Susann Sitzler
Grüezi und Willkommen
Grüezi und Willkommen
Für Lydia, Hans und Lilly – die Schweizer
Für Knud – den Deutschen
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
unter www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage, September 2013 (entspricht der 6. Druck-Auflage von April 2012)
© Christoph Links Verlag GmbH, 2004
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 440232-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos
von A. Vossberg, VISUM
Lektorat: Antje Taffelt/Günther Wessel, Berlin
Karte: Peter Palm, Berlin
Satz: Marina Siegemund, Berlin
ISBN 978-3-86284-232-2
Inhalt
Vorwort
Schweizer für einen Tag
Grüezi und Willkommen in der Schweiz, du Sauschwoob! – Von einem Abgrund, den man nicht sehen kann
Vom Nutzen der maßvollen Selbstverleugnung – Do’s und Dont’s für Deutsche im Kontakt mit den Einheimischen
Schweizer für ein Jahr
Jeder für sich und alle gegen Zürich – Leben und Wohnen in der Schweiz
Warum sind die eigentlich so reich? – Geld und Arbeit in der Schweiz
Hoi Stöff, wo isch’s Käthi? – Vom Umgang miteinander
E Stange Panache nach Feierabend – Freizeit in der Schweiz
Kleiner Exkurs über die erschütterte Seelenlage der Schweizer
Mani, Büne und das Theater im Schiff – Kultur und Unterhaltung à la Suisse
Vom richtigen Dessert und den falschen Flaschen – Zu Hause in der Schweiz
I ha di gärn und andere Ekstasen – Männer und Frauen in der Schweiz
Schweizer für immer
Die vereinigten Kantone von Helvetien – Schweizer als politische Wesen und was Deutsche damit zu tun haben können
Nicht jeder kann ein Schweizer sein – Anpassung, Integration und Papiirlischwyzer
Die Schweiz für Fortgeschrittene – Letzte Dinge und die rätselhaften Rituale der Sehnsucht
Anhang
Quellenangaben
Verwendete Literatur und Quellen
Abbildungsnachweis
Kontaktadressen in der Schweiz
»Menschen, die es fertig bringen, sich mit
der Bewirtschaftung von senkrecht abfallenden
Berghängen eine Existenzgrundlage zu schaffen,
müssen schon ein besonderer Schlag sein.«
Paul Bilton
Vorwort
Es gibt viel, was die Deutschen von den Schweizern nicht wissen. Schweizer sind nicht gutmütig. Schweizer sind Experten des Meeres. Schweizer rempeln einander ständig an. Schweizer fragen im Wirtshaus die Kellnerin um Erlaubnis, ob sie noch ein Bier trinken dürfen. Schweizer sind gleichzeitig brave Bünzli (Spießer) und smarte Geschäftsleute. Sie können sich dem Ausland in einem Moment gleichzeitig überlegen und unterlegen fühlen. Schweizer haben einen viel tieferen Widerwillen gegen die Deutschen, als diese ahnen. Aber sie bewundern sie auch viel mehr. Die Schweizer haben in den letzten Jahren viele Sympathien verloren. Weil sie sich standhaft gegen einen EU-Beitritt wehren. Weil sie als einziges Land in Europa Minarette verboten. Weil sie um das Bankgeheimnis kämpften, das die Nachbarn stürzen wollten. Gleichzeitig haben viele Deutsche das Nachbarland im Süden neu entdeckt: als Ort, an dem man zu höheren Löhnen geruhsamer arbeiten kann als zu Hause. Manche, die der EU schon überdrüssig sind, sehen in der eigenwilligen Schweiz neuerdings auch eine widerständische Ruhezone. Und verstehen nicht, dass auch die konservativsten Schweizer auf solchen Zuspruch gerne verzichten. Was geht in den Schweizern vor?
Dies ist ein subjektives Buch. Es ist der Versuch, als Schweizerin einem Außenstehenden – also Deutschen – das Land und die Gefühlslage der Bewohner verständlich zu machen. Es ist darin viel von »den Schweizern« die Rede und davon, wie man bestimmte Dinge als Schweizer empfindet. Ein Annäherungsversuch an etwas Diffuses: an eine diffuse Sympathie, die ich für die Schweiz habe; an eine diffuse Mentalität, mit der ich mich identifiziere; an ein diffuses Unwohlsein, das ich empfinde, wenn ich dort unterwegs bin; an eine diffuse Wehmut, die mich überkommt, wenn ich an die Schweiz denke. Leitgedanken für diese Annäherung waren auch die Fragen, die immer aufkommen, wenn Schweizer mit Deutschen über ihre Heimat reden. Warum fühlten wir uns so lange als etwas Besonderes? Warum hassen wir es, wenn uns jemand als etwas Besonderes behandelt? Warum waren wir so lange beleidigt, wenn wir wie alle anderen behandelt wurden?
Um dieses Buch zu schreiben, habe ich mein persönliches Bild von der Schweiz und den Schweizern – auch von mir selbst in dieser Eigenschaft – auseinandergebaut, um die Einzelteile möglichst genau zu untersuchen. Danach habe ich probiert, die Einzelteile wieder zusammenzusetzen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Schweiz in diesem Buch anders aussieht und anders funktioniert, als wenn die Einzelteile von jemand anderem zusammengesetzt worden wären.
Die Schweizer Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren grundlegend verändert. Das könnten auch die Deutschen von sich sagen. Aber in der Schweiz rechnete sehr lange niemand mit einer solchen Veränderung. Nicht mit so vielen neuen Richtungen, in die es gleichzeitig geht. Die Schweizer haben auch die unangenehme Entdeckung gemacht, dass ihre alte Mentalität nicht mehr in ihr modernes Land passt. Darum legen sie nun das ab, was sich im Ausland in den Klischees vom widerspenstigen Alm-Öhi, vom biederen Banker oder vom »enervierend Guten«, wie es die Frankfurter Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen nannte, festgesetzt hat.
Die Fakten in diesem Buch wurden sorgfältig recherchiert und für diese Neuauflage überprüft und angepasst. Wenn trotzdem Irrtümer und Fehleinschätzungen, falsche Prognosen oder nachträglich absurd erscheinende Theorien hineingeraten oder stehengeblieben sind, liegt das daran, dass aus diffusen Gefühlen nur subjektive Wahrheiten werden können. Ich habe versucht, sie möglichst konkret in Worte zu fassen und mit Fakten und Beispielen zu untermauern. Die kursiv gesetzten Geschichten sind alle wahr. Wenn sie mir von Freunden, Bekannten und Fremden erzählt worden sind, habe ich Namen und persönliche Daten verändert.
In der Form folgt das Buch einer Annäherungsbewegung. Ein Deutscher versucht, die Schweiz kennen zu lernen und zu verstehen. Er macht schon bei der ersten, kurzen Begegnung mit den Einheimischen die Erfahrung, dass ihn sein deutscher Blick dabei nur stören kann. Ein ähnlicher Effekt, wie wenn man Italienisch beherrscht und Spanisch lernt: Die Wörter klingen ähnlich und haben doch verschobene Bedeutungen. Wenn man nicht die eine Sprache völlig ausblendet, entsteht ein Kauderwelsch. In der Logik dieses Buches bedeutet das, dass die Annäherung am besten gelingt, wenn man als Deutscher versucht, die Schweizer Umgebung mit Schweizer Augen zu sehen – »Schweizer für einen Tag« zu werden. So ist der erste Teil überschrieben. Der längste, mittlere Teil des Buches widmet sich dem Schweizer Alltag, dem Umgang miteinander, den banalen Umständen, in denen die wirklichen Unterschiede stecken. Mit dem nun bekannten Schweizer Blick sollte es möglich sein, ein Gefühl für die Nuancen zu bekommen. Damit wäre die Basis für einen längeren Aufenthalt geschaffen: »Schweizer für ein Jahr«. Und wenn man sich schon die Mühe gemacht hat, den Schweizer in sich zu finden und probehalber so zu fühlen wie er, findet der deutsche Gast vielleicht Gefallen daran und will für immer bleiben. Dieser Möglichkeit widmet sich der dritte Teil: »Schweizer für immer«.
Wenn in diesem Buch von »den Schweizern« die Rede ist, sind immer die Deutschschweizer – und die Deutschschweizerinnen – gemeint. Das ist chauvinistisch und ignorant, weil die Schweiz aus vier Sprachregionen besteht, aber die französisch, italienisch und rätoromanisch sprechenden Eidgenossen fast immer unterschlagen werden. In diesem Buch ist es so gehalten, weil Deutsche sich den Eidgenossen am leichtesten über die sprachverwandten Deutschschweizer nähern können. Und weil ich – Baslerin – von den Welschen, den Tessinern und den Rätoromanen überhaupt keine Ahnung habe.
Berlin, im März 2012 |
Susann Sitzler |
Schweizer für einen Tag
Grüezi und Willkommen in der Schweiz,
du Sauschwoob! – Von einem Abgrund,
den man nicht sehen kann
»Sie mögen uns. Aber wir mögen sie nicht.«
Unbekannte Schweizerin
Sie sehen gleich aus, aber sie verhalten sich anders. Das ist in etwa der Grundkonflikt des Alltags zwischen den Schweizern und den Deutschen. Die einen nehmen sich das Recht, etwas lauter, etwas selbstbewusster, etwas weniger unauffällig zu sein. Es sind nicht die Schweizer. Da beginnt das Problem. Für die Deutschen ist die Schweiz meistens wunderschön. Kaum über der Grenze, setzen Wiedererkennungseffekte ein, die sonst nur New York bietet: Alles sieht genau so aus, wie man es schon hundertmal auf Bildern oder im Film gesehen hat. An besonders guten Tagen scheinen die Farben hinter der Grenze sogar plötzlich stärker, leuchtet der Himmel blauer und die Wiesen satter. Selbst die Menschen wirken auf einen Schlag besser angezogen. Und die Einheimischen sagen tatsächlich »Grüezi« in dieser niedlichen Sprache: putzige Kehllaute und ein netter, bedächtiger Tonfall. Alles suggeriert diese Grundharmlosigkeit, für die man die Eidgenossen so mag. Willkommen in der Schweiz! Lassen Sie sich nicht täuschen. Ein Schweizer ist nicht harmlos. Und eigentlich ist er auch nicht freundlich gesonnen. Vor allem nicht, wenn ein Deutscher auf ihn zukommt.
In der Schweiz ein Deutscher zu sein bedeutet ein Manko. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird ein Einheimischer ihn zunächst in die Schublade »Sauschwoob« einsortieren, was soviel wie »Sauschwabe« heißt. Es spielt dabei keine Rolle, ob der Besucher aus dem Bayerischen Wald oder aus Ostfriesland kommt. Das kann ein Schweizer ohnehin nicht unterscheiden. Bemerken wird der Deutsche davon zunächst nichts. Denn in seiner Gegenwart wird der Schweizer sich noch zuvorkommender als sonst verhalten. Und er wird sofort in die Hochsprache wechseln. Nicht weil er dem Gast das Verständnis erleichtern möchte. Sondern weil er davon ausgeht, dass der Sauschwoob a) sowieso keine Fremdsprachen kann oder wenn, dann nur mit katastrophalem Akzent. Und b) will er sich auf keinen Fall anschließend ärgern müssen, dass der Deutsche ihn automatisch in Schriftdeutsch anspricht, weil er voraussetzt, dass man bereit ist, auf ihn einzugehen. Jüngere, städtische Schweizer werden das von sich weisen. Und gleich darauf relativieren, »dass es in letzter Zeit schon ziemlich viele geworden sind«. Seit 2005 machen die Deutschen die größte Zuwanderungsgruppe der Schweiz aus. Ungefähr eintausend Deutsche ziehen jeden Monat allein nach Zürich. Im Februar 2007 lancierte die Schweizer Boulevardzeitung »Blick« eine Kampagne mit dem Titel »Wie viele Deutsche erträgt die Schweiz?« Es lässt sich nicht leugnen, dass die Schweizer schon immer ziemlich schwere Vorurteile gegen die Deutschen hatten. Und dass neue dazugekommen sind.
Mit dem Zug fahre ich von Basel nach Zürich. An jedem Fenster klebt ein großes Schild. Mit Worten und Bild macht es deutlich, dass hier drin I-pod und Natel (Handy) unerwünscht sind. Ich habe ein »Ruheabteil« erwischt, das es in vielen Schweizer Zügen gibt. Man hört nur das Blättern der anderen Reisenden in ihren Zeitschriften. Nach zehn Minuten kommt ein gut angezogener Mann mit einem ledernen Aktenköfferchen herein. Er hängt seinen Mantel auf, kramt im Köfferchen und beginnt laut zu telefonieren. Ein Deutscher. Ich lebe schon lange in Deutschland und die Deutschen sind mir vertraut. Das fällt in diesem Moment von mir ab. »Du verdammter Sauschwoob«, denke ich, »meinst wieder einmal, für dich gelten andere Regeln?« Ich starre ihn böse an. Er ignoriert mich. Die anderen Reisenden drehen auch schon die Köpfe und schauen demonstrativ zu ihm hin. Er wendet sich dem Fenster zu, wo das Schild klebt, und redet weiter. In Deutschland habe ich gelernt, jetzt aufzustehen und ihm zu sagen, er möchte bitte draußen telefonieren, weil er stört. Er redet weiter in sein Handy, während er aus dem Abteil geht. Hinterher setzt er sich wieder auf seinen Platz als sei nichts gewesen. Ich bin mir sicher, dass mir das Ganze viel peinlicher war als ihm.
Die Vorurteile der Schweizer über die Deutschen werden von konkreten Beobachtungen genährt. Am Kiosk verlangen Deutsche ohne Hemmungen die Bild-Zeitung, obwohl man hier den »Blick« liest. Wenn ihnen etwas gefällt, sagen sie es so, dass alle es hören können. Wenn ihnen etwas nicht gefällt, meckern sie sofort. Alles in allem scheinen sie sich überhaupt keine Gedanken darüber zu machen, was andere – insbesondere die Schweizer – von ihnen denken. Damit unterscheiden sie sich deutlich von den Einheimischen. Natürlich wissen die Eidgenossen, dass man den Deutschen daraus keinen Strick drehen kann. Aber es gibt eben doch sehr starke Gründe für ihren Widerwillen. Wie alle Tourismusnationen haben die Schweizer prinzipiell ein schwieriges Verhältnis zu fremden Gästen. Sie sind es leid, nur als Dienstleister in einer schönen Umgebung wahrgenommen zu werden. Und neuerdings auch noch als bevorzugte Arbeitgeber. Aber es wäre auch schlecht, wenn die Fremden wegblieben. Deshalb behelfen sie sich mit abfälligen Gedanken: Es muss halt auch Japaner, Amerikaner und sonstige Touristen geben. Bei den Deutschen gelingt den Schweizern diese Distanzierung nicht so gut. Erst recht nicht, seit diese häufig Arbeitskollegen sind. Weil ihnen die Deutschen zu ähnlich sind. Sie sind ihnen derart ähnlich, dass sie sich mit ihnen vergleichen müssen. Natürlich würden sie das weit von sich weisen. Denn es kämen unangenehme Dinge dabei heraus. Zum Beispiel, dass sich ein Schweizer vielleicht deshalb so vom selbstverständlichen Auftreten der Deutschen im Ausland provozieren lässt, weil er selber sich in den Ferien lange Zeit am liebsten in Zeichensprache mit seinen Reisegefährten verständigt hat, um nirgendwo aufzufallen. Und dass ein Schweizer genauso viel zu nörgeln hat, sich das aber nur im Hotelzimmer traut. Jüngere Schweizer passen manchmal nicht mehr in dieses Bild. Davon wird später die Rede sein.
Anders als in Deutschland, wo Dialekte mehr oder weniger dem privaten Sprachgebrauch vorbehalten sind, und auch der überzeugteste Niederbayer noch über eine hochdeutsche Gebrauchssprache verfügt, ist »Schriftdeutsch« für die Schweizer eine wirkliche Fremdsprache. Eine Fremdsprache, die sie zwar von Kindheit an verstehen lernen, die sie aber unter ihresgleichen niemals üben.
Deutsch spricht man in der Schweiz ausschließlich im Schulunterricht und – mit Deutschen. Einige Schulen haben zwar 2006 Hochdeutsch als Pausenhof-Sprache eingeführt. Aber das sind Ausnahmen. Der durchschnittliche Schweizer wird in seinem Leben kaum genügend Gelegenheit finden, die mundfüllenden »Ch«-Laute und den behäbigen Tonfall so in Richtung Hochdeutsch abzuschleifen, dass er damit selbstbewusst umgehen kann. Er wird diese Gelegenheiten in der Regel auch nicht suchen. Die Sprache seiner Seele ist Dialekt. Die hochdeutschen Wörter lagern irgendwo im Keller, und wenn sie gebraucht werden, muss er sie mühsam heraufschaffen. Daran hat er einfach kein Vergnügen. Und die Deutschen anerkennen diese Mühe nicht einmal, für sie ist es selbstverständlich, dass ein Schweizer Deutsch spricht. Und dann belächeln sie noch seinen putzigen Akzent. Im direkten Kontakt fühlt sich ein Schweizer einem Deutschen allein schon deshalb unterlegen, weil er nicht so gut Hochdeutsch spricht, dass er ihm einmal die Meinung über dessen Großkotzigkeit sagen kann.
Es ist nicht so, dass die Schweizer ein geringes Selbstbewusstsein haben. Im Gegenteil. Sie wissen, dass sie praktisch allen anderen überlegen sind: Oder wo sonst auf der Welt sind die Leute noch so reich und gleichzeitig so gut gebildet, wo ist es noch so schön und gleichzeitig so sicher? Wo ist die Lebensqualität so hoch und gleichzeitig auch das Bruttosozialprodukt? Und wer hat das Ricola erfunden? Eben. Und weil die Schweizer von Kindsbeinen an wissen, dass das so ist, müssen sie damit nicht angeben. Wie reiche Kinder wurden sie lange Zeit zur Bescheidenheit erzogen. Damit die anderen sich nicht unwohl fühlen oder neidisch werden. Deshalb sind die Schweizer gar nicht in der Lage, mit ihren Qualitäten souverän anzugeben. In einer Gesellschaft wie der schweizerischen, die deshalb so gut funktioniert, weil keiner versucht, den anderen zu übertrumpfen, ist ein gut sichtbares Selbstbewusstsein keine Tugend. Das Angeben oder die Lust am Konkurrieren wird gar nicht gelehrt. Während die Deutschen, die es ja – das müssen die Schweizer anerkennen – auch relativ weit gebracht haben, ein recht unverkrampftes Verhältnis zum Angeben haben. Sie tun es halt einfach, wenn sich eine Gelegenheit ergibt. Anstand und Geschichte haben ihnen zwar beigebracht, sich im Zweifelsfall zurückzunehmen. Aber doch nicht bei den Schweizern. Dort nutzen sie die Ähnlichkeiten ungezwungen zu einem konkurrierenden Vergleich. So kommt es den Schweizern vor. Und wenn dann das entspannt polternde Auftreten eines Klischeedeutschen auf die soziale Grundverlegenheit eines Klischeeschweizers trifft – wobei die ja eigentlich die anerzogene Verschleierung seines Überlegenheitsgefühls ist – muss es zu Missverständnissen kommen.
Im Grunde weckt der Deutsche im Schweizer vor allem einen Wunsch. Er will ihm ein für alle Mal beweisen: »Mit dir Sauschwoob werde ich noch einhändig und vor dem Frühstück fertig.« Aber die Evolution hat ihm diesen Trieb seit Jahrhunderten abgewetzt. Wenn ein Deutscher auftaucht, kommt ein Eidgenosse deshalb in die paradoxe Situation, sich gleichzeitig überlegen und unterlegen zu fühlen. Ein grässlicher Zustand. Reagieren kann er nur mit der schweizerischen Allzweckstrategie: Deeskalation. Und Deeskalation auf Schweizerdeutsch heißt zum Beispiel »Grüezi! Händ Si en Autobahnvignette?« (Guten Tag! Haben Sie eine Autobahnvignette?) Vielleicht kann man als Schweizer nicht Hochdeutsch. Aber das Mautsystem funktioniert seit über 25 Jahren, sogar für PKWs.
Dem Besucher aus dem Ausland wird auffallen, dass in der Schweiz alle Ansagen in den Zügen und alle Aufschriften auf den Verpackungen dreisprachig sind. Auf der Milchtüte steht zum Beispiel »Milch Lait Latte«. Lustige Gemüter freuen sich, dass das mittlere Wort, deutsch ausgesprochen, Dialektausdruck für »legt« ist. Die Reihenfolge Deutsch-Französisch-Italienisch widerspiegelt die inoffiziellen Hierarchieverhältnisse im Land. Offiziell hat die Schweiz vier gleichberechtigte Landesteile mit je einer Amtssprache: 64 Prozent der knapp acht Millionen Schweizer sprechen Schweizerdeutsch, den Schriftverkehr führen sie auf Hochdeutsch. Die »Welschen« oder »Romands«, jene gut 20 Prozent, die Französisch sprechen, leben im Westen des Landes in den Kantonen Waadt, Neuenburg, Genf und Jura. Im Süden, jenseits der Alpen, liegt das Tessin, wo von gut sechs Prozent der Schweizer Italienisch gesprochen wird. Im Graubünden, ebenfalls jenseits vom Gotthard, spricht man offiziell Rätoromanisch. Das ist eine eigenständige Sprache, die wie eine Mischung aus zerhacktem Italienisch, Russisch und Esperanto klingt. Und ungefähr so viele Unterdialekte hat wie der Kanton Einwohner – immerhin 0,5 Prozent aller Eidgenossen. Abgesehen von der mehrsprachigen Beschriftung hat die Vielsprachigkeit der Schweiz keine Auswirkungen auf den Alltag. Es ist auch ein Irrglaube, dass jeder Schweizer alle Landessprachen automatisch beherrscht. Genau wie jeder andere muss er diese in der Schule lernen – es sei denn, er ist ein »Bilingue« (sprich: Bilänk) und wächst mit zwei Muttersprachen auf. Allerdings war Französisch in der Deutschschweiz bis vor kurzem erste Fremdsprache und wurde bereits in der Primarschule (Grundschule) unterrichtet. Wenn sie es mit einem Franzosen oder Engländer zu tun haben, wechseln Schweizer der gebildeteren Schichten immer noch bereitwillig in die passende Fremdsprache: um es dem Fremden leicht zu machen und um ein bisschen zu üben. Falls es sich bei den Fremden nicht um Deutsche handelt. Rätoromanisch hingegen können auch in der Schweiz nur die Muttersprachler, und die Italienischkenntnisse beschränken sich meist auf die paar Brocken, die man aus den Ferien kennt. Und dort trifft man eher auf Deutsche oder Engländer. Weshalb vor allem die jüngeren Schweizer von allen Fremdsprachen Englisch am besten beherrschen. In einigen Kantonen ist Englisch in den Schulen mittlerweile erste Fremdsprache. Ohnehin ist die Schweizerdeutsche Alltagssprache sehr stark von englischen Wörtern gespickt: family, walking distance, challenge. Wer etwas auf sich hält, spricht sie mit möglichst englischem Akzent aus.
Wenn von der Schweiz die Rede ist, denkt man in der Regel an die Deutschschweiz. Diese Arroganz erbost alle anderen Schweizer in hohem Maße. Sie rächen sich, indem sie sich taub stellen, wenn man sie fragt, ob sie Deutsch sprechen. In der Regel können sie es leidlich, da sie es in der Schule lernen – als erste Fremdsprache. Aber sie wollen nicht. Zu den Deutschen ist das Verhältnis prinzipiell in allen Landesteilen ähnlich, allerdings mit leicht verschobenen Schwerpunkten: Die Westschweizer, Tessiner und Rätoromanen mögen die Deutschen nicht, weil sie die Deutschschweizer nicht mögen. Sie können zwischen beiden keine großen Unterschiede erkennen. Beide benehmen sich in ihren Augen wie Eroberer. Denn interessanterweise führen sich die Deutschschweizer im Tessin so auf, wie sie es den Deutschen in ihrer Region vorwerfen: Sie setzen überall voraus, dass ihre Sprache gesprochen wird, sie nehmen keine Rücksicht auf die Empfindlichkeiten, und sie wollen überall Röschti und Geschnetzeltes essen. Das Tessin, kaum drei Autostunden von Basel entfernt, wird von vielen Deutschschweizern – und auch von Deutschen – als eine Art Freizeitpark genutzt. Viele Dörfer sind an den Wochenenden und in den Ferien fest in Deutschschweizer Hand und unter der Woche ausgestorben.
Wenn ein Schweizer an die Deutschen denkt, hat er fast automatisch die Bürger der ehemaligen BRD vor Augen. Ostdeutschen ist man vor 1989 ja kaum je begegnet und wenn doch, haben sie sich wahrscheinlich am Skilift nicht vorgedrängelt. Heute haben ehemalige Bürger der DDR in der Schweiz in manchen Punkten Geburtsvorteile. Davon wird noch die Rede sein.
1987 wurde in unserem Jugendzentrum eine Gruppe aus der DDR angekündigt. Wir konnten uns nicht viel darunter vorstellen. Wir wussten, dass es Deutsche sind, und dass sie nicht reisen dürfen. Sie haben den Sozialismus, aber das war nichts Konkretes für uns. Er hat irgendwas mit der Sowjetunion zu tun, wo es Kolchosen gibt. Am Abend des ersten Zusammentreffens stellten wir Bier, Wein und Cola auf. Sie sahen dann relativ normal aus, ihre Kleider waren nicht besonders toll, aber das spielte bei uns keine große Rolle, weil wir uns sowieso alle die Haare färbten und unsere Sachen meist auf dem Flohmarkt kauften.
Wir freuten uns, dass wir eine Gelegenheit hatten, Hochdeutsch zu reden, das war cool, und wir gaben uns Mühe, dass man den Schweizer Akzent nicht so hörte. Wahrscheinlich sprachen wir über Musik und Bands. Ein Mädchen erzählte von der DDR, dass sie dort überhaupt nichts machen können, nirgendwohin reisen, nichts kaufen, und dass es sowieso total blöd dort sei. Damit konnten wir nichts anfangen. Wir hatten vor allem versucht, sie unseren Wohlstand nicht so spüren zu lassen. Es war abgesprochen, dass wir das Thema »Reisen« möglichst umgehen, obwohl im Sommer die meisten ihre erste Interrailreise machen wollten. Bevor die Besucher aus der DDR kamen, hatte es sogar eine Diskussion darüber gegeben, ob wir Coca Cola auftischen sollten. Weil es das bei ihnen doch nicht gab, und es ihnen deshalb vielleicht peinlich hätte sein können. Wir versuchten dann irgendwie, das Gespräch mit dem Mädchen auf ein anderes Thema zu lenken, es war uns unangenehm, dass es uns offenbar so viel besser ging als ihr und sie es so offen zugab. Vor allem wussten wir nicht, was wir dagegen hätten tun sollen.
Von der DDR wusste man in der Schweiz nicht viel. Politische Schulungsmaßnahmen des Kalten Krieges wie der »kritische Systemvergleich« in den bundesdeutschen Schulen fanden in der Schweiz nicht statt, meist wurde das Thema höchstens in Geographie und Geschichte kurz gestreift. Die DDR blieb ein weißer Fleck. Als die Mauer dann fiel und man die ersten Ostdeutschen im Fernsehen sah, fiel vor allem ihre Unbeholfenheit auf und dass sie nicht besonders gut angezogen waren. Aber Vorurteile hegte man nicht gegen sie. Man machte sich im Privaten kaum Gedanken über die »Ossis«. Allerdings hielt man es schon für etwas ungewöhnlich, dass sie sich, soweit man das in den Medien mitbekam, so oft beklagten und so aufgebracht waren. Jetzt war es doch schließlich vorbei, was wollten sie denn noch? Als sich einige von ihnen nach ein paar Jahren dann eine Reise in die Schweiz leisten konnten, wurden sie auch zu den »Schwoobe« gerechnet. Aber da sie ganz offensichtlich unsicherer waren als ihre westdeutschen Landsleute und sich eher zögerlich umsahen, genossen sie mildernde Umstände. Seither verlieben sich Ostdeutsche und Schweizer erstaunlich häufig ineinander. Davon wird später noch die Rede sein.
Daniela und Peter Hänggi aus Zürich haben ihre deutschen Freunde in Siegburg im Rheinland besucht. Bis Köln/Bonn sind sie geflogen, dort wurden sie von Gerd und Jutta mit dem Auto abgeholt. Als sie im Flieger zurück nach Zürich sitzen, unterhalten sich Daniela und Peter über die Autofahrt. »Ein bisschen verkrampft hat er ja schon ausgesehen«, sagt Peter. »Und sie hat sich total ans Steuerrad geklammert«, ergänzt Daniela. »Einmal hatte ich das Gefühl, sie verliere ein bisschen die Kontrolle«, meint Peter nach einer Weile. Die beiden sinnieren, während das Flugzeug startet. Als sie in der Luft sind, sagt Daniela: »Eigentlich war es mir ja schon fast ein bisschen zu schnell.« Peter nickt etwas abwesend. Nach einer Weile meint Daniela: »Also ich würde mich gar nicht trauen, so schnell zu fahren wie Jutta.« Peter erwidert nichts, er schaut versonnen hinaus. Doch, ihn würde es schon kitzeln, mal mit 195 über die Autobahn zu blochen wie Gerd und Jutta, nur mal so, um zu sehen, ob der »Chlapf« (Auto) das bringt. Aber andererseits; wer weiß, wie viele Unfälle es gäbe, wenn die Schweiz die 120-km/h-Geschwindigkeitsbegrenzung aufheben würde. Abends, als Daniela schon fast eingeschlafen ist, sagt Peter ins dunkle Zimmer: »Vielleicht frage ich Gerd das nächste Mal, ob ich es mal probieren darf.«
Der allerniederste Grund von allen, warum die Schweizer die Deutschen nicht mögen, insbesondere wenn sie in einem Auto mit D-Aufkleber sitzen, ist der folgende: Sie sind verdammt neidisch auf sie. Denn, das weiß in der Schweiz jedes Kind, die Deutschen haben auf ihren Autobahnen keine Geschwindigkeitsbegrenzung. Sie setzen sich ans Steuer, drücken durch und können zeigen, was ihr »Chlapf« draufhat. Nicht wie in der Schweiz, wo man maximal 120 fahren darf, wenn man sein »Billett« (Führerschein) behalten will. Diese Unmöglichkeit des offenen Kräftemessens ist es, die den Schweizern die eidgenössische Mischung aus freiwilligem Triebverzicht, Minderwertigkeitskomplexen und kompensatorischer Verachtung am quälendsten bewusst macht. Mit besonderer Genugtuung hören sie darum, wenn im Radio berichtet wird, dass ein Fahrer mit deutschem Kennzeichen auf einer Schweizer Autobahn mit »massiv erhöhter Geschwindigkeit« angehalten wurde und man ihm nicht nur »an Ort und Stelle eine hohe Geldbuße« aufgebrummt, sondern auch noch die Fahrerlaubnis weggenommen hat. In den 80er Jahren gründete sich in der Schweiz am rechten äußeren politischen Spektrum die »Autopartei«. Ihr einziger Inhalt und zugleich ihr Motto hieß »Freie Fahrt für freie Bürger«. In den 90er Jahren verwandelte sie sich in die ebenso dubiose »Freiheitspartei«, hat sich aber inzwischen wieder zurückbenannt.
Besucher aus Deutschland, die sich bei den Eidgenossen umsehen wollen, haben von all diesen Dingen zum Glück keine Ahnung. Voller Vorfreude kommen sie über die Schweizer Grenze und freuen sich auf ein paar teure, aber schöne Tage in einem der reichsten Länder Europas. Woher sollen sie auch ahnen, welche Abgründe sich auftun, wenn ein Schweizer freundlich lächelt und sagt: »Grüezi. Händ Si öppis zum verzolle?« (»Guten Tag, haben Sie etwas zu verzollen?«)
Vom Nutzen der maßvollen Selbstverleugnung –
Do’s und Dont’s für Deutsche
im Kontakt mit den Einheimischen
»Ich bin sympathisch, verdammte Scheiße, also behandelt mich gefälligst normal. Ich hab den Zweiten Weltkrieg nicht verbrochen, verdammt nochmal.«
Thomas Pigor
Jens Schmidt aus Dortmund ist seit drei Tagen in der Schweiz. Heute führt er seine Frau Ulli zum Essen aus. »Grüziwohl«, sagt er, als sie die Terrasse des Restaurants betreten. Denn Jens ist nicht das, was manche Leute als »hässlichen Deutschen« bezeichnen. Jens ist einer, der weiß, dass man sich den Sitten der Einheimischen anpasst. Als die Kellnerin fragt, ob sie einen Aperitif bringen darf, zwinkert Jens seiner Frau verschmitzt zu. »Siehst du«, sagt sein Blick, »der Harry hat recht gehabt, ohne Getränk vor dem Essen läuft bei den Schweizern gar nichts.« Das weiß Jens von seinem Kegelbruder, der vor kurzem auch hier war. »Einen Sekt«, bestellt Ulli, ist schließlich Urlaub. »Ein Pils«, sagt Jens und lehnt sich froh zurück. Die Aussicht auf den See ist wunderbar. Er hat nicht bemerkt, dass die Augenbrauen der Kellnerin bei der Bestellung um einen halben Millimeter nach oben gerutscht sind, während sie lächelte: »Gärn« (gerne). Als sie kurz darauf mit den Getränken kommt, ist ihr Gesicht wieder unbestimmt freundlich. Ein kurzes Ablästern beim Kollegen am »Buffet« (Ausschank) hat sie entspannt. Unterdessen haben Jens und Ulli ausgewählt, was sie essen wollen. »Ich bekomme das Cordon bleu«, sagt Jens. »Ich nehme das Rindsvoressen. Mit Pommes statt Reis bitte.« Auch jetzt entgeht beiden das eisige Blitzen ganz hinten in den Augen der Kellnerin. Sie lächelt: »Gärn.« Darf es noch etwas zu trinken sein? Ja, einen Rotwein hätte Ulli gern. »Es Dreierli?«, fragt die Kellnerin. Ulli versteht nichts, mutig sagt sie »Null zwei bitte.« Jens bleibt beim Pils. Das Essen ist dann hervorragend, nach Brot müssen sie zwar fragen, aber dafür sind auf dem kleinen Metallgestell, das die Kellnerin auf den Tisch stellt, nicht nur Salz und Pfeffer, sondern auch Maggi-Flüssigwürze und das gelbe »Fondor«-Pulver. Sehr gut, denkt Jens, und probiert alles einmal durch. Als er später »Zahlen!« ruft, kommt die Kellnerin sehr schnell mit der Rechnung. Natürlich muss Jens schlucken, als er den Betrag sieht, davon hätte er zu Hause noch Harry und Tina mit einladen können. Aber er lässt sich nichts anmerken, schließlich ist Urlaub. Und damit Ulli sieht, dass ihn die paar Fränkli nicht schocken können, rundet er die Rechnung sogar auf den übernächsten Franken auf. Dann sagen beide »Tschüss« und gehen hinaus in die laue Sommernacht. Das überdeutliche »Uff Widerluege« (Auf Wiedersehen) der Kellnerin nehmen sie nicht mehr wahr. Ein schöner Abend in der Schweiz. Jens und Ulli haben alles falsch gemacht, was Deutsche in der Schweiz falsch machen können. Aber sie haben es nicht bemerkt.
Zunächst einmal sollte niemand, der kein Schweizerdeutsch spricht, den einheimischen Gruß benutzen. Er klingt in Schweizer Ohren immer wie ein Nachäffen. Abgesehen davon wird er »Grüezi« ausgesprochen, nicht »Grüzzi«. Aber wenn einer schon Deutscher ist, dann soll er wenigstens dazu stehen. Und halt in Gottes Namen Schriftdeutsch reden. Denken die Schweizer. Man merkt es ja sowieso. Deutsche sagen am besten »Guten Tag«, wenn sie irgendwo hinkommen, wo man eine Begrüßung erwartet. Das ist in der Schweiz – zumindest in den ländlicheren Regionen – in sämtlichen öffentlichen Räumen der Fall: Auf der Post, in Restaurants, in Geschäften. Auf dem Land auch wenn man in einen Autobus steigt. In der Regel wird der Gruß mit einem ungerührten »Grüezi wohl« oder »Grüess ech« (»Grüße Euch«) erwidert werden.
Zurück zu Jens und Ulli. Wer in der Schweiz ein Pils trinken möchte, bestellt »eine Stange«. Dass Jens das nicht wusste, ist nicht der Grund, warum die Serviertochter ihn sofort als »Sauschwoob« einordnete. Problematisch war, dass Jens selbstverständlich voraussetzte, die Kellnerin wisse, was ein Pils ist. Er ist davon ausgegangen, diese Bezeichnung, obwohl nur in Deutschland gebräuchlich, werde automatisch vom Rest der Welt verstanden. In Schweizer Ohren hat das den Klang von »… und morgen die ganze Welt«. Schweizer sind nachtragend.
Eine Stange bezeichnet in der Schweiz 0,3 Liter eines offen gezapften, hellen Biers in einem hohen Glas. Je nachdem, wie urig es in einem Etablissement zugeht, schlägt der Kellner vielleicht »e Rugeli« vor, das bezeichnet dieselbe Menge in einem dicken Glas mit Henkel. Offenes Bier wird in der Schweiz sofort nach dem Zapfen serviert. Die Kunst am Tresen besteht darin, das Glas im richtigen Winkel an den Zapfhahn zu halten, so dass der Schaum genau bei der Eichmarke beginnt, wenn das Glas wieder gerade steht. Entsprechend weich und schnell verflüssigt ist der Bierschaum. Dass ein gutes Pils sieben Minuten braucht, würde jeder Schweizer stark bezweifeln. Eine langsam abgesetzte, knisternd-stabile Schaumkrone deutschen Stils nimmt er angeekelt zur Kenntnis. Besucher aus Deutschland sollten sich daran gewöhnen oder Wein trinken. Biertrinken ist in der Schweiz vor allem in ländlicheren Gegenden noch immer eher eine Sache der Männer. Vor einigen Jahren machte die Schweizer Bierindustrie den Versuch, die Schweizerinnen mit einer speziellen »Lady-Stange« zu locken. Diese fasste nur 0,2 Liter. Der Gedanke dahinter war offenbar, dass eine Frau, die sich zutraut, 0,3 Liter Bier zu trinken, auch sonst nicht über alle Zweifel erhaben ist. Durchgesetzt hat sich die »Lady-Stange« aber nicht.
Die Bezeichnung »Null« plus Anzahl der Deziliter bei einer Getränkebestellung ist in der Schweiz vollständig unbekannt. Offenen Wein gibt es als »Einerli« (0,1), »Zweierli« (0,2), »Dreierli« (0,3) oder »Halbeli« (0,5). Hier tritt der Dialektgrundsatz für Deutsche übrigens außer Kraft. Sie müssen halt irgendwie versuchen es auszusprechen. Weinschorlen gelten als barbarisch, und wo sie auf der Karte angeboten werden, rechnet man fest mit deutschen Gästen, die man mit verwässertem Kochwein über den Tisch ziehen kann. Sekt ist in der Schweiz den Animierspelunken vorbehalten. Entweder man trinkt »e Cüpli« – ein Glas Champagner – oder, in den Städten, eventuell Prosecco oder Crémant. Bei den alkoholfreien Getränken ist neben den üblichen amerikanischen Softdrinks das einheimische »Rivella« sehr beliebt – eine bräunlich-durchsichtige Limonade auf Molkebasis, die sehr erfrischend schmeckt. In vielen traditionellen Cafés und Restaurants kommt ständig die Serviertochter vorbei und gießt einem aus dem Fläschchen nach. Sobald es nur noch etwa zu einem Drittel voll ist, fragt sie, ob es noch etwas sein darf. Wer nicht arm oder geizig erscheinen will, bestellt verdattert nach, womit sie ihr Ziel erreicht hat.
Wer in einem Restaurant Essen ordert, sollte die Formulierung »Ich bekomme …« unbedingt vermeiden. Sonst denkt sich der Kellner: »Bisch sicher, du Sauschwoob?« (»Bist du dir da so sicher, du Sauschwabe?«) Eine solche Bestellung klingt für die Eidgenossen sehr unflätig. Etwa so, als ob man zu einem Kellner in Dortmund oder Chemnitz sagen würde: »Bring mir Pommes, aber ein bisschen zackzack!« Mit »Ich hätte gerne« fährt man besser. Was übrigens Pommes betrifft: In der Schweiz heißen sie »Pommfritt«. Alles andere bedient nur die Vorurteile: Kann nicht einmal zwei simple französische Wörter richtig aussprechen, aber spielt sich hier auf! Dass die Schweizer selbst jedes ihrer zahlreichen französischen Lehnwörter falsch betonen, spielt dabei keine Rolle. Wenn das Getränk dann kommt, lautet das richtige Wort »Merci« – auf der ersten Silbe betont. Damit kann man vielleicht ein paar Punkte gutmachen.
Früher war es keine Frage wie man im Restaurant nach der »Serviertochter« rief: »Hallo Frölein!«. Aber wie ruft man heute? Die Meinungen gehen auseinander. »Möglichst persönlich«, rät Restaurantbesitzer Ruedi Frei von der »Waldmannsburg« in Dübendorf. »Fragen Sie nach dem Namen.« Will man das nicht, tut es ein nettes »Entschuldigung«.
(Tages-Anzeiger Zürich, 23. Juni 2003)
Ohne »Bitte«, »Danke« und »Entschuldigung« geht in der Schweiz sehr wenig. Wenn man zahlen möchte, versucht man den Blick der Bedienung aufzufangen. Diese wird dann umgehend zum Tisch kommen und nach weiteren Wünschen fragen. Beim Abtragen der Teller wird oft die Frage »Isch es rächt gsi?« gestellt (»Hat es geschmeckt?«). Wenn man es halbwegs mit seinem Gewissen vereinbaren kann, sollte man sagen »Sehr gut, dankeschön«. Der Dank gilt nur der Nachfrage, genießbares Essen darf man für den Preis schon erwarten. Auch kleinste Reklamationen sollte man sich gut überlegen. Zwar wird im Ernstfall der Kellner oder eventuell sein Vorgesetzter den Fehler sofort mit unterwürfigster Geste beheben. Doch vermutlich wird er dem Gast auch ohne Worte zu verstehen geben, dass Reklamieren extrem ungezogen ist. Denn der allgemeinverbindliche Verhaltenscode in der Schweiz heißt: Maßvolle Selbstverleugnung. Man nennt es »Rücksicht«.
Dieser Verhaltenscode gilt überall in der Öffentlichkeit. Für Deutsche bedeutet das: Üben Sie sich in der affektiertesten Untertänigkeit, zu der Sie sich imstande fühlen. Der Schweizer wird sich freuen, dass er es zur Abwechslung mal mit einem untypischen Deutschen zu tun hat. Zerstören Sie diesen Eindruck auf keinen Fall, indem Sie sich irgendwo mit »Tschüss« oder gar »Tschö« verabschieden. »Tschüss« wird in der Schweiz ausschließlich für Personen benutzt, die man seit längerem duzt. Dann kann »Tschüss« sowohl Begrüßung als auch Verabschiedung sein. Zu fremden Leuten »Tschüss« zu sagen ist eine Respektlosigkeit, nach der die grauhaarige Dame im Souvenirgeschäft nach Luft ringen muss. Sagen Sie »Auf Wiedersehen«. Und vorsichtshalber noch »Danke«. Wofür, das ist gar nicht so wichtig.
Floskeln spielen bereits im unpersönlichen Umgang eine enorme Rolle. Egal ob im kleinsten Lädchen auf dem Dorf oder im »MMM Migros« am Zürcher Hauptbahnhof: Wer vor der Kassiererin steht, entbietet einen Gruß. Wenn sie den Betrag nennt, wird sie ein »Bitte« anhängen und danken, wenn sie das Geld entgegennimmt. Der Kunde macht sich verdächtig, wenn er an der Kasse anfängt, nach den passenden Münzen zu kramen. Niemals wird eine Schweizer Kassiererin »Haben Sie es nicht passend?« fragen, und auch für größte Geldscheine wird sie ohne Murren Wechselgeld herausgeben. Zumindest in größeren Geschäften ist es meist auch kein Problem, in Euro zu bezahlen. Kreditkarten sind weiter verbreitet als in Deutschland. So oder so quittiert aber der Kunde den Empfang des Retourgeldes mit einem »Danke« oder »Merci«. Dann sagt man noch »Auf Wiedersehen« oder »Adieu« (»Addiöö«). Einen »schönen Feierabend« oder Sonntag zu wünschen ist hingegen unüblich. Ein solcher Zusatz wird vom Personal als leicht schmierig und irgendwie verdächtig ignoriert.
Abseits von Supermarktkassen und Bank- sowie Fahrkartenschaltern halten die Schweizer nichts vom Schlangestehen. Sowohl an der Wursttheke als auch an der Busstation wird gedrängelt, was das Zeug hält. Dabei geben sich die Einheimischen unbedingt Mühe, den Eindruck des Zufälligen aufrechtzuerhalten. Falls sie jemanden allzu offensichtlich anrempeln, geben sie sich erschrocken und entschuldigen sich bereitwillig. Ein Deutscher kann hier gerne mitmachen, er sollte dabei aber seine Nationalität verschleiern. Sonst wird sich die Menge sofort gegen ihn wenden und denken: »Typisch deutsch, die müssen sich immer vordrängen.« Sollte man als Fremder allzu dreist gschupft (gestoßen) werden, kann man sich beim Drängler entschuldigen. Üblich ist dafür das Wort »Pardon«, natürlich auf der ersten Silbe betont. So machen es die Schweizer selbst. Der allzu offensichtliche Drängler wird sich ebenfalls entschuldigen und sich ärgern, weil er erwischt wurde. Dies alles gilt jedoch nur an Orten, in denen sich in anderen Ländern Schlangen bilden würden. In Menschenmengen, etwa auf Märkten, ist es in der Schweiz ratsam, durch schlängelnde Bewegungen möglichst viel Körperkontakt zu vermeiden. Denn wenn die Eidgenossen rempeln, dann richtig. Und sie tun es auf ganz andere Weise als die Deutschen. Die Deutschen rempeln auf der Straße aus einer Art Ignoranz. Wenn dort, wo sie durchwollen, zufällig einer steht, rammen sie ihn eben. Es könnte genauso gut ein Hydrant oder eine Mülltonne sein. Bei den Schweizern hat das Rempeln etwas Persönliches. Sie nehmen den Nächsten wahr und richten mit dem Ellbogen eine Botschaft an ihn: »Du störst mich. Hau ab.«
Sicherlich gibt es Deutsche, die meinen, eidgenössische Benimmregeln seien an den Haaren herbeigezogen und übertrieben. Sie finden Demutsgesten unangebracht und vielleicht sogar unwürdig. Sie sind auch der Meinung, dass die Zeiten vorbei sind, in denen von Deutschen im Ausland mit Recht eine gewisse Zurückhaltung erwartet wurde. Sie haben etwas Grundsätzliches noch nicht verstanden. In der Schweiz ist höfliche Unterwürfigkeit die Regel und deutsche Direktheit eine Ausnahme. Untereinander benehmen sich die Schweizer nämlich genauso. Im direkten Vergleich wirken nicht nur die durchschnittlichen Umgangsformen der Deutschen ungehobelt, sondern die Alltagssitten praktisch aller anderer Nationen der Welt. Aber den Deutschen kann man das als Schweizer leider besonders schlecht nachsehen.
Die Schweiz ist seit jeher ein kleines Land ohne König. Ein Land, das seine Stabilität halten konnte, weil es sich vor Jahrhunderten für Deeskalation entschieden hat. Ein Land, dessen Bewohner selbst dafür sorgen müssen, dass man das bequeme Leben nicht gefährdet, indem man einander an die Gurgel geht. Das lässt sich auf Dauer nur praktizieren, wenn man sich gegenseitig ununterbrochen von seiner Friedfertigkeit überzeugt. Die Höflichkeit der Schweizer ist keine Unterwürfigkeit. Sondern Ausdruck davon, dass man den Konsens der Friedfertigkeit akzeptiert. Mit ihren höflichen Umgangsformen versichern die Eidgenossen, dass sie gegenwärtig davon absehen, dem anderen den Schädel einzuschlagen. Damit hat die schweizerische Höflichkeit etwas durchaus Aggressives. »Entschuldigung« bedeutet »Geh mir gefälligst nicht an die Gurgel, ich geh’ dir auch nicht an die Gurgel, verstanden!?«. Jeder, der diese Regel nicht im selben Maß befolgt, muss als Aggressor erscheinen. Das mag ein Grund sein, warum vielen Schweizern der innere Rolladen heruntergeht, sobald ihnen ein Deutscher über den Weg läuft: Der Deutsche ist ihnen zu ähnlich, als dass für ihn die Regel außer Kraft gesetzt werden könnte. Aber er befolgt sie nicht und signalisiert dadurch Ärger. Ein Deutscher hat also schon viel gewonnen, wenn er das richtige Grüßen beherrscht.