also ist der Everest auch ein Ort, um sich selbst besser kennenzulernen? „Wie oft sieht
man Männer weinen?“, fragt mich Billi Bierling, die rechte Hand der berühmten Hima-
laya-Chronistin Elizabeth Hawley. „Nicht oft! Aber im Basislager ständig.“ Die Stimmung
am Everest sei besonders emotional. „Man kommt an sein Limit und zeigt dadurch sein
wahres Gesicht.“
Ganz allgemein wird Bergsteigen oftmals auch als die Eroberung des Nutzlosen bezeich-
net. Und sicher ist da etwas Wahres dran. Natürlich hat das Erklimmen eines Berges auf
den ersten Blick keinerlei Nutzen für die Gesellschaft. Und doch – auf der anderen Seite –
vielleicht auch wieder einen weitaus größeren, als man es für möglich halten könnte. So
weiß auch der Österreicher Kurt Diemberger, Erstbesteiger von zwei Achttausendern, dass
das Bergsteigen nicht rein egoistischer Natur ist und andere ebenso davon profitieren kön-
nen: „Indem wir sie an Spannung, Glaube, Hoffnung, Höhen und Tiefen teilhaben lassen,
Faszination Mount EvErEst
Die Eroberung des Nutzlosen
teilen wir mit ihnen unsere Träume.“ Denn was fehlt unserer modernen Gesellschaft ange-
sichts steigender Arbeitslosenzahlen, sinkender Konjunkturprognosen und einer beängsti-
gend hohen Zahl an Todesfällen aufgrund von Zivilisationskrankheiten? Mut, das eigene
Leben in die Hand zu nehmen und konkrete Pläne in die Tat umzusetzen. Leidenschaft für
das Entwickeln neuer Ideen und das Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit. Wahre
Naturverbundenheit sowie die Freude daran, das Leben intensiv zu spüren. Genau diese
Botschaften bringen Bergsteiger von den höchsten Bergen dieser Erde für uns herunter.
Und schließlich gibt es auch noch die mystische Seite des Bergsteigens, die für einige
Alpinisten einen ganz besonderen Reiz ausmacht. Viele Bergsteiger erleben in eisigen
Höhen Situationen, in denen sie an die Grenze der eigenen Leistungsfähigkeit gehen.
Das Überwinden dieser Widerstände kann zu einem Zustand tiefer Freude führen – ein
Phänomen, das auch andere Extremsportler wie Langstreckenläufer oder Extremradfahrer
kennen. Aus dem Alltagsbewusstsein kann man in einen meditationsähnlichen Zustand
gelangen und durchaus mystische Erfahrungen machen, weiß die deutsche Ärmelkanal-
schwimmerin Vasanti Niemz. Andere wiederum beschreiben es als ein „Einswerden mit
dem Wasser und dem Himmel“ oder eine „Begegnung mit Gott“. Der Mensch geht über
sich selbst hinaus, übersteigt seine eigenen Grenzen, wird eins mit der ganzen Mensch-
heit und dem Kosmos. Bereits Mitte der 1960er Jahre beschrieb diese Erfahrungen der
US-amerikanische Psychologe Abraham Maslow und nannte sie interessanterweise „Peak
Experiences“, also „Gipfelerlebnisse“.
Lager IV auf dem Südsattel (7.900 m)
kurz vor dem Sonnenuntergang.
Exkurs
SPIRITUELLE HÖHEN – DER DRAHT
NACH „ANDERSWO“
Von Jochen Hemmleb
18
Als ich mit zwei Freunden 1990 nach der 15-stündigen Längsüberschreitung des Mont
Blanc ins Tal zurückkehrte, hatte ich das Gefühl, körperlich und geistig alles gegeben zu
haben – und dieses „Alles“ schien nun genauso vor mir ausgebreitet zu sein wie das Pano-
rama von ganz oben. Es war überschaubar, erfassbar, begreifbar geworden. Dieses Gefühl
glich dem Overview-Effekt, den Astronauten beim Anblick der Erde aus dem All erleben.
Ich hatte den Eindruck, die Welt und mich selbst als Ganzes überblickt zu haben. Es war
eine Bewusstseinserweiterung. Mediziner haben für derartig erhöhte oder veränderte
Wahrnehmungen diverse Erklärungen parat. Da ist zum einen die von Iris Hadbawnik
genannte „Endorphinspritze ins Hirn“, die dich high macht, jegliche Schmerzen – körper-
liche wie seelische – auszuschalten vermag und dich die Welt nur noch positiv sehen lässt.
Oder der Sauerstoffmangel, den das Gehirn in größeren Höhen erleidet.
Einige dieser Phänomene dürften jedoch einen anderen Hintergrund haben. Eines der
bekanntesten ist der „dritte Mann“, ein wahrgenommener unsichtbarer Begleiter. „Das
Gefühl war so stark, dass es komplett jede Einsamkeit eliminierte, die ich sonst vielleicht
gefühlt hätte. Es schien mir sogar, als sei ich mit meinem ‚Gefährten‘ durch ein Seil ver-
bunden und dass ‚er‘ mich halten würde, falls ich ausrutschen sollte. […] Es schien mir,
dass diese ‚Präsenz‘ stark, helfend und freundlich war.“ So der Engländer Frank Smythe
über seine Empfindungen, als er 1933 am Mount Everest alleine bis in eine Höhe von
8.570 m aufstieg. Dies wirkt nicht wie eine Fehlfunktion oder ein Zufallsprodukt des Ge-
hirns, sondern eher wie ein gezielter Notfallmechanismus, mit dem die Überlebenschan-
cen erhöht werden sollen. Möglicherweise ist es ein Rückgriff auf urzeitliche Instinkte
oder gar urzeitliches Wissen, welches im herkömmlichen Alltag nicht mehr benötigt wird
und dem Menschen deshalb nicht mehr vertraut ist.
Nach überlebten Abstürzen meinten Bergsteiger, ihr vergangenes Leben sei wie ein
Film an ihnen vorbeigezogen. In einigen Fällen schienen die Erinnerungen sogar über das
eigene Leben hinaus noch weiter in die Vergangenheit zurückgereicht zu haben. Können
Eindrücke und Emotionen genetisch weitergegeben werden? Ist das Gehirn eine „Fest-
platte“, die von Generation zu Generation mit immer neuen „Programmen“ überschrieben
wird und auf der deshalb bisweilen alte „Restdaten“ erhalten bleiben, die in extremen
Situationen wieder zugänglich werden?
Faszination Mount EvErEst
Mystische Szenerie beim
Aufstieg zum Nordsattel.
Und schließlich gibt es Erlebnisse, welche die Frage aufwerfen, ob hier ein Zugang zu
etwas anderem als der Innenwelt hergestellt wird. Der Tod eines Freundes am Broad Peak
in Pakistan, der im 5.000 Kilometer entfernten Europa von drei Menschen gleichzeitig
und unabhängig voneinander wahrgenommen wurde. Die hörbaren „Berggeister“ in einer
leeren Hütte am Ruwenzori in Ostafrika, deren Präsenz am nächsten Tag von zwei Ein-
heimischen bestätigt wurde, ohne dass ich ihnen zuvor davon erzählt hatte. Der Dialog
mit einer toten Klassenkameradin während einer Biwaknacht in der norditalienischen
Gondo-Schlucht … Es waren Wahrnehmungen teils im Wachzustand, teils im Traum, aber
stets von einer solchen Intensität, dass sie eine „reale“, greifbare Qualität besaßen. Keine
Einbildung, sondern ein Kontakt mit etwas in uns oder außerhalb, das sich nicht mit her-
kömmlichen physikalischen oder biologischen Prozessen beschreiben lässt, aber dennoch
fühlbar existiert.
Eine der beeindruckendsten und mysteriösesten Erfahrungen dieser Art durchlebte der
schottische Schriftsteller Andrew Greig auf einer Everest-Expedition 1985: Gemeinsam
mit zwei anderen Teilnehmern beobachtete er einen rot gekleideten Bergsteiger, der am
Nordostgrat 700 Meter über ihnen entlangstieg. Auf dieser Route waren drei Jahre zuvor
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zwei Alpinisten spurlos verschwunden. Der einzelne Bergsteiger war Greigs Kollege Sandy
Allan. So vermutete er zumindest. Doch wenig später tauchte just dieser Sandy Allan in
Greigs Lager auf. Weder Allan noch andere Bergsteiger waren an diesem Vormittag am
Grat unterwegs gewesen. Greig: „Ich dachte nicht so sehr an Geister, sondern eher an
eine Art visuelles Echo oder visuelle Aufzeichnung; ich hatte das Gefühl, wir sahen eine
Stunde lang ein Ereignis, welches drei Jahre zuvor geschehen und auf irgendeine Weise
noch immer dort oben in den Grat eingeprägt war. […] Mal, Liz und ich waren ausgeruht
und gesund; die Sicht war perfekt, mit Ferngläsern und dem bloßen Auge. […] Und eine
Stunde lang hatten wir einen Mann gesehen, der nicht da war.“
Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir noch nicht verstehen oder zu denen
wir im Gegensatz zu unseren Vorfahren und Naturvölkern keinen Zugang mehr haben.
Die Berge können uns diese Dinge bisweilen erschließen.
Wird der Everest
zur Banalität?
Etliche Jahre nach seinen unglaublichen Erfolgen am Mount
Everest schreibt Reinhold Messner in einem Artikel für eine
deutsche Tageszeitung: „Nachdem wir ihm [Everest] alle Ge-
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heimnisse genommen haben, gehört er allen. In einer vernetzten Welt wird zuletzt auch
die ‚Arena der Einsamkeit‘ allgemein zugänglich, also banal.“ Banal? Also durchschnitt-
lich, alltäglich und unbedeutend? Ist der Everest – und dessen Besteigung – tatsächlich
banal geworden? Was empfinden jene Bergsteiger wirklich, die sich mit der Besteigung
einen Lebenstraum erfüllen? Was sind ihre wahren Beweggründe, wenn sie nicht gerade
Profibergsteiger sind und damit schlicht und ergreifend ihr Geld verdienen? Geht es am
Ende vielleicht auch nur um Publicity, um Medienpräsenz?
All diese Fragen beschäftigten mich lange, bevor ich mich dazu entschied, ein Buch
über die Faszination des Mount Everest zu schreiben. Es ist immer leicht, vorschnell eine
Handlung zu verurteilen, gerade wenn diese von den Medien gerne ins negative Licht ge-
rückt wird. Was aber steckt wirklich dahinter, und ist es richtig, die Besteigung des Everest
ganz pauschal zu verurteilen?
Es ist nur allzu verständlich, wenn Pioniere um ihr Erbe kämpfen. Anfang des letzten