Die Autorin
Salwa Bakr, geboren 1949 in Kairo, studierte Betriebswirtschaft und Theaterkritik. War als Theater-, Film- und Literaturkritikerin in Zypern und im Libanon tätig. Lebt als Schriftstellerin in Kairo.
Ihr literarisches Werk umfasst Erzählungen und Romane. Auf deutsch erschienen im Lenos Verlag die Romane Atijas Schrein und Der goldene Wagen fährt nicht zum Himmel.
Der Übersetzer
Hartmut Fähndrich, geboren 1944 in Tübingen. Studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Islamwissenschaft in Deutschland und in den Vereinigten Staaten. Seit 1972 in der Schweiz, seit 1978 Lehrbeauftragter für Arabisch an der ETH Zürich. Für Presse und Rundfunk tätig.
Nûna, die Gestörte
Eine Frau auf dem Gras
Eine kleine weisse Maus
Sainât beim Präsidentenbegräbnis
Einunddreissig schöne grüne Bäume
Die einzige Blume im Sumpf
Das Kartenspiel
Die Seele, die nach und nach gestohlen ward
Ein freudiger Anlass
Alle Vögel fliegen hoch …
Abgesehen von ihrem Vater, ihren Geschwistern, dem Herrn Offizier, seiner Frau und seinem Sohn war Nûna bei der Befragung durch die Staatsanwaltschaft nur gerade vier Personen bekannt: Hassanain, dem Brotverkäufer, Fatîch, dem Krämer, dem Bügler Sâlim und dann noch dem Müllmann, der bei seiner Einvernahme feststellen musste, dass ihm ihre Gesichtszüge eigentlich völlig fremd waren; denn – so sagte er zumindest – er hatte allemal für nichts anderes Augen als für die Blechschale mit dem Abfall, die sie ihm jeden Morgen reichte, damit er sie in seinen Korb entleerte.
Die Aussagen aller auf die Frage nach ihren Gesichtszügen variierten stark. Während der Herr Offizier nämlich versicherte, sie habe eine Stupsnase gehabt und ihr Oberkiefer habe etwas nach vorne gestanden, beantwortete seine Frau die Frage der Staatsanwaltschaft mit der Gegenfrage, ob sie überhaupt Gesichtszüge gehabt habe, und fügte dann hinzu: »Sie war ein sehr gestörtes Mädchen mit einem ausnehmend merkwürdigen Verhalten.« Ihr Vater dagegen beschränkte sich, während er sich die Tränen trocknete, auf die Aussage: »Sie war ein junges Mädchen, wie Jasmin; sie war anders als die Mädchen sonst.« Und um der Staatsgewalt gegenüber die Richtigkeit seiner Worte zu unterstreichen, holte er aus der Innentasche seiner Galabija einen kleinen goldenen Ohrring mit einer blauen Perle hervor. Es war dies die gesamte Brautgabe von dem Bräutigam, den sie nie gesehen hatte.
Auch Nûna selbst wusste nichts Genaues über ihre Gesichtszüge. Besser wusste sie da schon, dass der Sohn des Herrn Offizier schönes schwarzes Haar hatte, wie seine Mutter, und eine enorme Nase, die derjenigen seines Vaters glich, nur dass auf der Nase des letzteren kleine schwarze Pünktchen verstreut waren, die sie mehrfach bemerkte – immer dann, wenn er ganz aufgeregt daran herumdrückte und mit gepresster und vor Lachen würgender Stimme seinem Schachpartner »Schach« zurief.
Jedenfalls zeigte das Mädchen Nûna kein allzu grosses Interesse an der Frage nach ihrem Äusseren, das sie häufig in irgendwelchen Spiegeln sah – sei es im Schlafzimmer des Herrn Offizier und seiner Frau, sei es im Zimmer des Jungen, ihres Sohnes, beides Zimmer, die sie zum Saubermachen und Aufräumen betrat, was immer sehr rasch und ohne allzu grossen Zeitaufwand gehen musste, damit sie nicht die Schulstunden verpasste. Aber dann stahl sie sich doch immer wieder einige Augenblicke, um noch einmal nach der »Iris« zu suchen, an deren Existenz sie, trotz der wiederholten, nachdrücklichen Versicherung der Lehrerin, nie ganz glaubte. Und wie jedesmal stellte sie sich auf die Zehenspitzen, reckte sich, klein wie sie war, um möglichst nahe an den Spiegel heranzukommen, und zog dann mit den Fingerspitzen – ihren geschwollenen Fingerspitzen, die nie ohne Brandspuren und kleine Wunden waren – an ihren unteren Lidern, wodurch, zwei schwarzen Kreisen gleich, ihre Pupillen hervortraten, in denen sie nach Blüten oder Fruchtkolben, nach Stengeln oder Blättern oder irgend etwas forschte, das eine Iris sein könnte. Wenn sie es leid war und müde wurde und spürte, wie ihre Zehen in dieser Stellung zu schmerzen begannen, sank sie auf den ganzen Fuss zurück, presste wütend die Lippen zusammen und blies die Backen auf oder streckte die Zunge in die Luft hinaus und drehte sich mehrmals hintereinander im Kreis, nur um sich danach rasch ans Aufräumen zu machen – die Kleider der Familie mussten aufgehängt, alle Dinge an ihren Platz gestellt werden.
Ganz unbestreitbar hegte das Mädchen Nûna den geheimen Wunsch, hübsch und attraktiv zu sein. Nicht wie die Frau des Herrn Offizier, die Kleider in jeder Form und jeder Farbe besass, kurze und lange, ärmellose und langärmlige, nein, eher so hübsch wie die Lehrerin, die sie sich als bildschöne Frau vorstellte, jedesmal wenn sie, am Küchenfenster stehend, ihre angenehme Stimme vernahm, die die Mädchen aufforderte, ihr »ei-ner Ga-zel-le Flan-ken, und Bei-ne wie ein Strauss«1 nachzusprechen.
Das Wort »Flanken« war für Nûna ein echtes Rätsel, und wenn sie begann, es gemeinsam mit den Mädchen nachzusprechen, und dem Rhythmus ihrer scharfen Solostimme lauschte, die »ei-ner Gazel-le Flan-ken« zeichnete, hielt sie beim Reiben des Tellers, den sie gerade in der Abwaschschüssel spülte, oder beim Rühren des Essens, das im Topf auf dem Feuer stand, ein wenig inne. Dann legte sie ihr rechtes Bein locker und entspannt über das linke, begann, genussvoll an ihrem Daumen zu lutschen, und dachte über die mögliche Bedeutung dieser »Flanken« nach und sinnierte, ob es sich dabei um eine Art Klee oder eine Art Süssigkeit oder eine Art Maulesel handeln könnte.
Auf der Suche nach einer möglichen Bedeutung drängten sich die Bilder in ihrer Phantasie, und wenn all die Fragen sie erschöpften und sie plötzlich bemerkte, dass schon zuviel Wasser in die Abwaschschüssel gelaufen war oder dass das Essen genug gekocht hatte, machte sie sich wieder an ihre Arbeit. Wut und Ratlosigkeit setzten in ihrem Körper eine gewaltige Kraft frei, und sie rieb und polierte die Teller, bis sie blitzblank waren, oder legte das Besteck noch ordentlicher an seinen Platz und leierte dabei die Worte »ei-ner Ga-zel-le Flan-ken, und Bei-ne wie ein Strauss« vor sich hin und schaute durch das mit Eisenstäben vergitterte Fenster vor sich hinaus. Dahinter war, direkt gegenüber, das Schulgebäude sichtbar und der weite blaue Himmel, der es beschirmte. Die Stimmen der Mädchen tönten kräftig und trotzig zu ihr herüber. Sie spürte, wie sie fast wahnsinnig wurde, und da schrie sie mit aller Kraft, die in ihrer Kehle steckte, mit ihnen im Chor: »Ei-nes Wol-fes Trab-lauf, und der Jung-füch-se Ga-lopp«.
Die Geheimnisse noch vieler anderer Dinge – ausser der Bedeutung dieses Wortes »Flanken« – zu erfahren, wünschte sie sich, Dinge, von denen sie aus dieser verborgenen Zauberwelt dort hinter dem Fenster hörte, dieser Welt, die von Zeit zu Zeit aus der Mädchenschule herüberdrang und sie seltsame, ihr unverständliche Worte auswendig lernen liess, in ihr auch den Wunsch weckte, jemanden zu finden, der das Feuer in ihrem Herzen kühlen und ihr erklären könnte, was das alles hiess. Sie versuchte wirklich, die Bedeutung dieses Wortes zu erfahren. Sie fragte Hassanain, den Brotverkäufer, was »Flanken« seien. Doch der zwinkerte ihr nur ordinär zu, zog seine Augenbrauen hoch und machte jene Bewegung mit dem Daumen, die sie von den Frauen aus dem Dorf kannte. Daraufhin beschimpfte sie ihn und verfluchte seinen Vater und seine ganze widerliche Ahnenreihe. Aber nach diesem Erlebnis fürchtete sie sich doch, dasselbe bei Fatîch, dem Krämer, zu wiederholen, und hatte schon beschlossen, den Sohn des Herrn Offizier zu fragen, als der Vorfall mit der Quadratwurzel dazwischenkam, der sie überhaupt nicht mehr daran denken liess. Ja, als eines Tages die Herrin sie dabei überraschte, wie sie in den Zwiebeln pulte und forschte und nach dem Schwefelwasserstoff suchte, der nach den Worten der Lehrerin darin enthalten sein sollte, weigerte sich Nûna sogar hartnäckig, ihr, die befremdet fragte, was sie da eigentlich treibe, ihr Tun zu erklären. Sie beschränkte sich darauf, ihr mitzuteilen, sie suche etwas Besonderes in den Zwiebeln. Die Frau des Herrn Offizier sah sich veranlasst, Nûna wegen dieses und zahlreicher anderer Vorfälle als »gestört« zu bezeichnen. Sie lege ein merkwürdiges Verhalten und ein unnatürliches Benehmen an den Tag. Bestätigt fühlte sie sich in dieser Meinung noch ganz besonders, nachdem sie Nûna in der Küche dabei ertappt hatte, wie sie herumhüpfte, ein Bein hochnahm und es nach vorne streckte – genauso hatte sie es die mit langen schwarzen Hosen bekleideten Mädchen auf dem grossen Schulhof machen sehen. Die Herrin hatte das immer von Nûna gesagt und dann – wenn sie bei den Abendkränzchen mit ihren Freundinnen im goldenen Salon zusammensass, von dem Nûna glaubte, dass selbst der Omda ihres Dorfes so etwas noch nie gesehen haben könnte – gleich hinzugefügt, Nûna sei ein echtes Arbeitstier. Sie habe genug Kraft, um einen Berg niederzureissen, obwohl sie doch erst gerade dreizehn Jahre alt sei. Nein, sie würde sie, trotz ihrer Gestörtheit, niemals entlassen, besonders, da Dienstpersonal dieser Tage ja recht rar geworden sei und man fast niemanden mehr finde.
Obwohl Nûna überhaupt keine Freude an dieser Einschätzung hatte und obwohl die Herrin sie einmal ins Gesicht schlug, weil sie ihren Sohn einen Dummkopf genannt hatte, hegte sie keinerlei Hassgefühle gegen die Frau des Herrn Offizier. Sie wusste ja, dass der Herrin bei dem Schlag nur die Hand ausgerutscht war, ebenso wie ihr selbst die freche Bemerkung nur so herausgerutscht war. Der Junge sass da im Salon mit seinem Hauslehrer. Die Mutter hatte den beiden gegenüber Platz genommen und strickte, Kaugummi knallend. Nûna kam mit dem Teetablett in der Hand herein, als der Lehrer gerade nach der Quadratwurzel von fünfundzwanzig fragte. Der Junge bohrte ratlos in der Nase, gaffte blöde zu seiner Mutter hinüber und antwortete nicht. Nûna aber, die von der Lehrerin viel über Quadratwurzeln gehört hatte, konnte sich nicht mehr zurückhalten, und als der Junge plötzlich dreist »vier« sagte, rief sie, genau wie die Lehrerin immer, ganz aufgeregt: »Fünf, du Dummkopf!« und liess fast das Teetablett fallen. Der Lehrer brach in verblüfftes Gelächter aus, der Junge aber rannte zu ihr hin und wollte ihr eine runterhauen. Doch seine Mutter war schneller. Aus Furcht, die kristallenen Teegläser könnten zerbrechen, sprang sie von ihrem Platz auf und erledigte selbst das mit der Ohrfeige. Es war das einzige Mal während der ganzen drei Jahre, die Nûna in diesem Haus verbrachte, dass die Herrin sie schlug, und obwohl die Herrin durchaus recht hatte, als sie dem Lehrer sagte, Nûna müsse das aus der Mädchenschule gehört haben, die »Fenster an Fenster« mit ihrer Wohnung liege, hatte Nûna doch gelernt, nie mit jemandem im Haus darüber zu sprechen, damit es der Herrin nicht doch noch einfiele, sie hinauszuwerfen. Denn sie wollte am liebsten bleiben, wo die Schule und die Mädchen waren und diese schöne Welt, deren Geräusche sie täglich durch das Küchenfenster hörte, ohne sie je zu sehen. Sie wollte am liebsten bleiben, trotz dieses heissen Feuers, das Tag und Nacht in ihrer Brust brannte, der Sehnsucht nach ihrer Mutter und ihren Geschwistern, des Wunsches, mit anderen Kindern durch die Felder zu streifen, dort herumzulaufen, wo es nach Pflanzen roch und nach taufrischer Frühe, wo man die Sonne jeden Morgen aufgehen sah und wo sie, wenn sie ärgerlich oder wütend war, ihre Mutter rufen hörte: »Naîma, mein Liebes, komm her, mein kleines Naîmchen.« Und alles war wieder gut.
Sie mochte ihren richtigen Namen, Naîma, sehr gern, auch den Kosenamen Naîmchen. Nûna fand sie nicht hübsch. Diesen Namen hatte ihr die Herrin gegeben, und alle nannten sie so, seit sie von ihrem Dorf hierhergekommen war, in dieses Haus, bis sie es auf immer verliess.
Das war an jenem Tag, nach welchem dann niemand etwas von Nûna wusste und bis zu welchem ihr Leben völlig normal verlaufen war. Wie üblich war sie früh aufgewacht und war Brot holen gegangen. Dann hatte sie das Frühstück für den Herrn Offizier, seine Frau und seinen Sohn gerichtet, hatte dem Müllmann die Blechschale mit dem Abfall hinausgebracht und hatte sich, nachdem alle weggegangen waren, in die Küche begeben. Doch gegen vier Uhr wurde plötzlich alles anders in ihrem Leben. Da klopfte es nämlich an der Tür, und Abu Sarî, ihr Vater, stand davor, der, nach Grüssgott und Gutentag, nach Essen und Teetrinken, nach dem Neuesten von Mutter und Geschwistern – alle schön der Reihe nach – und nach einigem Hin und Her eine Bombe platzen liess, als er sagte, dabei einen prüfenden Blick auf ihre Brust und ihren Körper werfend und so hocherfreut lächelnd, dass seine schwarzen Zähne sichtbar wurden, diesmal werde er sie mit nach Hause nehmen; sie werde nämlich heiraten. Er zeigte ihr den Ohrring, den ihr Bräutigam für sie gekauft habe, welcher gerade aus dem Lande des Propheten mit mehr als genug Geld zur kompletten Ausstattung eines ganzen Zimmers im Hause seiner Mutter zurückgekehrt sei. Da rutschte Nûna das Herz bis zu den Fersen; sie war drauf und dran loszuheulen. Doch Abu Sarî, der sah, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich und sie weiss wie ein Rettich wurde, beruhigte sie, noch immer lächelnd, sie brauche keine Angst zu haben, das passiere jedem Mädchen einmal und es sei überhaupt nichts Schlimmes dabei. Sie solle sich übrigens fertigmachen, mahnte er dann, sie würden nämlich am Morgen abreisen. Danach entschloss er sich, auch ihr die Freude zu machen, die man ihm schon gemacht hatte – er teilte ihr mit, die Herrin würde ihr als Geschenk einen ganzen zusätzlichen Monatslohn geben, ausserdem zwei Stück Stoff, die noch nie eine Schere berührt hätte, und dann hätte es der Gütige auch noch gefügt, dass ihre jüngere Schwester ihre Stelle hier im Haus übernehmen könnte.
»Alles war völlig normal an jenem Abend«, sagte die Frau des Herrn Offizier zum Staatsanwalt, und Mann und Sohn pflichteten ihr bei, sogar Abu Sarî. Nûna hatte das Abendessen gerichtet, hatte das Geschirr abgewaschen und hatte dem Jungen, der in seinem Zimmer lernte, seinen Tee gebracht. »Da war nichts, was hätte misstrauisch machen können«, fügte sie hinzu. Doch tatsächlich geschah etwas anderes. Nûna lag die ganze Nacht auf ihrem Bett in der Küche, ohne ein Auge zuzumachen. Sie starrte an die Decke und blickte von Zeit zu Zeit zum Fenster hinüber, hinter dem das Schulgebäude hoch aufragte, darüber ein kleines Stückchen Himmel, an dem die Sterne tanzten. Kummer zermalmte und zermahlte ihr Herz. Nein, sie wollte nicht mehr zurück ins Dorf, sie wollte wirklich nicht mehr zwischen Dreck und Flöhen und Mücken leben; und sie wollte wirklich nicht heiraten, um, wie ihre Schwester, mit Gewalt beackert zu werden. Und die ganze Nacht über flossen aus ihren Augen Meere von Tränen, während sie wach lag bis zum Morgengrauen. Sie sah noch den fahlen Himmel und das schwarze Eisen am Fenster, doch als die Herrin sie rief, aufzustehen und Brot holen zu gehen, hatte der Schlaf sie überkommen. Sie träumte von der Schule und von den Mädchen und sah im Traum den Sohn des Herrn Offizier, der sie heftig schlug, weil er die Quadratwurzel von fünfundzwanzig nicht kannte. Sie sah auch die »Flanken«