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Ein kurzer
Roman über die
Schrecklichkeit
der Liebe

von
Bernhard
Moshammer

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Here comes Mr Misery
He’ll never be any good
With a mouth full of gold and blood
He’s contemplating murder again
He must be in love

Elvis Costello

Fallend und steigend, nie auf ebner Höh’,
Wird all ihr Glück nicht gleich sein ihrem Weh
.
William Shakespeare

– Wir leiden doch alle.
– Ja, aber ich will nicht mehr
.
Aus: Drei Farben: Weiß

And I’d change my ways
If I knew how else to be

Lyle Lovett

Ach, das ist doch alles Pimpelkram!
Johannes Brahms

Zur Einstimmung hören
wir Fanfaren oder fernes Glockengeläut.

124 n.F.

Mutter sagt, dass das Tiefgekühlte mich noch umbringen wird. Keine Frau plus Tiefkühlkost – der perfekte Selbstmord, sagt Mutter. Totes Futter könne nur zum Tod führen. Das sei leb- und wertlose Pseudokost. Ja, sie redet viel. Mehr als je zuvor. Die Tiefkühltruhe ist die Pathologieabteilung des Supermarktes, sagt sie. Ein Friedhof. Und die Toten auftauen ist pervers. Unmöglich und pietätlos. Mutter hat’s auch nicht leicht.

Ich mag es aber, wenn sie solche Sachen sagt. Sie pfeift auf wissenschaftlich fundierte Informationen, sie sagt einfach etwas. Sätze, die sie aus irgendwelchen Gründen eben für richtig hält. Das macht ihre Aussagen dann aus, sie werden so zu Mutteraussagen. Sie redet viel in letzter Zeit und dauernd davon, dass mein Lebensstil keiner ist. Sie ist aus verständlichen Gründen verändert und todesfixiert. Sie hat mein konsequentes Alleinesein schon immer für fragwürdig und eigenbrötlerisch gehalten. Und dann noch das Tiefgekühlte!

Ja, ich ernähre mich beinahe ausschließlich von Tiefgekühltem. Seit sie jedem noch so blöden Gemüse eine Philosophie und jedem Gewürzkorn magische Heilkräfte umgehängt haben und das Fernsehen von verdammten Köchen beherrscht wird, interessiere ich mich nicht mehr für Essen. Es ist nicht mehr als reine Notwendigkeit – etwas, das mein Körper, diese primitive Maschine, braucht, um nicht umzufallen. Soll er haben.

Mutter kocht heute nicht, also entscheide ich mich für Spinatpizza. Salami hatte ich gestern Abend, und die soll ja die ungesündeste sein – noch dazu abends! Heute schaue ich wieder einmal auf meine Gesundheit. Obwohl – etwas Süßes hatte ich schon länger nicht: Mohnnudeln, Germknödel, Nougattascherl. Nein, ich darf mich nicht zu sehr gehen lassen. Also Spinatpizza. Die mit dem hohen Teigboden aus Luft und Fett und Mandelsplitter obenauf, weswegen sie auch American heißt. Ich finde das grade schön und witzig, dass die Mischung aus Luft und Fett für Amerika steht. Das ist natürlich sehr oberflächlich betrachtet, aber wir betrachten ja nur mehr oberflächlich. Wir. Ich hasse das. Dauernd kippe ich ins Pauschalieren. Wenn ich so einen Wir-Gedanken denke, finde ich mich selbst höchst lächerlich und könnte mich ohrfeigen. Und wenn er gleich auch noch das Ende der Welt und aller guten Dinge miteinbezieht, wird’s noch lächerlicher. Aber so denken wir eben. Verdammt.

Das Areal des Stadtfriedhofs St. Pölten ist wie die Stadt selbst – überschaubar und unaufgeregt. Ganz normal. Seine einzige Besonderheit ist ein kleiner Bereich vor dem Haupteingang, in dem russische Soldaten begraben sind. Der eigentliche Friedhof ist wie alle Friedhöfe: die leblose Miniatur einer Kleinstadt mit all ihren Straßen, Wegen und architektonischen Ungereimtheiten. Alles in einer bestimmten Ordnung, die zur Expansion tendiert. Die Toten werden nicht weniger. Die Gräber gleichen einfallslosen Reihenhäusern mit ihren sinnlosen kleinen Grünflächen und sich wiederholenden, unoriginellen Inschriften – selbst dem Tod werden noch Sinnsprüche und Mottos nachgeworfen! Kurzum, ein zutiefst menschlicher Ort, vielleicht der menschlichste. Ein Rotlichtviertel der anderen, friedlicheren Art. Hier wird keine Liebe angeboten, verkauft oder verhandelt, hier wird nichts mehr verhandelt, nichts mehr verunstaltet oder missbraucht, falsch verstanden oder überbewertet. Wer braucht die Vorstellung eines Himmels, wenn doch der Friedhof selbst erwiesenermaßen das Paradies ist?

Mein Vater, Franz Vogel, liegt da jetzt ruhig in seinem finalen Bett, einem schlichten Holzsarg um siebenhundertfünfzig Euro – wenn man die Ewigkeit bedenkt, ein Spottpreis. Wenn man davon ausgeht, dass die Ewigkeit eine unvorstellbare Zahl mit, sagen wir, mehr als tausend Nullen ist, haben wir sogar ein super Geschäft gemacht. Vater ist im Alter von neunundsechzig Jahren gestorben. Er ist eines Abends zu Bett gegangen und am nächsten Morgen nicht mehr aufgestanden. Herzversagen, sagen die Ärzte. Der perfekte, von allen ersehnte Tod. Keine Schmerzen, keine Angst, keine Sterbensbewusstheit. Mutter sieht das natürlich ganz anders. Der schönste Tod ist für die Zurückbleibenden der größte Horror. (Für die Toten sind wir nur die Zurückgebliebenen.) Nach zweiundvierzig Ehejahren will sie sich das Alleinesein gar nicht vorstellen, hat sie gesagt. Sie hätte weder Lust darauf noch Talent dafür und würde es auch verweigern. Das war vor zwei Monaten. Aber alles geht immer weiter. Sie ist in eine kleine Wohnung gezogen und meistert da ihren Alltag bravourös. So läuft das. Ob man das will oder nicht, alles geht immer weiter.

Ich besuchte das Grab beinahe täglich – nicht, um es zu pflegen, nein, ausschließlich um zu denken habe ich viele Stunden davor verbracht. Stehend, hockend und sitzend, leise oder laut sprechend, sinnierend – viel weniger emotional, als ich das erwartet hätte. Aber wahrscheinlich ist da eine Logik dahinter, wenn ein Mann wie ich, der sich das Unemotionale antrainiert hat wie ein anderer das Nichtrauchen, nicht gleich zusammenbricht, wenn der Vater stirbt. Manchmal habe ich drei, vier Stunden dort verbracht – der Tod ist ansteckend in seinem Ignorieren des Zeitlichen –, jetzt muss aber Schluss sein. Heute muss Schluss sein. Ja, heute. Dies war mein letzter Besuch. Irgendwann haftet diesen Grabbesuchen etwas Unsinniges an; wahrscheinlich gleich von Beginn an, aber mit dem Vergehen der Zeit wird einem dieses Unsinnige immer bewusster. Man steht vor einem Stein, einem Kreuz. Vor einem zugeschütteten Loch, in dem Menschenteile drei Meter unter einem verrotten, und der Verstorbene selbst gar nicht mehr ist. Das wird einem ganz plötzlich klar, auch wenn es offensichtlich sein sollte. Spätestens am Grab eines geliebten Menschen wird einem klar, dass das Religiöse oder Spirituelle entweder ein Blödsinn oder aber ganz einfach der nächste Gedankenschritt nach Psyche ist. Ein Teil der Natur. Wenn man an die Existenz von Gefühlen glaubt, kann man auch gleich an Gott glauben. Wenn man so etwas wie Liebe oder das Unterbewusstsein für real hält, ist auch die Dreifaltigkeit möglich. Mein Vater, das was ihn ausmachte, ist entweder ausgelöscht oder irgendwo, was weiß ich – jedenfalls ist sein Grab nur der Komposthaufen seiner Überreste. Und trotzdem: Ein Grab ist eine schöne Metapher oder ein probater Menschenersatz für schwierige Zeiten. Manche greifen lieber auf Hunde oder Wellensittiche zurück – aber ein Grab scheißt dir weder in die Wohnung noch kann es von Autos überfahren werden oder von der Stange plumpsen, nur weil du vergessen hast, Wasser nachzufüllen. Ein Grab ist dein konstantester Freund und garantiert dir eine unkomplizierte Beziehung.

Diese zwei Monate waren sehr wichtig für mich. Die Besuche haben mich befreit. Die imaginären Gespräche mit ihm, die selbstverständlich und ausschließlich Monologe waren, haben mich erlöst. Andere mögen sich in diesen Momenten eine Erscheinung wünschen, ein Zeichen oder eine Stimme, die von da unten oder dort oben kommt und antwortet. Die Antworten meines Vaters waren Stille und Schweigen – genau das, was ich hören wollte.

Eigentlich muss ich so weit gehen, zu sagen, dass der Tod meines Vaters meine Befreiung und meine Erlösung war, auch wenn das nicht sehr nett klingt.

Wir schreiben das Jahr 24 nach Feli, und ich bin immer noch bemüht, ein netter Mensch zu sein.

Es ist, als hätte mein Vater einen unsichtbaren Mantel über mich gelegt und ihn irgendwie vergessen; als hätte er mir in meiner Kindheit eine zweite Haut übergezogen, die er jetzt für seine Reise in den Tod gebraucht und sich also wiedergenommen hat. Vielleicht ist das ein katholischer Zauber. Wer weiß, was so ein Sakrament alles bewirkt? Der Zauberspruch des Taufsakraments zieht dir diese Vaterhaut über und der Zauberspruch seines Todessakraments nimmt sie wieder von dir. Wer weiß? Jedenfalls war ich noch nie in meinem Leben so nackt. Noch nie so leicht. In dieser Haut war die Schwere meines ganzen Lebens enthalten, die dann doch nur der Rucksack meines Vaters war. Das klingt – zumindest in meinen Ohren – plausibel. Ja, vielleicht bekommen wir Kinder, um ihnen einen Teil unseres unerträglichen Marschgepäcks durchs Leben aufzuhalsen. Und ich, der ich den Frauen immer ausgewichen bin wie ein Allergiker den Katzen – ich Depp habe natürlich keine Kinder und mühe mich mit meiner ganzen Last alleine ab, einer Last, die nur zum Teil meine eigene war oder immer noch ist; und wer weiß, was meine Mutter mir alles umgehängt hat!

Wie auch immer – jetzt bin ich um so vieles erleichtert und kann ein neues Kapitel im Buch meines Lebens beginnen, ein weniger paranoides und pessimistisches. Eines mit Möglichkeiten. Bin ich jetzt erwachsen? Mit vierzig? Ist das gut? Ist das Erwachsensein gut? Habe ich mich all die Jahre nur dagegen gewehrt? Nicht, dass ich keine Gründe dafür gehabt hätte – ich will nicht einmal so weit gehen, zu sagen, dass ich wirklich bereit bin für diese Veränderung. Ich war immerhin der Einzelne.

Und vielleicht werde ich der auch bleiben, vielleicht liegt es gar nicht in meiner Macht, diese Rolle je abzulegen. Vielleicht ergeht es mir wie einem Schauspieler, der in einer Rolle gefangen bleibt und zeit seines restlichen Lebens keinen Ausweg aus dieser findet. Eine schreckliche Vorstellung, denn in meiner Vorstellung bin ich nicht Macbeth oder Mephisto, sondern ein Statist, ein Eleve, der zu Beginn seiner Laufbahn alles, sein ganzes Wissen und Talent, seine Seele in die Rolle eines unbedeutenden Beobachters am Bühnenrand investiert hat. Vielleicht durfte er einen Satz sprechen, der schönen Hauptdarstellerin einen ängstlichen Blick zuwerfen oder gleich zu Beginn des Stücks sterben? Wie jämmerlich heroisch!

2

Als im März des Jahres 1984 meine große Liebe mich wegen eines anderen fallen ließ, fasste ich einen Entschluss: Mit meinen fünfzehn Jahren und nach nur einer Verliebtheitserfahrung gelobte ich, der Liebe abzuschwören. Ich erfuhr ihre zerstörerische Kraft am eigenen, jungfräulichen Leib – was also lag näher, als mich vor sie hinzustellen, ihr ins lächelnde Antlitz zu spucken, mich für diese existentielle Lektion zu bedanken und Nein zu sagen? Warum sollte ich nach dieser Demütigung das Bedürfnis nach einer Wiederholung verspüren? Und was sollte den Glauben in mir erzeugen, dass beim sogenannten nächsten Mal alles anders oder besser sein würde? Ich war der Liebe begegnet. Der einen, wahren, unaussprechlichen, alles erfüllenden und bestimmenden, heiligen Liebe. Ich erkannte ihr Wesen, durchschaute ihr Spiel. Ich war fünfzehn und fühlte mich wie dreitausend. Ich glaubte allen anderen – der ganzen Menschheit – etwas voraus zu haben. Und ich, Benjamin Vogel, hatte es.

Seit jenem Tag wurde mir das unzählige Male als Arroganz oder Sturheit ausgelegt. Kopfschüttelnd winkten meine Freunde später ab, wenn ich die Avancen eines hübschen und netten Mädchens ignorierte oder ihr ausführlichst die Unmöglichkeit einer Annäherung an mich erklärte, anstatt ihr meine Zunge in den Mund zu stecken, nach ihren Brüsten zu fassen und mich lustvoll dem hinzugeben, wonach unser aller Sehnsucht sich doch streckt seit Anbeginn der Zeit.

Mit fünfzehn Jahren schlüpfte ich also in die Rolle des Beobachters, und meine Beobachtungen bestätigten mich in meinem Entschluss immer wieder aufs Neue. Meine Vergangenheit hat mich nie einholen müssen, wie es so schön heißt – ich habe sie immer vor mir hergetragen. Die Vergangenheit hat mich geprägt, das ist ihr naturgegebener Job, und den hat sie in meinem Fall, weiß Gott, perfekt gemacht. Sie war meine Lehrerin, und die wirklich guten Lehrer bleiben nicht zurück, sie sind frei und gehen nicht weg. Nie.

Die Liebe mag für all das stehen, was ihr seit Ewigkeiten angedichtet wird – jede auch noch so naheliegende oder weit hergeholte Beschreibung muss gelten dürfen, ist sie doch ungreifbar und letztendlich das, was wir göttlich nennen. Aber ihr Tentakel, der durch unser Leben schwingt wie das Pendel der allmächtigen Zeit, ihr Stachel, die romantische Liebe, ist nicht nur greifbar, sondern schmerzhaft, sie ist der Aggressor. Sie vernichtet. Diese Liebe ist es, von der wir reden, schreiben und singen, und ja, sie ist schrecklich. Sie verführt uns, saugt uns aus und lässt uns fallen. Die Liebe ist monströs, kriegerisch, in allem, was sie tut, drastisch und demütigend. Sie hat mich dazu gebracht, als ausgewachsener junger Mann weinend in den Armen meiner Mutter zu hängen, sie hat meinen Selbstwert in einer Phase meines Lebens, als mein Selbstwert die Basis meines sozialen Überlebens darstellte, angegriffen und bombardiert; als ich meinen Selbstwert am nötigsten hatte, kam die Liebe und pisste ihn an, zersetzte ihn mit ihrer alles zersetzenden Säure, die sie auf alles spritzen muss, was ihr in den Weg kommt. Das Drama war die Liebe und das Trauma war die Liebe.

Meine von mir Angebetete war nur ein Mensch. Ein egoistisches Mädchen. Ihr Name war Felicitas Fellmann. Feli. Ich weigere mich, ihren ganzen Namen auszusprechen – seine Bedeutung ist grotesk.

Die Beziehung zu Feli dauerte sechs Monate. Selbstverständlich ist Beziehung nicht der entsprechende Begriff. Wie gesagt, ich war fünfzehn, sie war siebzehn. Wir gingen beide aufs Bundesgymnasium St. Pölten – eine verwechselbare, niederösterreichische Arbeiterkleinstadt mit fünfzigtausend Einwohnern. Der Inbegriff von Provinz. Die farbloseste Stadt Österreichs, der ein geradezu peinliches Image anhaftet, wenn sie auch nur bedingt Schuld daran trägt. Sie liegt einfach zu nahe an Wien, um von eigenständiger Bedeutung sein zu können. Eine abhandengekommene Vorstadt, ein Fortsatz, eine Warze, die man dann doch nicht wegoperieren lässt, weil der Partner sie irgendwie liebgewonnen hat oder man einfach zu feige ist.

In der fünften Klasse stolzierte also diese Neue in den Raum und setzte sich ganz nach hinten zu den anderen Repetenten. Langes glattes Haar, Brille, Jeans, Pullover, flache Schuhe mit so kleinen Mäschchen drauf und eine Stofftasche über die Schulter gehängt. Ein Hippiemädchen, sehr natürlich und ungeschminkt. Auf ihrer Oberlippe standen feine Härchen in Reih und Glied, und auch von ihrer Schläfe abwärts zog sich ein Flaum bis übers Kinn. Ich weiß nicht, ob andere sie als hübsch bezeichnet hätten – ich weiß nicht einmal, ob ich sie als hübsch bezeichnet hätte – aber mit Sicherheit war ich gleich in sie verliebt,

und der erste und größte Trick der Liebe ist die Blendung. Was auch immer du vor dir hast – und sei es das große, stinkende Höllenbiest höchstpersönlich –, wenn die Liebe es angespritzt hat, wirst du reine Schönheit sehen.

Feli war ruhig und unscheinbar, aber etwas Erhabenes ging von ihr aus. Vielleicht war es auch Arroganz uns, also den Jüngeren, den Kleinen dieser ihrer neuen Klasse gegenüber, oder einfach nur Unsicherheit – immerhin war sie die Repetentin, die Dumme –, ich weiß es nicht. Jedenfalls galt meine Aufmerksamkeit ab diesem ersten Schultag des Septembers 1983 nicht den Professoren, nicht dem Lehrstoff und auch nicht meinen Freunden, sondern einzig und allein ihr.

Auf ihre zurückhaltende Art war sie eine Rebellin. Sie schien sich für nichts zu interessieren oder aber für das Wesentliche, Große. Sie bezeichnete sich selbst als Feministin, und ihre Haltung den Menschen und der Gesellschaft gegenüber war von einer political correctness im heutigen Sinne geprägt. Dazu gehörte ein subtiler, aber dennoch zur Schau getragener Ungehorsam Autoritäten und deren Erwartungen gegenüber, sowie eine gewisse Robin Hoodsche Grundhaltung, die in ganz klar definierten und vorgefassten Täter-Opfer-Differenzierungen ihren Ausdruck fand. Wobei man dazusagen muss, dass sie für die Täterrolle im eigenen Selbstbild selbstverständlich keinen Platz hatte. Eine Haltung, die einer Siebzehnjährigen zugestanden werden muss, die man aber auch in den verschiedensten Kunstformen der erwachsenen Gesellschaft, im öffentlichen Auftreten von Künstlern, in Medien, Parlamenten oder Wahlkämpfen fand und immer finden wird. In Wahrheit eine Haltung, die uns alle ausmacht und verbindet, die schnell sympathisch wirkt und bald lachhaft.

Feli war Teil einer Clique, alles rauchende und trinkende Hippies und für jugendliche Begriffe Nonkonformisten, und alle waren sie siebzehn oder noch älter. Sie hatte sogar einen richtigen Freund, einen Zwanzigjährigen – ich wusste, dass sie eine war, die bereits ein sogenanntes Sexleben hatte. Das machte mir Angst und beeindruckte mich gleichermaßen. Sie hörte Patti Smith oder Konstantin Wecker und ihre Freunde waren Jazz- und Literaturfreaks, möglicherweise auch schwul – ich habe mich oft gefragt, ob St. Pölten überhaupt so etwas wie eine Schwulenszene hatte, nicht ein einziger bekennender Homosexueller kreuzte während meines Aufwachsens in dieser Stadt meine Wege –, sie hörten Herbie Hancock, Keith Jarrett oder Tom Waits, waren selbst künstlerisch ambitioniert – Pianisten, Saxofonisten, Bongospieler oder Querflötisten, schrieben Gedichte oder depressive Kurzprosa, stürzten sich, das Buch »Chronik eines angekündigten Todes« von Gabriel García Márquez in Händen haltend, vom höchsten Gebäude der Stadt in den Tod – gut, das war nur einer, aber sie alle waren aufregend, waren anders. Anders als alles, was ich bisher kennengelernt hatte. Sie waren also eine Alternative. Sie wurden damals ja auch nicht mehr Hippies, sondern eben die Alternativen genannt.

Die Szenen, die mein natürliches Umfeld bedeuteten, waren immer die Familie, die Pfarre oder der Fußballverein gewesen. Ich war ein Normaler, ein Angepasster. Andere Gruppierungen meiner Generation, die nach Eigenständigkeit und Loslösung von den Eltern trachteten, waren sogenannte Popper, Mods oder Punks. Es gab auch welche, die sich selbst als Underground bezeichneten. Das alles war so offensichtlich lächerlich, und selbst wenn ein Teil meines Wesens sich danach gesehnt hatte, irgendwo dazuzugehören, erkannte ein anderer, der stärkere Teil instinktiv diese Lächerlichkeit. Diese der St. Pöltner Provinzialität angepassten Szenen, die sich selbst mit Pseudoideologien, zweifelhaften modischen Dogmen, vor allem aber mit popkulturellen Vorlieben selbst erklärten und behaupteten, waren mir zu blöd gewesen. Was machte es für einen Sinn, The Cure gut zu finden und jeden, der Georg Danzer hörte, zu belächeln. Ich habe mir immer vorgestellt, dass die coolen Undergroundtypen, die REM hörten (selbstverständlich nur bis zu dem Zeitpunkt, ab dem sie kommerziellen Erfolg hatten!), auch heimlich ihre Radios lauter drehten, wenn Tom Schilling ›Völlig losge-he-löst von der Erde‹ trällerte.

Meiner Meinung nach genügte es ja, die Beatles zu hören; sicher, da war mehr und alles konnte unterhaltsam oder auch ganz gut sein, aber Gott konnte es nur einen geben – das wusste ich seit dem ersten Sonntag meines Lebens. Und wenn dein Gott Beatles hieß (genau genommen waren die Beatles Gottvater, Neil Young war Jesus und Wolfgang Ambros der Heilige Geist), war es nicht nötig, eine bestimmte Frisur zur Schau zu tragen. Das war praktisch, aber natürlich auch arrogant, vielleicht war ich sogar arroganter als alle anderen, ich teilte jedoch meine Vorlieben nicht mit einer Gruppe von Gleichgesinnten, ich trug meine Arroganz nicht stolz vor mir her. Dennoch: Die Hitparade hatte ich nicht nötig, warum sollte ich mich mit Kinderpopmusik abgeben, auf der ersten Sprosse der Leiter in den Musikhimmel verweilen, wenn Gott selbst bei mir wohnte, auf Kassetten verewigt und bereit, millionenmal von mir und nur für mich ganz allein abgespielt zu werden?

Auch eine Frisur wäre mir also zu blöd gewesen, ganz zu schweigen von so etwas wie einem textilen Markenbewusstsein. Mein modisches Credo – nicht mehr als eine mir unbewusste Selbstverständlichkeit – war auf Jeans und T-Shirts oder Pullover beschränkt, und so schienen die Alternativen auch als Alternative für mich in Frage zu kommen.

Durch Felis bloße Existenz wurde mir ein Fenster in eine neue Dimension geöffnet. Da war sie also: meine Zukunft, die Szene, die auf mich gewartet hatte, der Strohhalm, der mich retten wollte aus meinem katholischen, von Fußball, Musikkassetten und meiner Verwandtschaft dominierten Spießersumpf, das Trampolin, das mich aus dem Provinziellen hinauskatapultieren konnte ins Urbane, Künstlerische und im damals wahrsten Sinne des Wortes Erwachsene. Der Traum, der mich aus meinem lebenslangen Schlaf zu wecken und mir die Augen zu öffnen imstande war. Und das alles konzentriert und gebündelt in einer Person: Feli Fellmann.

In den ersten Wochen des neuen Schuljahres also suchten meine Augen verstohlen den Kontakt zu ihren.

Andere Buben hatten schon vor zwei, drei Jahren ihre ersten Erfahrungen mit Mädchen gemacht, gingen mit ihnen, hielten Händchen, wechselten ihre Partner wöchentlich, begrapschten sie fordernd, von ihren unschuldigen Trieben geleitet, im Kino oder im Pausenhof der Schule, loteten Grenzen aus. Andere Buben taten das. Das Tun war ihnen kein Problem. Sie schienen es mühelos zu schaffen, ihren Instinkten nachzugehen, erforschten sich selbst, ihr eigenes sowie zwischenmenschliches und zwischengeschlechtliches Territorium.

Andere Buben.

Mir war das Tun ein Riesenproblem. Ich war auch damals schon der Beobachter. Ich war schüchtern und unsicher, und ich weiß, Feli hat das von Anfang an gespürt.

Ich will hier auf keinen Fall behaupten, dass ihr Verhalten von strategischem Denken untermauert war. In Liebesangelegenheiten gibt es keine Täter und Opfer. Oder aber wir alle sind Opfer. Der Horror meiner Demütigung war nicht in ihr, sondern eben in der Liebe selbst versteckt und wartete geduldig.

Ein verwöhnter, bequemer und verzogener Balg, der kleine Horror. Ein gedrillter Abstauber, der im richtigen Augenblick an die Front geschickt wird, um zuzuschlagen, einzulochen, zu siegen – kurz, um er selbst zu sein und seiner Bestimmung zu entsprechen. Amor ist kein Biathlet – seine Pfeil-und-Bogen-Kunst ist ohne Risiko, feige und wenig beeindruckend. Er ist unsichtbar und schießt aus drei Zentimetern Entfernung. Der Arsch.

Natürlich galt mein Hass nach dem Bruch eine Zeit lang einzig und allein Feli. Nachdem sie mich zurückgewiesen hatte, litt ich ganze zwei Jahre lang. Ich suhlte mich in meinem Leid, richtete mir in meiner Opferrolle ein kuscheliges Zuhause ein, und erst ein Großereignis von globaler Bedeutung schaffte es, mein großes, schwerwiegendes und bedeutendes Leiden an seinen kleinen und unbedeutenden, also entsprechenden Platz zu rücken. Am 26. April 1986, an dem Tag, als die ganze Welt im Schock stand, den Atem wegen einer Explosion im Block 4 des ukrainischen Kernkraftwerks Tschernobyl anhielt, als eine immer noch ungezählte Menschenmenge verbrannte oder an den Folgen der radioaktiven Strahlung erkrankte, kamen mein Herz und mein Verstand nach zwei Jahren des quälenden Selbstmitleids endlich zur Ruhe – eine gereifte und wissende Ruhe, die von nun an meine charakterliche Grundausstattung dominieren sollte. Eine große Misere verdrängte eine kleine, die natürlichste Kettenreaktion der Welt. Aber das war 1986. Im Herbst des Jahres 1983 steuerte alles, was mich ausmachte – mein ganzer Geist und mein ganzer Körper –, auf dieses Leiden hin, als wäre sie, die Liebe, das Unentbehrlichste und Erstrebenswerteste auf der Welt, als hätte ein junger Mensch von fünfzehn Jahren nichts Besseres zu tun, als auf die Knie zu fallen und sich besudeln zu lassen.

Feli ignorierte mich, und selbstverständlich machte sie das noch interessanter. Sie schien überhaupt alles und jeden zu ignorieren. Stellte ein Lehrer ihr eine Frage, schenkte sie ihm ein kühles, lächelndes Schweigen, und ich ihr meine Bewunderung. Sprach einer von uns Jüngeren sie an, antwortete sie mit einem prüfenden Blick, bisweilen sogar mit einer kleinen, gar nicht unfreundlichen Bemerkung. Natürlich vermied ich es, sie ansprechen zu müssen, aber unsere Augen hatten sich bald kennengelernt und auf eine magnetische Art angefreundet.

Die Repetenten thronten auf ihrer ganz speziellen Position im Klassensystem. Nie wurde ihnen die Tatsache, dass sie eine Klasse oder zwei wiederholen mussten, als Unvermögen oder Dummheit ausgelegt – im Gegenteil, diese Tatsache schien ihnen einen imaginären, roten Machtteppich auszurollen, auf dem sie gleichsam dahinschwebten, abgekapselt von uns Normalsterblichen. Neben den Repetenten fühlte man sich schnell als Streber oder Feigling. Jemand, der alles dafür tun würde, um keine Grenzen zu übertreten, keine Probleme zu bekommen, nicht anzuecken. Als brav und uninteressant. So gesehen bedeutete Feli für mich die größte Herausforderung. Sie forderte mich mitsamt meinem Weltbild, welches mir ja nicht einmal bewusst war, heraus. Das unumstößliche und mir selbstverständliche Glaubens- und Wertesystem, in das ich hineingeboren worden war, wurde durch sie und alles, wofür sie stand, mit einem Mal in Frage gestellt. Plötzlich fand ich mich in einer Zwischenwelt wieder. Plötzlich schien mich etwas, eine mir bis dahin nicht bekannte Kraft, meinen Eltern zu entziehen. Und es fühlte sich gut an. Aber ich will weder vorgreifen noch übertreiben, denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich, wie gesagt, noch kein Wort mit ihr gewechselt. Selbstverständlich war sie es, die den ersten Schritt machte. Ganz nebenbei ließ sie eines Tages, als ob sie des wochenlangen unschuldigen Blickverkehrs überdrüssig geworden war, zwischen zwei Unterrichtsstunden folgendes Wort in meine Richtung fallen:

»Benjamin«.

Das war’s. Sie sprach meinen Namen aus. Staubtrocken und farblos, beinahe sprachlos. Da war kein Rufzeichen herauszuhören, kein Fragezeichen. Frei von jeglicher Konnotation, frei von jeglicher Bewusstheit – sie hätte ja eine bestimmte Stimmlage wählen, mich beeindrucken wollen können – fiel mein Name aus ihrem Mund. In den fünfzehn Jahren meines Lebens hatte ich diesen Namen sicher mehrere tausend Male in allen nur erdenklichen Stimmfarben und Aufforderungsklängen vernommen, aber in diesem Moment war mir, als hätte ihn noch nie jemand so, ja überhaupt ausgesprochen. Und ich, der ich völlig unvorbereitet war, reagierte eine Zehntelsekunde zu früh. Mein »Ja?« kam wie aus der Pistole geschossen. Und es musste ihr aufgefallen sein. Sie musste einfach sofort bemerkt haben, dass ich auf diesen Moment gewartet, hingearbeitet hatte, im Grunde doch vorbereitet war wie ein Jäger, der tagelang in seinem Versteck sitzt und ausharrt, sein Gewehr angelegt, den Finger am Abzug, instinktiv wissend, dass der Moment, sein Moment ganz nahe ist.

Oh, es war aber natürlich nicht mein Moment, es war ihrer. Und ich war nicht der Jäger. Aber der Moment war da und er war mir gleich peinlich. Ich spürte Hitze in mir aufsteigen, Gänsehaut über meine Arme bis ins Genick und dann die Wirbelsäule nach unten sich ausbreiten, und schaute sie an.

»Wir gehen dann rüber zu den Hollensteins. Magst du mitkommen?«

»Ja.« Schon wieder zu schnell. Sie lächelte und verließ den Raum in Richtung Pausenhof oder Raucherkammerl, so hieß der in Glaswände eingefasste und zumeist vollständig in Rauch gehüllte Raum, den man durchqueren musste, wenn man in den Hof wollte. Ein wichtiger sozialer Ort, ein mystischer, elitärer Club provinzieller Outlaws.

Ich wollte Raucher werden, als ich zwölf war, weil ich erkannt hatte, dass Raucher in der sozialen Hierarchie einen besonderen Platz einnahmen, hatte es aber nicht über eine Handvoll Zigarettenpackungen geschafft, die ich mit meinem Freund Hans im Kaiserwald gepafft hatte. Jeder Versuch, den Rauch einzuatmen, hatte Hustenanfälle, Schwindelgefühle, Übelkeit und Kopfschmerzen zur Folge gehabt, also musste ich schließlich zur Kenntnis nehmen, dass ich zum Rauchen nicht geboren war. Es fühlte sich an wie eine Niederlage, denn natürlich war auch damals das Rauchen ein Statussymbol der Unabhängigkeit und Coolness. Wer das System bespuckte, rauchte. Wer sich weigerte, vor der Obrigkeit zu buckeln, rauchte. Die Beatles hatten geraucht. Die Repetenten rauchten. Die Alternativen rauchten. Die Hollensteins rauchten. Ich nicht.

Die Hollensteins. Das Epizentrum. Der Stütz- und Treffpunkt der Alternativen. Die Hollensteins waren ein Brüderduo: Björn und Clemens. Björn war das unumstrittene Oberhaupt der ganzen Gruppe, ein arroganter Intellektueller, vielleicht war er auch so was wie ein Genie, das kann ich nicht beurteilen, ich lernte ihn nie richtig kennen. Auf jeden Fall war er ein charismatischer junger Mann. Er war sich seines Charismas bewusst, und das verlieh ihm eine Selbstsicherheit und Stärke, die sonst keiner vorzuweisen hatte. Nach außen hin natürlich, denn er war es schließlich auch, der sich später vom Dach stürzte. Dass er dieses Buch dabei in Händen hielt, war ganz typisch für ihn. Sein Tod war in jeglicher Hinsicht besonders – und das sollte er auch augenscheinlich sein. Er krönte seine Existenz mit diesem Selbstmord und krönte seinen Selbstmord mit diesem Buch. Und für die Zukunft knüpfte er in unseren Köpfen ein Band zwischen diesem Buch und seinem Andenken. Björn war das Alphamännchen und er schien sich nur mit seinesgleichen abgeben zu wollen. Mich hat er nie wirklich wahrgenommen, sein Auftreten hatte sogar eine höchst abschreckende und einschüchternde Wirkung auf mich. Sein Bruder Clemens ging auch in meine Klasse, war ebenfalls einer der Repetenten und scheinbar ein alter Bekannter von Feli, ein sehr netter Kerl. Vielleicht hatte er ja unter der Macht seines großen Bruders gelitten und war so auf ganz natürliche Weise anders geartet, freundlich, offen, umgänglich und von einer mir sehr sympathischen Wurschtigkeit.

Du gehörst hier nicht herwollte