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INHALT

Bölling – ein kleines Kaff in der niederösterreichischen Provinz. Ruhe, Idylle und Normalität bestimmen den Böllinger Alltag. Wenn da nicht ein paar schwarze Schafe wären. Allen voran Cornelius Fink, ein erfolgloser Songschreiber, der als Einziger den ersten einer Reihe von Anschlägen in Wien überlebt hat.

Acht Rucksackbomben waren es bisher, die das Land in Angst und Schrecken versetzen. Die österreichischen Rucksackbomber sind aber keine religiösen oder politischen Fanatiker, ihre Motive sind eigennützig und alltäglich.

Als seine Mitbewohnerin stirbt, zieht Cornelius gemeinsam mit deren Tochter Sarah, für die er vorerst das Sorgerecht erhält, zurück in seinen Herkunftsort, um dem Wahnsinn zu entkommen. Zunächst scheint ein einfaches und normales Leben in Bölling möglich. Er gewöhnt sich an seine Vatergefühle, sogar der Liebe scheint er dort zu begegnen. Doch das Leben ist kein Film, alles geht schief und er schlittert immer tiefer in die Thematik dieses Austroterrorismus hinein, dessen Protagonisten er zuerst als Vollidioten betrachtet, denen er letztendlich aber doch ähnlicher ist, als er es wahrhaben will.

DER AUTOR

Bernhard Moshammer, geboren 1968 in St. Pölten. Er lebt und arbeitet seit 1992 als Musiker in Wien. Zwischendurch war er Verkäufer. Im Laufe der Jahre hat er als Börn (www.boern.com) ein paar CDs produziert und auf eigene Faust veröffentlicht, zuletzt die Doppel-CD Schöne Dinge Einfach (2007). Aktuelles Album: Fame & Success von Börn & Mika Vember.

Bernhard Moshammer ist Vater von zwei Kindern und Mann einer Frau. Zeit der Idioten ist sein Romandebüt.

BERNHARD MOSHAMMER

ZEIT DER IDIOTEN

ROMAN

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So what if your heroes changed their minds

And all you thought was right flew out the window

And all you based your life on wasn’t real

What are you gonna do so all alone now?

Lisa Germano

Wenn man sich Bölling ganz hingibt und unterwirft, kann es wahrscheinlich sogar paradiesisch sein. Das Böllinger Gras riecht nach Gras, und sein Grün ist eines, an dem Maler verzweifeln würden. Aber was soll ich sagen, Unterwerfung und totale Hingabe setzen Phänomene wie Ruhe, Selbstlosigkeit, Genügsamkeit oder Zufriedenheit voraus, und die sind mir so fremd wie einem Terroristen die Nächstenliebe. Womit wir schon beim Thema wären: Ich bin der Mann, der überlebt hat, und ich befinde mich gerade im Gegenteil von Bölling.

Kurz vor Mitternacht habe ich meinen alten Walkman genommen und bin hierhergelaufen. Die letzte U-Bahn ist um fünfzehn nach durchgefahren. Ich bin dann runter auf die Geleise, ein Stück gegangen und habe mich im Tunnel versteckt. Das hat funktioniert. Verrückt, oder? Aber das hier ist Wien und nicht New York. Immer schön gemütlich, meine Herrschaften. Die haben ihre Kontrollrunden gedreht und ich hab einfach die Luft angehalten. Ich könnte jetzt sofort den blöden Stephansdom in die Luft jagen, wenn ich auch so ein Idiot wäre. Bin ich aber nicht. Ich habe mich für den Stephansplatz entschieden, weil es in dieser U-Bahnstation stinkt, als ob Leichen unter den Rolltreppen oder in die Wände eingemauert wären. Und ich habe mir gedacht, dass das Ganze dann wenigstens einen Sinn hätte. Ich könnte also, indem ich eins werde mit dem Gestank dieser Stadt, der Welt zu ein bisschen mehr Sinn verhelfen. Aber jetzt ganz ehrlich, das Selbstmitleid ist die unterste Stufe der menschlichen Wahrnehmung. Die unterste Stufe, ganz sicher.

Hier drin ist es so ruhig, dass selbst die ausgefressenen Tauben sich in ihrem degenerierten Treiben zurückhalten. Sonst flattern sie dir skrupellos Dreck und Federn ins Gesicht, schießen auf dich zu wie wahnsinnige Suizidpiloten, bedecken die ganze Stadt mit ihrer Scheiße – was für eine Verschwendung von Leben und Zeit, was für ein Überfluss an Energie. Womit wir schon wieder beim Thema wären. Jessas, ich wollte echt Schluss machen, wirklich! Wollte mich um fünf vor die erste U-Bahn werfen. Wohlgemerkt hätte ich damit niemand anderem Schaden zugefügt. Sicher, der Lenker wäre mit Recht sauer gewesen und ein paar Menschen wären zu spät zur Arbeit gekommen, aber es hätte mit Sicherheit nur mich erwischt. Ich hatte das wirklich vor. Aber dann musste ich pinkeln. Was soll ich sagen – ja, das war es, was mir dazwischengekommen ist. Kein Engel, keine Erscheinung, keine weiße Taube, die zu mir gesprochen hat vom Wert oder von der Würde des Lebens, keine große Erkenntnis oder so. Nicht einmal ein Gedanke oder Einfall – nein, ein banales Körperbedürfnis. Ich kriegte aber meine Hose nicht auf, der Zipp klemmte und zum Runterziehen war sie zu eng. Auch schon egal. Ich ließ es einfach laufen. Klingt dämlich, aber es fühlte sich gut an. Und mir ist es egal, ob irgendwas dämlich klingt, denn mit dem warmen Bach meines Urins setzte auch der Fluss meiner Gedanken wieder ein.

Jessasmarandjosef!

Ich bin also hier in der Dunkelheit gestanden, in der totalen Stille – wohlgemerkt in der objektiven Dunkelheit und Stille dieser Welt, denn meine ganz persönliche war bereits wieder erhellt vom Blitz meines poetischen Genies – und habe mir einfach in die Hosen gemacht.

Und dann hab ich in diese Kassette reingehört und, was soll ich sagen, hört euch das selbst an. Ich verspreche auch, nicht mehr Schluss machen zu wollen. Nie mehr. Ich wollte es auch gar nicht wirklich. Man kennt das ja – diese Versuche, die nur ein Schrei nach Aufmerksamkeit sind oder so. Und ja, ich gebe es zu: Ich wollte eure Aufmerksamkeit. Nicht, dass es mir gut ginge oder mein Vorhaben nicht zumindest für kurze Zeit wirklich ernst gemeint war; in Wahrheit war das wieder nur eine halbherzige, romantischdepressive Verstimmung. Und so etwas ist nur peinlich und idiotisch.

1. MEINE WENIGKEIT

Der Wiener hat ja keine praktische Ahnung vom Terrorismus.

Chchchfssschchch … Das Rauschen übertönt fast alles. Die Aufnahme klingt wie Stimmen aus dem Jenseits, nicht dass ich schon welche gehört hätte. Naja, wenn ich ehrlich sein soll, beinahe. Und in gewisser Weise ist das, was dieses Tonband mit zweifelhaftem Sinn erfüllt, auch schon lange tot. Die Kassette eiert noch dazu, aber wenn ihr genau hinhört, könnt ihr einen Beat ausmachen. Das bin ich, wie ich auf meine Gitarre klopfe. Jetzt fange ich zu spielen an. Da war ich vielleicht neun, höchstens zehn. Und dieses Schussgeräusch, das war mein Vater, wie er die Tür aufreißt, schreit und wieder zuknallt. Ich weiß noch, ich habe geglaubt, meine Trommelfelle platzen.

Kennt ihr das, wenn plötzlich etwas in deine Ohren sticht wie ein Messer oder eine Stricknadel? Seid ihr schon einmal taub zwischen Toten gelegen? Ich schon. Und ich rede hier nicht von einem Iggy-Konzert.

Wartet, könnt ihr das hören? Da kommt noch was: Da spielt einer Schlagzeug. Jessasmarandjosef, das ist der Gstettner. Jetzt setzt die Gitarre ein, da habe ich … nein, das bin gar nicht ich, das ist der Firngruber! Ich bin der Sänger, hört ihr das? Das war unsere einzige Probe. Ich kann mich gar nicht erinnern, dass ich da aufgenommen habe. Entschuldigt bitte, ich dreh auch schon wieder ab, ich will hier ja nicht sentimental werden. Nur Idioten sind sentimental. Ich will von etwas ganz Anderem erzählen, also hört zu, denn jedes meiner Worte ist wahr. So wahr wie die Bombe im Rucksack eures blöden Sitznachbarn in der U-Bahn.

Also:

Er nannte sich »Meine Wenigkeit«. Nicht schlecht, oder? An jenem Tag betrat Meine Wenigkeit die Bühne und hob seine Stimme an, um allen Anwesenden den Garaus zu machen, wie es heißt. Was soll ich sagen, er brauchte keine fünf Minuten dazu, vielleicht zehn. Es war das gigantischste Bummm! der österreichischen Nachkriegsgeschichte. Aber schön der Reihe nach. Obwohl, wenn man’s genau nimmt, beginnen alle Geschichten mit einem Ende. Es heißt ja auch: Pass auf, wie du deine Frau oder deinen Mann kennenlernst, merke dir die Umstände, denn genau so wirst du dich auch von ihm oder ihr wieder trennen. Was soll’s. Hier jedenfalls das Ende von Meine Wenigkeit (und ein paar anderen):

Er ließ noch einmal seine brüchige Stimme los, um die versammelte Menge mit seinem typischen Outsider-Rock’n’Roll-Gewäsch zu quälen. Und er genoss es in vollen Zügen. »Im Backstagebereich von Queen sind Zwerge in Leberpastete gelegen. Jessasmarandjosef, die wussten noch zu feiern!«

Die Leute fingen gleich zu Beginn an sich zu langweilen, aber das war ihm egal. Im Gegenteil, ihr Desinteresse bestätigte ihn scheinbar in seiner Besonderheit. Und so fuhr er fort: »Ich bin zu glücklich. Und von glücklichen Menschen ist keine große Kunst zu erwarten. Ich sollte unglücklicher sein. Unzufriedener. Unbequemer.«

Das Publikum war ziemlich unzufrieden, wurde unruhiger, wetzte auf seinen Stühlen hin und her, räusperte sich und atmete auffällig tief und laut. Meine Wenigkeit war ganz in seinem Element. Er war einer von der Sorte, die aufs Gas steigen, wenn die Situation gefährlich wird. Er wischte sich den Schweiß auch nicht von der Stirn, er ließ ihn theatralisch über sein Gesicht laufen und seine Zunge (die er schon als Jugendlicher mit der von Gene Simmons verglichen hatte, was natürlich lächerlich war) schnappte zwischen den Worten immer wieder nach den salzigen Tropfen. Und, was soll ich sagen, so manche Zunge eines so manchen Mädchens bahnte sich ihren Weg durch zusammengepresste Lippen und folgte nervös den Bewegungen der seinen. Das habe ich selbst gesehen, Jessas.

»Ich habe meine Frau verlassen«, sagte er. »Frau, habe ich gesagt, du stehst mir im Weg. Du kochst mir mein Essen, wäschst meine Wäsche, regelst meine Finanzen. Wo ich doch eigentlich nicht essen, schmutzige Kleider tragen und mich verschulden sollte. Ich muss den Blues kennenlernen. Meine Frau hat mich nicht verstanden. Die fängt nichts an mit dem Wort Blues. Ich bin Künstler, aber meine Frau ist nur eine Frau.«

»Arschloch!«, schoss es einem Mädchen durch die Zähne. Meine Wenigkeit grinste. Dabei war er nicht einmal verheiratet, der Idiot. Jetzt wechselte seine Stimme das Programm, so in Richtung Fernsehprediger oder amerikanischer Wahlkampf.

»Ich bin Künstler!«, schrie er.

»Tatsächlich? Dann fang endlich an!«, rief ein Mann aus der Menge zurück. Die Leute lachten, einige klatschten in die Hände, als ob sie lieber diesen Mann auf der Bühne haben wollten, aber Meine Wenigkeit ließ sich nicht beirren.

»Die Ehe ist das Purgatorium des Künstlers. Die Familie die Hölle. Der glückliche Mensch sagt: Ja. Der Künstler: Nein. Der Künstler beobachtet und sagt da Nein, wo alle anderen Ja sagen. Ich praktiziere das jetzt. Wenn die Wurstdame beim Billa mich fragt: Darf’s ein bisserl mehr sein?, dann sage ich: Nein.«

Endlich lachten ein paar Leute laut auf.

»Wenn die freundliche Kellnerin beim Abservieren fragt: Hat’s Ihnen geschmeckt?, sage ich: Nein. Das ist nicht einfach. Aber der Künstler darf nie den einfachen Weg wählen. Der normale Mensch sucht das Einfache, das Widerstandslose. Nicht der Künstler. Der Künstler sagt: Nein. Also habe ich Nein gesagt. Zu allem. Aber es ist frustrierend, die Sinnlosigkeit radikalen Handelns zu erkennen!«

»Deinen Schwachsinn anhören zu müssen, ist frustrierend«, konterte das Mädchen von vorhin und ermutigte die anderen, ihr Gegrunze und Gehuste erheblich zu steigern. Die eine oder andere Faust flog in die Luft, landete ihren Haken aber höchstens in einem unsichtbaren Nebel aus Staub und Spucke.

Meine Wenigkeit war zufrieden.

Eins musste man ihm lassen – er wusste, wie man eine Menge zum Kochen bringt. Er drückte eine Taste auf seinem Notebook und startete einen fürchterlich übersteuerten Beat.

»Halt’s Maul und lass den Nächsten ran!«, schrie einer.

Ihr müsst wissen, das Ganze war eine von diesen saublöden Veranstaltungen, wo jeder Saufkopf, der es schafft, sich einen Witz zu merken, auf die Bühne darf, um diesen ins Mikro zu lassen. Noch dazu vor einer Jury von professionellen, sogenannten Comedians (in Wahrheit ein paar zweit- oder drittklassige Kabarettisten auf Gymnasiastenniveau), die einem dann erklären, warum man zwar lustig ist, aber nicht das Zeug zum Profi hat. Meine Wenigkeit fiel mit seiner Kunst da ziemlich aus dem Rahmen. Er hatte nie etwas veröffentlicht und nur ein paar Auftritte in der Provinz absolviert, blieb aber, wen wundert’s, stets unverstanden und erfolglos.

Jessasmarandjosef, wenn ich das geahnt hätte! Der Gstettner hat übrigens auch immer »Jessasmarandjosef« gesagt, das sagt jeder, der aus Bölling kommt. Ist so was wie ein Erkennungscode oder ein alter Brauch. Hat nichts mit dem Herrn Jesus zu tun.

Jedenfalls hob er dann vor diesen selbsternannten Rittern des Humors an zu einer irrsinnigen, rekordverdächtigen Hochgeschwindigkeitslitanei:

Die tun es alle.
Alle, verstehst du?
Saufen, kiffen, koksen, drücken,
spritzen, sniffen, cracken, ficken.
Wachbleiben,
verstehst du?
Wachbleiben,
Jessasmarandjosef!
Da vorne isses.
Das Tor, deep and wide.
Du kannst es anschaun
wie einen verdammten, blöden scheiß Fernseher.
Es anschaun oder hingehn.
Einfach drauflos und durch,
verstehst du?
Da sind diese zwei Lager:
Eins hier, eins da.
Bla bla, bla bla,
das isses, Baby,
von allem zwei.
Und du hast die Wahl.
Nimm es, Baby, nimm es!
Such dir eins aus.
Schlaf weiter oder wach auf.
In die Glotze oder aus der Glotze,
verstehst du?
Nein oder ja?

Angst oder scheiß drauf.
Gut und Böse.
Oder es einfach tun.
Die tun es alle,
verstehst du?
Wachbleiben.
Wach, wach.
Ich werd dir was verraten:
Du kannst wählen.
Oder aber –
und das checken nur die wenigsten –
du scheißt aufs Wählen
und greifst einfach zu.
Das isses, Foxy,
du tust es einfach.
Lass die Vollidioten vor der Glotze sitzen.
Du bist drin in der Glotze, Baby.
Dich starren sie an.
Everybody loves my baby.
Lass die Vollidioten träumen.
Du bist der Traum, Baby,
verstehst du?
Die tun es alle.
Alle tun sie’s.
Scheiß drauf, fuck,
is genug von allem da.
Dreh das Licht einfach aus.
Is weniger gefährlich so.
Hörst du mich?
Hört ihr mich?
Here we are now,
Entertain us!

Er war so schnell, dass keiner es geschafft hätte, ihn zu unterbrechen. Und irgendwie hat ihn in diesem Moment jeder, davon bin ich überzeugt, bewundert. Er hatte einfach keine Angst. Und was, frage ich euch, gibt es Bewundernswerteres?

Und dann – die Leute pfiffen und schrien sinnlose Chöre, wie Leute das eben so tun, wenn sie im Rudel auftreten und einen gemeinsamen Feind haben –, dann drückte er wieder eine Taste seines Notebooks und der ganze Laden flog in die Luft. Jessas! Es war das gigantischste Bummm! der österreichischen Nachkriegsgeschichte, das könnt ihr mir glauben.

Wenn ihr aus der Gegend seid, habt ihr es ja vielleicht gehört. Siebenundachtzig Tote haben sie gezählt und ich bin mitten unter ihnen gelegen. Die Gesichter der Zuschauer, die gerade noch geschimpft und gelacht hatten, lösten sich buchstäblich von ihren Köpfen und flogen, wer weiß, vielleicht auf andere gesichtslose Köpfe. Es war das reinste Chaos. Die reinste Panik. Der Wiener hat ja keine praktische Ahnung vom Terrorismus. Er hatte noch keine. Siebenundachtzig Tote! Und Meine Wenigkeit war nicht einmal Moslem! Keiner, der aus Bölling kommt, ist Moslem. Und damals hat ja tatsächlich noch jeder geglaubt, das sei die Grundvoraussetzung für einen Selbstmordattentäter. Damals. Jetzt ist alles anders. Ich weiß nicht, wie ihr das seht, aber ich glaube, er lacht sich gerade in sein verwestes Fäustchen, der Idiot.

Kein Mensch weiß, was er tatsächlich wollte. War es seine aufgestaute Frustration? Eine Performance? Ist auch egal jetzt. Ich habe diese Geschichte nur erzählt, weil ich ihn gekannt habe. Und weil er der Erste war. Und weil er all die Vollidioten, die noch kommen sollten, aufgeweckt hat. Und weil ich nun einmal der Einzige bin, der seine finale Vorstellung überlebt hat. Fragt mich nicht, warum.

Und zum versprochenen Anfang seiner Geschichte sage ich nur so viel:

Franz Gstettner wurde in einer Silvesternacht geboren, während der Nachbar seiner Eltern, Friedrich Fink, ein Saufkopf höchsten Grades, sein gesamtes Erspartes für den nächsten Urlaub, auf den seine Familie sich ein ganzes halbes Jahr gefreut hatte, dafür verwendete, Feuerwerkskörper in den langweiligen, friedlichen Böllinger Himmel zu schießen. Ob ihr es glaubt oder nicht.

Mein Name ist Cornelius Fink, ich bin der Sohn dieses Vollidioten. Und jetzt haltet mir die Daumen, dass mich in den nächsten paar Stunden keine Tiere überfallen und ich hier heil rauskomme, ohne geschnappt zu werden. Ich werde nach Hause gehen und richtig lange duschen, weil ich nämlich … na gut, ich erspare euch die Details.

2. SARAH

Es geht nicht um den Samen.

Es ist weiß. Oder weißlich, gräulich. Riecht angeblich nach Kastanien. Es besteht aus Fäden und Flüssigkeiten und wurde mit Hilfe dieser Flüssigkeiten vor dreizehn Jahren durch die Harnröhre eines gewissen Vincent Auer in den Unterleib von Lena Ungar transportiert, die das Ganze, so hoffe ich doch, als erbaulich und befriedigend erlebt und deren biologisches Kreativzentrum den Befehl Jetzt! spontan weitergeleitet hat. Mittlerweile ist Sarah zwölf. Ihr Vater und ihre Mutter kannten sich so gut wie gar nicht und trennten sich, noch bevor Lena von den Veränderungen in ihrem Körper erfahren hat. Sie hat ihn dann über die neuen Umstände informiert, er wollte aber nichts davon wissen. Das war’s. Männer verteilen ihren Samen wie der Regen seine Tropfen. Das hat mehr mit Ausscheidung als mit Erfüllung oder Überlebenssicherung im Sinne der Fortpflanzung zu tun. Im besseren Fall hat es mit einem anderen Menschen zu tun, aber sicher nicht zwingend mit Liebe, Fürsorge, Verantwortlichkeit oder Vaterschaft. So läuft das. Die Natur hat in ihrer Schamlosigkeit kein Problem damit, aus den sinnlosesten Verbindungen menschliche Wesen entstehen zu lassen. Gedankenlos schleudert sie ein kleines Mädchen in diese fragwürdige Welt, ohne Sicherheitsnetz, ohne vorher das Gelände zu überprüfen. Die Natur ist eiskalt. Ich unterstelle ihr, dass sie es liebt, uns beim Kämpfen und Scheitern zu beobachten. Aber egal, die Natur wird ohnehin überbewertet. Und ich schweife schon wieder ab.

Nach dem Anschlag war in Bölling natürlich der Teufel los. Der natürliche und auch sympathische Drang des Menschen, sich von seiner besten Seite zu zeigen, wird scheinbar sofort unterdrückt und gegen einen regelrechten Entblößungszwang eingetauscht, wenn das Fernsehen ins Spiel kommt. Die Leute würden alles tun – was sage ich – sie tun alles, nutzen jede auch noch so lächerliche Gelegenheit, um der Welt zu zeigen, wie banal, bedeutungslos und idiotisch sie sind. Und auch keiner der Böllinger war sich zu blöd, sich vor einer Kamera in stumpfsinniger Betroffenheit und moralischer Überlegenheit zu präsentieren.

Alle haben sie gelogen. Jeder hat den Gstettner Franz plötzlich besonders gut gekannt und immer schon gewusst, dass mit dem was nicht stimmt. Er wurde als Autist bezeichnet, Eigenbrötler genannt und Psychopath geschimpft. Ich bin bei dieser Talkshow im Fernsehen gewesen und sogar bei Zeit im Bild. Zum ersten Mal waren die Böllinger richtig stolz auf mich. Völlig grundlos natürlich, aber so läuft das eben. Nicht, was im Fernsehen gezeigt wird, ist von Bedeutung, sondern weil es im Fernsehen ist, ist es von Bedeutung. Das hat sich seit den Sechzigern des letzten Jahrhunderts nicht verändert, aber wie auch immer – wenn du als Böllinger im Fernsehen warst, bist du plötzlich wer, einer von den Guten, liebenswert, wichtig oder was weiß ich.

Die Lena Ungar aber war, in gewisser Weise, die Blödeste von allen. In die war der Gstettner Franz unsterblich verliebt, wie er siebzehn war, aber sie hat sich nie für ihn interessiert. Dem Fernsehen hat sie jedoch von ihrer Beziehung und von atypischem sexuellen Verhalten und so erzählt. Ich hätte es wissen müssen. Aber wenn du der einzige Überlebende von so was bist, hast du keine Chance. Sie stülpen sich über dich und saugen dich aus.

Die Lena ist, wie ich, fünfunddreißig, sieht gut aus, hat Psychologie studiert und redet gern und viel – die perfekte Kombination fürs Fernsehen. Ich sag’s gleich: Sie wohnt jetzt bei mir, hat mich quasi überrumpelt damals. Vor laufender Kamera hat sie mich gefragt, ob sie zu mir nach Wien kommen könnte, weil sie weg müsse aus Bölling, die Enge und Beschränktheit nicht mehr aushalte. Was soll ich sagen. Die Medientypen wollten aus uns gleich so was wie Romeo und Julia vom Lande machen.

Sarah ist, wenn ihr mich fragt, eine Nervensäge höchsten Grades. Wenn ihr Lena fragt, ist sie natürlich ein wunderbares, wenn auch schwieriges, menschliches Wesen. Zwischen Lena und mir läuft aber nichts. Wenn ihr’s genau wissen wollt – wir haben ein Mal miteinander gebumst, das war’s. Keine Liebe oder so. Man sagt ja: Der Appetit kommt beim Essen. Aber bei der Liebe funktioniert das nicht, ich hab’s ausprobiert. Die Lena und ich haben das dann irgendwie abgehakt, keine große Geschichte daraus gemacht. Vor allem sie, denn sie wollte ja bei mir bleiben. Natürlich nutzt sie mich aus, was die Kleine betrifft. Ohne mich könnte sie ihr Leben, wie sie es jetzt führt, vergessen, aber was soll’s, die Dinge entwickeln sich immer von selbst.

Sie ist Kostümbildnerin und viel unterwegs mit irgendwelchen idiotischen Fernsehproduktionen, also fast nie zu Hause. Ich bin demnach so was wie ein Alleinerzieher, obwohl ich keine Ahnung von Erziehung oder Kindern im Allgemeinen habe, aber erstens hab ich gerade keinen Job und zweitens bezahlt Lena die ganze Miete, quasi als Lohn fürs Babysitten, wenn ihr so wollt. Was das alles betrifft, hat sich mein Überleben bei Meine Wenigkeits idiotischem Abtritt wirklich gelohnt. Die Psychologin vom Arbeitsmarktservice hat ein Explosionstrauma bei mir diagnostiziert, und seitdem lassen die mich erst recht in Ruhe. Ich bekam eine Therapie verordnet und da gehe ich zweimal im Monat hin. Soweit, so gut. Sarah geht zur Schule, kommt heim, ich geb ihr was zu essen, sie macht Hausaufgaben, sieht fern – ganz normaler Alltag. Wir kommen ganz gut zurecht. Ich selbst bin Musiker, Songschreiber, und das ist mein eigentliches Problem.

Dies ist die Zeit der Idioten,
der jammernden Kojoten,
der ideenlosen
Zombieposen –
Kläffer ohne Pfoten!

So was in der Art. Fragt mich aber nicht nach meinem Erfolg. Irgendwie hat mir Meine Wenigkeit einen Spiegel vorgehalten. Mein eigentliches Problem ist also, dass ich eine Höllenangst davor habe, möglicherweise dem Franz ähnlicher zu sein, als ich das will. Versteht ihr? Ich denke darüber nach, ob ein Böllinger einfach immer ein Böllinger bleibt, egal wohin er flüchtet. Solche Gedanken lassen mich seit damals nicht mehr ruhig schlafen, denn irgendwie, ich weiß gar nicht, wie ich das sagen soll, kann ich nachvollziehen, warum er es getan hat. Nicht, dass ihr jetzt gleich die Polizei ruft oder so, ich denke nur laut darüber nach. Vielleicht bin ich ja auch nur so ein Idiot. Jessas, nein!

Was mir meine Therapeutin nicht glaubt, ist die zugegebenermaßen etwas schockierende Tatsache, dass mich der Tod dieser siebenundachtzig Menschen relativ kalt lässt. Natürlich war das schrecklich mitanzusehen, all das Blut und die Panik und der Gestank, aber es hat nicht lange gedauert … Was ich wirklich meine, ist, dieser Moment an sich war so gewaltig, dass man ihn nur akzeptieren und irgendwie in sein Leben einordnen kann. Der Tod eben. So ein Moment lässt keine Interpretation zu. Und genau hier wurde die ganze Geschichte unerträglich. All die Idioten, die dann gekommen sind, nach Erklärungen gesucht haben, oder nicht einmal gesucht, sondern einfach ihren blöden Senf auf dieses mediale Fertiggericht draufgeschmiert, den Anschlag als Statement gesehen, ihn in aller Öffentlichkeit seziert und erklärt haben; und die haben dann die wirklichen Vollidioten animiert, ihre eigenen Statements abzugeben. Acht Anschläge waren es bisher allein in Wien.

Der zweite Anschlag

Der zweite war der schlimmste. Der Typ war achtzehn. Habt ihr gehört? Achtzehn! Sein Name war Nikolaus Schlager. Dieser Idiot hat mit einer angeblich selbst gebauten Rucksackbombe, deren Bauplan er einfach aus dem Internet gedownloaded haben soll, die gesamte U-Bahnstation Kettenbrückengasse und einhundertzwölf Passanten in die Luft gesprengt. Und das Schlimmste: Er hatte nicht einmal ein Motiv. Keine Absichtserklärung, nichts. Überall haben sie den alten Johnny-Cash-Song zitiert und gespielt: Shot a man in Reno just to watch him die. Natürlich haben sie dann seine selbstverständlich schwierige Kindheit aufgerollt, seine Mutter sei dominant gewesen, der Vater gewalttätig und so – na und, wenn ihr mich fragt, ist das ganz normal. Und eine – ich zitiere – problematische Pubertät hätte er gehabt. Was soll ich da noch sagen. Der halbe Naschmarkt war völlig verwüstet. Im Fernsehen hat es ausgesehen wie 9/11. Ich bin hingefahren, aber sie haben alles abgeriegelt und sofort jeden überprüft.

Ein Journalist hat mich erkannt und gefragt, ob ich schon wieder überlebt hätte. Ich bin einfach weitergegangen. Er hat aber nicht locker gelassen. Ein auffällig kleiner, geschniegelter Typ mit so einer Art elektronischem Notizzettel, auf dem er mit einem winzigen Stift herumgekritzelt hat. Er würde meine Story gern groß herausbringen, hat er gesagt und gefragt, ob ich ein Statement zu diesem Anschlag abgeben würde. Nein, habe ich gesagt. Ob er mir seine Karte geben dürfe. Nein, habe ich gesagt. Er arbeite für das Magazin News und ich könne mich jederzeit, sollte ich es mir anders überlegen, dort melden. Leck mich, habe ich gesagt und ihn, glaube ich, sogar weggestoßen. Er verstehe mich und meine Situation, er sei durch dieselbe Hölle wie ich gegangen, hat er mir noch nachgerufen. Als ob mich das interessiert. In Österreich hat es so was noch nie gegeben, also durch welche Hölle kann der schon gegangen sein? Na gut, er könnte in Beirut oder Bagdad gearbeitet haben, aber was geht mich das an? Wahrscheinlich hat er einfach gelogen. Die schrecken ja vor nichts zurück. Die würden ihre eigenen Kinder entführen lassen, um einen Geiselnehmer vor die Linse zu bekommen. Diese Typen sind die reinsten Kletten.

Jedenfalls hat sich Wien seit diesem Tag total verändert. Wien darf nicht Chicago werden hat eine Idiotenpartei einmal wahlgekämpft – jetzt ist Wien Albanien oder so.

»Cornelius, die Mama will dir noch was sagen.«

»Hallo? Hi, Lena. Ja, alles in Ordnung … ja, sie hat brav gelernt. Okay, bis morgen dann.«