Michael-André Werner (Hrsg.)
Frische Märchen extra fein
1. Auflage Oktober 2015
© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2015
www.satyr-verlag.de
Cover: Sarah Bosetti
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de
Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.
ISBN: 978-3-944035-63-5
Es war einmal ein Märchen, das lag einsam und allein in einer Schreibtischschublade und war ganz traurig, weil niemand es lesen wollte. Da kam eine gute Fee und sprach: »Du hast einen Wunsch frei.« Das Märchen sagte: »Ich wär’ so gern in dem Buch ›Frische Märchen extra fein‹ vom Satyr-Verlag.« Die Fee schwenkte lächelnd ihren Zauberstab, rief »Simsalabim«, und der Wunsch des kleinen Märchens ging in Erfüllung.
Das ist natürlich Quatsch!
Das war vielleicht vor fünfzig Jahren so, als es noch Schreibtischschubladen gab und sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller abends im Literaturcafé trafen. Heutzutage liegen diese Geschichten in Unterordnern auf Festplatten. Und Feen ... sprechen wir nicht von Feen.
Die Märchen in diesem Buch mussten nicht aus verklemmten Schubladen befreit werden, sie waren schon auf den Poetry- Slam- und Lesebühnen der Welt unterwegs – der deutschsprachigen Welt (inklusive Goethe-Institute). Sie wurden von vielen Menschen gehört. Nun sind sie in diesem kleinen Büchlein versammelt. Das ist schön, aber auch ein bisschen schade, denn eigentlich müsste man die Märchen hören. Denn sie wurden weitergegeben, wie es sich für ein anständiges Märchen gehört: mündlich. Also: Lesen Sie sie bitte laut. Auch unterwegs. Im Park. In der U-Bahn. Im Wartezimmer Ihres Zahnarztes.
»Aber es gibt doch schon so viele Märchenbücher!«, rufen Sie jetzt vielleicht entsetzt aus. »Die Grimms, der Musäus, der Andersen, Brecht, Hesse, Wondratschek!«
»Ja!«, rufe ich da freudig zurück – auch weil Sie so viele Dinge wissen. »Es gibt aber auch ganz viele Krimis und Liebesschnulzen.« Und jede Generation hat ihre Märchen. Kaum ein Schriftsteller, der nicht Märchen geschrieben hat. Das geht den Poetry- Slam- und Lesebühnen-Autorinnen und -Autoren nicht anders.
Und wenn es in den letzten Jahren einen Boom gab, dann einen Märchenboom. Jedes Märchen, das nicht bei drei hinter den sieben Bergen ist, wird von Hollywood verfilmt, manchmal gleich mehrmals: Schneewittchen, Aschenputtel, die Schneekönigin, die kleine Meerjungfrau, Jack und die Bohnenstange, die Shrek-Serie (voller Märchen), Hänsel und Gretel (jagen Hexen), die Brothers Grimm (jagen auch Hexen). Mein Lieblingsmärchenfilm ist ja Into the Woods nach dem Musical von Stephen Sondheim. Ja, da wird auch gesungen. Es ist ein Musical! Aber ich schweife ab. (Und vom Fernsehen fange ich gar nicht erst an.)
Was ich sagen will:
Machen Sie es sich gemütlich! Brauen Sie sich einen leckeren heißen Tee. Kuscheln Sie sich mit einer warmen Decke aufs Sofa. Im iPod läuft vielleicht gerade »Hänsel und Gretel« von Engelbert Humperdinck, auf dem Tisch brennt eine Duftkerze mit Zimtaroma.
Na dann …
Viel Spaß in der Märchenwelt!
Ihr Herausgeber
Schreiben! Ach ja, schreiben! Das muss man in Kaffeehäusern. So haben es schon die Alten gemacht. So hat es Gilgamesch gemacht, so haben es Moses, Konfuzius, Homer, Sokrates, Jesus, Mohammed, Luther, Karl Marx, Karl Kraus und Charlotte Roche gemacht. So würde ich es auch machen. Das war schon so ziemlich alles, was ich darüber wusste. Aber da ich nun mal unwiderruflich beschlossen hatte, Märchenerzähler beziehungsweise Schriftsteller zu werden, klammerte ich mich an diesen Strohhalm und suchte von Zeit zu Zeit eines dieser Etablissements in der näheren Umgebung auf. So auch an jenem denkwürdigen Tage. In einem Seitengässchen des Scheunenviertels stieß ich unversehens auf das Café Schwester Käsetraut. Dies dünkte mich ein seltsamer Name. Doch dafür war’s zu meinem Glücke leer wie gefeget. Ich begab mich in die hinterste Ecke und bestellte eine mit Sahne verfeinerte Melange, die zu servieren man sich hier erbot. Dazu eine gedrittelte Schorle aus süßem Quittensaft, bitterem Rhabarbersud und Gänsefurther Gänsewein. Die belebenden Mixturen kamen in dem Augenblicke daher, da ich mich anschickte, mein Notizbüchlein aufzuklappen. Ich nippte von der Schorle und schloss ob ihrer Köstlichkeit die Augen. Als ich meine Augen wieder öffnete, war es passiert. An meinen Tisch hatte sich ein Mann gesetzt. Ein fremder, aber zweifelsohne ein schöner. Eine Mischung vielleicht aus Armin Mueller-Stahl und Sean Connery. Ich mochte ihn sofort, obwohl mir augenblicklich klar war, dass ich nun nicht mehr zum Schreiben käme. Er bestellte eine sehr teure, alte Weinsorte, einen 64er Bordeaux Château Branaire-Ducru, der mit Sicherheit nicht vorrätig war. Aber anstandslos brachte die Kellnerin den Wein, hielt ihm die Flasche vor die Kennernase, und mit einem freundlichen Nicken forderte er sie auf, die Flasche zu öffnen. Als ich das leicht angestaubte Etikett erblickte, durchschauerte es mich. Es war tatsächlich ein echter Branaire-Ducru aus dem Weingut von Saint-Julien. Vorsichtshalber überflog ich heimlich die Weinkarte, aber ich hatte recht, diese Sorte war nicht verzeichnet. »Für Sie auch ein Gläschen?«, fragte er mich. »Ja, gern«, war alles, was ich sagen konnte. Er nickte der Kellnerin diskret zu, sie entfernte sich mit einem unmerklichen Augenzwinkern, und er schenkte uns selbst ein. Dann holte er ein goldenes Etui aus seiner Jackettinnentasche und bot mir von seinen Zigaretten an, auf deren Mundstück ein Wappen und – vermutlich – seine Initialen gedruckt waren. Leicht verwirrt nahm ich dankend an.
»Sie schreiben?«, begann er leise und nahm sein Glas in die Hand. »Bitte, trinken Sie, der Wein ist recht gut!«, fuhr er fort, als er mein Zögern bemerkte. Ich bin wahrlich kein Weinkenner, aber dieser Wein war wirklich gut. »Ja«, sprach ich nun meinerseits, »ab und zu schreibe ich Geschichten.« Er lachte ein schönes Lachen. Ich fasste etwas Mut und sagte: »Wer sind eigentlich Sie, wenn ich mal so fragen darf?« – »Sie dürfen, junger Mann, Sie dürfen. Aber Sie würden es nicht verstehen, wenn ich es Ihnen sagte. Sagen wir mal, ich bin ein Freund, von dem Sie nichts wissen, der aber dennoch existiert.« – »Ei, da schau her! Ein Monsignore Geheimnisvoll. Und nun?« Ich sah ihn ratlos an. »Und nun«, sagte er etwas gedehnt, »nun haben Sie mir das Stichwort schon geliefert. Weil ich Monsignore Geheimnisvoll bin, wie Sie es etwas salopp auszudrücken pflegten, werde ich Sie auch in ein Geheimnis einweihen. Kommen Sie bitte mit!« Er stand vom Tisch auf und schritt zum Ausgang. Ich eilte ihm nach. Draußen fuhr eine Limousine vor. Der Chauffeur sprang heraus und öffnete uns den Verschlag. Ich sollte zuerst einsteigen. Mein neuer Freund nahm mir gegenüber Platz.
Wieder bot er mir eine seiner erlesenen Zigaretten an. Ich versuchte, sein Monogramm zu entschlüsseln. Vermutlich waren es die Buchstaben M, G und E, aber genau sehen konnte ich’s nicht. Nachdem wir geraucht hatten, bremste der Fahrer sanft ab und brachte den Wagen zum Halten. Als wir ausstiegen, blendete mich die Sonne. Wir befanden uns auf einem großen Platz voller Menschen, die an Tischen saßen, die von riesigen Sonnenschirmen beschattet wurden. Eifrige Kellner brachten in einem fort Getränke auf großen Tabletts daher. Jedoch herrschte eine unglaubliche, ja nahezu unheimliche Stille. Wir setzten uns an einen der Tische in der Nähe der Treppe, die zu diesem Restaurant führte, aus dem endlose Scharen unermüdlicher Kellner zu den anscheinend ewig durstigen Gästen strömten. »Was machen die alle hier?«, fragte ich meinen Monsignore. »Schauen Sie einmal genau hin!«, forderte er mich auf. Ich beschattete meine Augen und sah auf die Menge. Huch! Was war das denn – in drei Bertrams Namen? Vor wirklich jedem Gast lagen Stapel von Papier, und alle hielten einen Gänsekiel in der Hand, den sie ab und an in ein offenbar nie versiegendes Tintenfässchen tauchten. »Was denn«, spöttelte ich, »etwa alles Schreiberlinge?« – »Hm, hm«, bestätigte er gutmütig brummend. »Und was ist nun das großartige Geheimnis?«, platzte ich etwas ungeduldig heraus. Er lächelte sein rätselhaftes Lächeln und sagte: »Schauen Sie noch einmal genau hin! Fällt Ihnen nichts auf?«
Ich kniff die Augen zusammen. Auweia, was machten die denn da? Immer wieder steckten die Leute ihre Finger in den Mund und saugten daran. Saugten, kauten, schluckten und schrieben. Manchmal spuckten sie auch in einen Behälter neben sich, der regelmäßig, so wie sonst die Aschenbecher, von den Kellnern geleert wurde. »Ja, mein Lieber«, sagte mein Gegenüber, »hier saugen sich die Schriftsteller der ganzen Welt und aus allen Epochen die Geschichten, Gedichte, Romane oder was auch immer aus den Fingern. Aber nicht nur sich selbst, schauen Sie nur, dort drüben!« Vier bärtige, zerlumpte, alte Männer hatten sich gerade an den Nachbartisch begeben und saugten kräftig aus den Fingern eines offensichtlich kokainsüchtigen und unter Wahnvorstellungen leidenden jungen Mannes. »Das da sind beispielsweise die vier Evangelisten, die gerade Sigmund Freud aussaugen«, erklärte mir mein Freund. »Hier saugt jeder bei jedem, was das Zeug hält. Hier gibt es keine Grenzen von Zeit und Raum. Aber man fängt normalerweise bei sich selbst an zu saugen, dann folgt eine wilde Zeit, und später kommen die meisten wieder auf ihre eigenen Finger zurück, jedoch nicht ohne endlose, exzessive Saugorgien zelebriert zu haben. Versuchen Sie es nur auch einmal, junger Freund!« Ich kam mir etwas lächerlich vor. »Das geht doch gar nicht!«, widersprach ich. »Doch«, sagte der Geheimnisvolle, »hier an diesem Ort geht es und kann es ein jeder.« Vorsichtig steckte ich den kleinen Finger zwischen die Lippen. »Nur zu, nur zu, saugen Sie!«, ermunterte er mich. O Gott, ich fühlte, wie der Finger hohl wurde wie eine Patronenhülse. Und dann kam etwas heraus. Ich kaute. Es schmeckte nach nichts. Ich schluckte. Es war ein Substantiv, es war das Wort »Brunnen«. Ich schob jetzt Ring-, Mittel- und Zeigefinger in den Mund und saugte stärker. Einen ganzen Satz saugte ich mir aus den Fingern: »Ein jeder trinke aus seinem eigenen Brunnen.« Ich war verblüfft. »Und so«, fragte ich, völlig aus der Fassung geraten, »schreiben die Literaten aller Länder und aller Zeiten ihre Werke?« Er nickte und stand auf. »Ich lasse Sie jetzt ein bisschen allein. Saugen Sie sich ordentlich was aus den Fingern. Ich hole Sie später wieder ab, wenn die Sonne untergegangen ist.« Er winkte einem Kellner, der augenblicklich eine Flasche Wein brachte. Einen 64er Bordeaux Château Branaire-Ducru. Soso, dachte ich, irgendwie hängt doch alles im Leben zusammen. Nur wie es zusammenhängt, das kriegt man leider nicht immer raus. »Das stimmt«, sagte der Mann, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Aber nun versuchen Sie mal, was aus ihren Fingern herauszukriegen. Und trinken Sie ordentlich Wein dazu, denn nicht alles, was man sich so raussaugt, lässt sich auch verdauen. Und scheuen Sie sich nicht«, fügte er noch hinzu, »Unbrauchbares in den Kübel zu spucken, das macht hier jeder so.« Dann ging er. Eine Weile saß ich sprachlos da. Und plötzlich kam es über mich. Ich begann zu saugen wie ein Irrer. Aus jedem Finger kam etwas anderes heraus. Mit einem Mal hatte ich auch einen Stapel leerer Blätter vor mir, und ein Kellner brachte mir Feder und Tinte. Ich schrieb, als ritte mich der Lollemann. Die Stunden vergingen wie im Flug. Langsam machte sich die Sonne auf den Heimweg. Als ich kurz aufblickte, bemerkte ich, wie sich zwei verwegene Gestalten auf mich zubewegten. »Verzeihen Sie, mein Herr, ist bei Ihnen noch etwas frei?«, frug mich der erste. »Aber bitte, setzen Sie sich doch!«, freute ich mich über meine erste Bekanntschaft. »Sie sind neu hier?«, hub nun der andere an, der übel roch. Der erste griff nach meiner Hand. »Sie haben ausnehmend schöne Hände«, versuchte er, mir zu schmeicheln, und wollte meine Hand an seinen Mund führen. Angewidert zog ich sie zurück. »Es wird Zeit zu gehen, junger Freund!«, sagte unvermittelt eine liebevolle, aber starke Stimme hinter mir. Erschrocken sprangen die beiden Story-Schnorrer auf. Sich den Geifer von den Lippen wischend, suchten sie das Weite und verschwanden hurtig in der Menge. Mein geheimnisvoller Freund schien hier eine gewisse Autorität zu genießen. »Das eben waren übrigens die Gebrüder Grimm, raffgierige Fremdsauger der übelsten Sorte«, sagte er schmunzelnd und geleitete mich zum Wagen. Schweigend fuhren wir zurück. Ich bemerkte, dass man aus dem Wagen nicht hinausschauen konnte. Und zu spät bemerkte ich, dass ich sämtliche Aufzeichnungen zurückgelassen hatte. Als er mich an dem Ort unserer Begegnung aus dem Wagen steigen ließ, sagte er mit seiner warmherzigen Stimme noch: »Ich habe dir nicht gezeigt, wie du an diesen geheimnisvollen Ort gelangen kannst, aber ich habe dir gezeigt, dass es ihn gibt. Versuche nun selbst, den Weg dorthin zu finden!« Durchs offene Fenster reichte er mir noch eine letzte von seinen edlen Zigaretten. Erst jetzt fiel mir auf, dass die drei auf der Zigarette aufgedruckten Buchstaben – M G E – meine eigenen Initialen waren …
Es war einmal eine Verliebte, die lebte in einem schönen Haus. Das Haus hatte einen Garten und ein Fenster und eine Hundehütte vor dem Haus. Dort lebte ein schöner Hund, der auf den Namen Hundi hörte. Hundi aß am liebsten Austern, aber weil die so teuer waren, kriegte er immer bloß Hundefutter. Deshalb wurde er depressiv und knurrte kaum noch. Eines Tages kam ein Verbrecher an dem schönen Haus vorbei und beschloss zu diebstehlen. Er stülpte sich eine Maske über, eine Manuel-Neuer-Maske, und kletterte in einem Satz über den Stacheldrahtzaun. Er war Parkour-Weltmeister, deshalb bereitete ihm das keinerlei Schwierigkeiten. Der Hund sperrte zwar ein Auge auf, aber es war ihm scheißegal. »Einbrecher, na und? Wenn man jeden Morgen und jeden Abend denselben widerlichen Fraß vorgesetzt bekam? Das hatte sie nun davon, die doofe Verliebte.« Hundi war stinkig, er hatte mit seinem Leben als Wachhund endgültig abgeschlossen.
Der Verbrecher dagegen hüpfte, wie er das in der Verbrecherschule gelernt hatte, mucksmäuschenleise durch den Garten, auf das schöne Haus zu. Er klimmte mit einem einzigen Klimmzug, er war Parkour-Weltmeister, zu dem Fenster heran und hielt dort mit der Zunge sich fest. Gleichzeitig, mit beiden Händen, durchwühlte er sämtliche Manteltaschen nach Zigaretten und Feuerzeug. Der Einbrecher, wir verraten noch nicht, wer es ist, das wird erst am Schluss verraten – ein Trick, wegen Spannung, er war nicht nur Parkour-Weltmeister, sondern auch starker Raucher, genetisch bedingt, er stammte von seiner Mutter ab. Er nestelte eine Zichte aus der Packung, steckte sie an und paffte sie weg, durch die Nase, denn mit der Zunge musste er sich ja festhalten. Dann wagte er einen Blick. Aha! Im schönen Haus war alles aus Gold. Das war gut, denn Gold war wertvoll. Auf dem Schwarzmarkt bekam man dafür alles Mögliche. Aber was war das? An der Wand hing ein Bild. Ein bibabuntes Bild von Neo Rauch und daneben noch eines von Werner Tübke. Das war ja fast noch besser. Konnte das wahr sein? Waren die echt? Ja, denn jetzt erkannte der Einbrecher die Unterschriften darunter, von den Künstlern selber signiert. Das war ja heute ein formidabler Glückstag, direkt. Das war ja wie Weihnachten und Ostern auf einen Tag. Der Halunke nahm eine Glassäge und sägte damit ein kleines Loch in das Fenster, durch welches er erst seinen Kopf und dann seinen Körper schob, er war Parkour-Weltmeister, ein Kinderspiel. Er konnte tief einatmen und flach ausatmen und dadurch dünn werden wie ein Aal, auch am Kopf. Durch Muskelkontraktionen. Da ziehen sich Muskeln so nach innen, bauen einen Unterdruck auf, welcher das Fett ansaugt und selbst Knochen für Minutenbruchteile kohärieren lässt, findet mittlerweile in der Autoindustrie Anwendung und beim Militär.
Die Verliebte derweil kochte. Einen Auflauf, mit Käse, in der Küche, in der schönen Küche! Da gab es wirklich alles. Einen Insulinherd mit sechs Flammen, japanische Messer, sowjetische Löffel, eine vollautomatische Trockenhaube, ein siebenstrahliges Sieb, neonbeschichtete Mixer mit neun Komponenten, Molekülstrahler, sie war einfach perfekt, die Küche. Außer dass es ein bisschen stank. Das lag daran, dass sich im Umluftabzugsrohr eine Katze verkeilt hatte und die riechen nun mal, wenn sie verwesen, das ist vollkommen natürlich. Da musste mal ein Handwerker kommen, bei Gelegenheit. Ansonsten aber war die Küche ein Sinnenschmaus, und die Verliebte pfiff beim Kochen, wie Verliebte eben pfeifen, hörte dadurch aber nicht, wie der Verbrecher in Windeseile alles Gold wegnahm, in einen Sack stopfte und auch die Originalbilder von Tübke und Rauch, den Erbschmuck, die Designermöbel, Familienfotos ..., und zum Schluss riss er sogar noch die Kabel aus der Wand, Kupfer, das brachte ordentlich was ein, beim Altmetallhändler. Oh je!
Als die Verliebte ins Wohnzimmer trat, kriegte sie einen Heidenschreck. »Ja, wie sieht es denn hier aus?! Alles in Unordnung! Hundi!« Sie rief nach dem Hund. Der aber hatte keine Lust zu kommen. Er war immer noch beleidigt, außerdem hatte er Flöhe, trotz Flohhalsband.
Der Verbrecher hatte den Tatort natürlich längst verlassen. Er war aus dem Wohnzimmer, durch die Diele, durch den Flur, durch die Wohnungstür, durch die Garteneingangs- oder -ausgangspforte durch weggerannt. Dann nach rechts, die Landstraße runter, an der Kreuzung über die Bahnschienen, durch einen Tunnel, Brücke, Karree, und dann war er flussabwärts geschwommen, damit man seine Fußabdrücke nicht würde erkennen können, eine äußerst schwierige Aufgabe, diffizil, für jeden Kommissar.
Tatü-Tata. Da war sie auch schon, die Polizei. Sie war gerufen worden von der Verliebten. Telefon. Ermittlungshauptkommissar Dr. Bernd Gabelstapler begutachtete zuallererst die Umgebung des Geschehens. Waren eventuelle Fetzen von Kleidungsstücken hängen geblieben? Nein. Sonstiges? Nein. Also, außer Fußspuren, aber die konnten von jedem stammen, es gab schließlich noch mehr Menschen auf der Erde als den Täter. Ja, meine Güte, so kam man definitiv nicht weiter! Der Kommissar musste sich etwas verwöhnen lassen. Er aß vom Auflauf, trank vom Tee, ein Tässchen. Dann schilderte die Verliebte den Tathergang, also das, was sie nicht gesehen hatte. Der Kommissar bedankte sich und versprach, die Augen offen zu halten, sollte ihm noch was einfallen, würde er sich melden. Schnell noch einen Witz, wegen der Unordnung, Tatü-Tata.
Keine zehn Jahre später lebt unser Verbrecher nun als ehrenwerter Mann selber in einem schönen Haus. Der Verliebten geht es auch gut, sie ist ja verliebt, da spielt es keine Rolle, wie viel man besitzt. Ermittlungshauptkommissar Dr. Bernd Gabelstapler ermittelt inzwischen als Generalermittlungshauptkommissar und hat weiterhin viel zu tun, und Hundi muss kein Hundefutter mehr mampfen, er ist tot.
Ach, der Täter heißt übrigens ebenfalls Bernd, allerdings Brehm mit Nachnamen, wie sein berühmter Namensvetter Alfred, und er hat tatsächlich aufgehört zu rauchen. Glückwunsch!
Ein Bauer hatte drei Söhne. Der Älteste war faul, der Zweitgeborene missgünstig und der Jüngste zuvorkommend, bedacht und von edlem Gemüt. Die Menschen nannten ihn nur den gutmütigen Hans. Eines Tages klagte der Bauer über eine schlechte Ernte und trug seinen Söhnen auf, in die Welt hinauszuziehen, um dort ihr Glück zu machen. Die beiden älteren Brüder nahmen gleich das erstbeste Angebot an und arbeiteten für ein niedriges Gehalt bei einem Internetdienstleister. Hans aber wanderte einige Tage bis in die nächste Stadt. Er hatte vom Vater etwas Geld erhalten, so entschied er sich, erst einmal das urbane Leben zu erkunden.
Er kaufte sich ein Tagesticket für den öffentlichen Personennahverkehr und setzte sich in eine U-Bahn. Ihm gegenüber saß ein kleines Männchen. Das Männchen sagte: »Ei, du wirkst so freundlich und aufgeschlossen. Kommst du nicht aus der Stadt?«
»Nein«, sagte Hans. »Ich stamme von einem Bauernhof und möchte versuchen, hier Fuß zu fassen.«
»Wenn du möchtest, kann ich dir behilflich sein, dich zurechtzufinden.«
»Großartig!«, freute sich Hans und lachte unbeschwert.
»Zunächst brauchst du ein Smartphone. Denn du musst wissen, dass man hier beinahe ausschließlich mit jenen Geräten kommuniziert.«
»Oh, woher bekomme ich denn ein solches?«
»Ich habe zufällig eines und verkaufe es dir gern. Es ist ein älteres Modell, daher überlasse ich es dir für fünfzig Euro samt aktiver SIM-Card, cooler Telefonnummer und einem Gesprächsguthaben von zehn Euro.«
»Abgemacht. Der Handel gilt!« Das Männchen überreichte Hans das Gerät, Hans gab dem Männchen einen Fünfzigeuroschein.
»Blick dich einmal um«, empfahl das Männlein. Hans blickte sich um. Es war erstaunlich. Alle Umsitzenden hielten ein Smartphone in der Hand und starrten wie besessen darauf. »Das musst du auch tun. Suche dir flüchtige Bekannte, biete ihnen das Du an, und tausche mit ihnen Telefonnummern aus. Diese Menschen heißen in unserer Welt Freunde. Verbinde dich mit ihnen in sozialen Netzwerken, ich zeige dir später, wie so etwas funktioniert. Dann beschäftige dich, sooft es geht, mit diesen neuen Menschen. Du wirst innerhalb kürzester Zeit belanglose Nachrichten von ihnen erhalten, auf die du, so schnell es geht, antwortest. Immer wenn du eine Nachricht erhältst, fühlst du dich menschlich aufgewertet, geachtet und geliebt. Du wirst rasch das Bedürfnis entwickeln, öfter und intensiver Nachrichten zu verschicken. Irgendwann wirst du nicht nur bei Fahrten in Nahverkehrszügen, sondern auch bei allen anderen Gelegenheiten jenen Nachrichtenaustausch vollziehen: im Gehen, auf der Toilette, beim Essen, während Gesprächen mit anderen, einfach immer wenn dir danach ist. Es muss dir auch gleichgültig sein, ob dir gerade jemand etwas Vertrauliches erzählt oder du dich beim Liebesspiel befindest: Was auch geschieht, jene Nachrichten haben immer Vorrang und oberste Priorität.«
»Das ist ja schrecklich, dann finden ja kaum noch echte Gespräche statt«, sorgte sich Hans.
»Keine Sorge«, beruhigte ihn das Männchen. »Man spricht schon noch miteinander, nur auf einer anderen Ebene.«
»Ich verstehe das nicht.«
»Egal, komm, wir steigen hier aus, ich zeige dir noch weitere wichtige Verhaltensregeln.«
Sie stiegen an einer belebten Haltestelle aus, und Hans machte sofort den hinter ihm Aussteigenden Platz.
»Das ist falsch«, klärte ihn das Männchen auf. »Du darfst nur einen kleinen Schritt von der U-Bahn auf den Bahnsteig tun. Dann bleibst du stehen und orientierst dich nach links und rechts. Die Leute hinter dir müssen dadurch beim Aussteigen behindert werden. Auch auf Rolltreppen solltest du darauf achten, niemanden vorbeizulassen, jedenfalls nicht ohne Umstände. Das Leben in der Stadt ist geprägt von Einfalt, Egomanie und Ignoranz. Die Menschen nennen es Selbstbewusstsein.«
»Ich finde das alles ganz unangenehm und furchtbar«, sagte Hans und sah verstört drein.
»Es ist der Preis für das Stadtleben, anders kommst du nicht durch«, sagte das Männchen leise. »Aber warte, ich habe nicht mehr viel Zeit und möchte dir noch ein paar Richtlinien aufzeigen. Beispielsweise dein äußeres Erscheinungsbild: Du bist viel zu neutral gekleidet. Du brauchst ein sportliches Aussehen und Hosen, die oben weit und unten sehr eng sind. Außerdem solltest du dir einen Vollbart wachsen lassen, das machen alle modernen Männer so. Den Rest des Körpers musst du von sämtlichen Haaren befreien, am besten funktioniert das in einem Waxingstudio. Dann gibt es ein paar wichtige Wörter, die du, sooft es geht, verwenden sollst. Es handelt sich um folgende Begriffe: gechillt, brutal und nice. Ersteres sagst du, wenn eine Situation in irgendeiner Art harmonisch oder angenehm auf dich wirkt. Wenn du in einem Wirtshaus Bier getrunken hast, ein sexuelles Erlebnis hattest oder einem Konzert, Film, Theaterstück oder ähnlichem beiwohntest, sagst du, um die damit verbundene Emotion zu verstärken, einfach: brutal. Ohne weitere Zusätze. Und um dein Einverständnis oder Anerkennung einer Sache zu bekunden, sagst du das englische Wort nice.Regisseursch