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Übersetzung aus dem dem Französischen von Antoinette Gittinger
Mit 33 farbigen Fotos, 14 Illustrationen und einer Karte
Die französische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Avec mes chiens« bei XO Éditions, Paris.
ISBN 978-3-492-97183-6
November 2015
© XO Éditions 2014. All rights reserved
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München / Berlin 2015
Redaktion: Renate Dörner, München
Karte: N. Gilles/Désigne.fr
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
Alle Fotos: © Nicolas Vanier/Taïga; mit Ausnahme der Fotos 11, 18 und 33 im Bildteil: © Philippe Petit/Paris Match
Zeichnungen im Anhang: Camille de Besombes/www.tomate-et-risson.com
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de
Covermotiv: Philippe Petit/Paris Match
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Gewiss kennen auch Sie das Phänomen, dass mehrere Menschen, die das Gleiche erlebt haben, unterschiedliche Versionen des Geschehens berichten. Es handelt sich dann nicht mehr um eine Geschichte, sondern um mehrere, manchmal deutlich voneinander abweichende, ja widersprüchliche Erzählungen, denn das Erlebte wird vom Prisma der individuellen Gefühle geprägt.
Jene Menschen, die mich bei dieser Odyssee begleitet und die mir geholfen haben, sie überhaupt in Angriff zu nehmen und erfolgreich zu beenden, mögen mir verzeihen, dass ich sie in diesem Bericht nur beiläufig erwähnt habe. Denn die Geschichten von Pierre und Arnaud, die mit der gesamten Logistik betraut waren, oder von Fabien und Alain, die sich um die Auswahl und Vorbereitung der Reiserouten kümmerten, haben wenig mit dem zu tun, was ich mit meinen Hunden erlebt habe.
In meinem Buch »Die weiße Odyssee« ließ ich einen meiner Reisegefährten über die Überquerung der Rocky Mountains im Schneemobil berichten, obwohl ich mit meinen Hunden ganz woanders war. Diese Darstellungsweise habe ich hier nicht wiederholt. Ich hätte punktuell durchaus hier und da die Abenteuer und Missgeschicke von Alain, von Pierre, von Arnaud oder von Fabien wiedergeben können, wie ich es in »Meine sibirische Odyssee« getan habe, aber der Bericht bliebe in jeder Hinsicht unvollständig, der Erzählfluss gestört.
Also habe ich dieses Mal beschlossen, nur über meine eigenen Erlebnisse, nur über das Abenteuer zu berichten, das ich gern mit Ihnen teilen möchte und das ich wieder nacherleben will, während ich diese Zeilen schreibe – das Abenteuer, das ich mit meinen Hunden erlebte.
Dies beeinträchtigt keineswegs den Beitrag meiner Reisegefährten (zu denen auch Manu und Damien, die Filmemacher, gehören). Ohne sie hätte diese wilde Odyssee nicht geplant und erfolgreich zu Ende geführt werden können. Ich danke ihnen hier von ganzem Herzen.
»Bleibt ruhig, meine Hunde, gleich geht’s los!«
Es sind zehn. Sie sind paarweise angeschirrt, bewegen sich unruhig, bellen, drücken auf alle mögliche Art und Weise ihre Ungeduld aus, endlich aufzubrechen. Sie wissen, dass es jetzt nicht um ein weiteres Training geht. Sie spüren es. Sie sehen es.
Neben dem ungewohnten Gewicht des Schlittens ist es meine eigene Erregung, die die Hunde besser als sonst jemand spüren. Und diese Versammlung von etwa dreißig Personen, die unseren Aufbruch miterleben wollen, denn in diesem kleinen sibirischen Dorf Datta, das verlassen am Pazifischen Ozean liegt, ist selten etwas los.
Alle Zeichen deuten darauf hin: Etwas Ungewöhnliches ist im Gange.
Die Hunde sind dermaßen aufgeregt, dass einige, wie zum Beispiel Dark und Wolf, in die Leinen beißen, um sich von den Fesseln, die sie zurückhalten, zu befreien. Sie können es nicht mehr erwarten.
»Dark! Wolf!«
Ertappt betrachten mich die zwei schlauen Burschen, als wollten sie sagen: »Ist ja gut! Wir bleiben ja stehen, aber wann geht’s endlich los?«
Ich streichle sie und versuche, ihre Erregtheit zu dämpfen. Vergeblich ... Ich weiß genau, wenn sie erst mal angeschirrt und bereit sind, kann nur noch der Startbefehl sie beruhigen. Dann haben sie nur eines im Sinn: laufen.
Ich gehe das Gespann entlang, bis ich bei Burka, der Leithündin, angelangt bin: Sie ist die Einzige, die etwas Zurückhaltung an den Tag legt und nicht in die Luft springt. Sie beobachtet mich, studiert mein Verhalten, taxiert mich. Sie verfolgt aufmerksam jede meiner Gesten, deren Bedeutungen sie kennt. Sie weiß, solange ich meine Position hinter dem Schlitten nicht eingenommen habe, passiert gar nichts. Gerne würde sie es den anderen erklären, aber sie wollen anscheinend nichts davon wissen, was ihre etwas verdrossene Miene verrät, ein kleines bisschen herablassend, aber trotzdem wohlwollend. Schließlich sind es ja noch unreife Burschen!
Geradezu andächtig betrachte ich den Pazifischen Ozean, um mir für immer dieses symbolische Bild einzuprägen, den Ausgangspunkt dieses etwas verrückten Projekts, das ich erfolgreich in die Wege geleitet habe: diese wilde Odyssee vom größten Ozean bis zum größten See der Welt, 6000 Kilometer durch Sibirien, die Mandschurei, Nordchina und die Mongolei.
»Liebe Burka, ahnst du, was da auf uns zukommt?«
Sie sieht mich mit einem Blick voller Liebe an, als wolle sie mir sagen, dass sie mir vertraue, auch wenn sie nicht genau verstehe, was ich sage, und dass sie dorthin laufen werde, wohin immer ich will.
»Ich zähle auf dich, meine Schöne. Ich werde verdammt angewiesen sein auf dich.«
Ich umarme sie. Sie zwinkert vor Vergnügen mit den Augen. Neben ihr steht die eifersüchtige Quest, die ich mit ihr zusammengespannt habe, und versucht, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich komme mit meinem Gesicht ganz nah an ihre Nase und flüstere ihr behutsam zu: »Ich verlasse mich auch auf dich, meine liebe Quest.«
Ich tätschele sie liebevoll, was sie kokett entgegennimmt; dabei bewegt sie ihr Hinterteil hin und her, wie nur sie es kann. Ich gehe das Gespann ab, bis ich bei den beiden Brüdern Happy und Kali bin, den jüngsten Mitgliedern in meiner Rasselbande.
Dann kommt Kamik, der Prügelknabe der Meute, den ich mit Kazan zusammengeschirrt habe, ebenfalls ein treuer Hund, der es kaum noch aushalten kann und vor Ungeduld mehr seufzt als bellt.
Es folgt Unik, das Arbeitstier, der mit Miwook ein Paar bildet, auch er ein unermüdlicher Läufer, dessen Statur an einen Marathonläufer erinnert.
Je mehr ich mich dem Schlitten nähere, desto hysterischer reagieren die Hunde, genau wie Dark, der es kaum noch aushält und vor Aufregung ein Geheul anstimmt. Auch Wolf, der Leithund, ist nicht mehr zu halten und vollführt beeindruckende Vorwärtssprünge, um den Schlitten in Bewegung zu setzen. Aber der wird solide von einem Schneeanker festgehalten, der mit einer Leine mit dem Schlitten verbunden ist (siehe Anhang). Aber auch wenn sie noch so stabil ist, wird diese Leine schließlich reißen, wenn ich nicht bald das Signal zum Aufbruch gebe. Und beim Start werde ich nicht einen Schlitten zu kontrollieren haben, sondern eine Rakete.
Die ersten Kilometer werden über ein schwieriges Gelände voller Hindernisse führen: Felsen, verdorrte Baumstämme und Eis. Das wird nicht einfach. Um vom Ozean wegzukommen, habe ich nichts Besseres als dieses chaotische Gelände gefunden. Ich bedauere es jetzt, aber es ist zu spät ... Schließlich werde ich auf den 6000 Kilometern zum Baikalsee noch mit ganz anderen Hindernissen rechnen müssen.
Ist das schon eine Vorahnung?
Als ich Platz nehme, die beiden Füße fest auf die Kufen des Schlittens gestemmt, dreht sich lediglich Burka um und wartet auf meinen Befehl. Die Hunde hämmern in einer Art Massenhysterie mit ihren Pfoten auf den gefrorenen Boden ein. Mein Herzschlag beschleunigt sich ruckartig und vermischt sich im rhythmischen Einklang mit dem Getrampel der Hunde, das in meinen Schläfen dröhnt. Ein Gefühl, das immer stärker wird, noch intensiviert durch den Stress, den ein solcher Aufbruch immer mit sich bringt.
Ich ziehe an der Zugleine und rufe aufmunternd: »Los, meine Hunde! Los geht’s!«
Als ich diese Worte ausspreche, höre ich in meiner Stimme deutlich wahrnehmbar diese seltsame Mischung aus Erregung, Glücksgefühl und Angst ... Ich weiß, es wird ein harter Tag werden, zumindest der erste Teil.
Die Hunde gehen ab wie Geschosse. Nur am Rande vernehme ich die fröhlichen Rufe der kleinen Zuschauergruppe, die unseren Start verfolgt. Geschmeidig und leicht gebeugt, einen Fuß auf der Bremse, um das Vorderteil meines Schlittens zu lenken, konzentriere ich mich auf eine erste Kurve, der gleich eine zweite folgt. Nur knapp kann ich einem großen Baumstumpf ausweichen, als wir auf eine Piste wechseln, die von vereisten Steinen ramponiert ist. Burka beherrscht die Richtungsbefehle perfekt: »djee«, um nach rechts zu schwenken, und »yap«, um nach links zu laufen.
»Djee! Ja, das ist gut, Burka. Und jetzt yap!«
Burka führt meinen Befehl mit Bravour aus, ist sich gewiss der Gefährlichkeit dieser Stelle bewusst. Wir behalten ein schnelles Tempo bei; es gelingt mir nicht, das Gespann zu verlangsamen, weil meine Bremse in dieser eisglatten Schneeschicht nicht richtig greift. Der Schlitten dreht sich über eine Kufe, gerät auf dem Eis ins Schleudern und stößt in dem Augenblick gegen einen Stein, als die Hunde eine weitere Kurve in Angriff nehmen, wodurch wie durch ein Wunder mein Gleichgewicht wiederhergestellt wird und ich gerade noch einen bösen Sturz vermeiden kann.
Ich meistere noch zwei etwas enge Biegungen und kann endlich durchatmen, da wir auf eine lange gerade, leicht ansteigende Piste geraten, die die Hunde so leichtfüßig meistern, als handele es sich um einen abschüssigen Hang. Sie rennen erst wieder langsamer, als wir das blanke Eis des Flusses Tumnin vor uns sehen, auf dem wir nun über zwanzig Kilometer dahingleiten werden, bevor wir unsere Fahrt in Richtung Berge fortsetzen.
Ursprünglich plante ich, eine längere Strecke auf dem gefrorenen Flussbett zurückzulegen, aber bei der unvorhersehbar geringen Kälte in diesem Ausnahmewinter 2013/2014 würde das Weiterfahren auf diesem Fluss, wie auf vielen anderen, äußerst gefährlich werden. Es wäre geradezu selbstmörderisch, auf einer nur leicht gefrorenen Oberfläche mit eisfreien Bereichen oder auf einer zu dünnen Eisschicht zu fahren.
Es steht also außer Frage, dem Flussbett des Tumnin nur über die vorgesehenen ersten zwanzig Kilometer zu folgen, die von einem Pistenmacher gespurt sind. Er hat hier die Abschnitte ausfindig gemacht, in denen wegen geringer Strömung das Eis eine dickere Schicht bildet. Dieser Fluss fließt nämlich sanft bis zur Mündung, einem Bereich, den ich sorgfältig vermieden habe, denn das Eis ist dort eine Mischung aus Süß- und Salzwasser und voller Tücken. Es ist besser, sich auf festem Boden zu bewegen, selbst bei einer unebenen Piste.
Das blanke Eis wechselt mit Abschnitten ab, wo eine ganz dünne Schneeschicht diesen bläulichen Spiegel überdeckt. Die Hunde fühlen sich auf dieser rutschigen Oberfläche nicht wohl. Sie drosseln ihren Rhythmus, beschleunigen ihn aber erneut, wenn sie wieder etwas Haftung finden.
Ich bin genauso beunruhigt wie sie und werfe häufig einen Blick auf diese dünne Eisschicht, auf der wir uns halten – zumindest im Augenblick. Ich hasse es, einen so zweifelhaften Sicherheitsspielraum zu haben, denn wir sind schwer beladen mit über hundert Kilo Ausrüstung auf dem Schlitten. Hinzu kommt mein Gewicht, ungefähr neunzig Kilo, wovon allein die Kleidung fünfzehn Kilo wiegt.
Die Hunde spüren diese Unsicherheit und gehorchen widerwillig, versuchen ständig, zum Ufer zu drängen, das jedoch von Vegetation überwuchert ist. Je mehr wir uns den Uferböschungen nähern, desto deutlicher steigt das Risiko, in eisfreie Zonen zu gelangen, da die Strömung hier häufig stärker ist. Das Eis, das sich an diesen Stellen erst später gebildet hat, ist entsprechend brüchiger.
»Neiiin, Burka! Djee! Djee!«
Sie sträubt sich, auf dieser Piste zu laufen, die wir immer wieder verlieren, insbesondere in den vereisten Bereichen, wo das Schneemobil des Pistenspurers keinerlei Fährten hinterlassen hat. Auch die anderen Hunde kommen ins Rutschen und versuchen, den Schlitten in eine andere Richtung zu lenken, würden ihn am liebsten auf festen Boden ziehen.
Zu dieser allgemeinen Verwirrung kommt noch das Risiko, nicht die sichersten Zonen wählen zu können, weil die Hunde schlecht gehorchen. Ich kann es ihnen aber nicht übel nehmen. Sie wurden von klein an im Vercors trainiert und sehen jetzt zum ersten Mal in ihrem Leben einen zugefrorenen Fluss. Auch wenn mein Freund Fabien seit Anfang November mit den Hunden hier war, während ich in Frankreich mit der Promotion für den Film »Belle & Sebastian« beschäftigt war, konnte er sie nicht an diese neue Oberfläche gewöhnen. Der Fluss war erst in den letzten Tagen befahrbar geworden dank der Wintertemperaturen, die endlich Mitte Dezember herrschten.
Ich wechsle zwischen Aufmunterungen und streng wiederholten Befehlen, um die zunehmende Panik der Hunde im Keim zu ersticken, wenn sie beim Laufen das unheilvolle Knacken des Eises hören.
»Ihr schafft das, meine Kerle! Los, Burka! Ja, Quest ...«
Quest dreht sich einen Sekundenbruchteil nach mir um, um mir zu signalisieren, dass sie es mag, wenn ich mich um sie kümmere und nicht nur ihre Rivalin antreibe, ein Detail, auf das ich achten muss. Der Zusammenhalt der Meute hängt auch von dieser Art kleiner, vermeidbarer Versäumnisse ab und von Aufmunterungen, die ich gerecht verteilen muss. Kein Hund ist wichtiger als der andere, und alle brauchen Wertschätzung.
»Gut gemacht, Dark! Gut gemacht, Unik!«
Und so gehe ich sie der Reihe nach durch. Einer nach dem anderen reagiert auf meinen Zuruf und zeigt auf die eine oder andere Art seine Zufriedenheit.
Nach einigen riskanten Kilometern gelangen wir schließlich zu fast stehendem Wasser, wo die Eisschicht dicker ist und außerdem bedeckt mit einer leichten Schneeschicht, auf der die Pfoten der Hunde Halt finden. Mit Begeisterung fallen sie in gestreckten Galopp, und ich lasse sie gewähren, bin froh, dass sie sich freuen, auf einer schönen weißen Oberfläche zu laufen.
Endlich kann ich ein paar Augenblicke lang das unbändige Vergnügen, zu dieser großen Reise aufgebrochen zu sein, genießen. Ich habe mir einen Traum erfüllt, der mich schon seit einer Ewigkeit verfolgte und meinen ganzen Einsatz forderte, um alle bürokratischen, finanziellen und logistischen Fragen zu lösen. Pierre und Arnaud, zwei getreue Freunde, haben mir dabei tatkräftig geholfen. Letzten Winter unternahmen sie eine lange Erkundungsreise, um eine Route und Dörfer auf den jeweiligen Streckenabschnitten auszumachen, wo unter anderem die Nahrung für die Hunde beschafft werden konnte. Dieser Winteranfang 2013, der, einmalig in diesem Jahrhundert, wegen seines Mangels an Kälte und Schnee eine Ausnahme bildet, hat uns dazu veranlasst, unsere Pläne neu zu überdenken. Wir hatten uns vorgestellt, wir könnten den zugefrorenen Flüssen und Strömen folgen, die im Winter die natürlichen Reiserouten bilden. Am Ende entschied ich, sie zu meiden und auf festem Boden zu reisen, durch die Taiga und die Berge, wo es selten geeignete Wege für die Hunde gibt. Zum Glück haben Pierre und Arnaud für diesen ersten Streckenabschnitt eine Piste ausfindig gemacht, die von einem einheimischen Jäger namens Nikolai benutzt wird, den ich später in den Bergen kennenlernen werde.
Diese aus mehreren Tagen bestehende Strecke soll mich durch die Berge führen, bis zu einem kleinen Dorf am Rande der Bahnlinie Baikal-Amur-Magistrale (BAM). Diese Linie wurde von den Sowjets als strategisch wichtige alternative Reiseroute zur Transsibirischen Eisenbahn gebaut, die wegen ihrer Nähe zur chinesischen Grenze als besonders kritisch angesehen wird. Pierre und Arnaud sind weiterhin dabei, einen anderen Weg zu suchen, wobei sie wahrscheinlich Waldstrecken wählen werden, welche die Dörfer, die sich entlang dieser Eisenbahnlinie befinden, miteinander verbinden. Alain und Fabien, die wir im Gruppenjargon unserer Expedition als »Pistenmacher« bezeichnen, werden sich darum kümmern, diese Pisten auszuprobieren und sogar die fehlenden Streckenabschnitte zu trassieren.
Wir mussten das schlucken, aber keiner dieser vier aus dem Expeditionsteam neigt dazu, die Hände in den Schoß zu legen. Ich weiß, dass sie da vorne alles tun werden, damit unser Unternehmen um jeden Preis verwirklicht werden kann. Alain und Fabien haben sich mit Nikolai angefreundet und ihn überredet, dass er auf der zweiten Hälfte der Bergroute eine Piste durch den meterhohen Schnee spurt. Auf Meereshöhe ist die Schneehöhe tatsächlich sehr gering, während sie oben auf dem Berg beträchtlich ist, da alle Niederschläge im Herbst als Schnee fielen und das Gebirge über 800 Meter mit einem weißen Tuch bedeckten. Stellenweise erreicht die Schneehöhe zwei Meter.
Hier am Fluss gibt es im Grunde genommen keinen Schnee, und wir fahren wieder auf dem Eis, was die Hunde verabscheuen. Sie sind angespannt, nervös, unsicher, rutschen, bremsen ab, fangen sich wieder. Ihre Augen wandern ständig hin und her, suchen die günstigsten Stellen. Aber im Augenblick gibt es keine Alternative, und wir müssen auf dem nur leicht zugefrorenen Fluss weiterfahren. Als wir uns hinter einer Insel, wo sich im Windschatten etwas Schnee gebildet hat, eine kleine Pause gönnen, erkläre ich dies den Hunden. Sie fressen den Schnee, um ihren Durst zu löschen.
Offensichtlich verstehen sie meine Erklärungen nicht Wort für Wort, achten aber auf den beruhigenden Ton in meiner Stimme, wenn ich sie bitte, sich anzustrengen.
»Meine Lieblinge, noch lächerliche fünf Kilometer, dann tauschen wir diesen Fluss gegen eine schöne Piste auf ebener Erde ein. Ihr werdet sehen, das wird super.«
Sie spüren das Vertrauen, das ich in sie habe und in die Zukunft, und das verleiht ihnen Hoffnung.
Sie laufen voller Schwung weiter, als ob sie es eilig hätten, zum Ende zu kommen. An einigen Stellen hat sich Wasser auf dem Eis gebildet. Wir meiden diese Zonen, da die Hunde Angst davor haben.
Schließlich gelangen wir zu zwei Holzhütten am Nordufer. Hier beginnt Nikolais Piste. Die Hunde sind genauso glücklich wie ich, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, und überwinden den steilen Hang des Flussufers, als ob er eben wäre. Wolf und Dark an der Spitze des Schlittens können endlich zeigen, welche Kraft in ihnen steckt, und sich ein wenig verausgaben. Die Entfesselung ihrer überschüssigen Energie lässt sie vor Vergnügen knurren.
Eine Viertelstunde später haben wir eine Anhöhe erreicht, von der aus der Weg, eingebettet in einen Wald aus Espen, Nadelbäumen und spärlichen Birken, ein wenig an eine Achterbahn erinnert.
Ich werfe einen letzten Blick auf das Tal, in dem die gewundene Eisfläche des Flusses glitzert, den wir gerade hinter uns gelassen haben, und wende mich in Hochstimmung den Hunden zu.
»Ich hatte es euch ja gesagt, meine Schätzchen. Ist es hier nicht toll?«
Als Antwort fangen sie an loszurennen und berauschen sich an der Witterung von Hasen und Rebhühnern, deren Spuren wir manchmal kreuzen.
Es fällt mir ein wenig schwer zu begreifen, dass ich nun endlich unterwegs bin. Dass ich mit meinen Hunden hier in Sibirien bin, weit weg von meinem Zuhause, um eine große Reise zu unternehmen, von der ich schon seit meiner Kindheit träume. Ich habe einige Berichte über diese wilden Gegenden in Südostsibirien und der Mandschurei gelesen, wo die größte Raubkatze der Welt ihr Unwesen treibt: der furchterregende Sibirische Tiger, den ich unbedingt sehen möchte. Diesen Plan, diesen Traum habe ich noch um ein weiteres Projekt erweitert: Ich habe vor, den Norden der Mongolei zu durchqueren, dieses wilde Gebiet aus Steppen und Gebirge, wo die stolzen Reiter leben, deren Ahnherr Dschingis Khan ist. Das also ist die Route dieser 6000 Kilometer umfassenden Expedition, auf die ich mich über ein Jahr lang vorbereitet habe.
Die letzten Wochen, in denen mein Film »Belle & Sebastian« in die Kinos kam und in letzter Minute noch viele Probleme, die sich auf diese Expedition auswirkten, auftraten, waren ganz besonders anstrengend gewesen. Aber jetzt kann ich hier endlich durchatmen und den Augenblick genießen.
»Los, meine Hunde!«
An diesem ersten Tag der Expedition fressen die Hunde die Kilometer mit einer Lust, als ob es saftige Fleischstücke wären. Als ich mich nach drei Stunden anschicke, eine kleine Pause einzulegen, fangen sie sofort an zu bellen und zeigen mir durch ihre Bewegungen, dass sie keinerlei Verlangen nach einer Rast verspüren.
Gut! Dann geht es eben weiter.
Wir fahren hinauf, wir fahren hinunter, durchqueren großartige waldreiche Gebiete, in denen die Spuren verschiedener Tiere zu erkennen sind: Hirsche, Elche, Rehe und Wildschweine ... Ich verstehe jetzt, weshalb Nikolai seine Jagdhütte hier errichtet hat. Die Hunde fühlen sich prächtig, und Quest, der die feinste Nase der Meute hat, beschnüffelt jeden Zentimeter Erde.
Nach über fünfzig Kilometern setze ich endlich einen Halt am Rand eines kleinen offenen Flusses durch, damit ich Wasser holen und die Hunde tränken kann. Schließlich akzeptieren sie meine Schnapsidee, eine kleine Pause einzulegen, natürlich mit Ausnahme von Dark, der nicht aufhört zu bellen. Er geht mir auf die Nerven und verhindert, dass sich die Hunde wirklich beruhigen.
»Dark, sei still! Sei still!«
Zwei Minuten lang ist er still, aber als ich mich etwas von ihm abwende, bellt er noch heftiger. Plötzlich setzt sich Unik wieder in Bewegung ... Da ich es leid bin zu kämpfen, gebe ich schließlich nach und breche schneller auf, als ich es vorhatte. Wie viele Kilometer und Tage müssen wir zurücklegen, bis sie sich endlich beruhigen?
Ich murre pro forma, aber innerlich freue ich mich über ihre Lust zu laufen, was die Kanadier den »will to go« der Hunde nennen. Sie haben reichlich davon. Umso besser: Unsere Strecke ist lang! Es kommt selten vor, dass man mit Tieren das gleiche Vergnügen an etwas empfindet. Mit den Hunden teile ich die Begeisterung, diese weißen Flächen zu überqueren. Ich könnte nicht sagen, wer am Morgen vor dem Start mehr Freude empfindet, sie oder ich, wer am gierigsten ist, diese Gebiete zu entdecken, diese abwechslungsreichen Landschaften voller Überraschungen an sich vorbeiziehen zu sehen. Aus dieser gemeinsamen Leidenschaft erwächst eine Komplizenschaft, die unsere Freundschaft, die uns seit ihrer Geburt verbindet, noch mehr festigt. Aber auf den Hochebenen des Vercors, wo wir sie trainierten, langweilten sich die Hunde schließlich, weil sie jeden Kilometer kannten, jede Kurve, fast jeden Baum ... Sie bewahrten sich jedoch die Freude am Laufen und sträubten sich nie dagegen, weder bei Regen noch bei Wind. Aber noch nie war ihr Spaß so groß wie jetzt: Sie lieben, genau wie ich, die Entdeckung, das Abenteuer und das Neue.
Wir kommen jetzt durch Landschaften, die immer offener werden und in denen der Blick weit schweifen kann. Die Vegetation, sofern sie zu sehen ist, ist sehr karg, besteht lediglich aus Birken und Nadelbäumen, auf deren Spitzen ich von Zeit zu Zeit einen Auerhahn entdecke. Wenn diese sich in die Lüfte schwingen, beschleunigen die Hunde ihr Tempo, behalten aber trotz der höheren Geschwindigkeit ihren Rhythmus bei.
Als die Sonne hinter einem Berg untergeht, nähern wir uns einem langen Abhang, an dessen Ende ein kurzer krummer Weg in einen dichten Tannenwald führt, der sich zu einer Lichtung hin öffnet. In ihrer Mitte steht Nikolais Hütte.
Ich entdecke den Jäger, den mir Alain und Fabien beschrieben haben. Sein Blick ist offen und freundlich, mit geübtem Auge mustert er die prachtvolle Muskulatur der Hunde.
»Donnerwetter! Deine Hunde waren ganz schön schnell!«
Nikolai geht von einem zum anderen und schüttelt bewundernd den Kopf. Als guter Jäger versteht er etwas von der Statur eines Hundes. Er erklärt mir, dass das Gebiet, auf dem er als Trapper und Jagdhüter tätig ist, sehr wildreich sei. Er verbringt hier einen großen Teil des Jahres, Sommer wie Winter, und zwar in dieser Hütte, die mit dem Schneemobil eine Tagesreise von dem kleinen Dorf Straschion entfernt liegt, wo seine Frau und seine beiden Söhne leben. Robust und trainiert durch das Leben im Wald, erklärt er mir, dass er nur hier, in der Taiga, richtig glücklich ist, was ich so gut wie sonst niemand verstehen kann.
Ich stelle ihm die Hunde vor und betone die jeweiligen Rollen von Wolf, dem Meutechef, und den Leithunden Burka, Quest und Miwook.
»Und der Meutechef ist nicht der Leithund?«
Ich erwidere, dass dies nur sehr selten der Fall sei. Der Meutechef ist der Hund, der sich hierarchisch gegen die anderen durchgesetzt hat. Er ist der Stärkste oder zumindest derjenige, dem sich alle unterwerfen. Die anderen Hunde zeigen dies durch ein Verhalten von »Beherrschung – Unterwerfung«, das für eine Wolfsmeute genauso wichtig ist wie für eine Meute von Schlittenhunden.
Der Leithund oder die Leithunde werden vom Menschen ausgewählt, während sich der Meutechef allein innerhalb der Gruppe durchsetzt, ohne menschliches Eingreifen. Die Leithunde sind gewöhnlich umgängliche Hunde, die den Kontakt mit dem Menschen suchen. Sie sind mit einer besonderen Intelligenz ausgestattet, die es ihnen ermöglicht, schneller als die anderen einfache Richtungskommandos zu erfassen und zu verarbeiten, aber auch komplexere, um eine Halbdrehung zu vollführen oder Engpässe zu bewältigen. Diese Hunde müssen fähig sein, die Initiative zu ergreifen, wenn beispielsweise die Route über einen zugefrorenen Fluss führt und der Musher, der Hundeschlittenführer, es dem Hund überlässt, die Spur zu wählen. Einige Leithunde sind außergewöhnlich, wie auch vier meiner Hunde: Otchum, Voulk, Cheap und schließlich Taran.
Burka und Quest sind zwei gute Leithunde, jung und noch etwas unreif und unerfahren, vielleicht auch nicht talentiert genug, um als »außergewöhnlich« bezeichnet zu werden, ein Attribut, mit dem einige Musher leichtfertig den erstbesten Schlittenhund schmücken, der fähig ist, nach links und nach rechts zu laufen. Miwook ist noch in der Ausbildung, aber er ist ein gelehriger Schüler.
Mein Gespann, das sich aus Hunden im Alter von anderthalb bis drei Jahren zusammensetzt, ist noch jung. Diese Expedition ist ihre erste Fahrt außerhalb der gespurten Wege des Vercors. Und sie müssen hier alles lernen und entdecken. Jeder Tag, an dem sie mit vielfach ungewöhnlichen Situationen konfrontiert werden, vertieft ihre Erfahrungen, sodass sie reifer und selbstsicherer werden, so wie am ersten Tag auf dem Eis, einem Untergrund, der ihnen völlig unbekannt war.
Als ich an jenem Abend meinen Schlitten, den ich seit dreißig Jahren auf dieselbe Weise belade, mit den gewohnten Gegenständen entlade, sind auf einmal all die Handgriffe und oft geübten Bewegungen wieder da, als hätte ich die große Reise, die mich durch Alaska, Kanada, Lappland und Sibirien geführt hatte, nie unterbrochen. Es war, als wäre mein anderes Leben, das ich außerhalb der Piste und ohne meine Hunde führe, mit einem Schlag ausgelöscht. Als hätte ich einen zu engen Anzug abgestreift und wäre in meine Reisekleidung geschlüpft. So fügen sich alle meine Expeditionen zu einer einzigen zusammen und bilden ein langes Abenteuer in Schnee und Eis. Mit einer verwirrenden Leichtigkeit weiß ich jetzt genau, welche Handgriffe ich zu verrichten, welche Aufgaben ich nacheinander zu erfüllen habe, ob es nun um das Anschirren der Hunde geht, das Beladen des Schlittens, das Anzünden des Feuers und das Schmelzen von Eis oder die Vorbereitungen für die Nacht. Hier im hohen Norden bin ich zu Hause, ich fühle mich hier genauso heimisch wie in meinem anderen Leben, in das ich in ein paar Monaten wieder zurückkehren werde.
Während der Reise werde ich dort schlafen, wohin mich die Etappen führen. Manchmal in Dörfern oder in der Taiga, in einer Trapperhütte wie dieser hier, in der Mongolei in den Jurten. Ich werde auch Alain und Fabien wiedertreffen und das Zelt und die Wärme des kleinen Holzofens, den sie mit sich führen, genießen.
Ich werde oft unter freiem Himmel schlafen, in meinem Schlafsack, den ich auf einem Bett aus Tannenzweigen ausbreite. Häufig ernte ich Erstaunen, wenn ich berichte, dass ich bei Temperaturen nächtige, die manchmal unter – 50 °C fallen. Das ist kein Problem für mich. Meine Kleidung entspricht den Temperaturen, und mein wattierter Schlafsack hält mich genauso warm wie das Fell die Hunde, die, wie ich, bei jedem Wetter im Freien schlafen.
Ein Zelt mitzuführen ist nutzlos und zu schwer, da es im Winter nicht regnet und man daher keine Feuchtigkeit befürchten muss. Der einzige Vorteil eines Zelts bestünde darin, dass man es mit einem Holzofen heizen könnte, den ich aber zusätzlich zu meinem Gepäck transportieren müsste. Mein Hundeschlitten wiegt zu Beginn einer einwöchigen Reise bereits mehr als 180 Kilo, mit mindestens fünfzehn Kilo Nahrungsmitteln für die Hunde pro Tag (das sind über hundert Kilo pro Woche). Hinzu kommen ein Beutel mit Kleidern zum Wechseln und ein weiteres Paar Stiefel, falls ich durchs Wasser wate. Ein zweiter Beutel enthält alles, was ich für die Hunde benötige: eine Apotheke, Flickzeug für das Gespann und die Zugleinen, ein paar Ersatzleinen, ein Stake-Out für die Nacht (siehe Anhang), Futternäpfe ...
Im hinteren Teil des Schlittens befindet sich eine Kühlbox für die Mischung aus Wasser und Trockenfutter, 4008 Royal Canin, die ich für die Hunde zubereite. Dann noch ein großer Blechnapf, um Schnee zu schmelzen, ein kleiner für meine Mahlzeiten, eine Axt, eine Säge und einige Werkzeuge: Klemmen, Seile für die Reparatur des Schlittens, ein paar zusätzliche Ausleger für die Seile. Im vorderen und hinteren Teil des Schlittens werden die Futterbeutel für die Hunde verstaut und ein weiterer, der meine eigene gefriergetrocknete Nahrung enthält, sowie schließlich noch mein Schlafsack. All das ist gemäß einer unveränderlichen Ordnung perfekt eingerichtet, verstaut und festgezurrt. So finde ich also meinen großen Blechnapf in Sekundenschnelle, ohne auf dem Schlitten herumsuchen zu müssen.
Ich binde die Hunde Burka, Unik und Kamik los, damit sie mich zu einem Bach begleiten, wo ich aus einem Eisloch Wasser schöpfen will. Wir kreuzen die nahezu frische Spur eines großen Luchses. Die Hunde wittern sie voller Erregung, bleiben aber dicht bei mir und balgen und jagen sich spielerisch im Pulverschnee. Burkas Verhalten lässt keinen Zweifel an ihrem Zustand. Ich muss sie unbedingt im Auge behalten, wenn ich nicht in zwei Monaten mit einem Wurf Welpen konfrontiert sein möchte. Wenn Hündinnen im Gespann sind, hat man zweimal im Jahr diese Probleme. Im Normalfall ist es besser, sie in der einen Woche, in der sie läufig sind, zu isolieren, aber auf Reisen ist dies nicht möglich. Es gibt nicht nur die unvermeidlichen Keilereien, sondern auch Konzentrationsmängel bei den Hunden, die nur noch an das eine denken. Die bevorstehende Woche wird schwierig sein, aber dann habe ich bis zum Ende der Reise meine Ruhe.
Die Nacht bricht schnell herein. Am Himmel funkelt kein einziger Stern. Eine dichte Wolkendecke, die mir Sorgen bereitet, verdeckt den Himmel. In der Nacht stehe ich mehrere Male auf, um die Lage zu checken. Um vier Uhr gebe ich dann das Startzeichen. Es fängt an zu schneien, und es droht die Gefahr, dass die Piste zugeschneit wird. Ich muss noch zwei große Pässe überqueren, bevor ich wieder ins Tal der BAM-Eisenbahnlinie auf der anderen Seite des Gebirgsmassivs hinunterfahren kann.
Ich schirre die Hunde zügig an. Als ich mich in Bewegung setze, glitzern bereits große Flocken im Lichtstrahl meiner Stirnlampe. Wir müssen los! Schnell ... solange die Piste noch zu sehen ist.
»Los, meine Hunde! Los, Burka.«
Die Hunde preschen voran. Es fällt mir schwer, in der schwarzen, undurchsichtigen Nacht die ersten etwas engen Kurven zu meistern, die die Hunde im Galopp nehmen, ohne dass ich sie bremsen könnte.
Ich weiche den Bäumen mit knapper Not aus und gelange endlich wieder zu der breiten und weniger kurvenreichen Piste, die Nikolai gespurt hat.
Eine Stunde später haben wir gut fünfzehn Kilometer hinter uns, die Piste ist mit einer Schneedecke von über zehn Zentimetern bedeckt, die schnell auf zwanzig anwächst.
Burka, die an der Spitze läuft, beeindruckt mich, denn sie errät und findet die völlig unter dem Schnee begrabene Piste. Hie und da hat der Wind mächtige Schneewehen aufgehäuft, die einen Meter hoch sind. Ich laufe vor dem Schlitten her und spure die Piste, der die Hunde, bis zur Brust im Schnee versunken, couragiert folgen. Bei Tagesanbruch legt sich der Sturm etwas. Wir schwenken auf einen weniger schneereichen Hang ein. Die Hunde finden hier den Pistenuntergrund selbst, dessen schwache Spur ich an einigen wenigen Stellen entdecke.
Etwas später verbessern sich die Bedingungen aufgrund der Spurfahrten von Nikolai, Alain und Fabien, um die durch den Sturm verwischten Spuren offen zu halten. Ich beschließe, es für heute gut sein zu lassen. Die Hunde haben sich stundenlang durchgekämpft, und wir können alle nur gewinnen, wenn wir abwarten, dass der durch die Schneemobile niedergepresste Schnee über Nacht gefriert. Morgen werden wir unseren Weg auf einer vereisten Piste fortsetzen.
Ich finde einen idealen Rastplatz in der Nähe eines Bachs, der uns mit Wasser versorgt, in einem Wald mit viel Reisig und zahlreichen Tannen, deren Zweige den Hunden als Teppich dienen werden. Sie zappeln aufgeregt, als ich mich mit einem Arm voll dieser kleinen Zweige mit weichen Nadeln nähere, die ihnen eine weiche, isolierende Matte bieten werden. Bei – 40 °C ist der Komfort eines solchen Teppichs kein Luxus und ermöglicht ihnen, sich besser zu regenerieren. Bei Hunden wie Unik oder Dark erfolgt die Vorbereitung zur Nacht aufs Genaueste. Mithilfe ihrer Kiefer bemühen sie sich, ein richtiges Nest zu bauen, das sie mit einer erstaunlichen Liebe zum Detail ausstatten. Wenn sie mit ihrer Arbeit zufrieden zu sein scheinen, testen sie ihre Lagerstatt, um dann gleich wieder hochzuschnellen und wieder von vorn anzufangen, indem sie eine andere Anordnung treffen, und schließlich womöglich noch eine. Manchmal erfordern diese Vorbereitungen mehrere Minuten, die den Nachbarn wie eine Ewigkeit vorkommen; sie bekunden ihre Unzufriedenheit durch Knurren, denn diese Perfektionisten des Nachtlagers hindern sie am Einschlafen.
Die Nacht weicht zögernd dem Tag, als wir zu einem langen Anstieg aufbrechen, der uns zu einem hohen Bergkammweg führen soll. Dark und Wolf, wie üblich paarweise vorne angeschirrt, sind in olympischer Hochform und beflügeln die Meute, die aber keiner Aufforderung bedarf.
Heute Morgen waren lediglich bei Kazan und Kamik die Zugleinen nicht wie die Saiten einer Geige gespannt. Unik, der heute neben Kamik läuft, fletscht mehrmals die Zähne, um ihm zu zeigen, dass er keine Lust hat, das Tempo zu drosseln und bei seiner Arbeit gestört zu werden. Immerhin hält sich Kamik zumindest an das notwendige Minimum.
Als wir weiter an Höhe gewinnen, gelangen wir in eine Landschaft mit vereinzelten knorrigen Zwergbirken, ab und zu unterbrochen von Kiefern, die stark vom Schneesturm gebeutelt wurden. Im Übrigen hat der Wind den Schnee dermaßen aufgetürmt, dass die von Nikolai gespurte Piste fast nicht mehr zu sehen ist. Aber für Burka ist es ein Kinderspiel, ihr zu folgen. Je höher wir kommen, desto mehr öffnet sich die Landschaft und bietet einen Panoramablick auf die umliegenden Berge und Dörfer. Tief bewegt genieße ich dieses großartige Schauspiel.
Beim Start zeigte das Thermometer – 35 °C und bald sogar – 40 °C. Bei dieser Temperatur überzieht schnell Raureif mein Gesicht. Mehrere Male muss ich meine Handschuhe ausziehen, um die kleinen Eissplitter, die meine Wimpern verkleben und meine Sicht behindern, zwischen den Fingern zum Schmelzen zu bringen. Auch meine Hunde sind in Raureif eingehüllt. Einige, wie zum Beispiel Happy und Kali, ähneln kleinen weißen Sträuchern. Sie sind von einer Art Nebel umgeben, der aus den feinen Partikeln ihres Atems besteht. Diese erstarren sofort in der eisigen Luft und glitzern im Gegenlicht dieses schönen Morgens.
»Ist ja gut, meine kleinen Wölfe.«
Immer habe ich meine Hunde entweder »kleine Wölfe« oder »kleine Hunde« genannt, selbst damals, als ich ein Gespann schwerer und kräftiger Hunde führte, die Nachkommen meines ersten Hundes Otchum und der Grönlandhündin Ska. Diese »kleinen Hunde« waren verdammte Rabauken, Streithammel und echte Muskelprotze und vor allem ungeheuer faszinierend.
Die beiden nachfolgenden Hundegenerationen haben sich dank des Alaskan-Malamute-Bluts leichter getan, das ich mit der Absicht beigemischt habe, sie an Geschwindigkeit gewinnen zu lassen. Diese vierte Generation junger Hunde hat heute eine Geschwindigkeit erreicht, mit der sie es mit den besten Schlittenhunden der Welt aufnehmen kann. In den nächsten Jahren möchte ich mich mit ihnen messen und bei den zwei größten Hundeschlittenrennen der Welt antreten – beim Yukon Quest und beim Iditarod. Diese beiden mehr als 1600 Kilometer langen Rennen bieten größte Herausforderungen für die Musher. In erster Linie unglaubliche Abenteuer und in zweiter Rennen auf sehr hohem Niveau.
Die Alaskan Malamute sind keine Rasse im eigentlichen Sinn. Sie wurden speziell für diese Rennen gezüchtet, aus einer Auswahl von Hunden, die durch eine bewusste Kreuzung zwischen Huskys und verschiedenen anderen Rassen entstanden. Mit dem Streben nach ständiger Optimierung war der Alaskan Husky nie dazu berufen, eine Art Hund zu sein, der in einer geschlossenen Auswahleinheit fortgepflanzt wurde, die sich an die Standards einer bestimmten Rasse hielt. Somit hat er alles mitbekommen, was dazu geeignet ist, die Geschwindigkeit und Ausdauer zu verstärken. Diese vielfach gekreuzten Hunderassen sind nordische Hunde, die extremen Temperaturen und Bedingungen trotzen können, selbst wenn ihre DNA einige Gene von Windhunden, Vorstehhunden und anderen Jagdhunden enthält.
Von den großen Champions wie zum Beispiel dem Norweger Robert Sorlie, dem Kanadier Sebastian Schnuelle und dem Franzosen Jean-Philippe Pontier habe ich einige Alaskans erworben, damit sie sich mit meinen besten Hunden paarten. Dadurch bekam ich Hunde, die immer schneller wurden.
Mein jetziges Gespann aus jungen Hunden, die die Körperform echter Marathonläufer besitzen, ist ein Hundegespann auf hohem Niveau, mit dem ich hochgesteckte Ziele verfolgen kann. Diese Expedition, die ein schönes Abenteuer sein soll, bei dem neue Welten entdeckt werden, soll den Hunden die Möglichkeit geben, an Erfahrung und Reife zu gewinnen, die sie nur durch eine solche Reise erwerben können.