© Sam Barker
DER AUTOR
Chris Ryan wurde 1961 in Newcastle, England, geboren. Zehn Jahre lang war er für die SAS, die britische Eliteeinsatztruppe, tätig. Er war an verschiedenen militärischen und verdeckten Operationen beteiligt und Leiter eines Anti-Terror-Teams. In den letzten Jahren verfasste er mehrere Actionthriller, die sofort Einzug in die Bestsellerlisten hielten.
AGENT 21 ist sein erster Jugendbuch-Thriller.
Von Chris Ryan ist bei cbt bereits erschienen:
Agent 21 – Im Zeichen des Todes (30835)
Chris Ryan
Agent 21
Reloaded
Aus dem Englischen
von Tanja Ohlsen
Inhalt
Agent 21: Einsatzunterlagen
In Gefahr
Tote Männer töten nicht
Galileo
Black Wolf
Asoziales Verhalten
Vor Ort
Nachtangeln
Ein mitternächtlicher Besuch
Ein Schuss im Dunkeln
Russisches Roulette
El Capitán
Kontakt
Flieh nicht
Im Dunkeln
Waterboarding
Mayday
Kleiner
Das Treffen
Fürchte ihn
Positive Identifizierung
Mit Stärke und mit List
Endspiel
Lift-Off
Rache
Agent 21: Einsatzunterlagen
Agent 21
Wahrer Name: Zak Darke
Pseudonym: Harry Gold
Alter: 14
Geburtsdatum: 27. März
Eltern: Al und Janet Darke (verstorben)
Fähigkeiten: Waffenkenntnisse, Navigation,ausgezeichnete Sprachkenntnisse,ausgezeichnete technische Fähigkeiten und Computerkenntnisse
Bisherige Einsätze: undercover eingeschleust auf das Gelände des mexikanischen Drogenbarons Martinez Toledo. Freundete sich mit Cruz an, dem Sohn der Zielperson. Erfolgreiche Beschaffung von Beweismaterial für die illegalen Aktivitäten der Zielperson. Führte das Einsatzteam erfolgreich auf das Gelände. Zielperson eliminiert.
Agent 17
Wahrer Name: geheim
Pseudonyme: Gabriella, Gabs
Alter: 26
Fähigkeiten: fortgeschrittene Kenntnisse in Nahkampf und Selbstverteidigung, Überwachung, Verfolgung.
Derzeit betraut mit der weiterführenden Ausbildung von Agent 21 auf der entlegenen schottischen Insel St. Peter’s Crag.
Agent 16
Wahrer Name: geheim
Pseudonyme: Raphael, Raf
Alter: 29
Fähigkeiten: fortgeschrittene Kenntnisse in Nahkampf und Selbstverteidigung, Tauchen, Fahrzeugsteuerung.
Derzeit betraut mit der weiterführenden Ausbildung von Agent 21 auf der entlegenen schottischen Insel St. Peter’s Crag.
Michael
Wahrer Name: geheim
Pseudonym: Mr Bartholomew
Alter: geheim
Rekrutierte Agent 21 nach dem Tod seiner Eltern. Derzeit sein Betreuer. Hat Verbindungen zum MI5, repräsentiert aber eine streng geheime Regierungsbehörde.
Adan Ramirez
Auch bekannt als: Calaca
Besondere Merkmale: fehlendes rechtes Auge, mit Haut überwachsene Augenhöhle
Besondere Informationen: früherer Sicherheitschef von Cesar Martinez Toledo. Derzeit bei dessen Sohn und Erben Cruz in gleicher Position beschäftigt. Höchst gefährlich.
Cruz Martinez
Alter: 16
Besondere Informationen: Nachfolger von Cesar Martinez als Kopf des größten mexikanischen Drogenkartells. Macht Agent 21 für den Tod seines Vaters verantwortlich. Hochintelligent. Verhält sich seit seiner Machtübernahme unauffällig.
In Gefahr
Sonntag, 16:30 Uhr GMT
Für fast alles im Leben gibt es gute Zeiten und schlechte Zeiten. Nur nicht für den Besuch eines Grabs.
Wenn Ellie Lewis den Friedhof Allerheiligen in Camden verließ, fühlte sie sich immer noch schlechter als auf dem Weg dorthin. Sie musste immer angestrengt blinzeln und schwer schlucken, um die Tränen, die ihr in die Augen stiegen, zurückzuhalten. Sie war jetzt fünfzehn und wollte in der Öffentlichkeit nicht mehr weinen. Aber sie konnte es einfach nicht lassen, dort hinzugehen. Einmal, manchmal auch zweimal die Woche kam sie an der überdachten Pforte der Kirche vorbei und wanderte zwischen Grabsteinen hindurch zu einem abgelegenen Winkel des Friedhofs. Hier befand sich unter einer alten Eiche, etwa zehn Meter vom nächsten Grab entfernt, ein schmaler Erdhügel, so lang wie ein Körper. Am Kopfende stand ein schlichter Stein mit nur zwei Worten: ZAK DARKE.
Auf jedem anderen Grabstein auf dem Friedhof waren mehr Informationen zu finden als auf diesem. Zumindest das jeweilige Geburts- und Sterbedatum. Und den übrigen Steinen zufolge wurden die Verstorbenen schmerzlich vermisst oder waren für immer in irgendjemandes Herzen. Sie würden in Frieden ruhen.
Doch nicht auf Zak Darkes. Sie erinnerte sich noch gut an die Diskussion. Ellies Vater und Mutter waren nach dem Tod seiner Eltern Zaks Vormunde geworden, aber sie hatten ihn nie wirklich gemocht. Sie hatten ihn eigentlich nicht haben wollen. Als es darum ging, zu entscheiden, was auf dem Grabstein stehen sollte, waren sie sehr hartnäckig geblieben. »Jeder Buchstabe kostet weitere siebzehn Pfund fünfzig. Wir schwimmen doch nicht im Geld, Ellie!« Daher hatten sie nicht einmal seinen vollen Namen Zachary daraufschreiben lassen. Die Kurzform war viel billiger gewesen.
Das Grab ihres Cousins konnte man nicht gerade als gepflegt bezeichnen. Der Erdhügel hatte sich erst neun Monate nach der Beerdigung zu senken begonnen und mittlerweile wuchsen kleine Grasbüschel daraus hervor. In den Sommermonaten hatte Ellie Blumen gepflückt und aufs Grab gelegt. Doch sie waren schnell verwelkt, sodass die Erde jetzt mit vertrockneten Anemonen bedeckt war. Doch sie hatte es nicht übers Herz gebracht, sie wegzunehmen. Schließlich würde ihm sonst niemand Blumen bringen.
Heute war es kalt. Als Ellie aufgewacht war, war der Rasen vor dem Haus Nummer 63 im Acacia Drive mit Raureif bedeckt gewesen, der sich den ganzen Tag gehalten hatte. Jetzt war es halb fünf und schon fast dunkel, als sie über den Friedhof stapfte. Der Atem dampfte vor ihrem Gesicht und die Kälte biss ihr in die Fingerspitzen. Aus der Kirche trat ein Priester und hielt unter dem Türbogen inne. Als Ellie an ihm vorbeiging, musste sie niesen.
»Du solltest lieber rein ins Warme, Kleine«, riet der Priester ihr.
Ellie lächelte ihn nur kurz an und eilte weiter. Kaum eine Minute später hatte sie ihren üblichen Weg über den Friedhof zurückgelegt und stand vor Zaks letzter Ruhestätte.
Sie erinnerte sich noch gut an den schrecklichen Tag, an dem Zak verschwunden war. Die Polizei hatte behauptet, er hätte einen Einbrecher in ihrem Haus überrascht. Wochenlang hatte Ellie ihnen nicht geglaubt. Weder ihre Eltern noch sie selbst hatten in dieser Nacht auch nur das Geringste gehört. Wie sollte das alles passiert sein, ohne dass einer von ihnen aufgewacht wäre? Und dann waren da noch diese mysteriösen Dinge, die Zak am Tag zuvor zu ihr gesagt hatte: Es wird etwas passieren. Frag mich nicht, was. Ich will nur, dass du weißt, dass ich in Sicherheit bin.
Sie hatte niemandem davon erzählt, doch lange Zeit hatte sie erwartet, dass Zak einfach urplötzlich wieder auftauchen und eine völlig logische Erklärung für sein Verschwinden haben würde. Doch dann hatten sie die Leiche gefunden. Einen etwa dreizehnjährigen Jungen. Verstümmelt. Unkenntlich. Die Leiche hatte im schlammigen Wasser eines Grabens bei Hertfordshire gelegen. Ihre Eltern hatten versucht, ihr die Details zu ersparen, aber sie hatten sie nicht davon abhalten können, die Zeitungen zu lesen. Die Polizei konnte die sterblichen Überreste nur anhand von DNA-Spuren identifizieren, und die Auswertung bestätigte, dass es Zaks Leiche war.
Beim Gedanken daran stiegen Ellie wieder die Tränen in die Augen. Sie vermisste ihn. Sie vermisste ihn wirklich. Schließlich wandte sie sich von seinem frostigen Grab ab, wickelte ihren Schulmantel fester um sich und stapfte über den Friedhof zurück. Vielleicht, dachte sie, während sie mit den Tränen kämpfte, vielleicht sollte sie nicht mehr so oft hierherkommen.
Denn für fast alles im Leben gibt es gute Zeiten und schlechte Zeiten. Nur nicht für den Besuch eines Grabs.
Die Kirche Allerheiligen lag an der Camden Road, einer verkehrsreichen Hauptstraße. Von hier bis zum Acacia Drive 63 war es nur eine Viertelstunde zu Fuß, doch Ellie wollte noch nicht nach Hause. Dort würden nur ihre Eltern vor dem Fernseher sitzen und sie wollte lieber noch ein wenig für sich sein. So schlenderte sie stattdessen durch das Zentrum von Camden und in den Burger King. Im Hintergrund sang leise Katy Perry. Ellie sah ein paar Jugendliche aus ihrer Schule an einem Tisch an der linken Wand sitzen und laut über irgendetwas lachen. Sie tat so, als hätte sie sie nicht bemerkt, und ging zum Tresen hinüber.
»Eine mittlere Cola light«, bestellte sie bei dem jungen Mann dahinter.
»Sehr vernünftig, wenn ich das sagen darf.«
Die Stimme kam nicht von dem jungen Mann, der sie bediente, sondern von jemandem hinter ihr. Sie wandte sich um und erblickte einen eher schäbig gekleideten alten Mann mit schulterlangem grauem Haar, durchdringenden grünen Augen und leicht gebeugten Schultern. Er roch stark nach Tabak.
»Zu viel Zucker ist ungesund. Davon kriegt man schlechte Zähne.«
»Äh, ja«, murmelte Ellie, während sie etwas Kleingeld aus ihrer Tasche suchte und es dem jungen Mann reichte, der den alten Knaben ansah, als sei er verrückt. »Vielen Dank für den Rat.« Sie nahm ihre Coke und sah sich nach einem Tisch um.
Der etwas erhöht gelegene Bereich auf der anderen Seite des Restaurants war fast leer. Auf vielen Tischen lagen noch die Essensreste von anderen Leuten, aber das störte Ellie nicht. Sie wollte nur einfach mit niemandem reden, weil sie Angst hatte, ihre zitternde Stimme nicht unter Kontrolle zu haben. Auf dem Tisch, den sie sich aussuchte, standen zwei leere Tassen und eine fettige Cheeseburger-Verpackung neben einer kleinen Pfütze, vielleicht von einem Schokomilchshake. Ellie nippte an ihrer Cola light und bemerkte erleichtert, dass sich der komische alte Vogel fünf Tische weiter niedergelassen hatte und ihr keinerlei Beachtung mehr schenkte.
Geistesabwesend faltete Ellie die Cheeseburger-Packung in der Mitte zusammen, dann noch einmal und noch einmal. Sie erinnerte sich daran, dass Zak ihr einmal gesagt hatte, man könne ein Blatt Papier nie mehr als sieben Mal in der Mitte falten, egal wie groß es war. Er war gut in so was. Als sie bei der fünften Faltung angekommen war, bemerkte sie, dass ein Mann an ihren Tisch getreten war.
Was ist nur heute mit den Leuten los?, wunderte sie sich. Warum können sie mich nicht einfach in Ruhe lassen?
Als sie aufsah, erblickte sie einen großen Mann, der so dürr war, dass sie sich unwillkürlich fragte, wann er wohl das letzte Mal etwas gegessen hatte. Seinen Kopf hatte er rasiert, das Kinn jedoch nicht – dort trug er einen Drei- oder Viertagebart. Er hatte Jeans an, die ihm zu groß schienen, und ein sackartiges weißes T-Shirt. Doch das Bemerkenswerteste an ihm war die Augenklappe über seinem rechten Auge, die mit einem schwarzen Band befestigt war, das um seinen Hinterkopf lief, und die Ellie an das Piratenkostüm erinnerte, das sie als kleines Mädchen in ihrer Verkleidungskiste gehabt hatte.
Der Fremde starrte sie an, sodass es Ellie unangenehm wurde. Sie nahm noch einen Schluck von ihrer Cola und stand dann auf, doch der Fremde hielt sie zurück.
»Setz dich«, sagte er leise, grub seine knochigen Fingerspitzen in ihre Schulter und drückte sie wieder auf den Plastikstuhl zurück.
»He!«, stieß Ellie hervor. »Lassen Sie das! Sie tun mir weh!«
Sie sah sich nach ihren Schulkameraden um, doch von denen hatte niemand bemerkt, was vor sich ging. Fast hätte sie nach ihnen gerufen. Doch sie zögerte, als sie das Foto bemerkte.
Der Mann mit der Augenklappe hatte es auf den Tisch fallen lassen. Es landete schräg vor Ellie und mit einer Ecke in der Milchshake-Pfütze. Es war kein sehr gutes Bild, offenbar aus einiger Entfernung aufgenommen, vergrößert und herausgeschnitten. Das Ergebnis war körnig und leicht unscharf. Es zeigte einen jungen Mann mit strubbeligen Haaren und einem ernsten Gesicht. Er trug ein Kapuzenshirt, und sein Gesicht schien ein wenig magerer – irgendwie älter –, als Ellie es in Erinnerung hatte. Sie hatte dieses Gesicht zum letzten Mal ein paar Stunden vor seinem Verschwinden gesehen.
Der magere Mann mit der Augenklappe hatte sich ihr gegenüber gesetzt. Seine Hände lagen mit den Handflächen nach unten auf dem schmutzigen Tisch, und er schaffte es, sie mit seinem gesunden Auge durchdringend anzusehen. Es war kein schönes Gefühl.
Schweigen herrschte zwischen ihnen.
Ellie starrte das Foto an, der magere Mann starrte Ellie an.
»Kennst du diesen Jungen?«
Er hatte einen ausländischen Akzent. Vielleicht spanisch? Ellie war nicht sehr gut in Sprachen.
Unverwandt starrte sie das Foto an. »Natürlich kenne ich ihn«, antwortete sie und riss endlich den Blick davon los. »Wer sind Sie?«
Der Mann antwortete nicht gleich, sondern nahm die Fotografie wieder an sich und steckte sie in seine Manteltasche, bevor er Ellie erneut anstarrte.
»Wo ist er?«
»Was soll das heißen?«, flüsterte Ellie. Sollte das ein übler Scherz sein?
»Ich mag es gar nicht, wenn die Leute so tun, als verstünden sie mich nicht«, entgegnete der Mann ruhig.
»Ich habe nicht …«
»Meine Frage war sehr einfach. Wo ist er?«
Zum zweiten Mal an diesem Tag spürte Ellie, wie die Tränen ihr in die Augen stiegen, und sie ärgerte sich darüber. Wer war dieser Kerl? Welches Recht hatte er, ihr solche Fragen zu stellen?
Sie stand auf.
»Er ist genau da, wo er die letzten achtzehn Monate war«, zischte sie wütend. »Friedhof Allerheiligen. Und Sie … Sie sollten sich schämen!«
Falls der Fremde sich tatsächlich schämte, so zeigte er es nicht. Als Ellie vom Tisch zur Tür stürmte, sah sie ihn über die Schulter hinweg immer noch bewegungslos am Tisch sitzen und ihr nachsehen. Etwas an ihm jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie konnte es gar nicht erwarten, von ihm wegzukommen. Sie wollte nach Hause und ihre Zimmertür fest hinter sich zuschließen.
Draußen hatte es zu schneien begonnen. Ellie war das egal. Den ganzen Weg bis zum Acacia Drive 63 rannte sie durch die Winternacht.
Im Burger King blieb der Mann mit der Augenklappe still sitzen, immer noch mit den Handflächen auf der Tischplatte. Er atmete sehr langsam und die Adern neben seinem Adamsapfel pulsierten sichtbar. Er schien nicht zufrieden.
»Möchten Sie ein paar Pommes frites? Sie sind etwas salzig, aber wirklich gut.«
Der Mann mit der Augenklappe sah sich um. Einen Meter hinter sich bemerkte er einen wesentlich älteren Mann mit schulterlangem grauem Haar, durchdringenden grünen Augen und gebeugter Haltung. Er steckte sich eine Fritte in den Mund, kaute nachdenklich und hielt dem Mann dann den Pappkarton mit den übrigen Pommes frites hin.
»Verschwinde, Alter.«
Doch der Alte verschwand nicht, sondern deutete auf den Stuhl, auf dem gerade noch Ellie gesessen hatte.
»Darf ich? Meine Beine sind nicht mehr so jung wie früher.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ er sich nieder und lächelte strahlend.
Sein Lächeln wurde nicht erwidert.
»Mein Name ist Bartholomew. Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ein nettes Mädchen, nicht wahr? Es wäre schade, wenn ihr etwas zustoßen sollte. Wirklich sehr schade. Sind Sie sicher, dass Sie nicht doch probieren wollen?«
Keine Antwort, keine Regung.
»Doch«, fuhr der alte Mann fort, »ich bin sicher, dass das nicht geschehen wird. Diese Familie hatte schon mehr als genug Pech.« Er lächelte noch breiter. »Ich kam nicht umhin, zu bemerken, dass Sie ihr ein Foto gezeigt haben.« Er steckte sich eine weitere Fritte in den Mund. »Würden Sie es mir wohl auch zeigen?«
Der dünne Mann erhob sich recht unvermittelt. »Mr Bartholomew, Sie sollten aufpassen, mit wem Sie sich einlassen.«
»Oh, da machen Sie sich mal keine Sorgen. Ich bin ein sehr vorsichtiger Mensch.«
Der Einäugige wandte dem Alten den Rücken zu und marschierte geradewegs zur Tür. Dort blieb er stehen, sah sich noch einmal nach dem Mann um und lächelte dann äußerst unangenehm. Ganz langsam hob er seine rechte Hand und zog den Zeigefinger mit einer fließenden Bewegung über seinen Hals. Dann machte er die Tür auf und trat hinaus in Dunkelheit und Schnee.
Mr Bartholomew sah ihm nach. Eine geschlagene Minute lang rührte er sich kaum, wenn man davon absah, dass er sich die salzigen Finger an der Papierserviette abwischte. Dann stand auch er auf. Seine Schultern waren gerade, seine gebeugte Haltung war verschwunden, und wenn seine Beine tatsächlich nicht mehr so gut waren wie früher, dann musste er in seiner Jugend ein ziemlicher Athlet gewesen sein, denn er verließ den Burger King mit dem schwungvollen Gang eines Mannes, der nur halb so alt zu sein schien.
Es war halb zwei Uhr morgens. Ellie lag im Bett und starrte die roten Leuchtziffern auf ihrem Wecker an. Sie konnte einfach nicht schlafen. Immer noch gingen ihr der Mann mit der Augenklappe und das Foto, das er ihr gezeigt hatte, nicht aus dem Kopf.
Sie hatte Fragen.
Sie hatte Angst.
Wie hatte der Mann sie überhaupt im Burger King gefunden? Sie hatte nicht einmal vorgehabt, dorthin zu gehen. Das bedeutete, dass er ihr gefolgt sein musste. Und woher hatte er dieses Bild von Zak gehabt? Wann hatte er es bekommen? Ellies Cousin sah darauf älter aus, als er je zu Lebzeiten gewesen war. Aber das war doch unmöglich, oder? Schaudernd lag sie im Bett, und das lag nicht nur daran, dass sie fror.
Fünf vor drei. Absolute Stille. Ellie kroch aus dem Bett und zog sich an. Dicke Socken. Jeans. Zwei Pullover. Handschuhe. Eine Wollmütze. Ein paar Minuten später schlich sie sich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. Sie hielt den Atem an und betete, dass ihre Eltern nicht aufwachen würden.
Im Esszimmer am Fuß der Treppe schrak sie zusammen, weil sie ein Geräusch gehört hatte. Ein mechanisches Surren erklang. Ellie schluckte schwer, doch dann erkannte sie es. Erst vor ein paar Wochen hatten ihre Eltern eine Kuckucksuhr gekauft, an der sie viel Freude hatten und bei der sie jedes Mal vergnügt aufschrien, wenn der kleine Vogel aus seinem Häuschen kam und die Stundenzahl piepste.
»Sieh doch, Ellie!«, riefen sie ihr zu, als sprächen sie mit einem kleinen Kind. »Der Kuckuck!«
Offenbar war ihnen noch nicht aufgefallen, dass sie ein wenig zu alt war, um sich über derartigen Kinderkram zu freuen.
Nun rief der Kuckuck. Dreimal. Drei Uhr. Dann verschwand er mit einem weiteren Surren wieder in seinem Loch.
Ellie verließ das Haus durch die Hintertür, da sie beim Öffnen und Schließen weniger Lärm machte als die Haustür. Zwei Minuten später stapfte sie zum Ende des Acacia Drive. Ihre Fußspuren waren die einzigen auf der dicken Schneedecke, die sich in der Nacht auf der Straße gebildet hatte.
Was machte sie nur? Sie wusste es selbst nicht recht. Sie hatte noch nie zuvor mitten in der Nacht das Haus verlassen. Ihre Eltern würden durchdrehen. Doch irgendwie schienen ihre Füße zu wissen, welchen Weg sie einschlagen sollten.
Als sie die Camden Road entlangging, setzte ein wahrer Schneesturm ein. Um diese Uhrzeit waren kaum Autos unterwegs. Ein Bus fuhr die Straße entlang, doch wegen des starken Schneefalls kam er noch langsamer voran als sie. Auf der anderen Straßenseite bemerkte sie zwei Polizisten, die sich zum Schutz vor der Kälte die Kragen ihrer leuchtend gelben Jacken hochgeschlagen hatten. Ellie zog sich die Wollmütze tiefer ins Gesicht und ging ein wenig schneller.
Nach weiteren zehn Minuten hatte sie Allerheiligen erreicht und der Schnee fiel noch dichter als zuvor. Nur unter dem großen Portal lag die weiße Pracht nicht. Ellie konnte kaum zehn Meter weit sehen und der Kirchturm verlor sich in der verschneiten Dunkelheit. Doch sie hätte den Weg auch mit verbundenen Augen gefunden. Sie lief an der Kirche vorbei zum Friedhof an der Rückseite.
Auf allen Grabsteinen lagen zehn Zentimeter Neuschnee und es herrschte gedämpfte Stille. Links von ihr raschelte es, und als sie hinsah, bemerkte sie die glitzernden Augen eines Fuchses. Kühn starrte das Tier sie ein paar Sekunden an, huschte dann schnell davon und hinterließ eine Spur winziger Pfotenabdrücke. Ellie ging weiter. Ihre Schritte knirschten und zerschnitten die weiße Fläche des Neuschnees, während sie sich zwischen den Grabsteinen hindurch ihren Weg zu der Eiche bahnte, die sie so gut kannte.
Etwa fünfzig Meter hinter der Kirche – auf halbem Weg zur Eiche – hielt sie inne.
Auf einmal waren ihre eigenen Fußspuren nicht mehr die einzigen. Ellie bückte sich, um sie zu untersuchen. Schwach konnte sie drei verschiedene Fußabdrücke erkennen. Diesmal von Menschen. Und sie führten alle in die Richtung, die auch sie eingeschlagen hatte. Zur Eiche.
Zu Zak.
Sie blieb ganz still stehen. Ein Stück weiter hörte sie vom Schneefall gedämpfte Stimmen. Und blitzte da nicht eine Taschenlampe auf?
Ellie spähte in die Dunkelheit vor ihr, konnte aber wegen des Schneesturms nichts erkennen. Sie dachte daran, sich zu verstecken, aber ihre Fußspuren im Schnee würden sie mit Sicherheit verraten. Sie würden jeden zu ihr führen, und irgendetwas sagte ihr, dass das überhaupt nicht gut wäre. Ein wenig verloren sah sie sich um und erst nach dreißig Sekunden fiel ihr eine Lösung ein.
Es war gar nicht so einfach, rückwärtszulaufen. Sie musste ihre Füße genau in die Fußspuren setzen, die sie zuvor gemacht hatte, und dabei das Gleichgewicht halten. So brauchte sie zwei Minuten bis zur Kirche zurück, wo sie unter das Portal springen konnte, wo kein Schnee lag. Hier war es sehr dunkel und entlang der Seitenwände der Vorhalle standen zwei tiefe Bänke. Unter der rechten versteckte sie sich, den Rücken an die Wand gelehnt, den rechten Arm und das rechte Bein auf den kalten Steinen, und blieb ganz still liegen.
Lange musste sie nicht warten.
Sie konnte sie nicht sehen, aber sie hörte sie kommen. Sie unterhielten sich mit gedämpfter Stimme in einer Sprache, die sie nicht verstand, aber die sie sofort an den Mann mit dem Akzent aus dem Burger King erinnerte. Jetzt waren sie direkt vor dem Portal. Gleich würden sie vorbei sein …
»Ha-tschi!« Ellie wurde von ihrem eigenen Nieser überrascht.
»Scht!« Augenblicklich verstummten die Männer.
Ellie hörte Schuhe im Schnee knirschen und dann ihr Geräusch auf Stein. Im Dunkeln konnte sie nur ein Paar Beine erkennen, die ins Portal kamen. Auch eine herabhängende Hand sah sie. Und die Hand hielt etwas … Es sah aus wie eine Pistole.
Ellie lag starr wie eine Statue da und hielt den Atem an.
Geh weg!, flehte sie im Stillen. Geh weg von mir!
Doch die Gestalt ging nicht. Dreißig Sekunden lang rührte sich nichts in der Vorhalle der Kirche. Kein Laut ertönte.
Dann erklang von draußen eine Stimme. »Qué es?«
Keine Antwort. Die Gestalt drehte sich um, ging aber nicht. Ellie spürte einen weiteren Nieser aufsteigen. Sie hatte einmal gehört, dass man den Niesreiz unterdrücken konnte, indem man mit der Zunge ganz fest gegen den Gaumen drückte. Sie versuchte es und ein paar Sekunden später war das Gefühl weg.
Und auch die Beine verschwanden langsam aus dem Kirchenportal und außer Sichtweite.
»Vamos«, sagte eine Stimme.
Die knirschenden Schritte verklangen im Nichts.
Ellie wagte sich lange nicht aus ihrem Versteck. Als sie nach etwa zehn Minuten Stille wieder Mut gefasst hatte, war ihr die Kälte bis in die Knochen gekrochen. Es fiel ihr schwer, sich schnell zu bewegen. Eine leise Stimme in ihrem Inneren riet ihr, dass sie besser sofort nach Hause gehen sollte, doch sie wusste, dass sie das nicht tun würde. Sie folgte erneut ihren Spuren und eine Minute später tauchte die große Silhouette der Eiche im Schneesturm auf und darunter Zaks Grab.
Selbst aus dieser Entfernung merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Nicht nur der Schnee um das Grab herum war zertreten. An einer Seite erhob sich jetzt ein Erdhaufen. Der Schneesturm bedeckte ihn sanft mit einer weißen Schicht, aber als sie näher kam, konnte sie sehen, dass es frische Erde war.
Frisch ausgegraben.
All ihre Sinne schrien ihr zu, wegzurennen, doch ihre Glieder gehorchten ihr nicht. Wie im Traum näherte sie sich dem Grab, unfähig, sich abzuwenden. Sekunden später starrte sie auf das entsetzliche Bild.
Das Loch im Boden war mehr als einen Meter tief. Den Grund konnte sie nicht erkennen, weil es zu dunkel war. Was sie jedoch sehen konnte, war ein aufgebrochener und zersplitterter Sargdeckel. Er lag neben dem Loch auf der anderen Seite dem Erdhaufen gegenüber und war offensichtlich aufgestemmt worden. Es roch grauenvoll nach Fleisch, das sein Verfallsdatum längst überschritten hatte. Der Gestank ließ Ellie würgen, doch sie schaffte es, sich nicht zu übergeben. Sie stand einfach nur da und starrte zitternd in das dunkle Grab.
Nachdem sie zwei Minuten lang hineingestarrt hatte, zog sie ihr Handy aus der Tasche.
Es war nichts Besonderes – ein altes Nokia, das vor einiger Zeit cool gewesen war, nun aber nicht mehr. Ein wenig wie Ellie selbst. Seltsam, was ein Jahr ausmachen konnte. Doch heute Abend würde das Handy seinen Zweck erfüllen. Sie drückte auf einen beliebigen Knopf, sodass der Bildschirm aufleuchtete. Ellie kniete sich hin, streckte den Arm aus und hielt ihre provisorische Taschenlampe in das Grab.
Augenblicklich wünschte sie, sie hätte es nicht getan.
Sie hatte noch nie eine Leiche gesehen und schon gar keine, die seit Monaten in ihrem Grab verweste. Sie hatte noch nie gesehen, wie die Lippen verdorrten und die Zähne freigaben, wie die Augenlider verschwanden und die Reste der Augäpfel freigaben. Sie hatte noch nie die eingetrocknete, papierdünne Hautschicht über dem Gesicht gesehen oder wie sich, vom Licht gestört, ein fetter Wurm auf der Stirn wand.
Ellie sprang entsetzt auf. Dabei glitt ihr das Handy aus der Hand. Es fiel ins Grab und ein paar Sekunden später ging das Licht aus. Doch da stand Ellie schon nicht mehr am Grab. Sie rannte bereits über den Friedhof, an der Kirche vorbei, die Camden Road entlang und zum Acacia Drive. Sie rutschte im Schnee aus, schluchzte und heiße Tränen liefen ihr übers Gesicht. Im Haus herrschte immer noch Stille, als sie sich zitternd und voller Angst wieder zurück in ihr Zimmer schlich, sich auszog und unter der warmen, sicheren Bettdecke versteckte.
Doch auch nachdem ihr wieder warm geworden war, zitterte sie noch. Wer waren die drei Männer in der Nacht auf dem Friedhof gewesen? Warum hatte einer von ihnen eine Pistole gehabt? Und warum – warum um alles in der Welt – mussten sie das Grab ihres toten Cousins ausgraben?
Tote Männer töten nicht
Montag, 10:03 Uhr GMT
Gräber, dachte Zak Darke, waren selbst zu den besten Zeiten unangenehme Orte. Wenn sie sechzig Meter unter der Wasseroberfläche lagen, waren sie noch schlimmer. Und was nasse Gräber anging, so war dieses eines der größten.
»HMS Vanguard«, hatte ihm sein Tauchpartner Raf am Tag zuvor erklärt, als sie eine Fleischpastete zum Abendessen verspeisten, »sank vor hundert Jahren bei Scapa Flow.«
»Scapa Flow?«, hatte Zak gefragt. Der Name kam ihm bekannt vor.
Raf war ein ernster Mann mit einem kantigen Gesicht und dichten blonden Haaren. Sie hatten sich kennengelernt, als er Zak gekonnt aus dem Acacia Drive 63 entführt hatte, wobei »entführt« vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck war, denn der zum Waisen gewordene Zak war durchaus freiwillig mit ihm gegangen. Die Entscheidung, sich aus seinem normalen Leben herausreißen zu lassen und für eine Regierungsorganisation zu arbeiten, die so geheim war, dass er nicht einmal ihren Namen kannte, hatte Zak selbst getroffen, auch wenn ihn ein grauhaariger Mann dazu überredet hatte, der sich manchmal Michael, manchmal auch Mr Bartholomew nannte. Zak glaubte allerdings nicht, dass einer davon sein richtiger Name war. In dieser Nacht hatte er aufgehört, Zak Darke zu sein, und wurde zu Agent 21. Ernst und schweigsam hatte ihn Raf hierhergebracht, auf die öde, sturmumtoste Insel St. Peter’s Crag, einen Ort, der Zak Angst machte, nicht weil er so einsam war, sondern weil es unmöglich war, von dort zu entkommen.
Zu Beginn war Zak auf seine Entführer wütend gewesen: Sie waren nicht ehrlich zu ihm gewesen und hatten ihn unter Vorspiegelung falscher Tatsachen entführt. Doch langsam, aber sicher hatte er erkannt, dass sie nur dafür sorgten, dass er in den gefährlichen Situationen, in denen er sich als Agent 21 wiederfinden konnte, möglichst sicher war, und dass St. Peter’s Crag keineswegs ein Gefängnis ohne Fluchtmöglichkeiten war, sondern für ihn der sicherste Ort der Welt.
Langsam hatte sich der Zorn, den er gegen seine Entführer hegte, in Respekt verwandelt. Und dieser Respekt hatte zu einer Art Freundschaft geführt. Zaks Leben hatte sich in den letzten achtzehn Monaten grundlegend verändert. Zum Besseren? Das war schwer zu sagen – aber auf jeden Fall war es nun weitaus gefährlicher. Er wusste, dass Raf auf ihn aufpassen würde, und das war auf jeden Fall ein Trost.
»Dreihundert Quadratkilometer Wasser vor den Orkneyinseln«, hatte Raf erklärt. »Ein Naturhafen. Die Briten haben ihn in beiden Weltkriegen als Marinestützpunkt genutzt. Die HMS Vanguard ist dort 1917 vor Anker liegend gesunken.«
»Wie das?«
»Explosion im Maschinenraum. Mit über achthundert Mann an Bord.«
»Klingt grauenvoll.«
»Mehr als grauenvoll«, hatte Raf bestätigt. »Wenn man bei einem modernen Schiff an Bord geht, sieht man alle möglichen Brandschutzmaßnahmen. Das Letzte, was man will, ist ein Feuer auf See. Man kann nirgendwohin flüchten. Die Männer an Bord der HMS Vanguard sind eines scheußlichen Todes gestorben. Ich hoffe, du bist nicht empfindlich, denn wir begegnen morgen möglicherweise einigen von ihnen. Zumindest ihren Überresten.«
»Raf!«, hatte ihn Zaks zweite Gesprächspartnerin beim Abendessen unterbrochen, »jetzt mach ihm doch damit keine Angst. Im Ernst, Kleiner, du musst ihm nicht zuhören …«
Gabs hatte weißblonde schulterlange Haare und eisblaue Augen. Zusammen mit Raf war sie fast ständig seine Gesellschaft auf der rauen, einsamen Insel St. Peter’s Crag, die er mittlerweile sein Zuhause nannte. Sie waren seine Lehrer und seine Freunde. Sein großer Bruder und seine große Schwester. Seine Schutzengel.
Zak – dem die Muskeln schmerzten und der nach einem harten Trainingstag Riesenhunger hatte – hatte noch einen Bissen hinuntergeschluckt und dann gelassen erwidert: »Tote Männer töten nicht.« Es sind die Lebenden, vor denen man sich hüten muss, hatte er im Stillen hinzugefügt. Doch statt es laut auszusprechen, hatte er aufgesehen und Gabs angegrinst. »Wenn du willst, mache ich ein paar Fotos da unten.«
Gabs hatte die Augen theatralisch verdreht. »Männer«, stöhnte sie. »Schnecken, Schlangen, Rattenschwänze … Warum könnt ihr nicht ein wenig mehr sein wie wir Mädchen?«
»Die HMS Vanguard ist offiziell zum Kriegsgrab erklärt worden«, hatte Raf weiter ausgeführt, als habe er nichts gehört. »Nur Angehörige der britischen Streitkräfte dürfen dort mit einer Ausnahmegenehmigung tauchen.«
»Angehörige der britischen Streitkräfte – und wir, stimmt’s?«
»So langsam merkt er, wie es läuft, was?«, hatte Gabs zu niemand Bestimmtes gesagt.
»Die Vanguard ist ein guter Ort, um das Tauchen in engen Räumen zu üben«, hatte Raf hinzugefügt. »Da gibt es jede Menge … Unerwartetes.«
»Was meinst du damit?«
Raf hatte ihm eins seiner raren Lächeln geschenkt und behauptet: »Wenn ich dir das sage, dann wäre es ja wohl nicht mehr unerwartet, oder? Während einer Operation ist das eher selten so, wie in der Karibik zu schnorcheln. Du musst dich Unterwasser unter schwierigen Bedingungen zurechtfinden können.«
Wenn Raf schwierig sagte, dann meinte er auch schwierig. Seine Schutzengel trainierten ihn zielstrebig auf den Gebieten, die nötig waren, ohne allzu viel Rücksicht auf sein jugendliches Alter zu nehmen. Weder Raf noch Gabs hatten es je deutlich ausgesprochen, aber Zak wusste: Wenn er alt genug war, um zu sterben, dann war er auch alt genug, um zu lernen, wie er dem Tod entging. Und das Unterwassertraining war nur ein weiteres Eisen, das er im Feuer hatte.
Das war gestern gewesen. Jetzt war es kurz nach zehn Uhr vormittags und Zak und Raf hatten schwarze Taucheranzüge mit Neoprenkappen an – bei den Wassertemperaturen unerlässlich, damit ihre Körpertemperatur nicht zu schnell absank. Über den Taucheranzügen trugen sie aufblasbare Westen. Ihre Flossen und Masken stammten vom Militär und jeder von ihnen trug einen mattschwarzen Druckluftbehälter auf dem Rücken. Am Bein hatten sie Tauchermesser festgeschnallt, und jeder hatte eine kräftige Taschenlampe, die die düstere Unterwasserwelt mit ihrem gespenstischen Schein erhellte.
Der Tiefenmesser auf Zaks Panerai-Taucheruhr zeigte ihm an, dass sie sich zehn Meter unter der Wasseroberfläche befanden. Sie waren langsam abgestiegen – etwa einen Meter pro zehn Sekunden –, und Zak konnte spüren, wie der Druck in seinen Ohren stärker wurde. Er hielt sich die Nase zu und glich den Druck aus, dann leuchtete er mit der Lampe nach oben. Dort konnte er den Rumpf des Bootes, von dem aus sie gestartet waren, gerade noch erkennen. Es war ein stabiles Gummiboot mit einem 40-PS-Außenborder, den sie vor einer halben Stunde bei der Galileo angeworfen hatten, einer 20-Meter-Luxusjacht, die auch an einem Ankerplatz vor Monaco nicht fehl am Platze ausgesehen hätte. In der Nähe der HMS Vanguard durften sich jedoch nur kleinere Boote aufhalten. Es war gut, zu wissen, dass Gabs in diesem Schlauchboot auf sie wartete.
Raf tippte ihm auf die Schulter und deutete nach unten. Zak nickte und sie tauchten weiter ab.
Das Wasser wurde immer kälter und es wurde immer finsterer. Zak schauderte. Hier unten war kein Laut zu vernehmen. Abgesehen von dem Geräusch, mit dem er die Atemluft aus dem Druckluftbehälter sog und die Luftblasen ausstieß, herrschte gedämpfte, eisige Stille. Zak folgte Raf, der zielstrebig nach unten schwamm und dessen Taschenlampe einen Lichtkegel in Richtung Meeresgrund warf. Eine Schule kleiner Fische mit bunten Schuppen flitzte durch den Lichtstrahl. Es waren Tausende von ihnen, so schnell wie Pistolenkugeln. Plötzlich wechselten sie alle die Richtung und waren Sekunden später verschwunden.
Wieder stieg der Druck in seinen Ohren. Wieder glich Zak ihn aus. Er tauchte tiefer. Der Tiefenmesser zeigte fünfunddreißig Meter.
Vierzig Meter.
Fünfundvierzig Meter.
Jetzt konnte er etwas erkennen.
Zuerst war es nur eine Silhouette. Eine düstere, geisterhafte Silhouette. Durch die Taucherbrille erspähte Zak ein riesiges spitzes V mit runden Kanten. Erst einige Augenblicke später erkannte er, dass er auf die Bugspitze eines Kriegsschiffes blickte. Er folgte Raf zum Bug, und erst als sie näher kamen, registrierte er, wie groß die HMS Vanguard war. Den Kiel des Schiffes oder gar das andere Ende konnte er nicht erkennen. Wie ein riesiges schlafendes Monster lag es in einem 30-Grad-Winkel am Meeresboden. Rumpf und Deck waren durchgerostet, mit Löchern hier und da, doch Zak stellte fest, dass es, als es noch intakt war, ein beeindruckendes Gefährt gewesen sein musste. Sie schwammen daran entlang – zehn, zwanzig, dreißig Meter. Der Schiffsrumpf, der über ihnen aufragte, war so groß, dass Zaks Lampe immer nur einen kleinen Teil davon beleuchten konnte.
Raf leitete sie nach links, bis sie schließlich einen halben Meter über dem Deck schwebten. Vor ihnen befand sich eine Türöffnung. Die Tür selbst hatte sich aus den Angeln gelöst und lag verrostet auf dem Deck. Zak leuchtete mit der Taschenlampe in die Öffnung.
Er erschrak, als ihn ein Augenpaar anstarrte. Was war das? Wer blickte sie da an? Die Augen waren etwa zehn Meter entfernt und kamen näher …
Der Fisch, der fünf Sekunden später in der Öffnung erschien, sah völlig anders aus als alles, was Zak je gesehen hatte, auch wenn er zur Vorbereitung auf seinen Tauchgang einige Bücher über das Leben unter Wasser gelesen hatte. Er war mindestens zwei Meter lang und hatte Augen so groß wie Grapefruits und mindestens genauso rund. Träge schob er sich durch die Türöffnung. Seine Schwanzflosse streifte Zaks Arm, als er an ihm vorbei in die dunkle Tiefe verschwand. Raf sah über seine Schulter zurück und hob den Daumen. Zak erwiderte die Geste, und zusammen schwammen sie ins Schiffsinnere, das sie mit ihren kräftigen Lampen erhellten.
Sie fanden sich in einem engen Gang wieder, in dem sie sich kaum bewegen konnten. Wegen der Schräglage des Bootes neigte er sich nach unten. Algen wuchsen wie Moos an den Wänden. Sie kamen an Planktonwolken vorbei, die ihnen gelegentlich ein paar Sekunden die Sicht nahmen, dann wandte sich der Gang nach rechts, und sie gelangten an eine Treppe, die nach unten führte. Raf und Zak folgten den Stufen tiefer in den Schiffsrumpf hinein.
Durch eine weitere Tür gelangten sie schließlich in einen Raum, der wohl der Maschinenraum gewesen war. Überall lagen Trümmer herum – Metall- und Maschinenteile –, und Zak erkannte, dass die Explosion, die die HMS Vanguard versenkt hatte, hier stattgefunden haben musste. Er bewegte sich weiter in den Raum hinein und sein Lichtstrahl fiel auf etwas anderes. Zuerst hielt er es für ein weiteres Meereslebewesen, das auf dem Boden des Schiffes ruhte, doch als er näher kam, erkannte er, dass er die grinsende Grimasse eines Totenschädels vor sich hatte. Von gruseliger Faszination getrieben schwamm er näher.
Und fuhr entsetzt zurück, als sich der Schädel bewegte.
Augenblicklich trat Zak den Rückzug an und kam sich dabei selbst dumm vor. Er sagte sich, dass es nur die von ihm und Raf erzeugten Wasserwirbel sein konnten, die die Bewegung verursacht hatten. Tote Männer töten nicht. Jetzt jedoch richtete sich seine Aufmerksamkeit auf seine Umgebung. Er leuchtete mit der Taschenlampe nach oben und unten, nach links und rechts. Und wo er auch hinsah, überall Skelette.
Man konnte sie nicht zählen. Zum Teil trugen die Leichen der Seeleute noch Reste von Kleidung, doch ihr Fleisch war verschwunden. Hatten die Fische es abgeknabbert oder war es einfach abgefault? Zak wusste es nicht. Seine Taschenlampe beleuchtete die Knochen eines auf dem Rücken liegenden Mannes. Sein Kiefer und seine Zähne waren in einem ewigen Grinsen fixiert, und Zak erschrak, als ein kleiner silberner Fisch zwischen seinen Rippen hervorschoss. Es war bizarr, aber er musste unwillkürlich an das Aquarium denken, das seine verstorbenen Eltern besessen hatten. Der kleine Goldfisch darin hatte sich allerdings hinter Keramikfelsen versteckt, nicht hinter menschlichen Überresten.
Jemand tippte ihm auf die Schulter. Raf war hinter ihm. Er deutete weiter nach unten. Zak hielt den Daumen hoch und zusammen schwammen sie weiter.
Doch plötzlich wurde die Ruhe des Unterwassergrabes gestört. Das Wasser geriet in Bewegung und aus dem trüben Dunkel schien irgendetwas aufzutauchen. Mehrere Tiere, schnell und Furcht einflößend, mit drei Meter langen, schlangenartigen, muskulösen Körpern, kamen auf sie zugeschossen. Im Bruchteil der Sekunde, in der sie sich näherten, identifizierte Zak sie. Die schmalen Augen, die lange Rückenfinne, das Fleckenmuster – das waren riesige Muränen. Eine von ihnen riss das Maul auf, das Licht von Zaks Taschenlampe wurde von scharfen Zähnen reflektiert. Instinktiv zuckte er vor dem gruseligen Anblick zurück und vielleicht rettete ihn das.
Raf hatte weniger Glück.
Zak wusste nicht, ob die Muräne seinen Tauchpartner biss, weil sie Angst hatte oder weil sie ihn für essbar hielt. Es war auch egal, jedenfalls war es eine heftige Attacke. Der Fisch biss zu, vergrub seine Zähne mindestens zehn Sekunden in Rafs Fleisch und wand sich dabei kraftvoll hin und her. Rafs Reaktion folgte augenblicklich. Das Mundstück seines Atemgerätes fiel ihm aus dem Mund und Blasen stiegen nach oben. Aus seinem Mund quoll ein weiterer Blasenstrom. Auch ohne etwas zu hören, war Zak klar, dass er vor Schmerz schrie.
Die Muräne hatte sich immer noch verbissen. Zak hob den Arm und versuchte mit der Taschenlampe auf sie einzuschlagen, doch da der Wasserwiderstand seinen Schlag dämpfte, zeigte das kaum Wirkung. Als die Muräne sich endlich davonschlängelte, geschah das aus freien Stücken.
Aus der Wunde floss Blut und eine dunkle Wolke breitete sich um Rafs Arm aus. Was noch schlimmer war, Raf rührte sich nicht. Seine Augen waren geschlossen, und er machte keine Anstalten, das Atemgerät wieder in den Mund zu nehmen. Er trieb hilflos im Wasser. Seine Taschenlampe, die er hatte fallen lassen, sank auf den Boden des Raums.
Er musste die Lunge voller Wasser haben und war offensichtlich bewusstlos. Keine Atmung. Und sie waren sechzig Meter unter der Wasseroberfläche.
Zak starrte entsetzt durch seine Taucherbrille. Sein Schutzengel war in ernsthaften Schwierigkeiten. Wenn Zak nicht augenblicklich etwas unternahm, würde Raf in wenigen Minuten tot sein.