Viele Menschen in Leiterfunktion würden sagen, es genüge nicht, eine großartige Vision für die Zukunft zu entwickeln, ohne vorher zu erläutern, warum es unmöglich und inakzeptabel ist, stehen zu bleiben, wo wir gerade sind. Wir müssen uns hier in Europa darüber klar werden, dass wir uns ohne Gottes Inspiration und ohne deutliche Ausrichtung auf ihn nicht zufriedengeben können. Wir müssen die geistigen Bedürfnisse und Herausforderungen unserer Zeit klar erkennen. Dieses Buch möchte für alle, die mehr wissen und zu Gottes Plan für die Zukunft dieses Kontinents beitragen wollen, ein guter Leitfaden sein. Höchstwahrscheinlich wird Europa der Kampfplatz sein, auf dem sich die Zukunft des weltweiten Christentums entscheidet. Mitgliederzahlen evangelikaler Gemeinden auf anderen Kontinenten wie beispielsweise in Südamerika und Afrika oder in Ländern wie Indien und China weisen ein exponentielles Wachstum auf. Doch Europa erlebt seit hundert Jahren die verheerendste Entchristlichung seiner Geschichte. Obwohl Europa als Heimat der Reformation und bedeutender Missionsbewegungen eine entscheidende Rolle dabei gespielt hat, das biblische Evangelium zu verbreiten und den Menschen wieder ins Bewusstsein zu rücken, ist es heute der weltweit größte Exporteur von Säkularismus, von Atheismus und von Ideologien, die im Gegensatz zum Christentum und der Gemeinde stehen. Tatsächlich sind Atheismus und Agnostizismus (Anstieg von 1,7 Millionen auf 130 Millionen Anhänger während des vergangenen Jahrhunderts) die am schnellsten wachsenden Weltanschauungen in Europa. Europa braucht die Aufmerksamkeit und Hilfe der weltweiten Gemeinde. Bis jetzt haben Missionare und Gemeindegründer aus anderen Kontinenten noch keine einfachen Antworten gefunden, wie Europäer erreicht werden können. Viele von ihnen fragen sich, ob die Trends in Europa eine Bedrohung für das weltweite Christentum darstellen. Viele Nicht-Europäer betrachten Europa noch immer als einen christlichen Kontinent, doch ein Großteil der Menschen, die hier leben, bezeichnet Europa als nachchristlich. Nur wenige Außenstehende würden die Europäer zu den ‚unerreichten Volksgruppen’ zählen, die heute auf der Agenda der Auslandsmission stehen. Doch da nur sehr wenige Gemeinden in Europa versuchen, die Dörfer und Städte in ihrer Umgebung zu erreichen, und nur sehr wenige Menschen Jesus Christus aktiv nachfolgen, wird der größte Teil Europas auch nicht mit dem wahren Evangelium über Jesus Christus, der durch das Leben seiner Nachfolger wirkt, erreicht. Die Gemeindegründungsarbeit geht zurzeit nur langsam voran, und deshalb wird sich die derzeitige Situation wahrscheinlich nicht ändern. Europa braucht aber Veränderung. Europa ist eine Region, die Missionare braucht. In Europa lassen sich zwei Gruppen von Christen identifizieren. Es gibt jene, die wie zu Moses Zeiten die Riesen im verheißenen Land sehen und sagen, dass wir nichts tun können, weil wir zu wenige, zu schwach und zu klein sind, und weil der Boden zu hart ist. Das sind die Menschen, die sich durch Angst und Resignation lähmen lassen – Christen mit einer ‚Heuschreckenmentalität’ (4. Mose 13,33). Aber es gibt noch eine andere Gruppe: die neuen ‚Kalebs‘, die sehen, dass wir eigentlich sehr viele Möglichkeiten haben, das Evangelium in Europa zu verkündigen und so viele offene Türen. Das einzige Problem ist der Mangel an Menschen, die bereit sind zu gehen und einzutreten! Der größte Kampf findet in unseren Köpfen statt. In Mittel- und Osteuropa, dort wo ich lebe, kann man junge und furchtlose Leiter finden, wie wir sie brauchen, vor allem in der Generation, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus oder kurz davor geboren wurde. Die Gettomentalität früherer Generationen von Christen ist bei ihnen nicht sehr ausgeprägt. Sie wirken als dynamische Kraft im Dienst unter Jugendlichen und zunehmend auch bei Gemeindegründungen und bei innovativen christlichen Aktivitäten. Wenn Sie nach solchen Menschen Ausschau halten, werden Sie in diesem Buch viele Beispiele finden. Ich bin OM dankbar für diese Zusammenstellung. Dieses Buch versucht, die notwendige Aufmerksamkeit auf die aktuellen Bedürfnisse in Europa zu lenken und gibt einen klareren Einblick in das Geschehen an vielen Orten dieses höchst komplexen und vielschichtigen Kontinents. Im Großen und Ganzen ist es ein Buch der Hoffnung mit bewegenden Geschichten; gleichzeitig ist es auch eine nüchterne und selbstkritische Analyse. Es ist in der Tat äußerst wichtig, eine korrekte und ausgeglichene Vorstellung der tatsächlichen geistigen Lage in Europa zu bekommen. Zu viele Christen hier sind Opfer einer ‚Paniktheologie‘ – Panik davor, dass Europa ein muslimischer Kontinent werden könnte; Panik davor, dass wir unsere Rechte verlieren und von Säkularisten verfolgt oder diskriminiert werden könnten. Wir Christen haben Angst davor, dass uns die jüngere Generation verloren gehen, Mitgliedschaft in Gemeinden nachlassen und ein massiver Zuwachs an Immigranten uns von unserem rechtmäßigen Platz vertreiben könnte. Wir geraten in Panik wegen Homosexualität und Euthanasie und fürchten unsere Führungsrolle und unsere Privilegien in der Gemeinde zu verlieren, die wir seit Langem genießen und anderen aufdrängen. Doch ist unsere Panik berechtigt und unsere Wahrnehmung objektiv? Hat das Evangelium denn seine Kraft verloren? Absolut nicht! Wir sind zu einer Minderheit geworden, aber wir können lernen, eine Minderheit zu sein, ohne unter Minderwertigkeitskomplexen zu leiden. Wir leben nicht mehr in Jerusalem, wo die Menschen unseren Regeln und Gesetzen folgen. Wir leben in einem neuen Babylon, und das erfordert eine ganz andere, neue Denk- und Vorgehensweise. Aber es gibt heute viele Daniels in Europa und man kann sie kennenlernen. Es gibt keinen Grund zur Panik. Ich hoffe, dass alle Leser der folgenden Seiten zum Gebet und zur Tat ermutigt und inspiriert werden. Obwohl dieses Buch keine umfassende Analyse darstellt, sollte es dennoch ausreichen, uns alle zu echter Mitarbeit aufzurufen.
Jiří Unger Vorsitzender der Europäischen Evangelischen Allianz
Wozu braucht man ein Buch über die Bedürfnisse Europas? Das war meine erste Frage, als die europäischen Gebietsleiter von Operation Mobilisation mich baten, dieses Projekt zu koordinieren. Durch meinen Beruf als Fotojournalistin, den ich seit über 24 Jahren ausübe, war ich den herrschenden Umständen und Nöten in mehr als hundert Ländern auf fünf Kontinenten ausgesetzt gewesen. Wie viele andere Menschen meinte ich, Europa stünde recht weit unten auf der Liste sowohl materieller als auch geistlicher Bedürfnisse. Also habe ich einige Nachforschungen angestellt. Offensichtlich gibt es über den Kontinent Europa genügend Informationen zu jedem nur erdenklichen Thema, angefangen von Wildblumen bis hin zu politischer Geschichte. Allerdings gibt es nur eine Handvoll Bücher, die über Europas aktuellen geistlichen Zustand berichten. Diese Bücher versuchen, auf bestimmte Zustände aufmerksam zu machen, aber sie bieten keine praktische und spezifische Anleitung für die Leser zum Beten und Handeln. Durch meine Nachforschungen entdeckte ich unter anderem nach und nach folgende Tatsachen:
- Neun von den zwölf atheistischen / agnostischen Ländern der Welt, die in der Statistik ganz oben stehen, liegen in Europa.
- Von 731 Millionen Europäern folgen weniger als 2 % aktiv Jesus Christus nach. Und in mindestens 20 europäischen Ländern gibt es weniger als 1 % evangelikale Christen.
- Der Islam ist in Europa die am schnellsten wachsende Religion.
- Die Länder mit den höchsten Selbstmordraten der Welt liegen in Europa: Weißrussland, Litauen und Russland.
- Laut Statistik ist die Anzahl der Eheschließungen in der Europäischen Union von 6,3 pro 1000 Einwohner im Jahr 1990 auf 4,9 pro 1000 Einwohner im Jahr 2008 gesunken; ein Drittel aller Kinder aus diesen 27 Ländern stammt aus außerehelichen Beziehungen.
- Holland legalisierte 2002 als erstes Land der Welt die Sterbehilfe, obwohl sie dort schon seit 1973 praktiziert wurde. Ärzten ist es jetzt gesetzlich erlaubt, Euthanasie für sterbenskranke, chronisch kranke, behinderte und schwer depressive Menschen zu leisten, wenn diese darum bitten. Von der holländischen Regierung geförderte Studien zeigen allerdings, dass sie auch ‚ohne Bitte und Einwilligung’ jährlich das Leben von 900 bis 1000 Patienten beenden. In Belgien wurde Euthanasie ebenfalls legalisiert und die Schweiz erlaubt ‚private Selbstmordhilfe’, wodurch das Land zum Reiseziel von ‚Selbstmordtouristen’ geworden ist.
Ich würde sagen, viele Christen – selbst europäische Christen – sind sich solch beunruhigender Tatsachen ebenso wenig bewusst, wie ich es war. Der Vorschlag der OM-Gebietsleiter, diesen Kontinent ‚zurück auf die Missionslandkarte’ zu rücken, erschien auf einmal sehr logisch. Natürlich schien es mir sehr vermessen, ein Projekt von derart enormem Ausmaß anzugehen (zumal ich Amerikanerin bin, obwohl ich schon lange in London lebe). Deshalb habe ich mich stark auf Informationen und Hinweise von OM-Kontakten in ganz Europa gestützt. Die fünf Abschnitte dieses Buches gehen auf die Dienstbereiche ein, denen sich die OM-Felder selbst verschrieben haben. Doch um ein vollständigeres Bild der Nöte und Lösungen zu geben, habe ich zusätzlich einige ausgewählte Personen und Organisationen, die nicht Teil von OM sind, gebeten, zu diesem Werk beizutragen. Die meisten Fallstudien und Initiativen, die hier vorgestellt werden, sind eher von geringem Umfang und wirken sich nicht auf große Menschenmassen aus. Aber dass auch wenige Leute etwas erreichen können, sollte uns allen Mut machen. Ich bitte im Voraus um Entschuldigung dafür, was viele Leser als ernsthafte Auslassungen oder Mängel empfinden werden. Nur wenige der vielen Tausend wichtigen Bemühungen von Einzelpersonen, Gemeinden, Missionsorganisationen und anderen Initiativen auf dem ganzen Kontinent werden in diesem Buch aufgeführt. Die Quellenangaben sind ebenfalls nur als eine kleine Auswahl aus allen erhältlichen Quellen anzusehen. Ich würde dem Leser wärmstens empfehlen, Operation World[*] als Begleitmaterial zu verwenden, da darin in detaillierterer Form Tatsachen und Statistiken über die Nöte eines jeden Landes aufgeführt werden. Bitte lesen Sie diese Seiten mit einem offenen Herzen. Und beten Sie mit mir, dass Gott sie gebraucht, weitere Nachforschungen und eine Welle von engagiertem Handeln auf diesem großartigen Kontinent anzukurbeln. Europa hat der Welt so viel gegeben. Über 1000 Jahre lang war es das Kerngebiet des Christentums. Aber der Glaube, der einst eine zentrale Rolle im alltäglichen Leben spielte, ist an den Rand gedrängt worden. Ich hoffe, dass Sie mit mir übereinstimmen, dass die Zeit gekommen ist, Europa auf seinen rechtmäßigen Platz zurückzuführen.
Deborah Meroff
[*] * Jason Mandryk, Operation World, 7th Edition, Colorado Springs, Biblica Publishing, 2010
Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden ...
Herr, lass unser Mitgefühl wachsen. Ich spreche nicht nur von sozialem Engagement, sondern von echtem Mitgefühl, das der Heilige Geist in uns legt. Randgruppen werden vergessen oder vernachlässigt, sind schutzlos und benachteiligt, werden verletzt, verkauft, versklavt. Zu ihnen gehören die Kinder von Häftlingen und Suchtkranken; zu ihnen gehören die Alten und Kranken ohne medizinische Versorgung, die unheilbar Kranken; zu ihnen gehören alle, die zu Hause allein gelassen oder in einer Einrichtung abgegeben werden. Sie werden versteckt, weil sich die Familie ihrer Behinderung schämt. Sie werden zu einem Leben ohne Rechte und ohne Stimme gezwungen. Sie werden ausgenutzt. Interessiert uns die Tatsache, dass solche Menschen in unseren eigenen Städten und Dörfern leben? Wie können wir ihr Leid lindern, wenn wir nicht einmal wissen, wo genau sie sind? Wir wollen sie suchen. Wir wollen uns vorbereiten, indem wir Schulungen besuchen. Wir wollen beten. Und wir wollen für wenigstens ein Menschenleben eine Änderung bewirken – oder auch für viele. Menschen in Randgruppen werden oft dazu gezwungen, gegen ihren Willen zu handeln, und werden von ihren nächsten Freunden betrogen. Doch wenn wir mutig genug sind, diese Menschen zu suchen, werden wir Gottes Kraft auf eine neue Weise erleben. Wir werden einen verletzten Menschen lächeln sehen. Sehr wahrscheinlich werden wir uns über Leute ärgern, die von den Schmerzen anderer profitieren. Wenn wir nicht einfach nur vorbei laufen, sondern uns einsetzen, arbeitet unser himmlischer Vater selbst durch uns. An einem Wintertag im Kosovo betrat ich ein großes, altes, heruntergekommenes Reihenhaus und sah die Frau mit der Augenklappe, die wir vor Monaten schon einmal gesehen hatten. Sie begann, in einem schnellen, örtlichen Dialekt zu sprechen. „Meine Tochter ist jetzt weg, sie hat geheiratet und ihre neue Familie will mich nicht. Sie haben mich an diesem schrecklichen Ort allein gelassen.“ Wir besuchten noch sieben weitere Familien und acht alte Leute, die ganz allein waren. Einige der Kinder waren in der Schule, andere hatten Behinderungen und mussten daheimbleiben. Sie waren alle arm, viele kränklich. Sie waren ‚Überbleibsel’ des Kosovokriegs von 1999, wie jemand sagte. Nach zehn Jahren hatten sie immer noch keine eigene Wohnung; der Staat war für sie verantwortlich und sie befanden sich außerhalb des sozialen Netzes, aber sie erhielten überhaupt keine Hilfe von der Stadt. Sie kämpften um ihr Überleben. Nun, sie hatten die Erlaubnis, im Haus zu bleiben, doch in was für einem Haus: zugige Zimmer, zerbrochene Fenster, ekelerregende Toiletten! Sie erzählten, dass sie kaltes Wasser holten und es im Zimmer aufwärmten, um sich dann mit einem Schwamm zu waschen. Zwei der Zimmer, die wir sahen, hatten wegen der alten, unsicheren Elektroleitungen Feuer gefangen. Das war unsere Einführung in das ‚Feuerwehrhaus‘, wie wir es seitdem nennen, ein Haus für die Armen gleich neben der Feuerwehrhalle der Stadt. Acht Kinder waren in der Schule, die anderen sechs waren krank und konnten nicht hingehen. Alle trugen zerlumpte Kleider. Das Gebäude hatte trübe oder gar keine Beleuchtung und überall hing der Gestank von aufgestautem Abwasser in der Luft. In Gedanken stellten wir eine Liste von Dingen zusammen, die getan werden konnten. Am nächsten Tag baten wir Kontaktpersonen vom städtischen Wasserwerk, das aufgestaute Abwasser abzupumpen. Wir wechselten ein paar Pumpen des defekten Wassersystems im Keller aus und putzten zusammen mit den Bewohnern die Badezimmer. Einer unserer Freunde, ein Elektriker, konnte Schalter austauschen und das Licht funktionierte wieder in den dunklen Zimmern und Gängen. Wir reparierten Fenster, und die Frauen verteilten Kisten mit Kleidern und Nahrungsmitteln; die Kinder erhielten Schulsachen, wurden zum Arzt geschickt und bekamen Medikamente. Eine Frau fragte uns: „Warum helft ihr uns? Niemand hat sich seit dem Krieg um uns gekümmert.“ Stela, eine junge Frau aus unserem Team, antwortete: „Jesus gab uns den Auftrag, hierher zu kommen, und er kann euch Hoffnung geben.“ Eine andere Frau überlegte laut: „Wer ist Jesus?“, und Stela lächelte. „Er ist jemand, der nicht vorübergeht, wenn wir um Hilfe rufen.“ Ich traf einen Mann, der vor Kurzem aus siebenjähriger Haft entlassen worden war. Er hatte jemanden umgebracht, unter dessen herzloser Zwangskontrolle er gestanden hatte. Enver hatte schließlich den Mann angegriffen, um zu überleben. Jetzt lebte er mitten in seinem eigenen Müll und Urin, zerbrochen und geistig unfähig, sein Zimmer aufzuräumen oder ein normales Leben zu führen. Später sagte er zu mir: „Ich möchte besser leben, aber oft kann ich einfach nicht weiter.“ Wir baten um Erlaubnis, sein Zimmer zu putzen, und er stimmte zu. Enver machte einen langen Spaziergang, während wir Atemmasken aufsetzten, Handschuhe anzogen und sein Zimmer mit Sägemehl und Kalk desinfizierten. Als wir fertig waren, hatten wir zehn große Säcke voller Müll und Dreck weggeschaufelt und Enver konnte einen Neuanfang machen. Am nächsten Tag kam ich in sein Zimmer und war überrascht zu sehen, dass er einen Heizofen, eine neue Decke und eine neue Kaffeemaschine gefunden und seine alte Decke als Teppich auf dem Boden ausgebreitet hatte. Enver bedankte sich bei uns und versprach, dass er jetzt versuchen werde, es besser zu machen. Wir beteten für ihn, reichten ihm einen großen Sack voller Kleider, gaben ihm die Hand und gingen. Peter, ein deutscher Architekt, der uns besuchte, sagte zu mir: „Er ist ein verwundetes Kind.“ Ich musste denken, dass Enver im Geist noch immer ein Häftling war und befreit werden musste. – Herr, berühre ihn! Hassan ist ein älterer Herr im Kosovo, einst voller Energie und Kraft. Doch eine Verletzung hatte eine Behinderung zur Folge; er ist gelähmt und in allen seinen Bedürfnissen ganz auf fremde Hilfe angewiesen. Er ist seit Jahren bettlägerig. Seine einzigen Besucher sind eine Frau und ihre Tochter, die unter ihm wohnen und selbst in Armut leben, für ihn kochen und versuchen, ihm zu helfen, so gut sie können. Wir beschlossen, Hassan buchstäblich aufzuheben und zu unserem Auto zu tragen. Dann fuhren wir zu unserem Haus und saßen einige Stunden mit ihm im Garten. Es war das erste Mal seit zwei Jahren, dass er an der frischen Luft war. Als Hassan lächelte, schien es uns, als würde Jesus auch lächeln. Sehen Sie Jesus in anderen Menschen? Ich möchte Ihnen eine 50-jährige Frau mit Namen Natalia vorstellen. Nadya, eine meiner Freundinnen, hat sie im Januar zum ersten Mal getroffen, nachdem sie das Sozialamt einer Stadt in Montenegro gebeten hatte, ihr einige der ärmsten Familien zu nennen. Natalias Familie stand auf der Liste und so machten sich Nadya und eine Freundin auf die Suche und fanden sie in einer kleinen Hütte am Bahndamm. Die Frau lag im Bett und siechte an Lungenkrebs dahin. Ihre vier Kinder waren bei ihr, zwei Jungen und zwei Mädchen im Alter von 9 bis 16 Jahren. Ihr Mann, Alkoholiker, war nicht da. Seit Natalia krank geworden war, kam er häufiger heim, aber wenn er das Zimmer betrat, drehte sie sich jedes Mal im Bett unter großer Kraftanstrengung von ihm weg zur Wand. Die beiden Frauen hatten Geschenke, Nahrungsmittel und Vorräte mitgebracht. Meine Freundin Nadya beschloss, Natalia dort in ihrem Zuhause im Sterben zu begleiten. In den nächsten Tagen und Wochen besuchte sie sie regelmäßig, sang Lieder und kümmerte sich um sie. Die Kinder lernten die Lieder und der Jüngste, Boris, sang sie dann seiner Mutter vor. Nachdem sie Natalia einige Male von Jesus erzählt hatte, fragte Nadya, ob sie ihm ihr Leben geben wolle. Natalia sagte ja. Als ihr Mann sie am nächsten Tag wieder besuchte, drehte sie sich nicht von ihm weg, sondern ließ ihn an ihrer Seite sitzen und sie füttern. Es war ein klarer Ausdruck von Vergebung. Noch ein Tag verging und Nadya war dabei, als Natalia starb. In den folgenden Wochen arbeitete ein OM-Team an dem kleinen Haus, setzte neue Türen ein und strich die Innenwände weiß. Noch mehr Arbeit muss getan werden. Der Vater ist jetzt zusammen mit der Großmutter zu Hause, arbeitet und versucht, nicht mehr zu trinken. Es ist schwer für die Kinder, in die Schule zu gehen; sie haben einen harten Weg vor sich ... Doch wer hätte gedacht, dass durch eine sterbende Frau eine kleine Gemeinde in Montenegro entstehen würde? Natalia war eine der ersten drei Christen in dieser Stadt; drei Christen, die die erste Gemeinde bildeten. – Genauso wie die ersten drei Christen in Philippi: Lydia, dann ein Mädchen, das von einem bösen Geist geheilt wurde, und der Gefängniswärter von Philippi. Es reicht nicht, einem Bettler vielleicht ein bisschen zu essen zu geben. In jedem Dorf und in jeder Stadt müssen wir durch unsere Wohngebiete gehen und alle Personen ausfindig machen, die Randgruppen angehören. Wir müssen die Menschen finden, die alleine leben oder Flüchtlinge sind. Wir müssen dorthin gehen, wo Obdachlose leben, und nachfragen, wo Kinder leiden. Von Westeuropäern aus Kleinstädten erfuhr ich, wie schockiert sie waren, als sie feststellten, dass extrem arme oder leidende Menschen in ihren Städten lebten. Alle riefen: „Ich hatte nicht gedacht, dass so etwas hier passieren könnte!“ Wir sollten unsere Autos häufiger stehen lassen und zu Fuß dorthin gehen, wo Männer, Frauen und Kinder aus Randgruppen leben und arbeiten. Nur wer nach ihnen sucht, wird sie finden, und oft findet man viele weitere Personen, sobald man die erste gefunden hat. Wie Mutter Theresa gesagt hat: „Jede Stadt hat ihr Kalkutta.“ Wir müssen die Menschen finden, deren Leiden Gott sieht. Dann müssen wir herausfinden, wer unter ihnen keine Hilfe von anderen erhält. Es wäre gut, wenn wir die Polizei, die Schulen und Regierungsbeamte vor Ort ansprechen würden, um zu erfahren, welche Menschen am bedürftigsten sind, und dann Hilfe anzubieten. Oft werden sie durch unser Interesse überrascht und ermutigt sein. Lasst uns endlich den Gedanken aufgeben, dass sich Spiritualität nur um unser eigenes Leben dreht. Wir sollten saubere, strömende Flüsse sein, nicht abgestandene Sümpfe, die nichts als Mücken und Ungeziefer hervorbringen. Ein Freund sagte letzte Woche zu mir: „Im Himmel können wir für immer mit anderen Christen zusammen sein. Richten wir unser Augenmerk lieber auf ‚Außenseiter’, die fast alle Hoffnung verloren haben!“ Auf den nächsten Seiten werden wir uns mit der Situation von vier Außenseitergruppen befassen: Arme, Roma, Flüchtlinge oder Immigranten und Opfer von Menschenhandel sowie Menschen, die an HIV/Aids leiden. Diese Gruppen repräsentieren viele andere, die an den Rand der europäischen Gesellschaft gedrängt werden. Leider können wir sie aus Platzgründen nicht alle in diesem Buch beschreiben. Ich weiß nicht, welches Bild Sie vom Himmel haben, aber ich stelle mir unter anderem vor, dass es das Hochzeitsmahl des Herrn mit Menschen ist, die Verletzungen, Wunden und Verzweiflung erduldet haben. Sie sehen wie Männer und Frauen aus, die zerbrochen wurden – wie Bettler, Sklaven, Lahme und Einsame – aber jetzt sind sie geheilt und vollständig; ihre Augen leuchten vor Freude und Dankbarkeit, dass sie zu diesem großen Fest eingeladen wurden. Paulus schreibt: „Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette.“
– Dane Hanson für OM Europa, Arbeitsbereich ‚Randgruppen beistehen‘
Immigranten haben das Gesicht Europas verändert.
Laut einer unabhängigen Expertenkommission, dem Institut für Migrationsrichtlinien, leben und arbeiten heute etwa 7 bis 8 Millionen Migranten aus Afrika und 8,2 Millionen Asiaten (27 % aller Migranten) illegal in Europa.
In Italien leben zurzeit über 5 Millionen Immigranten – das sind circa 8 % der Gesamtbevölkerung. Schätzungen zufolge wird bis zum Jahr 2020 die Hälfte aller Einwohner Frankreichs einen Migrationshintergrund haben (Ausländer aus erster bis dritter Generation). Seit einigen Jahren sind Immigranten in Norwegen für über die Hälfte des Bevölkerungswachstums verantwortlich. Von 1998 bis 2008 wuchs die Anzahl nicht-westlicher Immigranten 41-mal schneller als die Gesamtbevölkerung. Im Jahr 2010 stammten 40 % aller Schüler in Oslo aus Familien mit Migrationshintergrund. Und in London, wo Menschen aus aller Welt leben, haben 50 Nationalitäten eigene Gemeinschaften mit über 10 000 Personen.
Da Bezeichnungen oft falsch benutzt werden oder austauschbar sind, müssen wir zuerst bestimmte Definitionen festlegen. Migranten sind Personen, die von einer Region oder einem Land in ein anderes gehen, normalerweise auf der Suche nach Arbeit. Immigranten ziehen aus einem Land in ein anderes, in dem sie keine Staatsbürger sind, um sich dort niederzulassen. Wie es das Übereinkommen der Vereinten Nationen definiert, ist ein Asylbewerber oder Flüchtling eine Person, die„aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will.“undefined
Ein Asylbewerber wird zu einem Flüchtling, wenn die Regierung ihren Antrag auf Asyl genehmigt hat.
Opfer von Menschenhandel gehören zu einer anderen Kategorie. Sie werden entweder gegen ihren Willen verschleppt oder gehen freiwillig mit, nachdem man ihnen vorgegaukelt hat, dass sie legale, gut bezahlte Arbeitsstellen erhalten würden, sobald sie am Zielort eingetroffen sind. Doch stattdessen finden sich die meisten von ihnen in Zwangsarbeit oder Prostitution gefangen.
Man nimmt an, dass die Europäische Union nun über 8 Millionen illegale Immigranten beherbergt. – Etwa eine halbe Million weiterer Immigranten kommen jedes Jahr über die Grenzen. Mehr als 13 000 weitere Männer, Frauen und Kinder sind seit 1988 beim Versuch, sich ein besseres Leben zu schaffen, tragisch ums Leben gekommen.
Während sehr viele der Menschen, denen es gelingt nach Europa zu kommen, hart arbeiten, um zu überleben und letztendlich erfolgreich sind, fühlen sich andere frustriert, enttäuscht und ausgenutzt. Kürzlich enthüllte ein Dokumentarbericht im britischen Fernsehen die schockierende Geschichte von ‚Englands geheimen Sklaven’, von einigen der 15 000 Haushaltshilfen (von insgesamt 3,5 Millionen Migranten), die jedes Jahr ins Land gebracht werden. In Hunderten von Fällen werden die Reisepässe dieser Dienstmädchen und Au-pair-Mädchen von ihren Arbeitgebern konfisziert. Sie leben wie im Gefängnis und werden gezwungen, 18 oder mehr Stunden pro Tag zu arbeiten und sind körperlichem und emotionalem Missbrauch ausgesetzt.
Mehr und mehr legale und auch illegale Neuankömmlinge treffen in Europa ein. Dadurch äußert sich in vielen Ländern die ausländerfeindliche Gesinnung, die überall unter der Oberfläche schwelt, in rassistischen Aktionen und Ausländerhass. Angst vor und Hass auf Muslime – Islamophobie – ist weit verbreitet und Angriffe auf Juden erreichten 2009 laut einer Studie ihren Höchststand seit 65 Jahren.
Wenn sich ein Ausländer bei euch niederlässt, sollt ihr ihn nicht ausbeuten. Den Ausländer, der bei euch wohnt, sollt ihr wie einen von euch behandeln und ihr sollt ihn lieben wie euch selbst ... 3. Mose 19,33-34 (NLB)
Neofaschistische und extrem rechte Parteien, die sich offen gegen Ausländer aussprechen, gewinnen an Stoßkraft. Immer mehr Politiker, wie beispielsweise Gianni Alemanno, der Bürgermeister von Rom, kommen an die Macht, da sie versprechen, mit Immigranten hart umzugehen. Im September 2010 gewannen die schwedischen Demokraten, eine Partei der äußersten Rechten, die gegen Immigranten ist und aus dem Naziumfeld hervorging, zum ersten Mal Sitze im schwedischen Parlament. Sie können nun die Regierung beeinflussen und ‚das Gleichgewicht der Kräfte halten’.
Erlauben wir Christen der allgemeinen Haltung der Gesellschaft, unser Denken zu beeinflussen, oder beeinflussen wir die Gesellschaft? Es ist tragisch, wenn die christliche Gemeinde die beachtlichen Möglichkeiten nicht erkennt, die durch die wachsende Globalisierung entstehen. Tausende von Menschen, die bisher in ihren eigenen Ländern nicht mit dem Evangelium erreicht werden konnten, befinden sich jetzt vor unserer Haustür. Gottes Wort ermahnt uns, die ‚zweite Meile’ zu gehen und Fremde willkommen zu heißen. Wenn es nicht uns gelingt, ihnen Jesus Christus zu zeigen, wem dann?
Welten voneinander entfernt
Die meisten Leute, die Juwelen, Felle und Designerkleidung entlang Zürichs eleganter Bahnhofstraße ansehen und betasten, sind sich erstaunlich unbewusst dessen, was sich nur ein paar Straßen weiter abspielt. Die Mehrheit der Schweizer empfindet den Sex- und Drogenhandel in der Langstraße als peinlich. Aber der gleiche Schmutz besudelt die Straßen jeder Stadt der Welt.
Das OM-Team Global Action Zürich (GAZ) entstand vor zehn Jahren aus dem Wunsch heraus, die mit Problemen belastete Innenstadt für Christus zu gewinnen. Mehr und mehr der von Schweizer Hauseigentümern verlassenen Häuser im Stadtzentrum wurden von Flüchtlingen und Immigranten eingenommen, nachdem die ehemaligen Hausbesitzer in die Vororte umgezogen waren. Fast 100 verschiedene Nationalitäten sind jetzt in einem Umkreis von nur wenigen Kilometern vertreten. In einigen der Schulen kommen 99 % der Kinder aus ausländischen Familien.
Die Mafia hat sich ebenfalls dort niedergelassen. Ein paar Jahre lang war das Hauptzentrum des Drogenhandels ein Park an der Langstraße neben dem Bahnhof. Der ‚Nadelpark’ zog Drogenhändler und Drogenabhängige aus der ganzen Schweiz an. Schließlich schloss die Regierung den Park und zwang den Drogenhandel dadurch, sich aufzuspalten und in andere Teile des Rotlichtviertels auszuweichen. Beamte sind jetzt dabei, das Erscheinungsbild des Viertels so gut wie möglich zu säubern. Polizeiautos sind sichtbar in Straßen mit Sexshops präsent. Stadtreiniger werden angestellt, um gebrauchte Spritzen aufzulesen, die man sich für nur ein paar Franken aus einem Automaten holen kann. Eingetragene Abhängige bekommen Orte zugewiesen, an denen sie sich kostenlose Nadeln und Schüsse besorgen, duschen und ihre Kleider waschen können. Doch obwohl die Situation anscheinend unter Kontrolle ist und die meisten Abhängigen ein scheinbar normales Leben führen, sind sie dennoch in ihrer Drogenabhängigkeit gefangen.
Schließlich hat eine Methodistengemeinde nahe der Langstraße dem Global Action-Team eine Wohnung angeboten und ein stabiles Netzwerk wurde aufgebaut. Ein Teamleiter beobachtet: „Es ist viel effektiver, als Team zu arbeiten, oft zusammen zu beten, voneinander zu lernen und sich gegenseitig zu ermutigen. Sonst hätten wir schon lange aufgegeben. Für das Team ist es auch wichtig, mit einer Gemeinde zusammenzuarbeiten. Das verleiht uns Glaubwürdigkeit und wir können unsere Kontakte in die Gemeinde einbringen.“
Der 19-jährige James aus England kam zu GAZ, weil er zwischen Schule und Universität etwas Sinnvolles tun wollte. Er arbeitete die meiste Zeit in einer Anlaufstelle für Drogensüchtige. Die britische Universitätsstudentin Lizzie nahm sich ein Jahr frei, um bei Kinderstunden für Kinder aus verschiedenen Ländern auszuhelfen. Das Schweizer Teammitglied Mario entschied sich, nach Ende des GAZ-Einsatzes seine Erfahrung in seiner Heimatstadt Bern einzubringen, um dort Jugendlichen zu helfen. „Ich habe viel gelernt“, sagte er, „vor allem ehrlich zu sein und das Christsein nicht nur vorzuspielen.“
GAZ bietet nun ein 6- bis 24-monatiges Trainingsprogramm an. Während den ersten acht Wochen des Einsatzes, die der Orientierung dienen, unterrichten erfahrene Sozialarbeiter die Teilnehmer über verschiedene Bereiche des Dienstes in der Innenstadt, wie beispielsweise Kinder- und Teenagerarbeit, Suchtarbeit und Arbeit unter Prostituierten. Danach können sich die Teilnehmer entscheiden, wo sie ihre Zeit einsetzen möchten.
Die Schweizer Krankenschwester Andrea beschloss, in einer Anlaufstelle der Heilsarmee im Rotlichtviertel auszuhelfen. „Manchmal ist man versucht zu denken, dass Menschen, die auf der Straße leben, weniger wert sind als man selbst“, gab sie zu. „Aber sobald man sie kennenlernt, denkt man das nicht mehr. Als ich Angela zum ersten Mal traf, weinte sie ständig. Sie hatte ihren Sohn verloren und war sehr deprimiert. Sie wollte Selbstmord begehen. Jemand hatte zu mir gesagt, ich sollte sie besuchen. Zuerst wollte ich nicht, aber wir gingen dann zu zweit und fragten sie, ob wir für sie beten könnten. Eine Woche später sahen wir Angela wieder und sie lachte! ‚Als ihr gebetet habt, hat sich etwas in mir verändert’, erzählte sie. Gott hat mich überrascht! Ich hatte eigentlich nicht damit gerechnet, dass etwas passieren würde. Manchmal dauert eine Veränderung Monate und Jahre, und manchmal passiert es ganz schnell! Wir besuchen sie noch immer und lesen die Bibel mit ihr.“
GAZ-Leiter betonen: „Man braucht kein großes und teures Programm, um Menschen zu helfen, und auch keine besonderen Begabungen. Man muss einfach bereit sein zu lernen, zuzuhören, Menschen Zeit zu schenken und sie an seinem Leben teilhaben zu lassen.“
Mit Menschen Zeit zu verbringen, kann etwas so Einfaches sein wie die Essensausgabe in einer Suppenküche oder bei der wöchentlichen Spaghettimahlzeit der Gemeinde. Praktische Hilfe ist ein fundamentaler Bestandteil von GAZ. Einmal hat das Team sogar die blutverspritzten Telefonzellen in der Nähe eines Spritzenautomaten geschrubbt, wo sich Süchtige oft Drogen in ihre zerstochenen Adern spritzen. Ein anderes Mal sollten sie versuchen, Prostituierte als echte Menschen zu sehen und den Frauen deshalb persönlich eine Rose überreichen.
Ein Teammitglied erinnert sich immer noch daran, wie berührt sie vom Gesichtsausdruck der Frauen war. „Früher dachte ich immer sehr negativ über Missionare“, sagte sie. „Ich glaubte immer, dass sie in Länder wie den Kongo gingen und die Kultur zerstörten. Ich hatte nie gedacht, dass ich selbst einmal eine sein würde! Aber es ist nicht so wichtig, wo Gott mich gebraucht, sondern wie. Mein Herz schlägt für die Benachteiligten.“
Die folgende wahre Geschichte einer thailändischen Immigrantin in der Schweiz, die von GAZ-Teammitglied Debora Grunenwald niedergeschrieben wurde, ist typisch für so viele Menschen, die nach Westeuropa gezogen sind. Lasst uns beten, dass Gottes Gemeinde sich motivieren lässt, sich um Flüchtlinge, Ausgestoßene und Arme in den abgelegenen Gassen in Städten auf der ganzen Welt zu kümmern.
Nicht mehr allein
Sompong hatte den heutigen Tag wie immer verbracht. Sie saß in einer kleinen Bude am Eingang eines Sexkinos in einer von Zürichs Nebenstraßen. Diesen engen, fensterlosen Raum konnte man kaum bequem nennen. Vor ihr war eine Glasscheibe mit einer halbkreisförmigen Öffnung, durch die die meist männlichen Besucher des Kinos mit herablassender Miene ihr Eintrittsgeld werfen konnten. Andere gingen vorbei, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Nur selten kam es vor, dass jemand ein paar Worte mit ihr wechselte.
Die Aussichten waren ziemlich trübe. Dennoch war es die einzige Stelle im ganzen Kino, die zumindest annähernd eine einladende Atmosphäre verbreitete: ein etwas weicherer Stuhl, ein Fernsehapparat und etwas zum Trinken. Genug, um von einem Tag zum nächsten zu überleben. Sobald sie den Raum verließ, war sie von Bildern nackter Frauen in verschiedenen Positionen umgeben. Alles, was sie draußen erwartete, war das grelle Treiben des Rotlichtviertels.
Aber im Grunde war Sompong dankbar. Sie hatte hier wenigstens ein festes Einkommen. Es war nicht viel, aber zumindest bezahlte ihr Chef ihre Sozialversicherung. Das konnte man in dieser Branche nicht als selbstverständlich ansehen. Natürlich musste sie hart arbeiten, um es sich zu verdienen. Tag für Tag ging sie früh aus dem Haus und kam erst nach Mitternacht heim. Oft arbeitete sie im Haus des Sexkinobesitzers, kümmerte sich um die Kinder, kochte oder putzte. Zu einem bestimmten Zeitpunkt des Tages musste sie zum Kino gehen und dort bis in die frühen Morgenstunden arbeiten. Es war nicht gerade ihr Traumjob, aber am Ende würde sie ihre Schulden abbezahlt haben. Dann könnte sie vielleicht ihre Situation verbessern.
In Thailand, wo Sompong aufgewachsen war, hatte sie eine Ausbildung zur Polizeibeamtin gemacht. Sie war eine unabhängige junge Frau, die von ihrer Familie geschätzt wurde und die, obwohl sie nicht gerade reich war, nicht in Armut lebte. Doch dann kam der Tag, an dem sie einen Mann erschoss. Es war Selbstverteidigung; niemand hatte sie eines Verbrechens angeklagt. Aber dennoch verfolgte sie die Erinnerung. Hatte sie nicht gelernt, Menschenleben zu schützen, anstatt es zu nehmen? Das Wissen, dass ein Mann durch sie getötet worden war, machte ihrem Gewissen mehr und mehr zu schaffen. Als sie es nicht mehr ertragen konnte, kündigte sie ihren Job bei der Polizei. Sie wusste nicht genau, welchen Weg sie als nächstes einschlagen sollte und so schien es richtig, zu ihrer Schwester in die Schweiz zu gehen, in ein Land, das sie von früheren Besuchen her schon ein wenig kannte. Vielleicht würde sich dort eine Tür für sie öffnen. Dies geschah auch, als sie Hans traf.
Er war ihr Traummann. Durch ihre Heirat stand die Tür, in der Schweiz zu bleiben, weit offen. Sompong war zufrieden damit, als Ehefrau daheimzubleiben und den Haushalt für Hans zu führen. Zur gleichen Zeit bauten sie zusammen ein Importgeschäft für Diamanten auf. Sompong garantierte für die Diamanten mit ihrem Namen, was höchst riskant war, da die Edelsteine einen ungeheuren Wert besaßen; aber Sompong war das egal. Mit Hans an ihrer Seite fühlte sie sich sicher und glücklich ... bis zu dem Tag, an dem er verschwand. Offenbar war er nach Thailand verschwunden. – Ausgerechnet nach Thailand! Doch das war nur die Hälfte der Geschichte. Hans war nicht alleine gereist. Mit ihm war eine junge thailändische Frau gegangen, seine neue Freundin, und er hatte sich mit allen Diamanten, für die Sompong gebürgt hatte, aus dem Staub gemacht. Wie konnte sie den Berg an Schulden abbezahlen, für den sie jetzt verantwortlich war?
Sie hatte keine andere Wahl gehabt, als jede Arbeit anzunehmen, die sie bekommen konnte, damit sie ein bisschen Geld verdienen konnte. In der Schweiz war das aber nicht einfach. Hans hatte sie nie ermutigt, Deutsch zu lernen, da sie einander auch so gut genug verstehen konnten. Ohne Deutschkenntnisse war es praktisch unmöglich, eine gut bezahlte Arbeit zu finden. Und so war sie schließlich dort gelandet, wo sie sich jetzt befand.
Vielleicht, dachte sie, kommt heute Abend jemand vorbei und hellt meinen elenden Abend auf. Ihre Schwester kam regelmäßig mit dem Fahrrad vorbei, um mit ihr zu reden, und brachte normalerweise auch etwas zu essen mit. Aber es gab auch andere Leute, die ab und zu vorbei kamen: religiöse Menschen, die an Gott und Jesus glaubten. Doch sie redeten fast nie über ihren Glauben. Stattdessen verbrachten die zwei Frauen von der Heilsarmee viel Zeit damit, ihr beim Ausfüllen von Formularen zu helfen und Arzttermine für sie auszumachen. Andere kamen einfach nur, um ein bisschen mit ihr zu reden oder fragten sie, ob sie für sie beten konnten. Sie stimmte zu. Es konnte ja nicht schaden, oder? Am meisten schätzte sie aber die Besuche von Melanie, die schon fast zu ihrer Familie gehörte. Melanie brachte regelmäßig Bilder mit und half ihr damit beim Deutschlernen. Sompong gab sich große Mühe, die neuen Wörter und die dazugehörigen Bilder jede Woche auswendig zu lernen. Alle sieben Tage lernte sie acht bis zehn neue Wörter. Als Gegenleistung ließ Melanie sie ihre Fingernägel lackieren. Für Melanie war sie nicht nur eine bedürftige Person, eine Last; sie konnte ihre eigenen Hände gebrauchen, um etwas zurückzugeben. Und ihr wachsender Wortschatz half ihr, immer selbstständiger in diesem Land und seiner Kultur zu leben.
Dadurch gewann sie eine erstaunliche Freiheit. Sie hatte die Nase voll davon, behandelt zu werden, als wäre sie nicht intelligent genug allein einkaufen zu gehen! Die Polizei auf der Straße sah sie als Prostituierte an. Nur weil sie in diesem Viertel arbeitete, hieß das noch lange nicht, dass sie eine Prostituierte war! Sie entschied, dass sie einen Urlaubstag brauchte, und bestieg spontan einen Bus, der aus der Stadt hinausfuhr. Der nahe gelegene Wald war genau richtig, die Beine auszustrecken und alles zu durchdenken.
Als sie kurze Zeit später aus dem Bus stieg, wurde ihre Aufmerksamkeit allerdings vom Wald weg gelenkt. Eine Gruppe von Menschen stand in der Nähe, die irgendwie Fröhlichkeit ausstrahlten. Diese Menschen erinnerten sie ein wenig an Melanie. Sie folgte ihnen und beobachtete, wie sie in ein großes Gebäude gingen. Neben dem Eingang hing eine Tafel mit einer Internetadresse: www.hoffnung.ch. Sie wusste, was das deutsche Wort ‚Hoffnung‘ bedeutete. War in diesem Gebäude irgendeine Hoffnung zu finden? Warum nicht einmal reinschauen, dachte sie. Sie hatte ja nichts zu verlieren. Sie betrat das Gebäude und wurde freundlich begrüßt. Jemand besorgte ihr einen Kopfhörer, der für sie alles, was gesagt wurde, auf Thai übersetzte. Es war eine Gemeinde, aber sie war so begeistert, dass sie sich entschied, ihre Freundin das nächste Mal mitzubringen.
Monate sind vergangen und Sompong besucht weiterhin die Gemeinde, über die sie stolperte. Man kann nicht wirklich sagen, dass sich ihre Situation verbessert hätte. In der Tat ist sie eher schlimmer geworden, weil sie einen neuen Chef hat, der ihr weniger bezahlen will. Aber irgendwie macht sie weiter. Da sind Menschen, die ihr auf diesem neuen Weg helfen – und sie möchte mehr über diesen Gott lernen, den sie entdeckt hat! Über diese Hoffnung für die Zukunft.
Ethnische Minderheiten
Die Lifehope-Teams von OM England kümmern sich vor allem in der Gegend um Birmingham um Polen, Chinesen und Menschen aus anderen Ländern. Die Chinesen bilden zurzeit eine bedeutende Minderheit in vielen Ländern der EU, vor allem in Belgien, Frankreich, Italien, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich. Titus Koon gibt uns im Folgenden einen Einblick in die Möglichkeiten, diese große Volksgruppe zu erreichen, und wie Christen bei der Freundschaftsevangelisation wirksamer arbeiten können.
Chinesische Immigranten erreichen
1,7 Millionen chinesische Migranten leben in Europa. Die Volkszählung im Vereinigten Königreich im Jahr 2001 ergab, dass 247 403 Chinesen (das sind circa 0,5 % der britischen Gesamtbevölkerung) dort leben. Heute beläuft sich ihre Zahl auf fast 500 000. Über 90 Prozent dieses Wachstums sind auf das Wanderungssaldo zurückzuführen (Wanderungssaldo: die Differenz zwischen der Zahl der Zuwanderer und der Abwanderer).
Die Mehrheit der chinesischen Immigranten hat sich nicht traditionell in die Mehrheitsgesellschaft eingegliedert, entweder wegen der Sprachbarrieren oder weil sie nicht im Land zu bleiben beabsichtigen. Eine große Anzahl chinesischer Studenten kommt jedes Jahr ins Land (eine Million in ganz Europa) und bleibt nur für eine begrenzte Zeit. Doch durch den wachsenden Anteil an Chinesen in der Bevölkerung haben Nachkommen der ursprünglichen Immigranten begonnen, die Lücke zwischen der chinesischen und britischen Kultur zu überbrücken.
Meine Frau Bonnie und ich kamen 2002 aus Hongkong nach England, um bei OM Lifehope unseren Dienst unter Chinesen zu beginnen. Wir hatten uns zum Ziel gesetzt, mit verschiedenen chinesischen Gemeinden in Großbritannien zu arbeiten, vor allem in den Midlands. So haben wir uns mit bereits existierenden chinesischen Gemeinden zusammengetan, halfen ihnen bei Schulungen und Evangelisationen und mobilisierten sie für Weltmission. Wir begannen auch mit Straßeneinsätzen und besuchten später Menschen, die wir selbst auf der Straße kennengelernt hatten. Manchmal entstanden dadurch Bibelstudiengruppen. Diese Aktivitäten eröffneten uns die Möglichkeit, chinesische Arbeiter und auch Universitätsstudenten zu erreichen.
Zu Beginn dieses Dienstes hatten wir ein besonderes Erlebnis. Es fing mit einem einzigen Traktat an, das unter vielen Hundert anderen vom OM-Mitarbeiter Stewart Smith auf der Straße ausgeteilt wurde. Ein Ehepaar aus der Volksrepublik China nahm das Traktat, las es, schrieb an die Antwortadresse und gab ihre Kontaktinformationen an. Als Stewart den chinesischen Namen sah, gab er die Kontaktinformationen an uns weiter. Über einen Zeitraum von mehreren Monaten besuchten wir dieses Ehepaar und lasen die Bibel mit ihnen. Die Frau hatte eine Kirche besucht, aber sie wusste nicht so recht, was sie glaubte. Ich konnte ihr helfen und sie legte ein Glaubensbekenntnis ab. Ihr Mann war aber abweisend. Er war eine intellektuelle Person und machte sich tief gehende Gedanken. Als ich ihn herausforderte, sich zum Glauben zu bekennen, lehnte er ab.
Beide Fahrzeuge hatten Totalschaden, doch erstaunlicherweise waren alle drei Personen unverletzt. Der Mann konnte nicht glauben, was geschehen war und erkannte, dass es wirklich einen liebenden Gott gab, der nicht nur seine Familie beschützt hatte, sondern auch den anderen Fahrer. Gott hatte sich selbst als vertrauenswürdig erwiesen! Er erklärte mir, dass er früher nicht logisch mit mir diskutieren und sich nicht entscheiden konnte, an Gott zu glauben. Doch nach dem Unfall wusste er, dass er Gott erlebt hatte, und war bereit, sich ihm ganz auszuliefern.
Doch die Geschichte ist hier nicht zu Ende. Die Familie geht durch schwere Zeiten, seit sie zu Christus gefunden haben. Der Mann steht fest im Glauben, aber seine Frau findet es mit drei kleinen Kindern schwerer, allen Lebenssituationen im Glauben zu begegnen. Sie spricht kaum Englisch und hat nicht viele Freunde gefunden. Da die chinesische Gemeinde weit von ihrem Haus entfernt ist, ist es schwierig, dort hinzugehen.
Das ist ein allgemeines Problem. Die Chinesen sind überall in Großbritannien verstreut und es ist nicht immer einfach, die Fahrt zu einer chinesischen Gemeinde zu bewältigen. Den meisten gelingt es nicht, wegen der sprachlichen und kulturellen Unterschiede eine Heimat in einer örtlichen englischsprachigen Gemeinde zu finden. Anstatt sie also zum Gottesdienst einzuladen, müssen wir sie an ihrem Wohnort besuchen und ihnen dort dienen. Natürlich macht nicht jeder solche dramatische Erfahrungen, aber alle haben ihre eigene Geschichte. Jede Person braucht Fürsorge und Unterstützung. Da wir nur eine sehr beschränkte Anzahl an Mitarbeitern zur Verfügung haben, bitten wir Gott, mehr treue Arbeiter zu senden, die die Chinesen in diesem Land erreichen und sie zu Jüngern Jesu machen. Wir beten auch, dass Gemeinden vor Ort mehr tun, um diese ausländische Gemeinschaft aufzunehmen, vor allem die jüngere zweite Generation.
Seit 2006 ist unser chinesisches Team ebenfalls dabei, Chinesen außerhalb Großbritanniens durch Kurzeinsätze zu erreichen. Wir waren bereits in Paris, Schweden, Dänemark, Finnland und Italien. Örtliche chinesische Gemeinden haben die meisten dieser Fahrten mit uns zusammen organisiert. Während der OM-Initiative Transform in 2010 organisierten Missionaren ein Einsatzteam in Prato, Italien, wo ein Viertel der Bevölkerung Chinesen sind. Das Team setzte sich aus chinesischen Christen aus chinesischen Gemeinden in Großbritannien und der chinesischen Gemeinde in Prato, Mitgliedern von OM Lifehope und anderen Teilnehmern zusammen. Insgesamt 41 Chinesen haben während dieses Einsatzes Christus angenommen!
2) Der Aufbau von Beziehungen ist absolut notwendig. Lernen Sie gut zuzuhören und seien Sie bereit zu lernen. Nehmen Sie sich Zeit, Ihre neuen Freunde wirklich kennenzulernen und zu verstehen.
4) Bieten Sie praktische Hilfe an. Ein Umzug ist für uns alle eine Herausforderung, aber denken Sie nur an die Schwierigkeiten, die mit der Ankunft in einem fremden Land verbunden sind. Neuankömmlinge werden Ihnen für Ratschläge dankbar sein, wie sie eine Unterkunft, Schulen, die besten Einkaufsmöglichkeiten, Reparaturgeschäfte, medizinische Hilfe und so weiter finden können. Manche schätzen vielleicht auch Hilfe beim Verbessern ihrer neuen Landessprache.
6) Wenn Sie über Sünde und geistliche Bedürfnisse sprechen, geben Sie zuerst Ihre eigenen Fehler und Schwierigkeiten zu. Anstatt direkt zu sagen: ‚Sie sind ein Sünder’, sagen Sie lieber: ‚Ich bin ein Sünder. Wir alle haben gegen Gott gesündigt.’ Sonst werden Ihre Zuhörer Sie für unhöflich halten und Ihnen nicht mehr zuhören. Die asiatische Kultur ist nie auf Konfrontation aus.
8) Machen Sie neuen Christen klar, dass sie die Kosten eines Lebens mit Christus werden überschlagen müssen. Viele neue chinesische Christen freuen sich, Gottes Segen zu erfahren. Doch wenn Schwierigkeiten aufkommen, verlieren sie leicht ihren Glauben. Stellen Sie sicher, dass sie alles abwägen, was zu einem Leben als Nachfolger von Jesus gehört; dass es sie nicht vor harten Zeiten bewahren wird, aber dass Gott ihnen Kraft geben wird, diese zu bewältigen.
Fußnoten [i] Sergio Carrera und Sergio und Massimo Merlino, ‘Undocumented Immigrants and Rights in the EU’, December 2009, 18. November 2010 http://www.ceps.eu/ceps/ download/2741 [ii] Martin Kreickenbaum, ‘Who is Responsible for the Libyan Refugee Boat Tragedy?’ 8. April 2009, 18. November 2010, http://www.wsws.org/articles/2009/apr2009/liby-a08.shtml [iii] Britain’s Secret Slaves’, Dispatches, Channel 4, London, England, 30. August 2010