Lotte Kinskofer
Heimvorteil
Oberpfalz Krimi
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren dieses Buches entspringen der Phantasie. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.
1.
„Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir ...“
Inbrünstig betete Sepp Freisleder mit gefalteten Händen, hatte die Augen gen Himmel gerichtet und murmelte die Worte vor sich hin. Hartmut Degenhardt stand neben ihm, nervös trat er von einem Bein auf das andere. Er war kein gläubiger Mensch, der Bürgermeister.
„Jetzt hör schon auf, Freisleder.“
„Oh Herr, gib ihm die ewige Ruhe ...“ Der Mesner ließ sich nicht vom Beten abbringen.
„Ich ruf jetzt die Polizei“, unterbrach ihn Degenhardt, zog sein Handy heraus und wählte die Notrufnummer.
„Erst den Pfarrer, wegen der letzten Ölung.“
Der Bürgermeister ignorierte diesen Vorschlag, was sollte der Pfarrer noch ausrichten? Doch damit alles seine Ordnung hatte, rief Degenhardt nicht nur die Polizei, sondern auch noch seinen Schwager an, den Dorfdoktor Wachter. Sollte der offiziell feststellen, was ganz deutlich war. Alois Schindler, Mitarbeiter der Gemeinde Neukirchen auf dem Wertstoffhof im Ortsteil Helmering, lag mit dem Gesicht nach unten und einem Messer im Rücken auf dem Container für Elektroschrott. Er war tot.
Ausgerechnet heute Morgen beim Frühstück hatte sich der Bürgermeister vorgenommen, im Wertstoffhof nach dem Rechten zu sehen. Mehrfach hatte es Beschwerden von Bürgern gegeben, dass Alois Schindler zu spät aufsperre, weil er noch seinen Rausch vom Vorabend ausschlafen musste. Wenn ihn jemand aus dem Bett klingelte, dann war er grob und unverschämt. Degenhardt wollte mit ihm ein paar deutliche Worte reden. Aber er war zu spät gekommen.
Kaum hatte er nun sein Telefongespräch mit der Polizei beendet, fing Sepp Freisleder zu reden an.
„Ich hab ihn vorher angefasst und ein bissl umgedreht. Meinst, des ist schlimm?“
„Musst es eben der Polizei sagen.“
„Weißt, wie ich gekommen bin und er ist da gelegen, da hab ich gedacht: Vielleicht kann man noch was machen.“
Ein optimistischer Gedanke, dachte Degenhardt, denn das Messer steckte ziemlich genau im Herzen. Aber gut, der Schock war sicherlich groß gewesen beim Freisleder.
„Ich hab mich sowieso gewundert, dass hier schon offen war“, redete der einfach weiter. „Weil der Alois doch oft zu spät war. Und gestern hat ja die Mannschaft daheim gespielt, und da wird er nachher bestimmt noch ein paar Halbe getrunken haben.“
Hartmut Degenhardt hätte jetzt lieber in Ruhe nachgedacht, aber der Mesner war nicht zu bremsen. Er redete einfach vor sich hin, um seinen Schrecken zu überwinden.
„Ich hab schon viele Tote gesehen, aber der Alois, der ist doch ermordet worden. Des ist ganz furchtbar. Oder meinst, es war ein Unfall?“
Die Frage war so dumm, darauf wollte der Bürgermeister einfach nicht antworten. Stattdessen rief er in der Gemeinde an, informierte seine Sekretärin, gab ihr Anweisungen. Dann telefonierte er mit seiner Frau, und als der Freisleder immer noch keine Ruhe geben wollte, gab er ihm sein Handy.
„Da, ruf deinen Pfarrer an, wegen der Ölung.“
Der Freisleder zögerte kurz, dann wählte er eine Nummer. „Pfarrer Heimerl? Da ist Sepp Freisleder. Der Alois Schindler ist tot und ...“ Degenhardt wunderte sich. Warum rief der Mesner von Helmering nicht seinen Pfarrer an, sondern den von Neukirchen?
„Ich möchte die Leich dem hochwürdigsten Herrn Pfarrer Hintermayer net zumuten“, hörte er jetzt den Freisleder sagen. Aha, Pfarrer Heimerl hatte also dieselbe Frage gestellt.
„Es ist nämlich ein Mord oder so, und ich weiß net, ob er des in seinem hohen Alter noch so einfach verkraftet.“ Offenbar war er mit der Antwort des Neukirchner Pfarrers zufrieden, denn der Freisleder lächelte, bedankte sich und gab dem Bürgermeister sein Handy zurück. „Der kann ihm dann auch die Augen zudrücken.“
Degenhardt steckte sein Handy ein und seufzte. Diese Sorgen hätte er jetzt auch gern.
„Ich hab ihn gefunden“, sagte Sepp Freisleder zu Kommissar Lukas Abramovic. „Ich wollt die Gartenabfälle aus dem Pfarrgarten herbringen. Da hab ich mich schon gewundert. Weil nämlich noch gar nicht neun Uhr war, und das Tor war schon offen.“
Der Kommissar nickte, machte sich Notizen und sah hinüber zum Container, wo die Kollegen von der Spurensicherung beschäftigt waren.
„Ich bin dann einfach rein“, erzählte der Freisleder weiter, „und wollte abladen, da hab ich das Rad stehen sehen. Weil der Schindler fährt nämlich nicht Auto ...“ Freisleder korrigierte sich: „Er ist net Auto gefahren, weil er gern viel getrunken hat. Der hatte ein Radl und einen Anhänger und manchmal hat er dann Sachen damit transportiert, zum Beispiel ...“
„Familie?“, unterbrach der Kommissar.
„Keine Freundin, keine Familie, soweit ich weiß“, schaltete sich der Bürgermeister ein. „Die Mutter ist tot, der Vater unbekannt. Wenn Sie seine Bekannten treffen wollen, dann müssen Sie auf den Sportplatz oder ins Wirtshaus.“
„Er war Fußballtrainer mit Leib und Seele“, ergänzte der Freisleder.
„Hatte er Schulden oder Probleme? Streit mit irgendjemandem?“
Degenhardt und Freisleder wechselten einen Blick.
„Beliebt war er nicht“, sagte der Bürgermeister.
„War er so unbeliebt, dass ihn einer umbringt?“
Degenhardt schüttelte den Kopf. „Kann ich mir nicht vorstellen.“
„Wir sind so weit fertig“, sagte der Kollege von der Spurensicherung zum Kommissar. „Nicht ganz einfach auf diesem Schuttplatz.“ Abramovic nickte. Hier brauchbare Spuren zu finden, war sicher eine Kunst.
„Ihr müsst ihn noch dalassen!“, rief der Freisleder, als zwei Männer mit einem Sarg auftauchten. „Der Pfarrer war noch net da.“
Degenhardt seufzte, und Abramovic sah ihn fragend an. „War der Tote sehr religiös?“
„Überhaupt nicht, aber der, der ihn gefunden hat, dem hilft’s.“
Die Männer betteten den toten Alois Schindler in den Sarg und trugen ihn weg, bevor noch Pfarrer Heimerl aufgetaucht war. Der Freisleder konnte sich nur damit trösten, dass es für eine letzte Ölung wahrscheinlich schon zu spät war. Weil man das eigentlich macht, bevor einer stirbt. Und nicht Stunden nachher. Das wollte er noch genauer dem Bürgermeister erläutern, aber der verabschiedete sich gerade vom Kommissar.
„Wenn Sie mich brauchen, ich bin im Rathaus.“
*
Alle vier Wochen besuchte Thomas Reitinger seine Mutter in Helmering. Meistens nur für einen Nachmittag. Er trank mit ihr Kaffee, er ließ sich die Neuigkeiten aus dem Dorf erzählen, er machte ein paar kleinere Reparaturen oder einige Besorgungen. Seine Mutter war mit ihren 62 Jahren weder besonders alt noch hinfällig, sondern eher eine von diesen tüchtigen Frauen, denen selten mal etwas zu viel wird. Aber gerade das war ja das Problem. Sie erwartete das auch von anderen und führte eine Liste, was es alles für den Thomas zu tun gab, wenn er das nächste Mal vorbeikam: Schwere Dinge von hier nach da tragen, im Garten helfen, einen neuen Duschkopf installieren. Oft genug überschätzte sie aber die Fertigkeiten ihres Sohnes, dann musste sie doch noch den Handwerker rufen.
Thomas Reitinger fuhr an diesem Montag von Regensburg aus die vierspurige Frankenstraße stadtauswärts, links die Donau, rechts Niederwinzer und Oberwinzer, wo er früher oft Gemüse gekauft hatte, als er noch mehr Zeit hatte und auch Freude am Kochen. Schöne Orte waren das, ganz nah an der Stadt und doch so idyllisch, als wäre man weit draußen. Aber die Frankenstraße störte das Bild, ein hässliches breites Asphaltband, das die beiden Dörfer von der Donau trennte. Reitinger sah auf die Felder, jetzt war Erntezeit, eigentlich könnte er abbiegen und sich ein paar frische Tomaten holen. Aber wozu? Er fuhr ohnehin zur Mutter aufs Land, die hatte alles im Garten, was angeblich gesund war. In Nieder- und Oberwinzer gab es auch etwas Weinanbau, aber vom örtlichen Gewächs hielt Thomas nicht viel, das war ihm dann doch zu trocken — oder zu sauer, wie er selbst sagen würde. Er bog von der Hauptstraße ab in Richtung Norden, fuhr die Naab entlang, langsam, um etwas von der Landschaft zu sehen. Hier war die Oberpfalz für ihn am schönsten, hier gefiel es ihm immer noch, auch wenn er vor 15 Jahren, gleich nach dem Abitur, weggezogen war. Die Hügel, der Fluss …
Warum fuhr er eigentlich nicht mit dem Rad zur Mutter? Die dreißig Kilometer würde er doch noch schaffen. Oder warum machte er nicht mal wieder eine Paddeltour auf der Naab, so wie früher? Er erinnerte sich noch gut, dass er eine der ersten Bootstouren mit seiner damaligen Freundin Kati unternommen hatte. Da wohnte er noch in Helmering. Doch dann hatte es ihn fortgetrieben vom Dorf. Er wollte hier nicht versauern wie sein Vater, der Dorfschullehrer. Nicht einmal Kati hatte ihn halten können. So ging er nach Regensburg, zog in eine Wohngemeinschaft, studierte ein bisschen Jura, brach das Studium ab, fing bei der Zeitung an und landete im Sport. Er schrieb vor allem über Fußball, Bezirksliga aufwärts, aber leider nicht Jahn Regensburg. Das machte ein anderer Kollege und der gab das auch nicht her. Aber Reitinger war schon froh, dass er sich nicht mit den ganz unteren Klassen abplagen musste. Natürlich kümmerte sich Thomas Reitinger auch um andere Sportarten, aber der Fußball war seine Leidenschaft geblieben, auch wenn er selbst immer nur ein mäßiger Spieler gewesen war. Auf seinen Job war er nicht besonders stolz. Er hatte es nicht sehr weit gebracht und es machte ihm nicht einmal viel aus.
„Linzer Torte“, hatte er gesagt, als die Mutter ihn fragte, welchen Kuchen sie backen sollte, und erst hinterher war ihm eingefallen, dass das gar nicht sein Lieblingskuchen war, sondern der seiner Frau Lisa. Aber die kam schon lange nicht mehr mit, wenn Reitinger nach Helmering fuhr. Lisa sagte, sie habe genug mit ihren eigenen Eltern zu tun, da müsse sie nicht auch noch die Zeit mit seiner Mutter verbringen. In Wirklichkeit wollte Lisa ihre Zeit nicht mit ihm verbringen. Die Mutter wusste es noch nicht, aber eigentlich war die Ehe von Thomas Reitinger am Ende. Sie wohnten nur noch zusammen, weil keiner von beiden die schön sanierte Wohnung in Stadtamhof mit dem herrlichen Blick über die Donau auf die Altstadt aufgeben wollte.
Es war schwierig, eine solche Wohnung zu bekommen. Aber Lisa arbeitete im Immobiliengeschäft, da ging es dann doch etwas leichter. Vermutlich würde seine Frau deshalb auch glauben, die Wohnung sei mehr ihre als seine. Doch Thomas wollte unbedingt bleiben. Noch immer genoss er bei der ersten Tasse Kaffee am Tag den Blick auf die Steinerne Brücke, hinüber auf den Dom, den Salzstadel und das Tor.
Er blickte auf die Geschlechtertürme und erinnerte sich an den Satz eines amerikanischen Touristen, den er zufällig mitgehört hatte: „The greater the tower, the bigger the power.“ Wer viel Macht hat, stellt auch den größten Turm hin. Daran hatte sich ja bis heute nichts geändert. Je wichtiger der Mensch sich fühlte, desto größer waren Haus und Auto.
Nein, eine Wohnung mit diesem Blick wollte er keinesfalls ohne Kampf aufgeben. Auch wenn Lisa und er jetzt eher eine Not- als eine Ehegemeinschaft bildeten. Reitinger fühlte sich fast an seine Studentenzeit in der WG erinnert: Die Wohnung war besser als damals, die Mitbewohnerin leider nicht.
Irgendetwas war anders als sonst, das merkte Thomas Reitinger schon, als er sein Auto vor dem Haus der Mutter parkte. Da stand der Dorfschreiner Sepp Freisleder, jetzt Mesner, mit der Reitingerin im Hof und gestikulierte wild herum. Seine Mutter hatte die Gartenschürze umgebunden und ein Messer in der Hand. Immer wieder deutete der Freisleder auf das Messer, hob die Hände zum Himmel.
Thomas mochte den Freisleder. Er wusste, dass der Mesner ein Auge auf seine Mutter geworfen hatte. Das war nicht schwer zu sehen. Er kam fast jeden Tag am Zaun vorbei und schaute genau, ob die Reitingerin nicht in ihrem Garten werkelte. Wenn ja, blieb er stehen und begann zu ratschen. Wenn nein, schlenderte er weiter, noch eine Runde durchs Dorf. Spätestens nach einer halben Stunde ging er wieder vorbei, es sei denn, er machte kurz im Wirtshaus halt. Die Reitingerin hatte ihrem Sohn erzählt, wie sie den Mesner oft schon von Weitem kommen sah. Dann richtete sie es so ein, dass sie was im Haus oder in der Gartenlaube zu tun hatte. Jeden Tag Freisleder, das war ihr zu viel. Sie war Witwe, und er war Witwer, sie wusste, was die Leute redeten.
Thomas aber hätte diese Verbindung gar nicht so schlecht gefunden. Freisleder war handwerklich sehr geschickt, und er, der Sohn, könnte sich seine monatlichen Besuche sparen, wenn der Mesner nicht nur in der Kirche und beim Pfarrer die Reparaturen übernähme, sondern auch bei seiner Mutter im Haus.
Aussteigen, nicken, „Grüß Gott“ sagen, vielleicht noch eine Anmerkung zum Wetter. So fing man in Helmering ein Gespräch an. Aber er musste gar nichts sagen. Die Mutter riss gleich die Fahrertür auf, er hatte noch nicht mal den Motor abgeschaltet.
„Der Schindler ist tot.“
„Ich hab ihn heut Morgen gefunden – im Wertstoffhof“, ergänzte der Freisleder. Der Mesner sagte das mit einer Mischung von Stolz und Schaudern.
Thomas Reitinger wunderte sich noch nicht: „Hat er sich doch zu Tod gesoffen.“
„Ermordet worden ist er!“, riefen die Reitingerin und der Freisleder fast gleichzeitig.
Thomas sah verwundert von seiner Mutter zum Mesner, und der nickte. Er deutete wieder auf das Messer.
„Mit so was.“
„Aber net mit dem“, beeilte sich die Reitingerin zu sagen.
„Mit einem Küchenmesser.“
Die beiden Rentner seufzten.
„So ist er dagelegen.“ Freisleder musste es einfach vormachen. Er beugte sich über Thomas’ Auto, streckte die Arme aus, legte sich aber nicht ganz drauf, denn das Auto war ziemlich dreckig. Thomas Reitinger betrachtete den gebeugten Rücken Freisleders, die Vorstellung war etwas albern, aber doch recht plastisch.
Der Mesner erzählte noch vom Bürgermeister, von der Befragung durch die Polizei. Die Reitingerin hingegen wirkte etwas gelangweilt, das hatte sie alles offenbar bereits einmal gehört, der Freisleder stand bestimmt schon länger da.
„Wer bringt denn den Schindler um?“, fragte der Thomas völlig verständnislos. Sowohl seine Mutter als auch der Freisleder zuckten die Schultern.
„Mögen haben ihn ja die wenigsten“, sagte der Freisleder. „Das hast du vielleicht nicht mehr so mitbekommen, weil du nicht mehr hier wohnst. Aber seine Fußballer, die haben ihn nur Schinder geheißen, und wenn sie einen anderen Trainer gefunden hätten, wär er schon längst zum Teufel gejagt worden.“
Einen Moment waren sie alle drei still.
„Erstochen mit einem ganz gewöhnlichen Küchenmesser“, seufzte der Freisleder. „Das hat er aber auch nicht verdient.“
Thomas Reitinger sah ihn irritiert an, denn er mochte nicht glauben, dass der Tod mit einem Gartenmesser, wie es die Mutter in der Hand hielt, eher verdient sein könnte. Oder besser. Oder angenehmer. Mord ist Mord. Dass einige dem Schindler den Tod wünschten, das konnte er sich vorstellen. Dass es jemand getan haben könnte, das wohl nicht.
„Es ist das Küchenmesser, das es letztes Jahr beim Metzger in Neukirchen vor Weihnachten als Geschenk für treue Kunden gab“, erklärte die Mutter, und der Reitinger verstand: Das Messer gab es in fast jedem Haushalt in Helmering. Damit konnte es auch jeder gewesen sein. Waren jetzt alle verdächtig, die das Messer nicht oder nicht mehr hatten?
Der Schindler war ein ganz harter Brocken gewesen, das wusste der Reitinger von seinen Telefonaten mit ihm. Der hatte alles für den Verein getan und für den Aufstieg in die Bezirksliga, den seine Jungs jedes Jahr fast schafften – und dann doch wieder nicht. Er war vielleicht so Mitte bis Ende 40 geworden.
In seiner Jugend war er ein hervorragender Fußballer gewesen, er hatte von einer Karriere geträumt, die letztendlich dann mindestens zu den Löwen nach München führen musste. „Zu Real geh ich nicht“, hatte der Alois damals immer verkündet, „ich mag nicht nach Italien.“ So mussten sowohl Real Madrid als auch Italien ohne den Schindler auskommen. Gingen ja genug Fußballprofis hin.
Als Thomas Reitinger ins Gymnasium kam, der Schindler war gerade 22 Jahre alt geworden, da passierte es. Ein Verteidiger vom FC Neukirchen trat ihn aufs Knie, Bruch, Operation, schlecht verheilt, Karriere vorbei. Der Schindler hinkte seitdem ein bisschen, aber er bekam eine Stelle beim Bauhof. Jeder fuhr seinen Dreck hin, und der Schindler sagte ihnen, in welchen Container sie das Zeug werfen sollten.
Seine Liebe aber galt nach wie vor dem Fußball in Helmering. Der Alois leitete nicht nur das „Spitzenteam“, das immer noch in der A-Klasse herumgurkte, sondern auch die Jugend, weil er sich erhoffte, dort neue Talente zu entdecken. Aber wenn einer wirklich gut spielte, dann haute er ganz schnell ab, denn keiner wollte sich für die A-Klasse die Knochen zerdreschen lassen, so wie das dem Schindler passiert war.
„Ich hätte ja schon mit 18 zum Jahn Regensburg wechseln können“, erzählte Schindler fast täglich am Stammtisch. „Aber ich wollte die Helmeringer nicht im Stich lassen, wir standen damals kurz vor der Bezirksliga.“
Außer Fußball hatte der Schindler nichts. Der Job war Müll, im wahrsten Sinn des Wortes, Frauen gab es offenbar auch keine, die sich mit ihm einließen. Nicht einmal Hans Neubauer, der Vorsitzende des Sportvereins, mochte ihn besonders. Um den sensiblen Jugendlichen eine Alternative zu bieten, hatte Neubauer schon vor Jahren eine Tischtennis- und eine Turnabteilung beim Sportverein eingerichtet. Damit nicht jeder, der was machen wollte, unter die Fuchtel vom Alois geriet oder den Verein wechseln musste. Der hat ihm das nie verziehen.
Alle paar Wochen hatte Schindler beim Thomas in der Redaktion angerufen und ihn übel beschimpft, weil er nie etwas über seinen Heimatverein schreibe, weil er sich für die A-Klasse zu schön sei, der Zeitungsschmierer, weil er die Nase hoch trage und nicht mehr wisse, wo er hergekommen sei. Hatte er einen schlechten Tag gehabt, hatte der Reitinger gleich aufgelegt oder, wenn er dem Kollegen eins auswischen wollte, den Schindler weiter verbunden. An einem guten Tag hatte er sich das alles angehört, Verständnis geäußert, gesagt, er wolle sich die Sache noch mal überlegen, und dann erst aufgelegt und alles vergessen.
„Was sagt denn die Polizei?“, fragte Thomas Reitinger.
„Dass er wahrscheinlich woanders umgebracht worden ist.“
Die Reitingerin trat nervös von einem Fuß auf den anderen und warf ihrem Sohn verstohlene Blicke zu, aber der verstand überhaupt nichts – und als er was kapierte, da sagte er das Falsche: „Können wir nicht reingehen und eine Tasse Kaffee trinken?“
„Gern!“, rief der Freisleder und war der Erste, der an der Haustür war.
Die Reitingerin sah ihren Buben strafend an, aber der wusste nicht, was er hätte anders machen sollen. Wenn die Mutter den Mesner loswerden wollte, dann musste sie das schon selbst tun.
„Musst du net bei deiner Zeitung anrufen?“, fragte der Freisleder, als sie sich gerade in der Küche hinsetzten.
Reitinger sah ihn verblüfft an. Er war wirklich ein miserabler Journalist. Nicht einmal daran hatte er gedacht, dass das eine gute Geschichte für seine Kollegen war. Er käme ja für so was nicht in Frage, den Sportjournalisten halten sowieso alle für zu blöd. Das war was für die Kollegen Arsch und Friedrich. Die natürlich nicht ganz so hießen. Der eine schon, Fotograf Robert Friedrich, der sich so gerne Bobby nannte und wirklich alles fotografierte, was ihm in Regensburg und Umgebung vor die Kamera kam. Kollege Arsch hieß eigentlich Aschenbrenner, kürzte seinen Namen vor den Artikeln in der Zeitung mit „asch“ ab und war ein richtiger Arsch. Voll gerechtfertigt, der Name. Fand jedenfalls der Reitinger.
Der Anruf beim Chef brachte eine Überraschung. Sein freier Tag war soeben gestrichen worden, erfuhr Thomas. Hervorragend, dass er schon am Tatort war, lobte der Chef. Eigeninitiative wurde sehr geschätzt in der Zeitung. Am besten 24 Stunden am Tag im Einsatz, aber nur acht bezahlt bekommen.
„Sie sind doch aus Helmering“, sagte der Chefredakteur, der mit Thomas sonst kaum redete. „Recherchieren Sie mal, Sie haben bestimmt noch ganz andere Quellen als der Aschenbrenner. Bleiben Sie heute und morgen – dann sehen wir weiter. Soko Helmering sozusagen ...“ Dann lachte er über seinen eigenen Witz.
„Und vergessen Sie nicht die Kollegen Aschenbrenner und Friedrich. Die kommen gleich raus aufs Land und übernachten im Hotel Hitzlkofer, damit sie die ganze Zeit vor Ort bleiben können. Wer weiß, was nächste Nacht geschieht.“
Dem Reitinger war überhaupt nicht klar, dass der Hitzlkofer auch Fremdenzimmer hatte. Es war das einzige Wirtshaus im Dorf, das es noch gab. Wahrscheinlich hatte der Wirt sein eigenes Schlafzimmer geräumt, um Arsch und Friedrich unterzubringen. Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als mal im Wirtshaus vorbeizuschauen. Danach aber wollte er nicht mehr nach Regensburg fahren. Die Mutter würde sich freuen. Der Bub blieb über Nacht.
Gleich anschließend rief Thomas Reitinger bei Lisa im Büro an. Es hieß, sie sei bereits um drei Uhr nach Hause gegangen. So schön möchte ich’s auch haben, dachte Thomas und wählte die Nummer ihrer Wohnung. Doch Lisa war nicht da, vielleicht im Fitness-Studio, dachte er, denn sie wollte ja was aus ihrem Leben machen und nicht nur herumhängen so wie er. „Dass du ein Sportjournalist bist, das glaubt doch kein Mensch“, sagte sie oft mit Blick auf Reitingers Bauch. Aber der konnte gleich mindestens zehn Sportjournalisten anführen, bekannt durch Funk und Fernsehen, denen man auch nicht ansah, dass sie irgendetwas mit Bewegung zu tun hatten. Die konnten grade noch ihr Mikrofon halten und das Weißbierglas natürlich. Der Thomas sprach auf seinen eigenen Anrufbeantworter, dass er in Helmering sei und dort bleiben müsse – dienstlich. Ein Mord. Ob die Lisa das glauben würde, war ihm egal. Beeindrucken konnte er sie sowieso nicht mehr.
Als Reitinger in die Küche zurückkam, hatte Freisleder den Zettel auf der Ablage schon entdeckt.
„Licht auf dem Speicher kaputt“, las er vor. „Feuchtes Eck im Keller. Spülkasten in der Toilette hört sich komisch an.“
Die Reitingerin wollte ihm den Zettel wegnehmen und auf ein anderes Thema überleiten, auf den Mord natürlich, aber Thomas witterte seine Chance. „Die Mutter schreibt immer auf, was kaputtgeht. Und wenn ich komm, dann reparier ich das alles.“ Das war natürlich gelogen. Eigentlich hätte er sagen müssen: Dann versuch ich, das zu reparieren, und wir rufen doch den Handwerker. Aber die Aussage erreichte ihren Zweck.
„Das kann ich doch machen! Du hast doch jetzt sowieso keine Zeit, Thomas.“
Thomas Reitinger lächelte, das Gesicht der Reitingerin hingegen verfinsterte sich, als der Freisleder diesen Vorschlag machte.
„Warum hast denn nicht schon früher was gesagt, Theres?“, fragte der Freisleder. „Ich helf dir doch gern.“ Daran war nicht zu zweifeln, wenn man dem Freisleder ins Gesicht schaute. Anscheinend hatte er sogar den Toten für einen Moment vergessen.
Thomas ließ die beiden Turteltauben allein und ging ins Wirtshaus. Tatsächlich saßen Arsch und Friedrich schon in einer Ecke.
„Geh her da!“, rief der Wachter vom Stammtisch, als Thomas die Gaststube betrat. Richard Wachter war mit dem Thomas in dieselbe Klasse gegangen, hatte dann auf Arzt studiert, war aber volkstümlich geblieben. Ihn hatte es nach dem Studium wieder in die Heimat gezogen. „Genau wie den Pfarrer“, sagte der Wachter immer und grinste. „Aber das ist das Einzige, was der alte Hintermayer und ich gemeinsam haben. Wir sind beide Heimkehrer, ich früher, er später.“
Tatsächlich war auch Emmeram Hintermayer seiner Heimat treu geblieben, selbst wenn er in anderen Orten als Pfarrer tätig gewesen war. Seinen Altersruhesitz hatte er hier genommen, hielt werktags und sonntags eine Messe, machte Hausbesuche und Beerdigungen, ansonsten genoss er seinen Ruhestand und ging gelegentlich ins Wirtshaus, so wie heute. Für 80 Jahre war er noch recht fit.
Thomas setzte sich aber nicht gleich an den Stammtisch, sondern ging noch kurz zu den Kollegen an den Katzentisch. Er tat es nicht gern, aber er kam ihnen ja sowieso nicht aus, also war es besser, er redete gleich mit ihnen.
„Arrogantes Pack“, empfing ihn Arsch. „Die lassen uns nicht an ihren Scheiß-Stammtisch.“
„Gib eine Runde aus, und alles ist anders“, sagte Reitinger.
„Was verspricht sich der Chef eigentlich davon, dass du auch hier rumschnüffelst?“, wollte Friedrich wissen – und da tat es dem Reitinger schon leid, dass er überhaupt mit denen redete.
„Vielleicht, weil ich die richtigen Leut kenne“, sagte Reitinger und ging nun doch zum Stammtisch, wo er mit beifälligem Gemurmel begrüßt wurde.
Neben Richard Wachter saß Fritz Löbl, ein alter Suffkopf, der eigentlich immer hier war. Hans Neubauer war auch da, der Vater seiner Jugendliebe Kati. Aber geheiratet hat sie den Neffen vom Löbl. Weil Thomas sich nicht entscheiden konnte und in die Stadt gezogen war. Außerdem Rudi Hitzlkofer, der Wirt, in dessen Schlafzimmer, wie der Thomas vermutete, jetzt Arsch und Friedrich lebten. Natürlich täuschte er sich. Tatsächlich hatte der Hitzlkofer noch zwei Fremdenzimmer von ganz früher, als manchmal ein Handlungsreisender in Helmering Station machte. Seine Frau hatte die Zimmer in aller Eile hergerichtet, abstauben, saugen, Betten beziehen. Zum Pinkeln mussten die feinen Städter eben durch den Flur aufs Klo, und statt Dusche gab es Waschbecken. „Wird schon gehen für eine Nacht“, hatte Arsch gebrummt, und Hitzlkofer hatte geantwortet, dass jeden Tag duschen sowieso nicht gesund sei. Dann hatte er seinen unrasierten Gast von oben bis unten gemustert und sich gedacht, dass der ohnehin nie duschte.
„Sind Kollegen von dir, oder?“, fragte Hans Neubauer und wies mit seinem Glas Apfelschorle auf den Tisch im Eck. Reitinger nickte schwach.
„Da ist er gestern gesessen“, brummte Fritz Löbl vor sich hin und zeigte auf einen leeren Stuhl. „Dass der Alois nimmer lebt, ich mag es net glauben.“ Er bestellte sich gleich noch ein Bier beim Rudi, aus lauter Trauer um Alois Schindler, der nicht mehr unter ihnen weilte.
Die anderen am Tisch sahen sich unbehaglich an. Seit mehr als 45 Jahren, seit der Alois Schindler als lediges Kind einer Verkäuferin zur Welt gekommen war, hielten sich hartnäckig die Gerüchte, dass er vom Löbl sei. Doch weder Fritz selbst noch Alois hatten jemals etwas dazu gesagt, die bereits verstorbene Mutter vom Alois sowieso nicht. Wie Vater und Sohn hatten sie sich nie verhalten, auch dann nicht, wenn sie nebeneinander am Stammtisch saßen. Das Einzige, was man ihnen nachsagen konnte: Sie hatten nie Streit. Und das war ungewöhnlich, denn Löbl legte sich mit jedem an, wenn er blau war, und Alois sogar dann, wenn er nichts getrunken hatte.
„Wenn er da wäre, würde er mich gleich fragen, wann ich endlich eine Geschichte über meinen Heimatverein mache“, sagte Thomas, und alle nickten.
„Er hat für den Fußball gelebt“, bestätigte der Pfarrer. „Das war nicht immer in meinem Sinne, aber Gott, der Herr, ist seiner Seele gnädig.“
„Woher wollen Sie das so genau wissen?“, fragte der Wachter angriffslustig, doch die Frage ging unter, denn dem Thomas war wichtiger zu erfahren, was denn der Pfarrer gegen das Fußballspielen hatte. Emmeram Hintermayer hörte bereits schlecht, außerdem hatte er seine große Nase im Bierglas versenkt und war ganz aufs Trinken konzentriert, deshalb antwortete ihm Neubauer: „Weil die Kinder und Jugendlichen immer am Sonntag spielen, meistens schon am Vormittag. Und der Herr Pfarrer ist halt der Ansicht, dass sie lieber in die Kirche gehen sollten. Ja, das denkt der Herr Pfarrer.“
Wachter grinste, der Pfarrer stellte gerade sein Glas ab, rülpste leise und nickte. „Als ob es keine andere Zeit für Sport gäbe als den Sonntag, wenn Gottesdienst ist.“
Neubauer nickte schwach. Er war zwar Vorsitzender vom Helmeringer Sportverein, aber er war auch Kirchgänger. Und einer der wenigen, die sich vorstellen konnten, dass man nicht nur mit Bier, sondern auch mit anderen Getränken seinen Durst stillen konnte. Den „Schorle“ nannten ihn manche, wenn er es nicht hörte, weil er meistens Apfelschorle trank.
„Immer wieder habe ich ihn darauf hingewiesen, dass der Sonntag der Tag des Herrn ist“, erklärte der Pfarrer etwas, was jetzt keiner mehr genauer wissen wollte. „Aber er wollte nicht auf mich hören.“ Das klang nun fast so, als hätte den Schindler, der jetzt in der Stadt in irgendeinem Kühlfach herumlag und vielleicht noch auf seine Obduktion wartete, die Strafe Gottes ereilt. Dennoch die einhellige Meinung: Das hatte er nicht verdient.
„Gestern Abend war er lang da“, erinnerte sich der Hitzlkofer. „Und nüchtern ist er nicht gegangen.“
„Wann denn?“, wollte der Thomas wissen.
„Als Vorletzter“, meinte Hitzlkofer und warf einen kurzen Blick auf Fritz Löbl. „Bloß der Fritz, der war noch später dran.“
Fritz nickte, wie zur Bestätigung, trank sein Bier aus und schaute sich erwartungsvoll nach der Wirtin um.
Thomas wandte sich an den Arzt: „Wie lang war er denn schon tot, wie ihr ihn heute Morgen gefunden habt?“
Wachter zuckte die Schultern: „Ich hab bloß den Tod festgestellt. Dann kamen die Spezialisten aus der Stadt.“
„Tod feststellen — des hätt jeder gekonnt“, brummte der Hitzlkofer. „Wenn ein Messer im Rücken steckt ...“
Die Frau vom Hitzlkofer stellte ein paar Bier auf den Tisch und eine Runde Schnaps dazu. „Von den beiden da hinten“, richtete sie aus, und die Gabe wurde mit einem „Ahhhh“ begrüßt.
Der Löbl winkte. „Setzt euch dazu.“ Arsch und Friedrich folgten der Einladung gern.
Der Pfarrer fragte gleich, ob sie nicht einmal eine Geschichte über seine schöne Kirche machen könnten. Denn die müsste dringend renoviert werden. Und wenn endlich mal in der Zeitung stünde, was für Kleinodien die barocken Figuren seien, dann würden die Leute gerne spenden.
„Dann würden sie dir deine Kirche ausplündern, dass grade noch die Mauern stehen bleiben, Pfarrer“, brummte Fritz ein bisschen respektlos. Und als der Hochwürden ganz erschrocken dreinschaute, da nickte ihm Arsch ganz ernsthaft zu. „Das lassen wir lieber, Herr Pfarrer. Das ist zum Wohle aller.“
So salbungsvoll hatte Thomas den noch nie reden hören. Ganz beeindruckt nahm er einen Schluck aus seinem Glas, völlig vergessend, dass die Kollegen das Bier spendiert hatten.
Arsch und Friedrich ließen sich jetzt all das erzählen, was Thomas schon längst wusste. Dass der „Schinder“ alles getan hätte für den Verein und den Aufstieg in die Bezirksliga. Dass sie es auch fast jedes Jahr schafften – und dann doch wieder nicht.
Arsch notierte eifrig, Friedrich wollte unbedingt Fotos am Stammtisch machen. Wer weiß, wofür man die noch gebrauchen konnte. Keiner wollte sich fotografieren lassen, Friedrich schaute Hilfe suchend zum Thomas, aber der unterhielt sich gerade äußerst intensiv mit dem Wachter und dem Neubauer, damit er die beiden Kollegen nicht beachten musste.
„Nicht verheiratet, der Schindler?“, fragte Arsch noch einmal der Vollständigkeit halber. Alle schüttelten einträchtig den Kopf.
„Keine Eltern mehr?“
Einige schüttelten den Kopf, andere schauten auf den Fritz, der aber so tat, als wüsste er gar nicht, worum es ging.
„Seine Mutter ist schon lange tot, und der Vater war von vornherein unbekannt“, sagte Neubauer einfach so, weil das Schweigen schon peinlich wurde.
„Die Mutter wird ihn schon gekannt haben“, grinste Friedrich und merkte nicht, dass er sich auf einem ganz gefährlichen Gelände bewegte.
„Bei Ihrer Intelligenz müssten Sie den Fall spätestens ziemlich bald gelöst haben“, meinte Wachter.
Der Aschenbrenner war nicht sicher, ob der Mann sich über ihn lustig machte oder ob er so dumm war, wie er dreinschauen konnte. „Wer sind Sie?“, fragte er nach.
„Das ist unsere grüne Sau“, erklärte Löbl den beiden Journalisten und deutete auf den Arzt.
„Beherrsch dich, Fritz“, mahnte Wachter. „Bloß weil ich den Kunstdünger nicht mit der Schaufel im Garten verteil, lass ich mich noch lange nicht von dir beleidigen.“
„Wenn nicht grün, dann Sozi“, da blieb Löbl hartnäckig.
„Reicht ja, wenn du die richtige Partei wählst“, sagte der Wachter, dann wandte er sich wieder Thomas zu und erzählte ihm von seiner Frau, von den Kindern, von seinem Haus, von seiner Praxis, was man eben so erzählt, wenn man einen alten Spezl schon lange nicht mehr gesehen hat. Die beiden Journalisten würdigte er keines Blickes mehr. Die erkundigten sich in der ganzen Runde nach den Namen und Berufen der Anwesenden.
Thomas sagte nicht viel zum Thema Familie. Von seiner Frau redete er ungern, Kinder hatte er nicht, ein Haus schon gar nicht, und sein Beruf, na ja.
Ein fallender Stuhl störte die Gemütlichkeit. Pfarrer Emmeram Hintermayer hatte versucht aufzustehen und dabei seinen Stuhl umgeworfen. Eilfertig sprang die Hitzlkoferin herbei und stellte erst den Stuhl auf, dann griff sie dem Pfarrer unter den Arm.
„Ich bin schon noch gut zu Fuß“, wehrte der Pfarrer relativ unfreundlich ihre Hilfe ab. „Der Stuhl ist so blöd gestanden ...“
„Ist ja auch kein Kirchenstuhl“, spottete der Wachter, der es einfach nicht lassen konnte.
Der Pfarrer zahlte bei der Hitzlkoferin und verabschiedete sich. „Morgen in die Messe — würd euch allen net schaden. Gute Nacht.“
Kaum war er draußen, fragten Arsch und Friedrich nach dem Pfarrer. Ob er eine Liebschaft habe, wollten sie wissen, weil er es gar so eilig mit dem Heimkommen hatte.
„Der Hintermayer ist 80“, erklärte ihnen geduldig der Neubauer, während alle anderen in heiseres Grölen ausbrachen und einhellig der Meinung waren, dass diese Schwachsinnsvermutung eine weitere Runde Bier kosten müsse.
Aber manche sind doch noch ganz fit in dem Alter, meinte Arsch. Und dass ein Pfarrer eine Freundin hat, das wär doch nichts Neues.
„Wenn’s da eine Frau geben tät, würden wir das im Dorf wissen“, erklärte Hitzlkofer und gab seiner Frau hinter der Theke ein Zeichen, dass sie eine neue Runde Bier perfekt machen solle.
Oder vielleicht war er schwul? Fuhr er öfter in die Stadt? Oder kam ihn öfter mal ein „Freund“ besuchen?
Die Helmeringer schüttelten den Kopf. Was diesen Leuten aus der Stadt so alles einfiel. Lauter Perverse. So was gab es hier bei ihnen nicht. Und schon gar nicht der Pfarrer. Der hatte nie Besuch. Die Neubauerin kochte manchmal für ihn und half im Büro, und die alte Frau, die die Kirche putzte, die machte auch bei ihm sauber. Hat er mit der was? Löbl grinste: Hätten die beiden Journalisten sie mal gesehen, sie würden nicht fragen. Der astreine Zölibatsverstärker, diese Frau. Alle lachten. Anstoßen, trinken, da kam die nächste Runde. Das geht auf den Verlag. Der Chef wird sich freuen.
Was war mit dem Alois Schindler? Keine Frau? Auch kein Mann? Vielleicht mochte er am liebsten kleine Fußballer? Dann hätte ihn irgendein Vater umgebracht, der ihm auf die Schliche gekommen war.
Den Helmeringern war das zu unappetitlich, aber das Bier, das diese beiden Typen mit der widerlichen Phantasie spendierten, ließen sie sich trotzdem schmecken.
Fritz Löbl brachte zwischen jede spendierte Halbe noch eine hinunter, die er angeblich selbst bezahlen wollte, was der Wirt aber eher skeptisch sah. Der Fritz hatte nur Geld, wenn die Rente überwiesen wurde. Vierzehn Tage später sah es schlechter aus. Und diese vierzehn Tage waren schon wieder rum.