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Die Zukunft
wird kein
Honiglecken

Roman
von
Bernhard
Moshammer

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Die wichtigsten handelnden Personen:

Lutz

46, Dramaturg

Lotte

44, seine Frau, Lebens- und Sozialberaterin

Anselm

16, ihr Sohn, Schüler

Jura

0, Nachzügler

Anna

71, Lottes Mutter

Josef

73, Lottes Vater

Nadja

18, Anselms Freundin

Pangäa

0, Nadjas Tochter

Sylvia

24, Dramaturgieassistentin

Agathe

166, Haus auf Sylt

Khizar

18, Illegaler

Die Geschichte spielt im Jahr 2011 in Wien und auf Sylt.
Sie ist, wie die Zukunft, frei erfunden.

Laurussia und Gondwana waren kollidiert und hatten geheiratet. Es war keine Liebe auf den ersten Blick gewesen, mehrere Millionen Jahre sollte es dauern, bis sie sich aneinander gewöhnt hatten – und das war’s dann auch. Die langweilige Sonne war in einen blauen, ewig gleichen Himmel gebettet und brütete über eine endlos scheinende Durststrecke zwischen Nord- und Südpol. Ihre Hartnäckigkeit ließ so gut wie nichts zu – ein gigantisches Gähnen, trocken und heiß. Das Leben, angeführt von Reptilien, war auf die Wälder und Sümpfe der Küsten beschränkt – Allesland: Pangäa.

100 Millionen Jahre Ehe waren genug – viel hatten die beiden einander ja nie zu bieten gehabt –, die Trennung war unvermeidlich. Der Scheidungstermin wurde auf einen Zeitpunkt anberaumt, zu welchem die Polkappen immer noch nicht vereist waren und Säugetiere nicht größer als Ratten werden sollten. Nach und nach brach Pangäa auseinander. Die Erde vergoss ihre gefühllosen Tränen über unermessliche Landstriche – warme, flache, von Tintenfischen regierte Meere entstanden, der atlantische Ozean öffnete sich. An Land wucherten Farne, Saurier übernahmen die Herrschaft über das eintönige Grün. Das heutige Österreich lag irgendwo am Äquator im salzigen Nass versteckt. Harte Zeiten – der Jura.

Jetzt ist 200 Millionen Jahre später. Am Strand von Westerland tummeln sich vergnügt die Silbermöwen. Wegen des gefährlichen Wetters ist der Strand für Menschen gesperrt – den Möwen etwas vorzuschreiben ist unmöglich. Sie werden der Gemeinde immer mehr zum Problem, was durchschnittliche Sylt-Touristen selbstverständlich nicht interessiert – sie füttern sie weiterhin und bewundern ängstlich ihr schamloses und zunehmend Respekt einforderndes Verhalten. Die Silbermöwe (Larus argentatus) erreicht die ansehnliche Größe eines Bussards und bisweilen ein stolzes Alter von dreißig Jahren. Silbermöwen sind wie alle Möwen Allesfresser. Sie lernen schnell. Aufgrund des üppigeren Nahrungsangebots ist ihre Wintersterblichkeitsrate in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen. Die Zerstörung ihrer natürlichen Brutareale hat bereits zur Besiedlung der Flachdächer Westerlands geführt. Ihre Population steigt an. (Dramatische Musik; Nahaufnahmen aggressiver, dann ruhig beobachtender Vögel.)

Es heißt, solange die letzte Lachmöwe Wien nicht verlassen hat, ist der Winter nicht vorbei. Vereinzelte Exemplare der Spezies (Larus ridibundus) sollen aber auch schon im Hochsommer gesichtet worden sein. Ihr Bestand wird allein in Mitteleuropa auf eine knappe Million Brutpaare geschätzt. Auch sie werden gegen die Verbote, Warnungen und Bitten von Tierschutzorganisationen und Stadtverwaltung von den Menschen gefüttert – es ist einfach zu süß, wie sie zugeworfenes Futter im Flug auffangen; zu aufregend, alles verschlingende, kleine Wesen zu necken. Der Mensch liebt es, das Wilde zu verniedlichen. Jeder nach seiner Art. Die Möwen lachen in ausgelassener Unbewusstheit. (Hysterisches Vogelgeschrei in einer verzerrten Endlos-Echoschleife. Schnitt. Dunkel.)

Inhalt

ERSTER TEIL

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

ZWEITER TEIL

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

ERSTER
TEIL

»Heute ist alles anders.
Und es wird noch ganz anders werden!«

Ödön von Horváth

I

Deine Eltern haben immer recht, aber nicht für immer. Du bist alt genug, das zu wissen. Könntest langsam aufhören, dich an ihnen zu reiben, mit ihnen in den Ring zu steigen und ewig gleiche, sinnlose Kämpfe auszutragen (das abgegriffene Leder der Ringseile, auf welche die nur noch schwer erkennbaren Worte There’s no place like home! eingekerbt sind, will nicht und nicht reißen, sosehr du dich auch dagegenwirfst). Deine Eltern also: Unauffällig, höflich, einfache Mittelstandsbürger, gepflegt, liebenswürdig – so normal, dass kein Schriftsteller es wert fände, sie näher zu betrachten; so geruchlos, dass keiner sich umdrehen oder ihnen nachgehen würde, um an ihnen zu schnuppern. Oder aber gerade deshalb. Wie auch immer, ich würde mich nie Schriftsteller nennen, also hab keine Angst, ich erzähle hier nur eine kleine, alltägliche Geschichte. Deine.

Sie spielt in Österreich – da gibt’s natürlich alles, die große Gemeinschaft existiert hier genauso wenig wie anderswo (das hat mit der Kleinheit eines Landes nichts zu tun – nimm einfach ein beliebiges Kaff mit zwei Höfen her, und die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden Familien sich gegenseitig Pestizide in den Dünger mischen, ist größer als die, dass es zu Weihnachten schneit), alles ist schön strukturiert: Adel, jede Menge reiche Leute, jede Menge Unterschicht – die bekommt neuerdings die besten und teuersten Sendeplätze im Fernsehen (der Mensch schaut auch in Österreich gern nach unten). Bei der Unterschicht unterscheiden auch wir zwischen der legalen und der illegalen; die legale hat die lustigsten Sprüche drauf (als Folge eines erheblichen Mangels an Schamgefühl, Bildung, Kultur etc.) und darf deswegen ins Fernsehen, die illegale darf gar nichts, nicht einmal arbeiten, auch nicht wohnen oder einkaufen (mit welchem Geld sollten die das auch tun?) – die kommen aus den ranzigsten (wie es die hiesige Mittelschichtsjugend gerne nennt – auf die komme ich gleich zurück –, ich weiß, dass du das weißt, ich versuche hier nur deinen Eltern einen metaphorischen roten Teppich auszurollen) Gegenden dieses Planeten, Tschetschenien oder so, sind für den Staat wertlos und deshalb beinahe so etwas wie Staatsfeinde, halten sich mit ihren Kindern im gesetzlosen Untergrund auf (arme, schmutzige, elternlose Kinder, das ist herzerschütternd! Der Österreicher ist übrigens EU-weiter Spendenkaiser), werden aber bald in ihre Heimat zurückgebracht, keine Angst, wir haben das gut im Griff. Wir kümmern uns um alles, denn, wie gesagt, kein Volk der Welt weiß so gut wie das österreichische: There’s no place like home! Jetzt kann es aber unter gewissen mysteriösen Umständen auch passieren, dass wir sagen: Hey, wisst ihr was? Bleibt einfach da, wir können uns das leisten – wir schenken euch ein österreichisches Leben. Aber weil der Wähler von seinem Volksvertreter eine Härte und keine Schwäche will, machen wir das unter Ausschluss der Öffentlichkeit. (Der edle Spender bleibt ja auch gern anonym.) Also pssscht!

Und dann (anschwellender Trommelwirbel), sie hält die absolute Mehrheit innerhalb der österreichischen Bevölkerung, denn nirgendwo wird, wie es schon viel größere Denker als ich festgehalten haben, der Durchschnitt so gefeiert wie hier (Tadaaaa!) – die Mittelschicht: Du, ich, wir, deine Eltern. Der Mittelstand betont gerne seine Einfachheit, rühmt sich, es in den Wohlstand geschafft zu haben, wo doch die Eltern und Großeltern aus den einfachsten und allerärmsten Verhältnissen und so weiter (der Krieg!) –, ein schlechtes Gewissen sowohl seinen Ahnen als auch der Unterschicht (den Armen) gegenüber nagt an ihm zeit seines Lebens. Dennoch kann ihn nichts davon abhalten, sich der nächsthöheren Sprosse der kapitalistischen Leiter unter Aufbringung aller ihm zur Verfügung stehenden Mittel entgegenzustrecken. So sind wir einfach, auch wenn wir uns als große Kapitalismuskritiker gefallen und ihm in der Öffentlichkeit gern ans Bein pinkeln. Das ist unsere Normalität. (Frage: Wie lange noch? Zitat Mittelschichtsexpertin im Fernsehtalk: »Wir schrumpfen!«) Wir sind das vielgerühmte Österreich, von dem auf der ganzen Welt geredet und erzählt, geschrieben, gesungen und … gegessen wird. Und jetzt sind wir also wieder zurück – bei deinen Eltern, in deiner Geschichte.

Und beim Essen. Geladene Gäste werden von ihnen bekocht, bis ihnen schlecht wird. Da wird die Trickkiste der österreichischen Gastfreundschaft weit geöffnet und nichts ausgelassen: Aperitif, kleine Appetithäppchen, Bier, Suppe, Hauptspeise (Fleisch, Beilage, Salat), Schnaps, Nachspeise (Strudel, Obst, Schlagobers), Kaffee, Kuchen (selbst gemacht), Jause, Abendessen (Fleisch, Wurst, kalt), Wein, Käseplatte und am Schluss vielleicht noch irgendein ganz besonderes Schlückchen Hochprozentiges (vom Schwager fabriziert). Wird man von deinen Eltern eingeladen, fehlt es einem an nichts. Sie helfen ihren Nachbarn und Freunden rund um die Uhr (gerne), ob die das wollen oder nicht, sind offen und ehrlich, einigermaßen belesen, Meister der sogenannten gehobenen Konversation, nie um glasklare Standpunkte verlegen. Sie sind informiert, immer auf dem neuesten Stand, wissen Bescheid. Hohepriester der Anständigkeit, gesetzestreue Sklaven der Vernunft. Du kannst ihnen nichts vormachen. Niemand kann das und du am allerwenigsten, das ist klar. Immerhin bist du das Kind. Deine Alten sind die höchste Instanz, das Getriebe in deinem Fahrgestell, der Hopfen in deinem Bier, der Estrich unter deinem Fußboden und so weiter – such dir was aus.

Deine Eltern vertreten die Meinung, dass Kinder heutzutage nichts mehr wert sind. Drecksgeneration oder Wohlstandsbagage hast du sie spucken gehört. Nicht sehr originell, vielleicht auch nicht sehr freundlich, aber es gibt immerhin noch ein Richtig und ein Falsch, ein Links und ein Rechts – und wenn ein Gespräch ins Politische driftet, müssen Dinge beim Namen genannt werden (und du weißt ja: »Alles ist Politik«). Natürlich wissen sie, wovon sie reden, aufmerksame, intelligente Beobachter der Gesellschaft, die sie sind, vom guten, alten Hausverstand beseelt, der sie nun immerhin schon mehr als siebzig Jahre durch diese verworrene Welt geführt hat.

»Die Zukunft wird kein Honiglecken«, sagen sie gerne, und nie widerspricht ihnen auch nur irgendjemand – sie erfahren die von ihrem Umfeld allerheftigstmögliche Zustimmung in Form von Nicken, Seufzen oder betretenem Schweigen.

Da tun sich Haufen verwöhnter Egoisten auf, sagen sie, alles Einzelkinder, selbst wenn sie sieben Geschwister haben oder bereits im Alter von zwei Monaten in Kindergärten gesteckt werden. Ganze Generationen von asozialen oder besser antisozialen Prinzen und Prinzessinnen werden da vor allem in den Städten herangezüchtet. Reiche Pinkel, die keinen Sinn für das größere Ganze, für Gemeinschaften haben, keinen Staatssinn. Keine Vorstellung davon, was Österreich bedeutet. Die kein Nein kennen, wo doch erwiesenermaßen die Einschränkung die Essenz jeglichen Erziehungsbegriffs ist. Das Internet ist zweifelsohne nicht weniger und nicht mehr als die menschenfeindlichste Erfindung der Geschichte, sagen sie – grenzenlos, frei, scheinbar gratis, auf jeden Fall wirklichkeitsfremd und absurd. Bodenlos.

Mit Cheeseburger fressenden und Energy Drinks saufenden und somit ungesunden, unsportlichen, unverbesserlichen Horden respektloser Berufskonsumenten sehen sie sich konfrontiert, frühreifen Unreifen, denen es vor allem an politischem und religiösem Bewusstsein mangelt (»Dieser Generation wäre sogar der Hitler wurscht!«) und die den wahrscheinlich psychotherapeutischen, vielleicht aber sogar esoterischen Rat, im Hier und Jetzt zu leben, aufs Unverschämteste missinterpretieren. Kurzsichtige, allein auf ihren eigenen Vorteil fokussierte Müßiggänger sind das.

Frage: Was ist eine Jugend wert, die nicht einmal mehr die Energie aufzubringen bereit ist, sich zu beschweren, nicht den Mumm hat, sich aufzulehnen, sich nur in der Selbstverständlichkeit des Wohlstands suhlt, keinen Blick für die Armen, Schwachen und Geschändeten dieser Welt hat (deine Eltern haben ihrer Bank gleich mehrere Dauerüberweisungsaufträge an diverse karitative Organisationen erteilt) und nur auf Spaß, Partys, Geld und Sex aus ist? Antwort: Nichts.

Frage: Was soll man von triebgesteuerten Halbwüchsigen erwarten, denen Bildung Zeitverschwendung ist, die keine Bücher lesen, nur an auf wenige Zeilen oder gar Zeichen reduzierter, sinnentleerter Information oder einem pervertierten Kommunikationsbegriff interessiert sind und deren große Fragen sich vorrangig um ihr eigenes Erscheinungsbild oder die krampfhafte Suche nach Genuss und Rausch drehen? Antwort: Gar nichts. Und so weiter.

Ihr Neffe, dein Cousin Richard, antwortete ihnen einmal lakonisch: »Erstens: Ihr stellt die falschen Fragen. Zweitens: Wo ist das Problem? Wohlstand ist geil. Der Krieg ist vorbei, Tantchen, uns geht’s gut – wogegen sollten wir kämpfen und warum?« – »Die Zukunft wird kein Honiglecken«, antwortete Tantchen ins Leere und Onkelchen lachte kopfschüttelnd dazu. »Ja, die Zukunft wird kein Honiglecken – das werden wir noch auf euer Grab schreiben«, hast du selbst einmal im Zorn gesagt, was sie dir immer noch vorhalten.

Tatsächlich werden sie nicht müde, das bei jeder sich bietenden Gelegenheit festzustellen – ja, man könnte sie bisweilen als Unheilsprediger bezeichnen, als Missionare der Hoffnungslosigkeit. Oder, wie Cousin Richard es gerne unmissverständlicher ausdrückt, als unsensible, in der Zeit stehen gebliebene, nervtötende und vor allem alte Jammerlappen. Aber selbstverständlich sehen sie das anders, wähnen sich im Recht, meinen es gut und wollen immer nur das Beste für dich und die deinen.

Tja, so ist das mit deinen Eltern – sie haben immer recht.

(Und glaub nicht, dass ich sie hier in den Schatten stellen oder schlechtmachen will – grade haben sie mich angerufen und gemeint, der Anfang der Geschichte sei richtig gut!)

Dein Name ist Lotte, 44, du bist verheiratet mit Lutz, 46, Mutter von Anselm, 16, und dem zwei Monate alten Nachzügler Jura.

Jura, sagt deine Mutter, sei eine Studienrichtung (und selbst das nur bei den verdammten Deutschen), kein Name. Du verweist sie auf Jura Soyfer – der sei ein jüdischer Kommunist gewesen, sagt sie dann. »Ja, und?«, sagst du, worauf ein Blick deiner Mutter folgt, den du lieber nicht deuten willst.

Dein Vater nennt Anselm Amsel. Seit sechzehn Jahren. Du bist dir bis heute nicht im Klaren, ob das als gezielte Provokation gemeint ist – natürlich empfindest du es als solche, Anselm selbst hat sich längst damit abgefunden, es sei ihm auch scheißegal, sagt er – oder tatsächlich eine Begrenztheit deines Vaters zutage bringt (ein gar nicht unbefriedigender Gedanke, wie du zugeben musst), seine sprachlichen Fähigkeiten also schlichtweg überfordert. So was gibt’s. Du musst immer an deinen Klassenkameraden Anton denken, der es nicht zuwege gebracht hatte, das Wort verdammt als solches auszusprechen; immer hatte sich ein p vor das t zwischen seine Lippen geschwindelt: verdampt! Und warum auch immer – wie so vieles im Leben sich einfach verselbstständigt, sagst auch du verdampt, wenngleich du auch ohne Mühe verdammt sagen könntest, was wiederum deine Eltern als Affront gegen sich, ihre Bildung oder gleich die ganze westliche Zivilisation verstehen.

Lutz ist Dramaturg am Wiener Burgtheater. Wenn du gefragt wirst, was er da so tut, wirst du verlegen und sagst einfach: »Er liest viel.« Du verstehst nicht ganz, warum er nicht nur tagsüber, sondern zumeist bis spät in die Nacht im Haus sein muss, wie er das nennt (Schnitt auf eine allabendliche Szene in der Theaterkantine: Schütter behaarte Männer in schwarzen Sakkos mit Plastiktaschen oder abgegriffenen Kartonschnellheftern, Schauspieler und Schauspielerinnen im Kostüm oder privaten, trashigen Designeroutfits; man trinkt Bier, Weißwein, Aperol Sprizz). Er selbst hat es auch nie geschafft, dir in einfachen Worten zu erklären, was genau es bedeutet, eine sogenannte Produktion dramaturgisch zu betreuen (»Hat auf jeden Fall mehr mit Psychologie als mit Dramaturgie zu tun.«), aber du stellst das nicht mehr in Frage, hast dich daran gewöhnt wie an so vieles in diesen achtzehn Jahren eurer Beziehung. So hat euer Sohn nicht allzu viel von seinem Vater gehabt und du möglicherweise zu viel von eurem Sohn (Schnitt auf deine empört aufspringende Mutter) – aber wie auch immer, ihr habt euch mit den Jahren zu einem funktionalen System entwickelt, dessen magische Kraft euch immerhin durch die kompliziertesten Zeiten zu tragen imstande ist. Du magst das Gefühl von Familie (von deiner Familie wohlgemerkt, also von euch dreien – hoppla, ihr seid ja vier … tschuldige, Jura). Auch wenn du keine Ahnung vom Alltag deines Mannes hast. Das ist nicht weiter schlimm, sagst du dir, hat doch dein Mann auch keine Ahnung von deinem Berufsleben, wenngleich du ihn liebend gerne in Details einweihen würdest. Wenn du ehrlich bist, kränkt es dich immer noch, dass er sich nie auch nur annähernd dafür interessiert hat, aber so ist das eben. Du selbst warst früher Sozialarbeiterin und hast vor ein paar Jahren eine Ausbildung zur Lebens- und Sozialberaterin absolviert – zwar würdest du viel lieber stolz auf ein Türschild schauen, das dich als Psychotherapeutin ausweist (Zitat Psychotherapeutin, 31, die auf ihrer Website ungefähr dreißig schwerwiegende Symptome unterschiedlichster Natur benennt, welche ihre Therapie in den Griff zu bekommen verspricht, beim Überfliegen der beinahe identischen Website einer Lebens- und Sozialberaterin: »Das ist doch lächerlich. Eine Lebens- und Sozialberaterin verhält sich zur Therapeutin bestenfalls wie ein Lehrling zum Meister!«), aber das war nicht drin – zu langwierig, zu teuer, die Familie, die Zeit. Lebensberaterin ist aber auch okay – man könnte sagen, auch du betreust Produktionen, denn was ist ein Menschenleben anderes als eine enorme, im Grunde unmögliche Produktion, die trotz aller Widrigkeiten in welcher Form auch immer dennoch stattfindet. Ein Theaterstück als Analogie zum Leben zu begreifen, hat dir schon oft geholfen. Auch weisen die nächtlichen Gespräche mit Lutz unaufhörlich auf solche Parallelen hin. Du liebst diese Gespräche, sie sind das, was eure Beziehung ausmacht (Schnitt auf euch beide in Unterwäsche, das dritte oder vierte Glas Wein in der Hand, endlos diskutierend – Anselm nennt das Streiten, total nervig); du liebst diese Parallelen und du vermisst sie, jetzt wo sich alles um den kleinen Zwerg dreht. Du bist immer auf der Suche nach Gemeinsamkeiten, nach eurer gemeinsamen Straße, die ihr Hand in Hand entlanggeht, bis dass der Tod und so weiter (dein Lieblingslied ist The Long And Winding Road), während Lutz einfach seinen Weg zu gehen scheint und damit zufrieden ist (er hat nicht einmal ein Lieblingslied, das ist ihm zu banal – wenngleich er auch immer alle Leute wegen ihrer Lieblingslieder nervt; wäre er gezwungen, sich für eines zu entscheiden, würde er wahrscheinlich sagen: »Das Frühwerk Dylans.« Oder: »Das Jahr 1976.« Oder: »Irgendwas von Mahler.« Oder einen Song von Ian Dury oder Frank Zappa, den kein Mensch kennt, weil er nur als Demoaufnahme auf der B-Seite einer vergriffenen 45er drauf ist – selbstverständlich aus dem Jahr 76).

Du warst es auch, die sofort darauf bestanden hat, die ungeplante, späte Schwangerschaft durchzuziehen, weil du der Möglichkeit einer ablehnenden Haltung seinerseits zuvorkommen wolltest. Er hat sich dann aber gar nicht dagegen gewehrt – im Gegenteil, seine Freude war spontan, authentisch und anhaltend. Das war schön, du warst richtig glücklich. Lutz ist ein guter Mann, trotz allem ein guter Ehemann, du bist dir seiner Liebe sicher, er ist ein für seine Begriffe bemühter Vater. Er ist, wie er ist und er ist besonders, das weißt du; ihn kennengelernt, ihn gefunden zu haben, ist das Besondere in deinem Leben – ein Glücksfall, die Antwort auf deine Frage, der Deckel zu deinem Topf. Und jetzt, wo Jura da ist, verbringt er auch wieder mehr Zeit zu Hause. Das ist schön und kostet ihn eigenartigerweise nicht einmal Urlaubszeit. Aber egal, er ist hier, und das rund um die Uhr. Muss er aber auch, nichts anderes bleibt ihm übrig, denn dir geht’s definitiv nicht gut.

(Lutz hat grade angerufen und mir vorgehalten, dass er in dem Kapitel doch etwas einseitig beschrieben worden sei – das habe ich selbstverständlich von mir gewiesen; er als Dramaturg sollte eine Ahnung von der Entwicklung eines literarischen Charakters haben – und immerhin sei nicht er der Held des Romans, sondern du. Für den Moment. Stimmt das Klischee von der Egomanie der Theatermenschen gar?)

Du rückst deinen Sitzring zurecht, einen mit Luft gefüllten Riesendonut in krankenhäuslichem Blassgelb inklusive schmuckem, abwaschbarem Frotteebezug, der deinen Anus von jeder harten oder kalten Fläche fernhält und schön frei schweben lässt. Ein hervorragender Behelf nach Operationen im Dammbereich, bei Analläsionen, Hämorrhoiden oder postnatalen Unterleibsdeformationen. Gott, ist das entwürdigend!

Da denkt man – ein zweites Kind, was soll da schon sein? Das flutscht wie nichts, ein paar Wehen und Grüß Gott. Aber die erste Geburt liegt sechzehn Jahre zurück, du bist unsicherer geworden, hast Angst und bestehst schon im Vorfeld auf dein Recht auf irgendein verdamptes Schmerzmittel. (Eine Periduralanästhesie lehnst du ab.) Und dann – als ob die Vorsehung zuschlagen würde – geht erst recht alles schief. Die im Geburtsvorbereitungskurs antrainierte Atmungstechnik kann gar nicht angewendet werden, weil das dir von deinem Arzt versprochene Opiat Alodan (genauer: ein Opioidanalgetikum, welches einerseits die Weiterleitung des Schmerzreizes hemmt und andererseits das Schmerzempfinden im Thalamus und im limbischen System verändert) anscheinend überdosiert wurde, du also high in der Matratze hängst und die Übermotiviertheit deines Mannes deine Atmung und Körperstellung betreffend nur träge belächeln kannst, während Spucke sinnlich aus deinen Mundwinkeln träufelt. Nach mehreren Stunden im periodisch einsetzenden Wehenkrampf sagt dir die hochmotivierte Bio-Hebamme, die die ganze Schmerzmittelsache irgendwie sehr persönlich zu nehmen scheint, dass dein Muttermund bereits ganze drei Zentimeter geöffnet ist und dein Baby sich nicht von der Stelle rührt. In den Pausen, die du zur Entspannung nutzen solltest, fallen dir Auschwitz-Dokumentationsfilme ein oder Freundinnen, die Geburten als spirituellen Orgasmus bezeichnen. Die Hebamme besteht weiter vehement auf eine natürliche Geburt – du willst mehr Drogen. Diese Frau, die dir doch helfen sollte, interessiert sich augenscheinlich nicht für dich, sondern nur für die Geburt und weist dich darauf hin, dass du dich ausdrücklich gegen eine Peridurale ausgesprochen hättest. Ein unfairer Kampf entwickelt sich; du versuchst, dich mit dem diensthabenden Arzt zu verbünden, weil dein Arzt, der hoch und heilig versprochen hatte, hier zu sein, wegen eines echten Notfalls verhindert ist. Der Gebärmuttermund öffnet sich weiter, aber das Kind bleibt stur. Schließlich starren mehrere Weißkittel abwechselnd auf den Wehenschreiber und deine wunde Vagina, befürchten einen Herzstillstand des Kleinen, dessen Nabelschnur, wie es scheint, eine Schlinge um seinen Hals gelegt hat, und diskutieren nervös die Pros und Contras von Vakuumextraktor, Forceps und Sectio. Du weißt nicht mehr, welcher der diensthabende Arzt ist, dir wird alles zu viel, du beginnst, lauter zu werden, stöhnst und versuchst deine Not in gutturalen Lauten zu vermitteln. Dein Mann wird nach draußen gezerrt, mehrere Schwestern halten dich fest. Du vernimmst harsch geflüsterte Worte wie Notoperation oder zu spät oder schnell. Ein dicker, schwitzender, unrasierter und gestresst lächelnder Mann setzt sich zwischen deine weit gespreizten Beine und sagt: »Das sieht ja schon ganz gut aus – wir holen das Kleine da jetzt raus, gell. Forceps!« Dann setzt er eine Klinge an deinem Damm an und zieht eine kraftvolle Linie nach unten. Du brüllst wie ein Schwein auf der Schlachtbank, der Anästhesist auch: »Noch nicht!!!« Endlich kippst du ins erlösende Schwarz. Als du aufwachst, sitzt dein weinender Mann neben deinem Bett mit einem angezogenen Baby im Arm.

Das war vor zwei Monaten. Die nächsten Wochen waren geprägt von Schlaflosigkeit, Schmerzen und mehreren würdelosen Erfahrungen, die als Folge einer angeblich vorübergehenden Schließmuskeltaubheit auf der Hand lagen. Nun ja, zumeist auf dem Boden (den Weg ins Badezimmer hätte sogar ein blinder Hänsel aus dem Märchenwald gefunden). Und das Schlimmste: diese Abhängigkeit. Diese verdampte Abhängigkeit! Ohne Mann, ohne Lutz hättest du das alles nicht geschafft. Nichts geschafft. Du hättest dein Kind nicht versorgen können, dich selbst nicht versorgen können. Verreckt wärt ihr, alle beide. Der Weg vom Bett in die Küche – ein Marathon; von der Küche zum Klo – ein Hochseilakt. Und das alles unter nicht auszuhaltenden Schmerzen, die du nicht betäubst, weil du den Kleinen stillen willst. Zumindest stillen willst du ihn! Betest um Milch. Das ist das Einzige, wozu der Mann nicht imstande ist. Wenn der Kleine an deinem Busen einschläft, drückt es dir die Tränen aus den Augen. Sein friedliches Abdocken sagt dir: Ich brauche dich nicht mehr. Du willst aber von ihm gebraucht werden. Er soll, er muss doch von dir, von seiner Mutter abhängig sein!

Lutz hat wohlmeinende Informationen zu alternativer Säuglingsnahrung eingeholt, dir Websites gezeigt und vorgelesen, Artikel über Kuhmilchunverträglichkeit aus einschlägigen Magazinen ausgeschnitten, dir Statistiken über bemerkenswerte Verhaltensentwicklungen bei Jungmüttern vorgetragen – wie es aussieht, ist bei vielen jungen Frauen die Angst vor Schmerzen zu groß, ihr Körper ihnen einfach zu wichtig, um ihn an ihre Brut zu verschwenden: Save Your Love Channel, eine Bewegung, die Frauen zur Revolte bittet und die elektive Sectio einfordert, wird immer größer; Männer, die kein Problem mit der Einnahme von Östrogen, dem Anschwellen ihrer Brüste und einer künstlichen Plazentamontage an ihrem Darm haben, können theoretisch sogar selbst Kinder kriegen, und immer mehr junge Matronen verweigern ihren hungrigen Jungen die Brust – nichts sei ein Problem, sagt Lutz, die Wissenschaft hätte für alles vorgesorgt, du könntest ganz beruhigt sein.

Sicher meint er es gut, aber sieht er nicht, wie erniedrigend das alles ist? Kann er überhaupt so unsensibel sein? Auf eine eigenartige, ihm wahrscheinlich gar nicht bewusste Weise saugt er dich aus wie ein Vampir; deine Schwäche wandelt er um in seine Stärke. Das Mitleid, das dir entgegengebracht wird, endet immer in seiner totalen Bewunderung. Sein neu entwickeltes Selbstbewusstsein – als ob er nicht schon genug davon hätte! – kränkt dich. Seine Leichtigkeit – denn selbst wenn er richtig Stress hat, erkennst du durch die Bestätigung, die er von Jura und allen anderen, der ganzen beschissenen Welt!, empfängt, diese souveräne Leichtigkeit, die ihn umhüllt wie ein Kokon der Sicherheit und Stabilität – macht dich noch schwerer, du fühlst dich nackt, verwundet und allein, und das, so scheint’s, wird von niemandem wahrgenommen. Dein Leid – das Mutterleid – ist nichts im Vergleich zur Süße des Lebens, die der kleine Jura ausstrahlt oder zum Durchhaltevermögen, zur Modernität eines tapferen Mannes.

Wenn der Kleine bei dir liegt und schreit, versuchst du ihn zu beruhigen, lächelst, singst, streichelst und wiegst ihn – es hilft alles nichts. Dann kommt der Mann, hebt ihn hoch, macht ein paar Witze und das Kind lacht oder schläft. (Dir ist aufgefallen, dass du zumeist das Kind sagst, nicht mein Kind oder mein Sohn oder einfach Jura, du verdrängst das Nachdenken über deine Beziehungslosigkeit zu diesem Säugling, aber wenn du ehrlich bist, könnte er auch das Kind einer anderen sein, es würde keinen Unterschied machen.)

Es ist zum Kotzen. Du bist reduziert auf dein Euter, deine Nippel sind dein einziges Ventil in die Freiheit, ihre Funktion allein lässt dich deinen Körper nicht ausschließlich als Gefängnis empfinden. Der Akt des Stillens gibt deiner Existenz Sinn. Vor ein paar Tagen, mitten in der Nacht, dachtest du: Auch er saugt mich nur aus, aber hätte ich keine Milch, die ich ihm geben könnte, ich müsste mich umbringen. Das war der Tiefpunkt. Immerhin – das Stillen funktioniert noch, der Rest ist ein Trauerspiel.

Aber Gott sei Dank ist er ja hier. Der Himmel sei gepriesen, der Mann ist da: Lutz, der sich Aufopfernde. Lutz, der alles Ertragende. Lutz, der Vater, die Mutter, die Krankenschwester, der Koch und die Putzfrau in einer Person. Und was bist du? Bist du überhaupt zu irgendetwas zu gebrauchen? Sitzt hier auf diesem verdammten Luftballon, stellst die aktive Zukunft deines Unterleibs in Frage, fühlst dich wie eine Hundertjährige, fett und hässlich (immer noch schwanger, nur nicht mehr prall) und kannst dir nicht vorstellen, jemals wieder zu funktionieren (du willst gar nicht wissen, was Lutz über deinen schlaffen, ausgeleierten Körper denkt – wahrscheinlich gar nichts). Deine Wünsche und Sehnsüchte sind wie du selbst auf ein Minimum reduziert: Einfach nur funktionieren, bitte! Atmen, gehen, stehen, sitzen, halbwegs zivilisiert scheißen, das Kind hochheben – ist das wirklich zu viel verlangt? Das ist doch unfair.

Aus der Küche weht der Duft von Gemüsesuppe ins Schlafzimmer (in deine Zelle! Ist das Sellerie? Er weiß doch, wie sehr der Geruch von Sellerie dich anwidert …). Lutz steht, eine Kochschürze um den Bauch gebunden, am Wickeltisch und wechselt Juras Windel. Anselm ist in der Schule. Wahrscheinlich ergießt sich gerade die hundertste Nachblutung durch die verhasste superlarge Slipeinlage in den Baumwollstoff deiner Unterhose. Der Idiot, der dich genäht hat, muss blind gewesen sein. (Und solltest du jemals diese Hebamme zufällig auf der Straße treffen …!) Du stemmst dich hoch, setzt einen Fuß vor den andern und hantelst dich am Bücherregal entlang in Richtung Badezimmer.

»Warte, Lotte, ich komm schon.« Er ist so gut. »Übrigens, ich habe heute Milchpulver gekauft – nur zur Sicherheit.«

»Milchpulver?«

»Ja, Milchpulver. Ich weiß, ich weiß, aber –«

»Meine Brüste waren noch nie so riesig.«

»Ja, das stimmt«, lacht er.

»Sehe ich also vielleicht so aus, als ob ich nicht fähig wäre, ihn zu stillen?«

»Nein. Gott, ich versuche nur, hilfreich zu sein.«

»Dann stell meinen Busen nicht infrage!«

»Das tu ich doch nicht.«

»Stell bitte nicht das Einzige infrage, das mich diesen geschundenen Leib einigermaßen noch als Frau und Mutter erkennen lässt. Das wäre hilfreich.«

»Okay.«

»Ich bin immer noch die Mutter hier!«

»Hey, ganz ruhig. Ich habe nichts anderes behauptet – was soll das jetzt?«

»Ich halte das nicht mehr aus …« Du weinst.

»Wir schaffen das schon, Lotte. So, junger Mann, jetzt sind wir wieder frisch. Na, ist das gut? Fühlt sich gleich viel besser an, was?«

»Nein, ich nicht.«

»Wie?«

»Ich nicht. Ich schaffe das nicht, glaube ich.«

»Natürlich tust du das. Jetzt reiß dich zusammen, Lotte.«

»Reiß dich zusammen?«

»Ja. Ich meine –«

»Ich bin schwach, Lutz. Und verzweifelt, falls dir das noch nicht aufgefallen ist. Ich fühle mich schmutzig, wie ein Tier, mir ekelt vor mir selbst. Man braucht Kraft, um sich zusammenreißen zu können, also mach du das mal, ja! Du bist der Starke hier, du strotzt nur so vor Kraft und Lebensgeist und –«

»Ist ja gut. Ich versuche nur zu tun, was getan werden muss – davon profitieren wir alle, oder etwa nicht? Und schnauz mich nicht an!«

»Entschuldige.«

»Du glaubst immer, mir fällt alles in den Schoß. Du glaubst immer, ich habe alles im Griff. Ich hab’s auch nicht leicht …«

»Entschuldigung. Ich entschuldige mich. Hast du gehört? Ich habe mich entschuldigt. So. Kannst du jetzt bitte aufhören?«

»Womit aufhören? Womit, zum Kuckuck, soll ich aufhören? Mit dem Kochen? Mit dem Wickeln? Mich um alles zu kümmern? Was ist los? Was willst du eigentlich?«

»Nichts. Ins Badezimmer. Ich will nur ins Badezimmer, um mich unter Todesschmerzen im hoffentlich richtigen Moment zu entleeren. Das will ich. Nur das. Darf ich das?«

»Versuchst du etwa lustig zu sein?«

»Nein.«

»Ich meine, vielleicht hast du ja einen eigenwilligen Humor entwickelt, den ich noch nicht entschlüsselt habe – das würde einiges erklären …«

»Bitte hör jetzt auf, ja?«

»Lotte, wir müssen reden.«

»Nein, lass mich bitte aufs Klo gehen. Ich will doch nur –«

»Ich habe eine Freundin.«

»Das ist … schön«, sagst du nach einer angebrachten Schweigeminute, die so tief war, dass du den glühenden Kern der Erde nicht nur gesehen, sondern gleich einen schneidenden Hauch seiner Hitze abbekommen hast. »Man kann nie genug Freunde haben.«

Na ja, und jetzt wohnst du eben wieder bei deinen Eltern. Mit den Kindern. Anselm wäre lieber mit Lutz gegangen, aber das hielt der für eher nicht so gut vereinbar mit seinem Rhythmus. Anselm war wütend (das ist er immer noch), hat aber gemeint, er verstehe den Papa irgendwie – für alles verantwortlich zu sein, zu arbeiten, Geld zu verdienen, ein Kleinkind zu versorgen und eine heulende Frau, einen Pflegefall, zu ertragen, das sei wirklich hart. Außerdem hättest du mit der Sturheit eines Achttausenders auf der Trennung bestanden, der Papa wäre geblieben, auf jeden Fall wäre er geblieben, er hätte dich nie im Stich gelassen! Er hätte dir hundert Möglichkeiten angeboten, Verrenkungen seinerseits, die du alle abgeschmettert, von dir geschleudert hast wie eine Wand, gegen die er Bälle geworfen hat. Nicht einen hast du auch nur versucht aufzufangen, du warst zu keinem einzigen Kompromiss bereit. Du könntest seinen Anblick nicht ertragen, hättest dich über ihn lustig gemacht, ihm mehr oder weniger vorgeworfen, einen Penis zu haben. Das alles sei hochgradig hysterisch gewesen und würde auch heute noch keinen Sinn ergeben. Du hättest keinen Gedanken an uns, die Familie, vergeudet, ausschließlich egoistisch gedacht und gehandelt. (»Die Oma hat, was ihr eigenes Kind betrifft, ausnahmsweise einmal recht!«)

Der gute Anselm, dieser pubertätsgeschüttelte Riese an deiner Seite, scheint auf einmal, nach Jahren der konsequenten Kommunikationsverweigerung, kein Problem mit totaler Offenheit zu haben und legt eine rationale Härte an den Tag, die dich erstaunt. Nein, die Härte ist es gar nicht – es ist vielmehr die Tatsache, dass sie gegen dich gerichtet ist. Dich, die du ihm alles gegeben hast. Jahre deines Lebens. Du weißt, man darf von Kindern keine Dankbarkeit erwarten und schon gar nicht verlangen, aber gar keine Dankbarkeit? Kein bisschen Verständnis? Das ist echt hart. Dein Sohn ist sechzehn und dir wird klar, dass er kein Kind mehr ist. Plötzlich erkennst du, dass dein kleiner Prinz, dein lieber Engel, der einst so schüchtern, so anhänglich und lebensunfähig war, auch nur ein Mann ist. Irgendwie logisch, aber auch schade.

Die Freundin deines Ehegatten (wie das schon klingt! Ein Fremdwort, ein Oxymoron – und wie konntest du nicht wissen, dass Ehe für ehemalig steht!) ist Anselm zufolge Dramaturgieassistentin, vierundzwanzig, interessant, schön und schlank (wahrscheinlich scheiß Veganerin oder Marathonläuferin) – das sind die einzigen Informationen, die er aus seinem Vater rauspressen konnte –, wie außerordentlich originell!

Du bist nicht dumm, Lotte. Bist du nicht – natürlich bist du das nicht, auch wenn du dich wie ein Idiot fühlst. Du weißt das. Du hältst dich selbst für relativ selbstkritisch, dein Denken ist reflektierend und geprägt von deinen beruflichen Erfahrungen. Wenn sich hier jemand mit Beziehungen auskennt, dann du. Eine Lebens- und Sozialberaterin hat eine gewisse Ahnung vom Verhalten der Menschen. Aber nie, nie nie nie im Leben hättest du auch nur einen einzigen Augenblick im Traum daran gedacht, dass euchCliffs of Moher