Über das Buch:
Colorado 1876
Hals über Kopf gibt Dr. Molly Whitcomb ihre Stelle als Dozentin für moderne Sprachen auf und reist in den Westen, um an einer Dorfschule in den Rocky Mountains als Lehrerin zu arbeiten. Aber warum kauft sie sich in einem Juwelierladen einen Ehering? Welches Geheimnis umgibt diese talentierte junge Frau?
James McPherson, der sympathische Sheriff von Timber Ridge, ist von den ungewöhnlichen Unterrichtsmethoden der neuen Lehrerin beeindruckt. Bald redet das ganze Dorf von ihr und Timber Ridge verändert sich. Aber wie lange wird es dauern, bis ihr Geheimnis ans Licht kommt? Und wie wird der Sheriff dann reagieren, der in der attraktiven Lehrerin inzwischen mehr sieht als nur eine begabte Pädagogin?
Über die Autorin:
Tamera Alexander ist für ihre historischen Romane schon mehrfach mit dem Christy Award ausgezeichnet worden, dem bedeutendsten christlichen Buchpreis in den USA. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei erwachsenen Kindern in Nashville.
Kapitel 7
Molly schob den letzten Perlenknopf durch den schmalen Schlitz in dem hohen Kragen und trat einen Schritt zurück. In dem Spiegel, der über James’ Kommode angebracht war, konnte sie nur ihren Oberkörper sehen. Das Kleid, das Rachel ihr beim Frühstück gegeben hatte – falls man die Mahlzeit noch so bezeichnen konnte, nachdem sie so lange geschlafen hatte –, saß eng um ihre Taille. Aber wenigstens passte es.
Nach ihrem gestrigen Unfall, so jedenfalls hatte Rachels jüngerer Sohn Kurt den Zwischenfall gestern bezeichnet, tat ihr alles weh, und ihr Kopf schmerzte, aber der Weidenrindentee, den Rachel ihr gemacht hatte, tat gut. Molly war froh, dass die Übelkeit der letzten Wochen vorbei war. Mit der Hand strich sie über ihren immer noch flachen Bauch und wusste genau, dass er nicht mehr lange so flach bleiben würde. Was würde sie tun, wenn sich ihre Schwangerschaft nicht länger verbergen ließ?
„Wir haben nicht viele Geheimnisse voreinander“, hatte James gestern Abend gesagt. „Und wenn doch, können wir sie nicht lange für uns behalten.“
Nachdenklich betrachtete sie sich im Spiegel und konnte ihre Lügen ganz deutlich in den dunklen Ringen unter ihren Augen und in den winzigen Falten auf ihrer Stirn sehen, die sich anscheinend nicht vertreiben ließen. Sie sah genauso blass aus, wie sie sich fühlte, und das schwarze Kleid ließ ihre helle Hautfarbe und ihre blonden Haare noch blasser wirken.
Wie weit war das Kind, das in ihr heranwuchs, schon entwickelt? War es ein Junge oder ein Mädchen? Hatte es schon Finger und Zehen? Sie war in der Nacht aufgewacht und hatte sich gefragt, ob das gestrige Trauma ihrem Baby geschadet haben könnte. Sie hatte befürchtet, dass womöglich Blutungen eingesetzt hatten, aber ihre Sorge war unbegründet. Das Leben des Babys war anscheinend unversehrt. Und trotzdem würde es ihr Leben unwiderruflich verändern.
Diesen Veränderungen sah Molly nicht gerade mit Begeisterung entgegen. Wie könnte sie auch? Obwohl sie auf keinen Fall wollte, dass ihrem Kind etwas zustieß, wünschte sie trotzdem, sie wäre nie schwanger geworden. Erneut fragte sie sich, wie Jeremy je diesen Vorschlag hatte machen können. Sie hatte mit sich gerungen, ob sie ihm von dem Baby erzählen sollte oder nicht. Aber am Ende war sie zu der Schlussfolgerung gekommen, dass sie es ihm schuldig war, da er der Vater war. Seine Reaktion war eiskalt gewesen und hatte gezeigt, was für ein Mensch er in Wirklichkeit war. Wie hatte er nur auf den Gedanken kommen können, dem Leben des Kindes einfach ein jähes Ende zu setzen? Sie bedauerte, dass es so weit gekommen war, aber das, was er vorgeschlagen hatte, würde sie niemals tun können.
Vorsichtig strich sie über ihren Bauch. Konnte ein Kind, das noch so winzig klein war, spüren, ob seine Mutter es liebte? Hoffentlich nicht.
Da sie wusste, dass Rachel und die Jungen wahrscheinlich schon auf sie warteten, um mit ihr in die Stadt zu fahren, warf Molly das Laken über das Bett und danach die Quiltdecke. Sie hatte Rachel noch nichts gesagt, aber sie hatte die Absicht, heute in die Pension umzuziehen. Sie war Rachel für ihre Gastfreundschaft und James für seine Großzügigkeit dankbar, dass er ihr gestern Abend sein Bett überlassen hatte, aber unter keinen Umständen wollte sie länger im Haus von einem der mächtigsten Männer in Timber Ridge wohnen. Und schon gar nicht in seinem Bett schlafen. Von mächtigen Männern und davon, dass sie über ihr Leben bestimmten, hatte sie die Nase voll.
Plötzlich hörte sie ein Klopfen an der Tür.
„Molly?“ Rachels Stimme drang durch die geschlossene Zimmertür. „Die Jungen und ich warten draußen beim Wagen auf dich, ja?“
Molly öffnete die Tür. „Danke für deine Geduld, Rachel. Ich bin gleich fertig.“ Mit der Hand strich sie über den mit zarter Spitze besetzten Rock und sah Rachel an, dass ihr das Kleid an ihr gefiel. „Noch einmal danke, dass du so großzügig zu mir bist.“
„Es sieht schön an dir aus, und es scheint dir gut zu passen.“
„Ja, es passt wie angegossen.“ Daran würde sich in den nächsten paar Wochen auch nichts ändern. „Ich passe besonders gut darauf auf. Das verspreche ich dir. Und ich gebe es dir zurück, sobald meine Koffer ankommen.“
„Du kannst es behalten, solange du es brauchst.“ Rachels Blick wanderte in die Ferne. „Im Oktober sind es zwei Jahre, dass mein Thomas getötet wurde. Es wird Zeit, dass ich in die Zukunft blicke, ich weiß. Einige würden sogar sagen, dass es allerhöchste Zeit dafür ist.“ Ihre Finger wanderten über den Bund ihres dunkelblauen Rockes. „Ich habe vor einem Monat angefangen, wieder Farben zu tragen.“
Das dunkle Blau hätte Molly nicht gerade als „Farbe“ bezeichnet, aber sie sagte nichts dazu.
„Anders als im Osten warten die Männer und Frauen hier draußen normalerweise nicht so lange damit, wieder zu heiraten. Das heißt nicht, dass sie ihre Verstorbenen nicht vermissen. Sie trauern natürlich um sie, aber normalerweise haben sie keine anderen Angehörigen. Und sie haben Kinder, die versorgt werden müssen, und eine Ranch, auf der es viel Arbeit gibt.“ Ein schmerzlicher Blick trat in Rachels Augen. „Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn James nicht gewesen wäre. Ich war völlig hilflos. Gleich nach Thomas’ Tod ist er bei uns eingezogen und hat viele Arbeiten übernommen, mit denen ich gänzlich überfordert gewesen wäre.“
Molly konnte sich gut vorstellen, dass jede Menge Männer Schlange gestanden hatten, um die schöne junge Witwe Rachel Boyd zu umwerben, besonders wenn die Frau auch noch eine schöne Ranch mit in die Ehe brachte. „Wahrscheinlich gab es viele Männer, die dich heiraten wollten.“
Rachels Wangen liefen rot an. „Thomas war noch keine zwei Monate unter der Erde, als schon die ersten kamen. Aber den Sheriff als großen Bruder zu haben ist eine gute Abschreckung.“ Sie lächelte verschmitzt.
„Das kann ich mir gut vorstellen, nachdem ich ihn gestern in Aktion gesehen habe. Er kann sehr … einschüchternd sein.“ Das war ein weiterer Grund, warum sie so bald wie möglich ausziehen und sich eine eigene Bleibe suchen sollte.
Rachel berührte sie sanft am Arm. „Hast du immer noch Magenbeschwerden? Wenn du zum Arzt musst, können wir bei seiner Praxis vorbeifahren, wenn wir in der Stadt sind.“
„Nein, nein, mir geht es wieder gut.“ Molly schüttelte den Kopf. Als ihr vor einer Weile übel geworden war, hatte Rachel darauf bestanden, sie zur Toilette zu begleiten. „Ich habe in den letzten zwei Wochen einfach zu viel Zeit in Zügen und Postkutschen gesessen, nehme ich an.“ Das Letzte, was sie im Moment brauchte, war ein Besuch beim Arzt. Ihm würde sie nicht lange etwas vormachen können.
Rachel deutete auf den Flur. „Lass dir Zeit und komm ins Freie, wenn du fertig bist.“
Molly lehnte die Tür an, bevor sie sich fertig machte und die letzten Haarnadeln feststeckte. Zwei Bücher auf James’ Kommode erregten wie schon gestern Abend ihre Aufmerksamkeit. Sie verrieten ihr einiges über den Mann, der in diesem Zimmer wohnte. Ihr Blick wanderte zu der Bibel mit dem abgenutzten, gebrochenen Ledereinband, und dann zu dem dicken Buch mit dem Titel Unverrückbare Gesetze für die Vereinigten Staaten. Alle paar Seiten waren Blätter in das Buch gesteckt.
Beide Bücher passten zu dem ersten Eindruck, den sie von diesem Mann gewonnen hatte. Sie hatte das Gefühl, dass James McPherson äußerlich derselbe Mann war wie innerlich. Sie wandte sich vom Spiegel ab.
Als sie das Zimmer aufgeräumt hatte, ging sie zu Rachel und ihren Söhnen vor das Haus und bemühte sich, den Pfützen auszuweichen, die der gestrige Regen hinterlassen hatte. Sie hob den weiten Rock des schwarzen Kleides und stieg in den Wagen. Rachel war mit dem Pferdegeschirr beschäftigt, und Molly bewunderte ihr Können, das ihre eigenen Fertigkeiten weit überstieg. Sie war in der Lage, ein einzelnes Pferd aufzuzäumen, aber kein Gespann. Und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie man einen Wagen anspannte. Rachel schien das alles zu beherrschen.
Da sie den gestrigen Unfall noch sehr lebhaft vor Augen hatte, war Molly nicht allzu erpicht darauf, sich schon wieder in einen Wagen zu setzen und auf den schmalen Serpentinen durch die Berge zu fahren. Aber genauso wie James strahlte Rachel ein starkes Selbstvertrauen aus, und Molly beschloss, sich zurückzulehnen und sich nicht zu verkrampft an den Sitz zu klammern.
Als sie und James gestern Abend angekommen waren, war es dunkel gewesen. Bis auf die kurze Strecke zum Toilettenhäuschen hatte sie von dem Land, das die Ranch umgab, noch nichts gesehen.
Das Blockhaus war großzügig gebaut, und obwohl es immer noch schlicht war, waren die Rahmen um die Türen und Fenster kunstvoll verarbeitet. Die breite Veranda und die dicken Piniensäulen, die den vorderen Eingang umrahmten, zeugten davon, dass Rachel und Thomas aus dem Süden kamen. Als sie die sauberen Schreinerarbeiten bewunderte, bekam Molly eine Ahnung davon, was für ein talentierter und aufmerksamer Ehemann Thomas Boyd gewesen sein musste.
Tief atmete sie den Duft der Nadelbäume und etwas Süßes ein, das sie nicht ganz zuordnen konnte, und war überrascht, wie kühl die Luft immer noch war, obwohl der August vor der Tür stand. Rachel trug keinen Umhang. Deshalb hatte Molly gezögert, sie um einen zu bitten. Man gewöhnte sich wahrscheinlich an die kühle Bergluft, genauso wie sie die schwülen Sommertage in Georgia gewöhnt gewesen waren. Aber die kühlen Temperaturen waren viel angenehmer.
Rachel stieg neben ihr ein und nahm die Zügel in die Hand. Als Molly links neben sich ein schnupperndes Geräusch hörte, drehte sie sich um.
Kurt beugte sich nahe zu ihr herüber und lächelte. Er schnüffelte wieder. „Sie riechen gut, Frau Lehrerin.“
„Kurt!“ Rachel warf ihrem jüngeren Sohn einen missbilligenden Blick zu. „Es ist nicht höflich, wenn ein Junge eine Bemerkung darüber macht, wie eine Frau riecht. Und du musst deine neue Lehrerin mit Mrs Whitcomb ansprechen.“
Kurt verzog den Mund. „Ja, Ma’am“, sagte er leise, während er Molly mit Neugier und einer gehörigen Portion Schabernack betrachtete.
Das verschmitzte Funkeln in den Augen des Jungen ließ Molly vermuten, dass eine gewisse Vorsicht ihm gegenüber durchaus vernünftig war, obwohl sie ihren künftigen Schüler mit einem zögernden Lächeln bedachte. Als das Sonnenlicht auf die roten Haare des Jungen fiel, nahmen sie eine leuchtende Herbstfarbe an und erinnerten sie an den Herbst in den Smoky Mountains.
Mitchell beugte sich neben seinem Bruder über die Rückenlehne des Sitzes. „Mama, können wir zuerst bei Onkel James’ Büro vorbeifahren?“
„Zu Onkel James fahren wir ein wenig später. Vorher zeigen wir Mrs Whitcomb ein bisschen von Timber Ridge und fahren mit ihr in die Kolonialwarenhandlung.“ Rachel ließ die Zügel schnalzen und lenkte den Wagen die breite Straße hinab, die aufgrund der Regenfälle tiefe Spurrillen aufwies. Sie warf einen Blick auf Molly neben sich. „Dort kannst du dir das Notwendigste kaufen, das du vielleicht brauchst. Danach treffen wir uns mit James und zeigen dir das Schulhaus, wenn du möchtest.“
„Das klingt wunderbar. Danke. Wenn du noch andere Besorgungen erledigen musst, fahre ich gerne mit.“
Mit einem Kopfnicken forderte Rachel Molly auf, nach oben zu schauen. Zuerst dachte Molly, sie deute einfach nur auf die Berge. Doch dann entdeckte sie einen Falken, der am wolkenlosen, blauen Himmel seine Kreise zog. Der Vogel schwebte am Himmel und seine Flügel sahen aus dieser Entfernung so aus, als würden sie sich überhaupt nicht bewegen, aber sein Kreischen war gut zu hören.
Sie bogen um eine Kurve, und Molly schirmte ihre Augen vor der Sonne ab, während sie den Vogel weiterhin beobachtete. „Wie muss es wohl sein, eine solche Freiheit zu erleben? Einen solchen Blick auf die Welt zu haben?“
Rachel, die neben ihr saß, seufzte. „Das habe ich mir auch schon oft gedacht. Am frühen Abend sitze ich oft auf der Veranda und schaue zu, wie Elche und Rehe am Rand der Wiese grasen. Das Leben hier kann hart und manchmal schmerzlich sein. Aber man kann darin auch so viel Schönheit und Freude finden. Und ich habe … in meinem langen Leben …“ Sie verzog das Gesicht zu einem leichten Lächeln. „… gelernt, dass diese Dinge oft Hand in Hand gehen.“
Während sie dem Falken zuschaute, bis er über dem Bergkamm verschwand, betete Molly, dass das, was Rachel sagte, stimmte. Dass nach dem ganzen Schlimmen in ihrem Leben, nach den ganzen Fehlern, die sie gemacht hatte, etwas Gutes kommen würde.
* * *
„Sheriff, haben Sie eine Minute Zeit?“
James blickte von seinen Papieren auf und schaute seinen Hilfssheriff an. „Natürlich, Willis. Nehmen Sie doch Platz.“ Dean Willis setzte sich rücklings auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch und James warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Irgendwann wollten Rachel, Molly und die Jungen vorbeikommen. Rachel hatte zwar nicht genau gesagt, wann sie kämen, aber er hoffte, dass sie zusammen essen könnten.
„Gestern Nachmittag ist einiges passiert, Sheriff. Wir haben von der Hotelbaustelle draußen wieder eine Beschwerde bekommen, und dann gab es in Claras Café eine Schlägerei.“ Der Hilfssheriff runzelte die Stirn. Er ahnte, dass James diese Nachricht nicht gefallen würde. „Zwischen einer Gruppe Bergleute und ein paar von diesen … Neuankömmlingen.“
James beugte sich auf seinem Stuhl vor und verkniff sich nur mühsam ein Seufzen. Die italienischen Einwanderer wurden von Willis immer als Neuankömmlinge bezeichnet. Willis hatte keine Vorurteile, das wusste James. Es war einfach seine Art, zwischen den Stadtbewohnern und anderen Gruppen, die neu in Timber Ridge waren, zu unterscheiden. „Hat die Beschwerde über Tollivers Hotelbaustelle mit demselben Mann wie vor zwei Wochen zu tun?“
Willis schüttelte den Kopf. „Es handelt sich um einen anderen Mann. Er heißt Moretti. Aber die Beschwerde ist die gleiche. Er sagt, die Arbeitsbedingungen seien nicht sicher. Soll ich Tolliver darauf ansprechen, Sir?“
James dachte an seine Gespräche mit Brandon Tolliver in der letzten Zeit und schüttelte den Kopf. „Nein, darüber muss ich wahrscheinlich selbst mit ihm sprechen. Aber hören Sie sich vorher ein wenig um. Schauen Sie, was Sie über den Arbeiter herausfinden können. Ich will wissen, worüber er sich konkret beschwert und ob seine Beschwerde begründet ist. Und ob er und Tolliver in letzter Zeit Probleme miteinander hatten. Aber gehen Sie unauffällig vor, Willis. Es soll niemand etwas mitkriegen.“ James musterte ihn eingehend, um sicherzustellen, dass der jüngere Mann verstand, was er meinte.
Willis legte zwei Finger an seine Stirn. „Verstanden, Chef. Und zu dem Café: Arbeiter aus dem Hotel, einige Neuan…“ Er brach ab. „Einige Italiener kamen gestern ins Café und wollten etwas essen. Miss Clara sagt, es sei für sie kein Problem, sie zu bedienen. Sie kennen Miss Clara ja. Wenn jemand Hunger hat, gibt sie ihm zu essen.“
James nickte.
„Jedenfalls berichtete Miss Clara, als sie die Männer bediente, seien einige Bergleute – sie hat die Männer nicht gekannt – auf die Italiener losgegangen und hätten sie dazu aufgefordert zu verschwinden. Solche wie sie würden hier nicht bedient. Dann kam es zu einer Schlägerei, Tische wurden umgeworfen und Geschirr ging zu Bruch. Miss Clara ist das Geschirr ziemlich egal, aber sie fürchtet, dass ihre Stammgäste wegbleiben, wenn so etwas wieder passiert. Ich habe versucht, die Namen der Bergleute herauszufinden, aber alle, die ich gefragt habe, gaben an, dass sie sie noch nie zuvor in der Stadt gesehen hätten.“
James stand seufzend auf und ging ans Fenster. „Es spielt keine Rolle, wer sie sind.“ Früher hatte er jeden gekannt, der draußen auf der Straße vorbeigegangen war, und er hatte die Familien gekannt, die zu den Leuten gehörten. Aber diese Zeiten waren vorbei. „Selbst wenn wir diese Männer finden, können wir nicht verhindern, dass so etwas wieder passiert.“ Er atmete tief aus. „Sorgen Sie dafür, dass Miss Clara die Unkosten für ihren Schaden erstattet werden. Ich gehe später zu ihr und sage ihr, dass wir ihr Café stärker im Blick behalten.“
Als Willis gegangen war, begann James, die Papiere abzuarbeiten, die seinen Schreibtisch übersäten. Das war der Teil seiner Arbeit, der ihm am wenigsten gefiel. Alle paar Minuten wanderte sein Blick zum Fenster und seine Gedanken kehrten zu Molly Whitcomb zurück.
Ungebeten kam ihm eine Erkenntnis, und er starrte die Feder in seiner Hand an. Vielleicht hatte er nur deshalb Zweifel an ihr, weil er sich so stark zu ihr hingezogen fühlte. Sie trat mit einer stillen Würde und einem spürbaren Selbstvertrauen auf, was die Verwundbarkeit, die sie so mühsam zu verbergen versuchte, nur noch reizvoller machte.
Er war klug genug, diese Gedanken nicht weiterzuverfolgen. Das würde und konnte zu nichts führen. Trotzdem – nach ihrer ersten Begegnung in Sulfur Falls und dann in der Teufelsschlucht – hätte er schwören können, dass sie auch für ihn etwas empfand.
Er zwang sich dazu, sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren, und zog einen Bericht des Gouverneursbüros in Denver heraus. Aber nachdem er den ersten Absatz viermal gelesen hatte und immer noch nicht wusste, was darin stand, nahm er seinen Hut und begab sich auf den Weg zu Claras Café und freute sich über die Gelegenheit, einen Spaziergang zu machen.
Seine Gedanken kehrten zu den zwei Zwischenfällen zurück, von denen Willis ihm berichtet hatte. Timber Ridge wuchs und veränderte sich und diese Veränderungen waren nicht immer zum Besten. Es war seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Menschen in Sicherheit waren. Aber resigniert musste er feststellen, dass ihm diese Aufgabe mit jedem Tag mehr aus den Händen glitt.
Er trat in Bürgermeister Davenports Büro, aber der Mann war nicht da. Er war selten in seinem Büro anzutreffen.
„Soll ich ihm etwas ausrichten, Sheriff?“, fragte Davenports Sekretärin.
James schüttelte den Kopf. Dass Molly Whitcomb Witwe war, musste er dem Bürgermeister persönlich erklären.
Er setzte seinen Weg zu Claras Café fort, wie er das an den meisten Tagen um diese Zeit machte. Dadurch, dass er für die Stadtbewohner erreichbar war, behielt er im Blick, was die Menschen in Timber Ridge beschäftigte. Er war noch nicht weit gegangen, als jemand seinen Namen rief.
„Sheriff McPherson!“ Mrs Mattie Moorehead, die Frau eines älteren Stadtratsmitglieds, winkte ihm von der anderen Straßenseite aus zu. „Wir haben eine Frage an Sie!“
James musste innerlich lachen und ahnte bereits, worum es bei der Frage ging. Besonders als er sah, dass Mrs Frances Hines ihrer Schwester dicht auf den Fersen folgte. „Ja, Ma’am?“ Er begrüßte Mrs Hines, die ganz außer Atem drei Schritte hinter Mrs Moorehead bei ihm ankam, mit einem höflichen Kopfnicken und einem Tippen an seinen Hut. „Wie geht es den Damen?“
„Uns geht es gut, Sheriff.“ Mrs Hines lächelte schnaufend, schob sich vor ihre ältere Schwester und drückte freundlich seinen Arm. Beide Frauen waren so alt, dass sie seine Mütter hätten sein können, und behandelten ihn seit seinem ersten Tag als Sheriff wie einen Sohn. „Wir haben gerade darüber gesprochen, ob mein Kirschkuchen bei der bevorstehenden …“
„Frances!“ Mrs Moorehead bedachte ihre Schwester mit einem tadelnden Blick und ergriff James’ anderen Arm. „Wir haben darüber gesprochen, ob mein Ingwerbrotkuchen …“ Ihr Lächeln war genauso süß wie ihr preisgekrönter Kuchen. „… bei der bevorstehenden Feier am besten wäre. Oder ob die Stadt tatsächlich etwas Gehaltvolleres vorziehen würde.“ Die ältere Schwester zog die Braue hoch und bedachte die jüngere mit einem triumphierenden Blick.
Mrs Hines zog James näher an sich. „Mein Kirschkuchen ist nicht gehaltvoll, Mattie Moorehead! Er ist süß und …“
„Ingwerbrot passt für diesen Anlass viel besser, Frances. Und du weißt ganz genau, dass …“
James schaute die zwei Frauen an. Anscheinend war die Diskussion darüber, welcher Kuchen für die Feier anlässlich der Aufnahme von Colorado in den amerikanischen Staatenbund der „offizielle“ Kuchen sein sollte, immer noch nicht beigelegt. Diese Feier würde sowieso nur stattfinden, wenn Präsident Grant kein Veto gegen den entsprechenden Gesetzesentwurf einlegte, wie es die Präsidenten vor ihm getan hatten.
Bürgermeister Davenport wusste aus sicherer Quelle, dass der Antrag des Territoriums, als Bundesstaat aufgenommen zu werden, dieses Mal durchgehen würde, und die Stadt plante schon seit Wochen eine Feier. Zu diesem Ereignis wurde die ganze Stadt erwartet.
„Meine Damen …“ Er legte jeder einen Arm über die Schulter und brachte damit ihre Streitigkeiten schlagartig zum Verstummen. „Ich bin in den Genuss gekommen, Ihre beiden Kuchen probieren zu dürfen, und ich glaube, dass ich mit Fug und Recht erklären kann, dass sowohl der Kirschkuchen als auch der Ingwerbrotkuchen begeistert aufgenommen werden. Ehrlich gesagt“, sprach er schnell weiter, da Mrs Moorehead schon zum Widerspruch ansetzte, „glaube ich, dass beide nötig sind, wenn diese Feier perfekt sein soll.“
Beide Schwestern schauten ihn fragend an.
„Immerhin ist bekannt, dass Kirschkuchen Präsident Washingtons Lieblingskuchen war.“
Mrs Hines strahlte ihn an.
„Und Präsident Lincoln liebte Ingwerbrot mehr als alles andere.“
Nun warf Mrs Moorehead ihre dünnen Schultern zurück und lächelte ihre Schwester überlegen an. „Ich denke, wir könnten beides anbieten. Und …“ Sie hob die Nase. „Ich habe die perfekte Spitzentischdecke für diesen Anlass.“
„Ich habe auch eine Spitzentischdecke, Mattie. Sie ist von Großmutter, und ich …“
Eilig verabschiedete sich James und ließ die Frauen mit ihrer Diskussion darüber, welche Tischdecke benutzt werden sollte, allein. Er ging weiter und war dabei ganz in Gedanken über die Veränderungen in Timber Ridge versunken.
Die Zugehörigkeit zum Staatenbund hatte natürlich gewisse Vorteile. Aber er hatte die Erfahrung gemacht, dass man jedes Mal, wenn man etwas gewann, etwas anderes dafür aufgab. So war es bei Geschäften und auch im Umgang mit Menschen.
„Sheriff McPherson!“
Dr. Brookston begrüßte ihn aus einer Seitenstraße und James verlangsamte seine Schritte. „Wie geht es Ihnen, Brookston?“
Rand Brookston musste sich beeilen, um ihn einzuholen. „Mir geht es gut. Sogar noch besser, seitdem ich das hier habe.“ Er wedelte mit einem Blatt Papier.
Da er ahnte, was es war, regte sich eine gewisse Befriedigung in James.
„Das verdanke ich bestimmt Ihnen, Sheriff.“
„Es war Ihr Plan, Doktor, und er war gut. Ich habe ihn nur dem Stadtrat vorgelegt. Der Stadtrat hat Ihnen zugestimmt und unterstützt Sie bei diesem Vorhaben.“
Brookston schüttelte James die Hand. „Wir wissen beide, dass der Bürgermeister von der Idee nicht allzu sehr begeistert war. Ich verdanke es Ihrem Einfluss, dass dieser Vorschlag so schnell angenommen wurde, und für Ihre Unterstützung bin ich Ihnen sehr dankbar. Die Gesundheit der Familien in Timber Ridge zu verbessern ist mir ein wichtiges Anliegen, Sheriff. Und eine verpflichtende Untersuchung aller Schulkinder ist ein wichtiger erster Schritt auf diesem Weg.“
„Sie haben dabei nicht nur meine Unterstützung, sondern auch die des Stadtrats. Falls Sie noch etwas brauchen, dann lassen Sie es mich bitte wissen. Ich versuche zu tun, was ich kann.“
„Ich würde auch gern die Unterstützung der neuen Lehrerin dafür gewinnen. Sobald sie in der Stadt ist.“
James nickte. „Das halte ich für eine gute Idee. Gestern ist sie angekommen. Ich werde sie bitten, sich noch diese Woche bei Ihnen zu melden.“
„Ausgezeichnet.“ Brookston nickte. „Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar. Ich habe festgestellt, dass Schüler weniger Hemmungen haben, wenn ihre Lehrerin den Anfang macht und sich auch untersuchen lässt. Besonders da die meisten dieser Kinder noch nie bei einem Arzt waren.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Dr. Whitcomb ein Problem damit hätte. Darüber hinaus habe ich noch eine andere Idee.“ James schlug Brookston auf die Schulter. Er war dankbar, dass der Mann vor einem Jahr beschlossen hatte, nach Timber Ridge zu kommen. „Wenn der Sheriff sich auch untersuchen lassen soll, brauchen Sie mir nur zu sagen, wo und wann ich kommen soll, dann bin ich da.“
Brookston grinste. „Wie wäre es mit nächstem Dienstag um neun Uhr in meiner Praxis?“
„Einverstanden“, lachte James. „Mitchell und Kurt bringe ich auch gleich mit.“
„Und, äh … was ist mit ihrer Mutter? Ihr geht es gut, hoffe ich.“
Wenn James sich nicht irrte, hörte er ein deutliches Interesse in Rand Brookstons Stimme. Ein Interesse, das über die berufliche Neugier eines Arztes hinausging. „Ihr geht es bestens. Danke der Nachfrage.“
Brookston spielte mit der schwarzen Ledertasche in seiner Hand. „Wenn sie auch mitkommen will, wäre das schön. Natürlich nicht, um sich untersuchen zu lassen. Sondern, um ihre Söhne zu begleiten. Es sei denn, sie will sich auch untersuchen lassen. Dann stehe ich ihr natürlich gern zur Verfügung.“
James lächelte. „Das werde ich ihr gern ausrichten.“ Er mochte Brookston und hätte nichts gegen das Interesse dieses Mannes an seiner Schwester, falls Rachel dafür offen wäre. Aber dass Brookston Arzt war, verbesserte seine Chancen nicht gerade. Ganz im Gegenteil. Das war eigentlich sonderbar, da ihr eigener Vater Arzt gewesen war.
Während er weiterging, erkannte James, welche Richtung seine Gedanken schon wieder einschlugen. Er wusste nicht, was ihn mehr störte: Dass er sich zu einer Frau hingezogen fühlte, die erst vor Kurzem ihren Mann verloren hatte, denn das hielt er einfach für falsch. Oder dass er das Gefühl nicht von sich abschütteln konnte, dass in Dr. Molly Whitcomb viel mehr steckte, als man auf den ersten Blick sah. Viel mehr, als sie ihm zeigen wollte.
Kapitel 8
Molly warf verstohlene Blicke neben sich, während Rachel den Wagen durch die Stadt steuerte. Rachel Boyd schien die perfekte Mischung aus Anmut und Schönheit zu sein und hatte dazu einen unerschütterlichen Mut. Rachel hatte nicht gesagt, wie ihr Mann, Thomas, gestorben war, und Molly fühlte sich nicht befugt, sie danach zu fragen. Aber ihr war aufgefallen, dass beide, James und Rachel, die Formulierung „wurde getötet“ gebraucht hatten.
Vor ihnen versperrten mehrere Wagen die Hauptstraße. Viele waren mit ganzen Familien, Möbeln, Koffern und Öfen randvoll beladen, während Stühle und Fässer an die Seiten gebunden waren.
„Jeden Tag kommen mehr Familien hier an“, sagte Rachel leise und runzelte dabei die Stirn.
„Kommen die Leute wegen des Bergbaus hierher?“, fragte Molly.
„Das Silber ist ein Anreiz. Und Brandon Tolliver – du hast ihn gestern kennengelernt –, der am Stadtrand ein Hotel baut. Ein Hotel mit heißen Quellen. Er stellt Einwanderer für die Arbeiten ein.“
Aus Rachels Tonfall schloss Molly, dass sie mit Tollivers Vorgehen nicht einverstanden war. Von den heißen Quellen in dieser Region hatte sie schon gehört und auch von ihrer vielgepriesenen Heilwirkung gelesen. „Glaubst du, das Hotel ist gut für Timber Ridge?“
„Auf lange Sicht bestimmt.“ Rachel winkte den nächsten Wagen durch. „Wenn die Stadt – und mein Bruder – die Bauzeit überleben.“
Eine unüberhörbare Anschuldigung schwang in Rachels Tonfall mit, und Molly beschloss, nicht weiter nachzufragen.
Auf den Straßen von Timber Ridge herrschte ein reger Betrieb. Als die Männer und Frauen Rachel sahen, tippten sie entweder zum Gruß an ihren Hut oder sie winkten. Aber sobald sie Molly entdeckten, blieben sie abrupt stehen und starrten sie an. Mütter flüsterten ihren Kindern etwas zu, und die Kinder machten große Augen.
Rachel kicherte. „Willkommen in Timber Ridge, Molly. Bis zum Abendessen weiß die ganze Stadt, dass du inzwischen angekommen bist.“
Molly bemühte sich zu lächeln, Selbstvertrauen auszustrahlen und sich wie eine kompetente Lehrerin zu benehmen, während sie an den Leuten vorbeifuhren. Als sie das Ende der Straße erreichten, hatte sie vierzehn Kinder gezählt. Alle waren im Schulalter. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie sich überhaupt nicht erkundigt hatte, wie viele Kinder sie eigentlich unterrichten sollte. Andererseits hätte das sowieso keinen Einfluss auf ihre Entscheidung gehabt.
„Da ist Onkel James!“ Aufgeregt beugte sich Kurt über den Sitz und winkte ihm zu. „Ich sehe ihn! Onkel James!“
„Onkel James!“, rief auch Mitchell mit der gleichen Begeisterung.
Molly genoss die Reaktion der Jungen und entdeckte James ein Stück von ihnen entfernt auf der Straße stehen. Er unterhielt sich mit einem Schwarzen. James schüttelte dem Mann die Hand und lächelte. Molly musste ebenfalls lächeln, als sie die beiden sah. Dass Schwarze und Weiße normal miteinander umgingen verriet ihr, dass die Stadt den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Sie hoffte, das wäre auch in der Schule so.
Es war nicht zu übersehen, dass Mitchell und Kurt ihren Onkel vergötterten, aber das Lächeln, das über James’ Gesicht zog, als er die Jungen sah, verriet ihr noch viel mehr. Genauso wie die vielen Menschen, die James grüßten, als er auf ihren Wagen zukam. Männer und Frauen gleichermaßen, auf dem Gehweg und auf der Straße. Ihr wurde sehr schnell klar, dass James McPherson eine geborene Führungsperson war. Wie selbstverständlich blickten die anderen zu ihm auf.
„Hallo, Jungs!“ James strich beiden Jungen über den Kopf. Die Brüder wanden sich unter seiner Hand, aber sie wichen nicht zurück, stellte Molly fest. „Habt ihr zwei heute Morgen den Stall ausgemistet?“
„Ja, Sir“, antworteten sie wie aus einem Mund.
„Das ist gut. Dann habt ihr das hier verdient.“ James griff in seine Jackentasche und zwinkerte Rachel zu. „Geht damit zu Mr Mullins.“ Er drückte zuerst Mitchell und dann Kurt eine Münze in die Hand. „Und sagt ihm, dass er jedem von euch die größte Zuckerstange geben soll, die er in seinem Laden hat.“
„Danke, Onkel James!“ Mitchell sprang von der Seite des Wagens und lief auf den Gehweg zu. „Komm, Kurt!“
Aber Kurt blieb noch stehen und trat dichter an seinen Onkel heran. „Ich habe auch die Heugabel benutzt, Onkel James, wie du es mir gezeigt hast. Danach habe ich sie wieder an den Haken gehängt.“
„Das hast du sehr gut gemacht, mein Junge.“ James zog den Jungen an sich und Kurts kurze Arme legten sich um seinen Hals. „Du bist ein guter Junge. Das weißt du, ja? Und du wirst ein richtig guter Rancher werden. Dein Papa ist bestimmt sehr stolz auf dich.“
Kurt nickte und strahlte übers ganze Gesicht, auch wenn sein Lächeln ein wenig zitterte.
James schwang ihn über die Wagenseite und hob ihn dabei hoch in die Luft. Dann klopfte er ihm auf den Hosenboden. „Jetzt lauf, damit du deinen Bruder einholst. Und such dir eine schöne Zuckerstange aus.“
„Ja, danke, Onkel James!“
Der Junge rannte los. Seine kurzen Beine brachten ihn schneller voran, als Molly es ihm zugetraut hätte. Er war liebenswert, aber er hungerte nach der Aufmerksamkeit eines Mannes und vermisste seinen Vater. Sie schloss ihn ins Herz, auch wenn ihm der Schalk im Nacken saß.
James kam auf ihre Seite des Wagens. „Guten Tag, die Damen.“ Er tippte an seine Hutkrempe und schaute Molly an. „Sie sehen gut aus. Und ausgeruht. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen. Das Bett in diesem Zimmer ist ein wenig zu weich.“
„Ich habe sehr gut geschlafen, nachdem ich irgendwann nicht mehr jedes Mal, wenn ich die Augen zuhatte, diese Schlucht vor mir gesehen habe. Danke, Sheriff.“ Trotz ihrer Abmachung, sich beim Vornamen anzusprechen, hielt Molly es für ratsam, in der Öffentlichkeit eine gewisse Förmlichkeit beizubehalten. Sie deutete sein leichtes Lächeln als Zustimmung. „Meine Großmutter hatte auch ein Federbett, das …“
„Du Dieb! Bring das sofort zurück!“, schrie jemand auf der Straße.
Neugierig drehten die Leute die Köpfe. Von ihrem Wagensitz aus entdeckte Molly einen schmächtigen, dunkelhaarigen Jungen, der etwas unter den Arm geklemmt hatte und geradewegs auf sie zulief. Zu spät erblickte der Junge James und versuchte, seine Richtung zu ändern.
James erwischte ihn mit Leichtigkeit und hielt ihn am Arm fest. „Halt, mein Junge!“
Der Junge wand sich unter seinem Griff und schaute immer wieder ängstlich hinter sich. „Per favore, signore, mi lasci andare! Qualcuno mi sta inseguendo. É arrabbiato! Ha imbrogliato me e la mia famiglia.“
„Beruhige dich“, sagte James mit ruhiger, geduldiger Stimme. „Ich tue dir doch nichts.“
Schnell entstand eine Menschenansammlung auf der Straße, aber ein großer, kräftiger Mann schob sich zwischen den Leuten zu ihnen durch. Sein Gesicht war wutverzerrt.
Molly ahnte, warum der Junge so viel Angst hatte. Dieser Mann war kräftig gebaut. Und er war wütend.
„Dieser kleine Dieb hat in meinem Laden einen Laib Brot gestohlen!“ Während er auf den Jungen deutete, traten an seinen Unterarmen die Muskeln vor. „Ich habe ihn dabei gesehen! Und ich habe Zeugen, die das bestätigen können.“
Die Menschenmenge drängte sich näher. Einige begannen, Partei für den Mann zu ergreifen. „Bolden hat recht, Sheriff! Diese Leute rauben uns alle aus!“ − „Sie sind nur hier, um uns zu bestehlen!“ − „Ohne sie wäre unsere Stadt besser dran!“
„Per favore, signore.“ Der Junge wandte sich an James und sprach schnell und mit flehender Stimme. Seine Worte überschlugen sich fast. „Ho lavorato per lui. Le do la mia parola. Ho spazzato la sua veranda, buttato via la spazzatura. Chieda alla signora del negozio, ve lo riferirà. Lei mi ha visto! Quest’uomo aveva promesso di pagarmi ma poi non lo ha fatto. Ho solo preso un pezzo di pane e della carne per quello che mi deve!“
Plötzlich machte der Mann namens Bolden einen Satz nach vorne, so als wollte er den Jungen am Kragen packen, aber James baute sich schützend vor ihm auf. „Treten Sie zurück, Bolden. Und alle anderen sollten sich auch wieder beruhigen.“
Mit finster zusammengekniffenen Augen fügte Bolden sich, aber seine Miene verriet, dass es ihm überhaupt nicht gefiel, diesem Befehl zu gehorchen.
James schaute den Jungen durchdringend an. „Kannst du verstehen, was hier gesagt wird, Junge?“
Der Junge schaute ihn an. Die Verwirrung war ihm ins Gesicht geschrieben.
Molly beugte sich im Wagen vor, war aber unsicher, ob sie sich einmischen oder lieber den Mund halten sollte. Sie dachte daran, was James ihr gestern Abend gesagt hatte: Dass sie noch keinen offiziellen Vertrag unterschrieben hatte. Sie wusste also, dass ihr Verhältnis zum Stadtrat auf wackeligen Füßen stand. Und sie hatte nicht die Absicht, ihre Stelle oder ihre künftige Beziehung zu ihrem Arbeitgeber weiter zu gefährden. Sie brauchte diese Arbeit, selbst wenn es vielleicht nur für kurze Zeit hier war.
Trotzdem verstärkte etwas am Verhalten des Jungen ihren Glauben an ihn und weckte in ihr den Wunsch, ihm zu helfen.
Langsam senkte der Junge den Kopf und zog ein Päckchen aus seinem Hemd, das wie eine Salami aussah. Es folgte ein Laib Brot, von dem zwei Bissen fehlten.
Bolden fluchte laut. „Sehen Sie? Ich habe es ja gesagt, Sheriff! Diese Leute sind Diebe. Habe ich Ihnen das nicht erst letzte Woche bei der Stadtratssitzung gesagt?“
Dieser Mann war im Stadtrat? Molly lehnte sich auf ihrem Sitz zurück. Sie konnte es sich nicht leisten, es sich mit diesem Mann zu verscherzen.
Die dunklen Augen des Jungen schauten sich aufgeregt um und suchten nach einem Fluchtweg. Er war sehr schmächtig gebaut und seine hellbraune Haut war leicht aufgedunsen, aber seine dünnen Arme verrieten, dass er unterernährt war. Als sie ihn genauer betrachtete, stellte sie fest, dass er älter war, als sie ursprünglich angenommen hatte.
Seine Unterlippe begann zu zittern. Er schaute sie direkt an, und Molly spürte, wie groß sein Hunger sein musste.
James lockerte seinen Griff. „Bolden, haben Sie diesen Jungen schon einmal gesehen?“
„Nein.“ Bolden schaute den Jungen verächtlich an. „Aber solche wie er hängen ständig vor meinem Geschäft herum. Wahrscheinlich rauben sie mich aus, ohne dass ich es merke.“
„Sheriff?“ Molly war selbst überrascht, als sie ihre Stimme hörte, und stieg aus dem Wagen. Aller Augen waren jetzt auf sie gerichtet, vor allem die des Jungen. Sanft berührte sie ihn am Arm. „Ora é tutto chiaro e se vuoi lo tradurrò allo Sceriffo McPherson. Lo sceriffo di Timber Ridge é un uomo buono e onesto, vedrai che ti tratterà giustamente.“
Plötzlich füllten sich die dunklen Augen des Jungen mit Tränen. „G-grazie mille, signora, grazie.“
„Mrs Whitcomb?“ Frustration und Unglaube schwangen in James’ Stimme mit.
Molly sah die Überraschung in seinen Augen. „Ja, Sheriff McPherson. Entschuldigen Sie, dass ich mich einmische, aber ich spreche Italienisch, und ich habe alles verstanden, was dieser junge Mann gerade gesagt hat.“ Boldens finsterer Blick verriet sein Missfallen. „Ich habe angeboten, für ihn zu übersetzen.“ Sie schaute den Jungen wieder an. „Come ti chiami?“
Eine schwache Hoffnung trat in seine Augen. „Mi chiamo … Angelo Giordano.“
„Angelo“, wiederholte sie freundlich. „Ich habe Angelo angeboten, für ihn zu übersetzen, und er ist damit einverstanden. Wenn Sie erlauben?“ Während sie auf James’ Antwort wartete, stellte sie fest, wie sich Angelo näher zu ihr hinschob.
James nickte. „Bitte sehr.“
„Danke, Sheriff.“ Obwohl sie den Preis für das, was sie gleich tun würde, kannte, stellte Molly fest, dass ihr keine andere Wahl blieb. „Angelo hat gesagt, dass er für diesen Mann gearbeitet hat. Dass er die Veranda dieses Mannes gefegt und seinen Müll weggebracht hat. Er sagt, dass Sie die gute Frau im Kolonialwarenladen fragen sollen. Sie wird das bestätigen. Sie hat gesehen, dass er das alles gemacht hat.“
Boldens Miene wurde steinhart, und Molly merkte, dass sie wahrscheinlich gerade ihre Arbeitsstelle verspielte. Aber sie fühlte noch etwas anderes: den Wunsch, Unschuldige zu beschützen. Dieser Beschützerinstinkt entfachte eine Flamme tief in ihrem Inneren.
Fürsorglich legte sie einen Arm um Angelos dünne Schultern. „Angelo hat außerdem gesagt, dass Mr Bolden versprochen hat, ihn zu bezahlen, und das dann nicht getan hat. Und dass er nur das genommen hat, was dem Wert entsprach, den er ihm schuldete.“
James’ Aufmerksamkeit wanderte zwischen dem Jungen und dem Mann hin und her. „Bolden, kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor? Überlegen Sie es sich genau, bevor Sie antworten, denn ich habe vor, mir alles von Lyda Mullins bestätigen zu lassen.“
Boldens Kinn wurde hart. „Der Junge hat vielleicht das eine oder andere für mich gearbeitet. Aber ich musste ihn feuern. Er war faul und hat seine Arbeit nicht richtig gemacht. So sind sie alle. Erst letzte Woche habe ich Ihnen gesagt, als wir darüber diskutierten, wie …“
„Das reicht!“ James’ Tonfall war beherrscht, aber unerbittlich. „Gehen Sie in Ihren Laden zurück, Bolden. Ich komme gleich nach.“ Sein Blick wanderte über die Menschen, die sich versammelt hatten. „Und auch alle anderen sollten wieder an ihre Arbeit gehen.“
Bolden starrte zuerst lange den Jungen an und dann James, bevor er etwas vor sich hin murmelte und davonstapfte. Die Menschenansammlung begann, sich aufzulösen.
„Mrs Whitcomb.“ James seufzte frustriert. „Würden Sie Angelo bitte sagen, dass er morgen um zehn Uhr in mein Büro kommen soll, damit wir darüber sprechen, was heute hier passiert ist, und uns gemeinsam überlegen können, wie wir eine Arbeit für ihn finden. Sollte er auf die Idee kommen, nicht zu erscheinen, werde ich nach ihm suchen. Und ich werde ihn finden.“
Molly übersetzte seine Nachricht Wort für Wort.
Angelo nickte lebhaft. „Si, si. Grazie, signore, grazie. Ci sarò. Vi do la mia parola.“
„Er sagt, dass er kommt“, übersetzte Molly. „Und er gibt Ihnen sein Wort, Sheriff.“
Angelo hielt James das Brot und die Wurst hin, aber James schüttelte nur den Kopf und bedeutete ihm, die Sachen zu behalten. Der Junge neigte den Kopf in Mollys Richtung. „Lei e molto gentile, Signora … Whitcomb.“ Er sprach den Namen mit einer gewissen Unsicherheit aus.
Sie nickte. „Prego.“ Dann berührte sie ihn am Arm. „Con piacere!“ Sie schaute ihm nach, bis er an der Ecke ankam. Der Junge drehte sich zu ihr um, lächelte, und lief dann eilig weiter.
„Das war wirklich sehr beeindruckend, Molly“, sagte James leise.
Sie drehte sich um und sah, dass er sie beobachtete. Ebenso wie Rachel, die noch im Wagen saß. Eine unerwartete Freude, etwas Positives geleistet zu haben, regte sich in ihr. „Es freut mich, dass ich helfen konnte, aber so beeindruckend ist es auch wieder nicht. Ich habe einfach ein Ohr für Fremdsprachen. Das hatte ich schon immer.“
„Warst du schon einmal in Europa?“, fragte Rachel.
Diese Frage hatte man Molly schon oft gestellt, und jedes Mal wünschte sie, sie könnte eine andere Antwort darauf geben. „Nein. Das wurde mir natürlich empfohlen, aber …“ Sie zwang sich zu einem gleichgültigen Tonfall. „Ich hatte nie genügend Zeit, um eine so weite Reise zu unternehmen.“ Außerdem hatte sie auch nicht das nötige Geld dafür. Der Beruf ihres Vaters als Professor am Franklin College hatte sie Sparsamkeit gelehrt. Jeden Dollar hatten sie zweimal umdrehen müssen, bevor sie ihn ausgaben.
James verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein. „Und wie viele Sprachen beherrschst du?“
Molly freute sich über die Bewunderung in seiner Stimme. „Ich spreche Italienisch, Spanisch und Französisch. Diese Sprachen habe ich am College in Georgia unterrichtet. Portugiesisch und Rumänisch kann ich ziemlich gut lesen, aber ich spreche sie nicht fließend.“
„Das ist wirklich sehr enttäuschend.“ Er schnalzte mit der Zunge, und das Funkeln in seinen Augen erinnerte Molly an Kurt.
„Das ist ja ganz erstaunlich.“ Rachel schüttelte den Kopf. „Und du bist die Frau, die meine Jungen unterrichten wird. Apropos …“ Sie nahm die Zügel in die Hand. „Ich muss sehen, wo sie abgeblieben sind. Möchtest du mitfahren, Molly?“
„Wenn es dir recht ist, würde ich lieber zu Fuß gehen.“
„Ich begleite dich.“ James schaute zu seiner Schwester hoch. „Treffen wir uns dann dort?“
Sie nickte und löste die Bremse. Dann warf sie einen Blick in die Richtung, in der Bolden verschwunden war. „Sei vorsichtig, James“, flüsterte sie.
Er strich über ihre Stiefelspitze. „Ich bin immer vorsichtig, Rachel. Und mach dir wegen Bolden keine Sorgen. Er ist harmlos und macht nur viel Lärm um nichts.“
Rachel ließ die Zügel schnalzen, aber ihr Blick sagte, dass sie anderer Meinung war.
„Gehen wir, Mrs Whitcomb?“
Als sie die Förmlichkeit in seinem Tonfall hörte, erwartete Molly fast, dass er ihr seinen Arm anbieten würde. Aber das tat er nicht.
Sie ging neben ihm her und musste daran denken, wie er mit dem Finger über Rachels Stiefelspitze gefahren war. Es war eine so nette Geste. Sie bewunderte auch, wie er die Sache mit Angelo Giordano gehandhabt hatte. Aber ein zweifelnder Gedanke ließ ihr keine Ruhe. „Woher kannst du so sicher sein, dass Angelo morgen in deinem Büro auftaucht?“
James lächelte. „Mach dir keine Sorgen. Er wird da sein.“
Darauf sagte sie nichts, hoffte aber um Angelos willen, dass James recht behielt.
neuen Freunde
„Wenn ich mich hier auf der Straße umschaue“, sprach er weiter, „könnte ich dir einen Menschen nach dem anderen zeigen, der nach Timber Ridge gekommen ist, um hier neu anzufangen. Einige kamen, weil sie im Osten beruflich gescheitert waren oder weil ihr Leben durch den Krieg ruiniert worden war … Die Menschen kommen aus den verschiedensten Gründen in den Westen.“
Obwohl sie das für fast unmöglich gehalten hatte, wurde die Freundlichkeit in seinen Augen noch intensiver.
„Wenn du also deshalb hierhergekommen bist, Molly, weil du neu anfangen möchtest, bist du jedenfalls in bester Gesellschaft.“
Sie schluckte und war gleichzeitig erleichtert und verwirrt. Er wusste ja nicht, dass sie schwanger war. Aber er hatte wirklich einen Blick für die Menschen. Für sie. Das bedeutete, dass sie im Umgang mit ihm sehr vorsichtig würde sein müssen.
Nach einer Weile schlug ihr Herz wieder im normalen Rhythmus. Als auf der Straße ein Wagen an ihnen vorbeifuhr, führte James sie näher an den Gehweg heran. Sie war immer stolz darauf gewesen, dass sie offen aussprach, was sie dachte, aber die direkte Art dieses Mannes und die Ehrlichkeit und Sanftheit, mit der er die Wahrheit sagte, machten sie nervös. Gleichzeitig war das auch sehr reizvoll.
„Sind Sie immer so direkt, Sheriff?“
Er begann langsam zu lächeln. „Sie haben mir eine direkte Frage gestellt, Ma’am. Und ich mache es mir zur Regel, auf eine direkte Frage immer so ehrlich und freundlich zu antworten, wie ich kann.“
Er setzte seinen Weg fort. Molly ging wieder neben ihm her und dachte über diese selbst auferlegte Regel nach. Nie wieder würde sie James McPherson eine Frage stellen, wenn sie nicht wirklich eine ehrliche Antwort von ihm hören wollte.