Khaled Hosseini
TRAUMSAMMLER
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Henning Ahrens
FISCHER E-Books
Khaled Hosseini schrieb die Romane »Drachenläufer«, »Tausend strahlende Sonnen« und »Traumsammler«. Sie erschienen in 70 Ländern und wurden zu Weltbestsellern. Khaled Hosseini wurde 1965 in Kabul geboren. Nach Einmarsch der Sowjets in Afghanistan ging seine Familie ins Exil nach Amerika. Er studierte Medizin und arbeitete als Internist. Heute ist er Sonderbotschafter der Vereinten Nationen und gründete die Khaled Hosseini Foundation, die Menschen in Afghanistan humanitäre Hilfe bietet. Mehr über seine Stiftung erfahren Sie auf www.khaledhosseinifoundation.org und www.khaledhosseini.com.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2013
unter dem Titel »And the Mountains Echoed«
bei Riverhead Books, Penguin Group, New York
Copyright © 2013 by Khaled Hosseini and Roya Hosseini,
as Trustees of The Khaled and Roya Hosseini Family Charitable
Remainder Unitrust No. 2 dated February 29, 2012
Epigraph copyright Coleman Barks
All rights reserved
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Coverabbildung: Penguin Group (USA)/ Betsie Van der Meer (Getty Images)
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402845-3
Ich widme dieses Buch Haris und Farah,
meinen beiden Augensternen,
und meinemVater, der stolz gewesen wäre.
Für Elaine
Jenseits unserer Vorstellungen
Von guten und schlechten Taten
Erstreckt sich ein Feld.
Dort werde ich dich treffen.
Dschalaluddin Rumi, 13. Jahrhundert
Ihr wollt eine Geschichte hören? Gut, ich erzähle euch eine. Aber nur eine. Bettelt nicht um mehr, ihr zwei! Es ist schon spät, Pari, und wir haben morgen einen langen Weg vor uns. Du brauchst deinen Schlaf. Das gilt auch für dich, Abdullah. Während ich mit deiner Schwester fort bin, verlasse ich mich auf dich, mein Junge. Deine Mutter braucht deine Hilfe. Also dann – eine Geschichte. Aufgepasst, ihr zwei, hört gut zu und redet nicht dazwischen.
Es war einmal ein Bauer namens Baba Ayub, der lebte vor langer, langer Zeit, als Dämonen, Dschinns und Riesen durch unser Land zogen. Baba Ayub wohnte im Dörfchen Maidan Sabz. Er musste eine vielköpfige Familie ernähren und brachte die Tage im Schweiße seines Angesichts zu. Er arbeitete von früh bis spät, pflügte und bestellte seinen Acker und hegte seine kümmerlichen Pistazienbäume. Ob morgens, mittags oder abends, immer sah man ihn auf dem Feld, tief über den Boden gebeugt und so krumm wie die Sichel, die er täglich schwang. Seine Hände waren schwielig und oft blutig, und wenn er sich abends zur Ruhe legte, übermannte ihn der Schlaf, sobald er die Wange auf das Kissen bettete.
Damit stand er nicht allein. Das Leben in Maidan Sabz war für alle Bewohner eine schwere Prüfung. Weiter nördlich gab es Dörfer, die ein besseres Los gezogen hatten, denn sie lagen in Tälern mit Obstbäumen und Blumen, mit linder Luft und Bächen mit kaltem, klarem Wasser. Doch Maidan Sabz war ein öder Ort, und sein Name – »Grüne Flur« – sprach der Wirklichkeit Hohn. Das Dorf lag in einer flachen und staubigen, von einem zerklüfteten Gebirgszug umgebenen Ebene. Der heiße Wind blies einem Staub in die Augen. Das Wasserholen war ein täglicher Kampf, weil die Dorfbrunnen, egal wie tief, oft zu versiegen drohten. Es gab zwar einen Fluss, aber er war einen halben Tagesmarsch entfernt und das ganze Jahr verschlammt, und nun, nach zehn dürren Jahren, führte er sowieso kaum noch Wasser. Man könnte sagen, dass es den Menschen in Maidan Sabz nur halb so gut ging wie allen anderen, obwohl sie doppelt so viel arbeiteten.
Baba Ayub hielt sich trotzdem für gesegnet, denn er ging ganz in seiner Familie auf. Er liebte seine Frau und erhob ihr gegenüber nie die Stimme, geschweige denn die Hand. Er achtete ihren Rat und war gern mit ihr zusammen. Kinder hatte er so viele wie Finger an einer Hand, drei Söhne und zwei Töchter, und er liebte sie innig. Seine Töchter waren pflichtbewusst und freundlich, charakterfest und von untadeligem Ruf. Seinen Söhnen hatte er längst beigebracht, Ehrlichkeit, Mut, Freundschaft und harte, klaglose Arbeit als hohe Werte zu begreifen. Als gute Söhne gehorchten sie und halfen ihm bei der Feldarbeit.
Ja, Baba Ayub liebte alle seine Kinder, aber sein jüngstes, den dreijährigen Qais, liebte er insgeheim am meisten. Qais war klein und hatte dunkelblaue Augen. Er bezauberte alle mit seinem spitzbübischen Lachen. Außerdem war er einer jener Jungen, die vor Kraft nur so strotzen und andere durch ihre Energie auslaugen. Er hatte so große Freude am Laufenlernen, dass er nicht nur den lieben, langen Tag auf den Beinen war, sondern beunruhigenderweise auch wenn er schlief. Er wandelte im Schlaf aus dem Lehmziegelhaus der Familie in die mondhelle Nacht. Seine Eltern waren natürlich besorgt. Was, wenn er in einen Brunnen fallen, sich verirren oder, schlimmer noch, von einem der Geschöpfe angegriffen werden würde, die auf der finsteren Ebene lauerten? Seine Eltern versuchten sich auf allerlei Art zu behelfen, aber alles schlug fehl. Schließlich fand Baba Ayub eine Lösung, die, wie die meisten guten Ideen, denkbar schlicht war: Er nahm einer Ziege das Glöckchen ab und hängte es Qais um den Hals. So bekam es jemand im Haus mit, wenn Qais wieder einmal mitten in der Nacht aufstand. Er hörte nach einer Weile auf schlafzuwandeln, aber da er das Glöckchen liebgewonnen hatte, mochte er davon nicht lassen und trug es weiter um den Hals, obwohl es seinen ursprünglichen Zweck längst erfüllt hatte. Wenn Baba Ayub nach einem langen Arbeitstag heimkehrte, kam Qais aus dem Haus gerannt und sprang seinen Vater an, und das Glöckchen bimmelte bei jedem seiner kleinen Schritte. Baba Ayub nahm ihn dann auf den Arm und trug ihn ins Haus. Dort sah Qais seinem Vater fasziniert beim Waschen zu und setzte sich beim Essen neben ihn. Danach nippte Baba Ayub am Tee, ließ den Blick über seine Familie schweifen und malte sich den Tag aus, an dem alle seine Kinder verheiratet wären und eigene Kinder hätten, den Tag, an dem er das Oberhaupt einer noch größeren Familie wäre.
Doch leider, Abdullah und Pari, sollte die glückliche Zeit im Leben Baba Ayubs bald ein Ende nehmen.
Eines Tages kam ein Dämon nach Maidan Sabz. Er strebte vom Gebirge auf das Dorf zu, und die Erde erbebte unter seinen Schritten. Die Dorfbewohner ließen Spaten, Hacken und Äxte fallen und ergriffen die Flucht. Sie schlossen sich in ihren Häusern ein und kauerten sich aneinander. Schließlich verstummten die ohrenbetäubend lauten Schritte des Dämons, und sein Schatten verdunkelte Maidan Sabz. Seinem Kopf, so erzählte man sich, entsprangen geschwungene Hörner, und seine Schultern und der mächtige Schwanz waren von einem groben, schwarzen Fell bedeckt. Seine Augen, so hieß es, glühten rot. Genaueres wusste niemand, jedenfalls kein Lebender, denn der Dämon fraß auf der Stelle jeden, der auch nur den Blick zu heben wagte. Die Dorfbewohner wussten dies und hielten den Blick die ganze Zeit gesenkt.
Jeder ahnte, warum der Dämon im Dorf erschienen war. Alle hatten Geschichten über seine Heimsuchungen anderer Dörfer gehört und wunderten sich, warum er sie so lange verschont hatte. Vielleicht, dachten sie, lag es daran, dass ihre Kinder aufgrund des ärmlichen und mühseligen Alltags so mager waren. Nun hatte sie das Glück jedoch im Stich gelassen.
Ganz Maidan Sabz erzitterte und hielt den Atem an. Alle Familien beteten darum, dass der Dämon ihr Haus verschonen möge, denn sie wussten, dass sie ihm ein Kind geben mussten, wenn er an das Dach klopfte. Der Dämon würde das Kind in einen Sack stecken und sich diesen über die Schulter werfen und auf jenem Weg verschwinden, auf dem er gekommen war. Niemand würde das arme Kind je wiedersehen. Und wenn sich eine Familie weigerte, nahm der Dämon einfach alle Kinder mit.
Und wohin brachte der Dämon die Kinder? In seine Burg, die auf dem Gipfel eines hohen Berges stand. Diese Burg war sehr weit von Maidan Sabz entfernt. Man musste Täler, mehrere Wüsten und zwei Gebirgszüge überwinden, bevor man sie erreichte, und wer wollte diese Strapazen auf sich nehmen, nur um in den sicheren Tod zu gehen? Angeblich gab es in dieser Burg unzählige Verliese, an deren Wänden Hackebeile hingen. Fleischhaken baumelten von der Decke. Man munkelte von riesigen Bratspießen und Feuerstellen. Es hieß, der Dämon würde seine Abneigung gegen das Fleisch Erwachsener vergessen, wenn ihm ein Eindringling über den Weg lief.
Ihr ahnt sicher, in welchem Haus das gefürchtete Klopfen des Dämons ertönte. Baba Ayub entrang sich bei dem Geräusch ein gequälter Schrei, und seine Frau wurde ohnmächtig. Die Kinder weinten vor Entsetzen und aus Sorge, weil sie wussten, dass sie jetzt einen Bruder oder eine Schwester verlieren würden. Die Familie hatte eine Frist bis zum nächsten Morgen – dann musste das Opfer dargebracht werden.
Wie soll ich die Qualen schildern, die Baba Ayub und seine Frau während dieser Nacht durchlitten? Eltern dürften nicht vor so eine Wahl gestellt werden. Baba Ayub und seine Frau beratschlagten außer Hörweite ihrer Kinder, was zu tun war. Sie redeten und weinten, redeten und weinten. Sie beratschlagten die ganze Nacht, doch als der Morgen graute, hatten sie noch immer keine Entscheidung getroffen – und vielleicht hatte der Dämon genau dies im Sinn, weil er so alle fünf Kinder mitnehmen konnte. Schließlich las Baba Ayub draußen vor dem Haus fünf gleich große und gleich geformte Steine auf. Auf jeden schrieb er den Namen eines Kindes und warf sie dann in einen Jutesack. Seine Frau zuckte zurück wie vor einer Giftschlange, als er ihr den Sack hinhielt.
»Unmöglich«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich kann diese Wahl nicht treffen. Das wäre zu schrecklich.«
»Ich vermag es auch nicht«, sagte Baba Ayub, aber da sah er durch das Fenster, dass die Sonne gleich über den Bergen aufgehen würde. Die Zeit lief ihm davon. Bedrückt musterte er seine fünf Kinder. Ein Finger musste abgehackt werden, um die Hand zu retten. Er schloss die Augen und holte einen Stein aus dem Sack. Ihr ahnt sicher, welcher Name auf dem Stein stand. Als Baba Ayub ihn sah, warf er den Kopf in den Nacken und schluchzte. Er nahm seinen jüngsten Sohn mit gebrochenem Herzen in die Arme, und Qais, der seinem Vater blind vertraute, schlang seine Ärmchen fröhlich um Baba Ayubs Hals. Er merkte erst, dass etwas nicht stimmte, als die Tür zufiel, sobald er draußen stand, und hinter der Tür stand Baba Ayub, aus dessen zugekniffenen Augen Tränen flossen, während sein geliebter Qais mit den Fäustchen gegen das Holz trommelte und seinen Baba anflehte zu öffnen. Baba Ayub murmelte: »Vergib mir, vergib mir«, und im nächsten Moment ließen die Schritte des Dämons die Erde erzittern, und sein Sohn schrie, und die Erde bebte weiter, während der Dämon aus Maidan Sabz verschwand. Schließlich war er fort, und die Erde beruhigte sich, und die Stille wurde nur noch von Baba Ayub unterbrochen, der Qais weinend um Vergebung bat.
Abdullah. Deine Schwester ist eingeschlafen. Leg die Decke über ihre Füße. Ja, so ist es gut. Soll ich aufhören? Noch nicht? Bist du sicher, mein Junge? Gut, dann weiter.
Wo war ich stehengeblieben? Ach, ja. Nun wurde vierzig Tage getrauert. Die Nachbarn kochten täglich eine Mahlzeit für die Familie und wachten mit ihr. Die Menschen brachten alle möglichen Gaben, Tee, Süßigkeiten, Brot, Mandeln, und sie bekundeten ihre Trauer und ihr Mitgefühl. Baba Ayub brachte kaum ein Wort des Dankes über die Lippen. Er saß in einer Ecke, und aus seinen Augen strömten die Tränen, als wollte er der jahrelangen Dürre ein Ende setzen. Die Seelenqualen und Schmerzen, die er litt, würde man nicht einmal seinem ärgsten Feind wünschen.
Jahre vergingen. Die Dürre hielt an, und die Armut in Maidan Sabz wurde immer schlimmer. Mehrere Säuglinge verdursteten in der Wiege. Der Wasserstand der Brunnen sank weiter, und der Fluss trocknete aus. Im Gegensatz dazu glich Baba Ayubs Schmerz einem Strom, der täglich weiter anschwoll. Er war seiner Familie keine Hilfe mehr. Er arbeitete nicht, er betete nicht, er aß kaum einen Bissen. Seine Frau und seine Kinder redeten vergeblich auf ihn ein. Seine verbliebenen Söhne mussten die Arbeit übernehmen, denn Baba Ayub saß den ganzen Tag am Rand seines Ackers, eine einsame, elende Gestalt, und blickte unverwandt auf das ferne Gebirge. Er ging den Dorfbewohnern aus dem Weg, weil er glaubte, sie würden hinter seinem Rücken über ihn tuscheln. Er bildete sich ein, dass sie ihn für einen Feigling hielten, weil er seinen Sohn freiwillig hergegeben hatte, und für einen schlechten Vater, weil ein guter Vater gegen den Dämon gekämpft und bei der Verteidigung seiner Familie sein Leben gelassen hätte.
Das erzählte er eines Abends seiner Frau.
»Niemand sagt so etwas«, antwortete sie. »Niemand hält dich für einen Feigling.«
»Aber ich kann sie hören«, sagte er.
»Was du da hörst, ist deine eigene Stimme, mein guter Mann.« Sie verschwieg ihm jedoch, dass die Dorfbewohner tatsächlich hinter seinem Rücken tuschelten – darüber, dass er womöglich den Verstand verloren hatte.
Schließlich kam der Tag, der dies zu bestätigen schien. Baba Ayub erhob sich im Morgengrauen. Er steckte ein paar Kanten Brot in einen Jutesack, zog die Schuhe an, band sich seine Sichel um und brach auf.
Er wanderte viele, viele Tage. Er wanderte, bis die Sonne blassrot in der Ferne verglühte. Wenn draußen der Wind heulte, übernachtete er in Höhlen. Manchmal schlief er an Flussufern, unter Bäumen oder im Schutz von Felsbrocken. Nachdem das Brot alle war, aß er, was er finden konnte, ob Beeren, Pilze oder Fische, die er mit bloßen Händen in den Bächen fing. An manchen Tagen hungerte er, doch er gab nicht auf. Wenn er unterwegs nach seinem Ziel gefragt wurde, antwortete er ganz offen. Manche lachten ihn aus, andere ließen ihn stehen, weil sie ihn für verrückt hielten, und wieder andere, die auch ein Kind an den Dämon verloren hatten, beteten für ihn. Baba Ayub wanderte weiter, den Kopf gesenkt. Als seine Schuhe auseinanderfielen, befestigte er sie mit Bändern an den Füßen, und als die Bänder rissen, ging er barfuß weiter. Auf diese Weise durchquerte er Wüsten und Täler und überwand Gebirge.
Endlich erreichte er den Berg mit der Dämonenburg. Er war so besessen von seinem Vorhaben, dass er sich keine Rast gönnte, sondern sofort mit dem Aufstieg begann. Seine Kleider lagen in Fetzen, seine Füße waren blutig und seine Haare dreckverkrustet, aber sein Mut war ungebrochen. Spitze Steine rissen seine Füße auf. Falken hackten ihm ins Gesicht, wenn er an ihrem Horst vorbeikletterte. Heftige Windböen fegten ihn fast von der Bergflanke. Doch er setzte seinen Aufstieg fort, kletterte von einem Felsen zum nächsten, bis er vor den gewaltigen Toren der Dämonenburg stand.
Wer wagt es?, dröhnte der Dämon, nachdem Baba Ayub einen Stein gegen das Tor geworfen hatte.
Baba Ayub nannte seinen Namen. »Ich komme aus dem Dorf Maidan Sabz«, sagte er.
Suchst du den Tod? Den wirst du finden, wenn du den Frieden meines Hauses störst! Was ist dein Begehr?
»Ich bin gekommen, um dich zu erschlagen.«
Hinter den Toren trat Stille ein. Dann schwangen sie auf, und da stand der Dämon, er überragte Baba Ayub in all seiner albtraumhaften Pracht.
Ach, ja?, sagte er, und seine Stimme klang wie dumpfes Donnergrollen.
»Ja«, sagte Baba Ayub. »So oder so – einer von uns beiden wird heute sterben.«
Für einen Moment sah es so aus, als würde der Dämon Baba Ayub von den Beinen schmettern und mit einem einzigen Biss seiner messerscharfen Zähne töten. Aber das Ungeheuer verengte die Augen und zögerte. Vielleicht wegen des Irrsinns, der aus den Worten des Mannes sprach. Vielleicht wegen dessen zerfetzten Kleidern, dem blutigen Gesicht, dem Dreck, der ihn von Kopf bis Fuß bedeckte, den Schwären auf der Haut. Oder zögerte der Dämon, weil er in den Augen des alten Mannes keine Spur von Angst erkennen konnte?
Woher kommst du?
»Aus Maidan Sabz«, wiederholte Baba Ayub.
Wenn ich dich so ansehe, muss es weit weg liegen, dieses Maidan Sabz.
»Ich bin nicht gekommen, um mit dir zu schwatzen. Sondern um dich …«
Der Dämon hob eine Klauenhand. Ja. Ja. Du bist gekommen, um mich zu erschlagen. Ich weiß. Aber bevor du mich tötest, werde ich wohl noch ein paar Worte sagen dürfen.
»Meinetwegen«, sagte Baba Ayub. »Aber nur ein paar.«
Ich danke dir. Der Dämon grinste. Darf ich fragen, warum ich den Tod verdiene? Welches Unrecht habe ich dir angetan?
»Du hast meinen jüngsten Sohn geraubt«, antwortete Baba Ayub. »Er war mir das Liebste auf der Welt.«
Der Dämon fasste sich brummend ans Kinn. Ich habe viele Kinder von vielen Vätern geraubt, sagte er.
Baba Ayub zog zornig die Sichel. »Dann werde ich auch in ihrem Namen Rache nehmen.«
Dein Mut nötigt mir Respekt ab, das muss ich zugeben.
»Du verstehst nichts von Mut«, sagte Baba Ayub. »Mut zeigt man nur, wenn etwas auf dem Spiel steht. Aber ich habe nichts mehr zu verlieren.«
Du könntest dein Leben verlieren, sagte der Dämon.
»Das hast du mir längst genommen.«
Der Dämon brummte wieder und betrachtete Baba Ayub eingehend. Nach einer Weile sagte er: Also gut. Du sollst deinen Zweikampf bekommen. Aber zuvor möchte ich dich bitten, mir zu folgen.
»Nur, wenn es nicht zu lange dauert«, sagte Baba Ayub. »Ich verliere allmählich die Geduld.« Doch der Dämon schritt schon auf einen Flur von gewaltigen Ausmaßen zu, und Baba Ayub blieb keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Sie gingen durch ein Labyrinth von Fluren mit himmelhohen Decken, gestützt von riesigen Säulen. Sie passierten zahlreiche Treppen und Räume, so groß, dass ganz Maidan Sabz hineingepasst hätte. Sie gingen immer weiter, bis Baba Ayub von dem Dämon in eine weite Halle geführt wurde, deren Rückwand von einem Vorhang verdeckt war.
Komm näher, sagte der Dämon.
Baba Ayub trat neben ihn.
Der Dämon zog die Vorhänge auf. Dahinter befand sich ein verglastes Fenster, das den Blick auf einen großen Garten freigab. Baba Ayub sah, dass der Garten von Zypressenspalieren gesäumt war, vor deren Stämmen Blumen blühten. Er sah blau gekachelte Becken, Marmorterrassen und sattgrüne Rasenflächen. Er sah kunstvoll gestutzte Hecken und auch Springbrunnen, die im Schatten von Granatapfelbäumen plätscherten. Einen so wunderschönen Ort hätte er sich nicht in seinen kühnsten Träumen vorstellen können. Doch was Baba Ayub wirklich überwältigte, waren die fröhlich herumtollenden Kinder. Sie spielten Fangen auf den Wegen und zwischen den Bäumen. Sie spielten Verstecken hinter den Hecken. Baba Ayub nahm ein Kind nach dem anderen in den Blick, und schließlich fand er, was er gesucht hatte. Da war er! Sein Sohn, Qais, lebendig und kerngesund. Er war größer geworden, und seine Haare waren länger als früher. Er trug ein schönes, weißes Hemd über einer feinen Hose. Er rannte lachend hinter zwei Spielkameraden her.
»Qais«, flüsterte Baba Ayub, und sein Atem ließ das Glas beschlagen. Dann rief er den Namen seines Sohnes.
Er kann dich weder sehen noch hören, sagte der Dämon.
Baba Ayub sprang auf und nieder, schwenkte die Arme und hämmerte gegen das Glas, bis der Dämon die Vorhänge wieder zuzog.
»Ich verstehe nicht«, sagte Baba Ayub. »Ich dachte …«
Dies ist deine Belohnung, sagte der Dämon.
»Wie meinst du das?«, rief Baba Ayub aus.
Ich habe dich auf die Probe gestellt.
»Was für eine Probe?«
Ich wollte deine Liebe auf die Probe stellen. Ich gebe zu, dass es eine schwere Prüfung war, und ich kann dir ansehen, wie viel sie dich gekostet hat. Aber du hast sie bestanden. Dies ist deine Belohnung. Und die deines Sohnes.
»Und wenn ich mich damals nicht für ein Kind entschieden hätte?«, schrie Baba Ayub. »Wenn ich mich deiner Probe verweigert hätte?«
Dann wäre es um alle deine Kinder geschehen gewesen, sagte der Dämon. Aber mit einem Schwächling als Vater wären sie sowieso verflucht gewesen. Mit einem Feigling, der lieber ihren Tod in Kauf genommen als sein Gewissen belastet hätte. Du sagst von dir selbst, dass du nicht mutig bist, aber ich sehe dir an, dass du es bist. Du hast Mut gebraucht, um dich zu entscheiden und die Last der Verantwortung auf dich zu nehmen. Das ehrt dich.
Baba Ayub zückte die Sichel, doch sein Griff war schwach, und sie entglitt seiner Hand und fiel auf den Marmorfußboden. Seine Knie wankten, und er musste sich setzen.
Dein Sohn erinnert sich nicht mehr an dich, fuhr der Dämon fort. Dies ist jetzt sein Leben, und du hast ja selbst gesehen, wie glücklich er ist. Er hat hier alles, was er braucht, gutes Essen, kostbare Kleidung, er erfährt Freundschaft und Zuneigung. Er wird in Kunst und Sprachen unterrichtet, und man lehrt ihn Weisheit und Wohltätigkeit. Es fehlt ihm an nichts. Und sollte er eines Tages, wenn er erwachsen ist, gehen wollen, so steht ihm das Tor offen. Er wird viele Leben durch seine Güte bereichern und jene, die von Kummer und Sorgen geplagt werden, glücklich machen.
»Ich will ihn sehen«, sagte Baba Ayub. »Ich will ihn mit nach Hause nehmen.«
Tatsächlich?
Baba Ayub sah zum Dämon auf.
Dieser ging zu einem Schrank, der neben den Vorhängen stand, und holte eine Sanduhr aus einer Schublade. Weißt du, was eine Sanduhr ist, Abdullah? Ja? Gut. Der Dämon drehte sie um und stellte sie vor Baba Ayubs Füße.
Ich gestatte dir, deinen Sohn mitzunehmen, sagte der Dämon. Wenn du es tust, kann er nie mehr hierher zurückkehren. Wenn du es nicht tust, kannst du nie mehr hierher zurückkehren. Ich warte, bis der Sand durchgelaufen ist. Dann wirst du mir deine Entscheidung mitteilen.
Mit diesen Worten verschwand der Dämon aus der Halle und ließ Baba Ayub mit einer weiteren schweren Entscheidung allein.
Ich bringe ihn zurück nach Hause, schoss es Baba Ayub durch den Kopf, denn dies wünschte er sich mit jeder Faser seines Körpers, dies war sein größtes Verlangen. Hatte er nicht tausend Mal davon geträumt? Seinen kleinen Qais wieder in den Armen zu halten, ihm einen Kuss auf die Wange zu geben und seine zarten Händchen zu ergreifen? Und doch … Welches Leben hätte sein Sohn zu erwarten, wenn er mit ihm nach Maidan Sabz zurückkehren würde? Bestenfalls ein beschwerliches bäuerliches Leben wie das seine, nicht mehr. Und das auch nur, wenn Qais nicht durch die Dürre umkam wie so viele andere Kinder im Dorf. Könnte ich mir das je verzeihen?, fragte sich Baba Ayub. Könnte ich damit leben, ihn aus egoistischen Gründen eines Lebens beraubt zu haben, in dem ihm alle Wege zu Glück und Wohlstand offenstehen? Andererseits wusste Baba Ayub nun, dass sein kleiner Junge am Leben war und wo dieser sich aufhielt, und wie sollte er ihn da zurücklassen? Täte er das, würde er Qais nie mehr wiedersehen, und das wäre furchtbar. Würde er das ertragen können? Baba Ayub weinte. Von Verzweiflung übermannt, schleuderte er die Sanduhr gegen die Wand, und sie ging in tausend Stücke, und der feine Sand rieselte auf den Fußboden.
Der Dämon trat wieder ein und erblickte Baba Ayub, der mit hängenden Schultern vor der kaputten Sanduhr stand.
»Du bist ein grausames Monster«, sagte Baba Ayub.
Hättest du so lange gelebt wie ich, erwiderte der Dämon, dann wüsstest du, dass Grausamkeit und Güte zwei Seiten derselben Medaille sind. Hast du dich entschieden?
Baba Ayub trocknete seine Tränen, hob die Sichel auf und band sie sich um den Bauch. Er schlich zur Tür, den Kopf tief gesenkt.
Du bist ein guter Vater, sagte der Dämon, als Baba Ayub an ihm vorbeiging.
»Für das, was du mir angetan hast, sollst du in den Feuern der Hölle schmoren«, murmelte Baba Ayub matt.
Er war schon draußen im Flur, als der Dämon noch einmal nach ihm rief.
Nimm dies mit, sagte der Dämon und reichte Baba Ayub ein Fläschchen mit einer dunklen Flüssigkeit. Trinke auf dem Heimweg davon. Und nun lebe wohl.
Baba Ayub nahm das Fläschchen und ging ohne ein weiteres Wort davon.
Unterdessen saß seine Frau am Rand des Ackers der Familie und hielt Ausschau nach ihrem Mann, so wie Baba Ayub einst dort in der Hoffnung gesessen hatte, Qais zu erblicken. Mit jedem Tag, der verstrich, schwand ihre Hoffnung ein wenig mehr. Die Leute im Dorf sprachen schon in der Vergangenheitsform von Baba Ayub. Doch eines Tages, sie saß wieder auf der nackten Erde und sprach ein leises Gebet, sah sie eine ausgemergelte Gestalt, die vom Gebirge auf Maidan Sabz zukam. Sie hielt den abgemagerten, in Fetzen gehenden Mann mit den hohlen Augen und eingesunkenen Schläfen zunächst für einen Derwisch, und sie erkannte ihren Mann erst aus der Nähe. Ihr Herz tat vor Freude einen Satz, und sie schrie erleichtert auf.
Nachdem Baba Ayub sich gewaschen, gegessen und etwas getrunken hatte, ruhte er sich zu Hause aus, umringt von den Dorfbewohnern, die ihm viele Fragen stellten.
Wo bist du gewesen, Baba Ayub?
Was hast du gesehen?
Was ist dir widerfahren?
Baba Ayub wusste keine Antworten darauf, denn er konnte sich an nichts mehr erinnern. Er hatte alles vergessen: Seine lange Wanderung, die Besteigung des Berges mit der Burg, das Gespräch mit dem Dämon, den großen Palast und auch die weite Halle mit den Vorhängen. Er schien aus einem Traum erwacht zu sein, der ihm längst entglitten war. Er erinnerte sich weder an den verborgenen Garten und die Kinder noch an seinen Sohn Qais, der mit seinen Freunden unter den Bäumen gespielt hatte. Ja, die Erwähnung von Qais löste bei Baba Ayub nur ein verwirrtes Blinzeln aus.
Begreifst du, dass es ein Akt der Gnade war, Abdullah? Die Gabe des Trankes, der die Erinnerung auslöschte? Damit belohnte der Dämon Baba Ayub, weil dieser auch die zweite Prüfung bestanden hatte.
In jenem Frühling riss der Himmel über Maidan Sabz endlich auf. Und es war nicht der schwache Nieselregen der letzten Jahre, nein, es goss in Strömen. Der Regen fiel in Sturzbächen, zur großen Freude der Dorfbewohner. Der Regen trommelte den ganzen Tag auf die Dächer von Maidan Sabz und übertönte alle anderen Geräusche. Dicke, schwere Regentropfen fielen von den Blättern. Die Brunnen füllten sich, und der Pegel des Flusses stieg an. Die Hügel im Osten wurden grün. Wildblumen erblühten, und zum ersten Mal seit vielen Jahren spielten die Kinder im Gras, und die Kühe fraßen sich daran satt. Alle jubelten.
Als der Regen nachließ, hatten die Dorfbewohner alle Hände voll zu tun. Mehrere Lehmziegelmauern hatten sich aufgelöst, einige Dächer waren eingesackt und ganze Äcker zu Sümpfen geworden. Aber nach dem Elend der letzten zehn Jahre hatten die Menschen in Maidan Sabz keinen Grund zur Klage. Man stellte Mauern und Dächer wieder her und reinigte die Bewässerungskanäle. In jenem Herbst erntete Baba Ayub so viele Pistazien wie noch nie in seinem Leben, und während der folgenden zwei Jahre wurden seine Feldfrüchte noch größer und üppiger. Wenn Baba Ayub seine Waren in den großen Städten feilbot, saß er voller Stolz hinter seinen zu Pyramiden aufgetürmten Pistazien und strahlte wie der glücklichste Mensch auf Erden. Maidan Sabz wurde nie wieder von einer Dürre heimgesucht.
Viel mehr gibt es nicht zu erzählen, Abdullah. Du könntest natürlich fragen, ob jemals ein junger, hübscher Mann auf seinem Weg zu großen Abenteuern durch das Dorf ritt. Legte er vielleicht eine Rast ein, um etwas zu trinken, setzte er sich, um mit den Dorfbewohnern das Brot zu teilen, womöglich sogar mit Baba Ayub? Das weiß ich nicht, mein Junge. Aber ich weiß, dass Baba Ayub ein sehr hohes Alter erreichte. Ich weiß, dass er, wie von ihm erhofft, die Hochzeiten all seiner Kinder miterlebte, und ich weiß, dass seine Kinder ihm viele Enkel schenkten, und jedes Enkelkind bereitete Baba Ayub große Freude.
Und ich weiß, dass Baba Ayub in manchen Nächten ohne ersichtlichen Grund nicht schlafen konnte. Er war zu jenem Zeitpunkt bereits ein sehr alter Mann, aber mit Hilfe eines Stockes konnte er immer noch gehen. Also schlüpfte er in den schlaflosen Nächten aus dem Bett, ohne seine Frau zu wecken, nahm seinen Stock und verließ das Haus. Er lief durch die Dunkelheit, ertastete den Weg und spürte die nächtliche Brise im Gesicht. Am Rand seines Ackers befand sich ein flacher Stein, auf dem er sich niederließ. Dort saß er dann eine Stunde oder länger und sah zu den Sternen und zu den am Mond vorbeiziehenden Wolken auf. Er dachte über sein langes Leben nach und war dankbar für all die Freude und Fülle, die ihm zuteilgeworden waren. Er wusste, dass es vermessen gewesen wäre, noch mehr zu verlangen oder noch größere Wünsche zu hegen. Er seufzte glücklich, lauschte dem Ruf der Nachtvögel und dem vom Gebirge kommenden Wind.
Gelegentlich meinte er, noch etwas anderes zu hören – das zarte Bimmeln eines Glöckchens. Er begriff nicht, woher dieser Ton kam, denn es war tiefe Nacht, und alle Schafe und Ziegen ruhten. Manchmal redete er sich ein, dass es nur Einbildung war, und manchmal rief er ins Dunkel: »Ist dort jemand? Wer da? Zeig dich.« Doch er erhielt nie eine Antwort. Baba Ayub fand das unbegreiflich. Und er begriff genauso wenig, warum er bei diesem Bimmeln immer das Gefühl hatte, eine Welle ginge durch ihn hindurch, ein Gefühl, das ihn jedes Mal von neuem überraschte – wie das Ende eines traurigen Traums, wie ein unerwarteter Windhauch. Aber dann verging es wieder, wie alle Dinge vergehen. Es verging.
Das ist alles, mein Junge. Das ist das Ende der Geschichte. Und nun ist es spät, und ich bin müde, und deine Schwester und ich müssen in aller Frühe aufstehen. Puste deine Kerze aus. Leg dich hin und schließ die Augen. Schlaf gut, mein Junge. Wir nehmen morgen früh Abschied voneinander.
Vater hatte noch nie die Hand gegen Abdullah erhoben. Als er dies schließlich doch tat, als er ihm aus heiterem Himmel eine schallende Ohrfeige gab, war Abdullah so verdutzt, dass ihm Tränen in die Augen schossen. Er drängte sie mit einem Blinzeln zurück.
»Ab nach Hause mit dir«, knurrte sein Vater mit zusammengebissenen Zähnen.
Abdullah hörte, wie Pari laut schluchzte.
Sein Vater schlug ihn noch einmal, jetzt auf die linke Wange, und der Schlag war noch heftiger. Abdullahs Kopf wurde zur Seite gerissen. Sein Gesicht brannte, und er konnte die Tränen nicht zurückhalten. Sein linkes Ohr pfiff. Dann beugte sich sein Vater zu ihm herunter, sein Gesicht so nah an Abdullahs, dass dieser Wüste, Gebirge und Himmel nicht mehr sah.
»Hast du nicht gehört, Junge? Ab nach Hause«, sagte der Vater mit gequälter Miene.
Abdullah gab keinen Laut von sich. Er schluckte schwer und sah blinzelnd zu seinem Vater auf, zum Schutz vor der Sonne eine Hand auf die Stirn gelegt.
Pari, die auf dem kleinen, roten Karren saß, rief mit hoher, angstbebender Stimme: »Abollah!«
Vater musterte ihn zornig, dann kehrte er zum Karren zurück. Pari streckte die Hände nach Abdullah aus. Dieser wartete, bis der Karren sich in Bewegung setzte, dann wischte er die Tränen mit dem Handrücken weg und folgte den beiden.
Kurz darauf warf sein Vater einen Stein nach ihm. So wurde Paris Hund Shuja von den Kindern in Shadbagh beworfen – mit dem Unterschied, dass sie Shuja treffen und verletzen wollten. Der Wurf seines Vaters war harmlos, der Stein landete einige Schritte von ihm entfernt. Abdullah blieb stehen, und als sein Vater mit Pari weiterfuhr, trottete er weiter.
Schließlich, die Sonne hatte gerade den Zenit überschritten, hielt sein Vater wieder an. Er drehte sich zu Abdullah um, betrachtete ihn nachdenklich und winkte ihn zu sich.
»Du bist ein Dickkopf«, sagte er.
Pari ließ ihre Hand rasch in die Abdullahs gleiten. Sie sah aus verweinten Augen zu ihm auf, und als sie lächelte, kamen ihre Zahnlücken zum Vorschein. Solange ihr Bruder bei ihr war, wollte sie damit offenbar sagen, konnte ihr nichts Böses geschehen. Abdullah umschloss ihre Finger mit seiner Hand, wie er es abends immer tat, wenn er im Bett so dicht neben seiner Schwester lag, dass ihre Köpfe und Beine einander berührten.
»Du solltest zu Hause bleiben«, sagte sein Vater. »Bei deiner Mutter und Iqbal. Wie von mir befohlen.«
Abdullah dachte: Sie ist deine Frau. Meine Mutter haben wir zu Grabe getragen. Doch er schluckte die Worte hinunter.
»Na, gut. Komm mit«, sagte sein Vater. »Aber wehe, du weinst. Hast du mich verstanden?«
»Ja.«
»Ich warne dich: Kein Geheule.«
Pari grinste Abdullah an, und dieser senkte den Blick auf ihre blassbraunen Augen und runden, rosigen Wangen und musste ebenfalls grinsen.
Also lief er neben dem Karren her, der über den holperigen Wüstenboden rumpelte, und hielt Paris Hand. Bruder und Schwester tauschten verstohlene, glückliche Blicke, sprachen aber kaum ein Wort, um ihren Vater nicht zu erzürnen und dadurch alles zu verderben. Über weite Strecken zogen die drei dahin, und sie sahen niemanden und nichts außer kupferroten Schluchten und hohen Sandsteinklippen. Die weite, offene Wüste dehnte sich vor ihnen aus, als wäre sie nur für sie allein erschaffen worden. Die Luft war unbewegt und glühend heiß, der Himmel blau und weit. Felsen glänzten auf dem rissigen Wüstenboden, und Abdullah vernahm nur seinen eigenen Atem und das rhythmische Knarren der Räder des roten Karrens, den sein Vater beharrlich Richtung Norden zog.
Bald darauf legten sie im Schatten eines Felsbrockens eine Rast ein. Ihr Vater ließ die Deichsel des Karrens auf den Boden sinken. Er verzog stöhnend das Gesicht, als er den Rücken durchdrückte, und blickte in die Sonne.
»Wie lange noch bis Kabul?«, fragte Abdullah.
Sein Vater sah auf die Kinder hinab. Er hieß Saboor. Er hatte scharf geschnittene, kantige und knochige Gesichtszüge, dunkle Haut, eine Nase, krumm wie der Schnabel eines Wüstenfalken, und tief im Schädel liegende Augen. Er war schmal, doch die lebenslange Arbeit hatte dafür gesorgt, dass seine Muskeln die Arme so fest umschlangen wie das Geflecht die Lehne eines Korbstuhls. »Morgen Nachmittag sind wir dort«, sagte er und setzte den rindsledernen Wasserbeutel an seine Lippen. »Vorausgesetzt, wir kommen gut voran.« Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, als er einen tiefen Schluck trank.
»Warum hat Onkel Nabi uns nicht gefahren?«, fragte Abdullah. »Er hat doch ein Auto.«
Sein Vater drehte sich zu ihm um.
»Dann hätten wir nicht den ganzen Weg zu Fuß gehen müssen.«
Sein Vater schwieg. Er setzte die speckige Kappe ab und wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn.
Da streckte Pari auf dem Karren einen Finger aus. »Schau mal, Abollah!«, rief sie aufgeregt. »Noch eine.«
Sie deutete auf den Schatten, den der Felsbrocken warf, und Abdullah erblickte dort auf dem Boden eine lange Feder, grau wie verbrannte Holzkohle. Er ging hin und hob sie am Kiel auf. Er pustete den Staub ab und drehte sie hin und her. Von einem Falken, dachte er. Vielleicht auch von einer Wüstenlerche oder einer Taube. Er hatte heute schon mehrere solcher Federn gesehen. Nein, es war eine Falkenfeder. Er pustete noch einmal darauf und überreichte sie Pari, die sie glücklich entgegennahm.
Zu Hause in Shadbagh bewahrte Pari unter ihrem Kopfkissen eine alte Teedose aus Blech auf, die Abdullah ihr geschenkt hatte. Der Verschluss war rostig, und der Deckel zeigte einen bärtigen Inder mit Turban und langem, rotem Gewand, der mit beiden Händen eine dampfende Tasse Tee hielt. In dieser Dose bewahrte Pari alle Federn auf, die sie gesammelt hatte. Sie waren ihr kostbarster Besitz. Dunkelgrüne und weinrote Hahnenfedern; die weiße Schwanzfeder einer Taube; die Feder eines Spatzen, graubraun und dunkel gefleckt; und auch jene, die Pari mit dem größten Stolz erfüllte, eine grüne, glänzende Pfauenfeder mit einem schönen, großen Auge oben auf der Fahne.
Abdullah hatte sie ihr vor zwei Monaten geschenkt. Er hatte erfahren, dass die Familie eines Jungen aus einem anderen Dorf einen Pfau besaß. Und eines Tages, als sein Vater in einer Stadt südlich von Shadbagh Gräben aushob, ging Abdullah zu dem Dorf, machte den Jungen ausfindig und bat ihn um eine Feder. Sie begannen zu feilschen, und am Ende tauschte Abdullah seine Schuhe gegen die Feder ein. Als er endlich wieder in Shadbagh war, die Pfauenfeder unter dem Hemd im Hosenbund, waren seine Fersen aufgerissen und hinterließen blutige Spuren auf dem Boden. Dornen und Splitter hatten sich in seine Fußsohlen gebohrt, und bei jedem Schritt durchfuhr ein stechender Schmerz seine Füße.
Bei seiner Heimkehr saß Parwana, seine Stiefmutter, draußen vor dem Tandoor und backte das tägliche Naan-Brot. Er duckte sich hinter die riesige Eiche, die in der Nähe der Hütte stand. Während er darauf wartete, dass sie fertig wurde, sah er ihr heimlich bei der Arbeit zu, dieser Frau mit den kräftigen Schultern, den langen Armen, rauen Händen und Wurstfingern. Ihr rundes, aufgedunsenes Gesicht besaß rein gar nichts von der Anmut des Schmetterlings, nach dem sie benannt worden war.
Abdullah hätte gern Liebe für sie empfunden. Wie für seine leibliche Mutter, die vor dreieinhalb Jahren bei Paris Geburt verblutet war. Abdullah war damals sieben gewesen. Seine Mutter, deren Gesicht er kaum noch in Erinnerung hatte, seine Mutter, die sein Gesicht mit beiden Händen umfasst und gegen ihre Brust gezogen, allabendlich vor dem Einschlafen seine Wange gestreichelt und ein Wiegenlied gesungen hatte.
Ich fand eine kleine, traurige Fee
Im Schatten eines Baums am See.
Ich weiß eine kleine, traurige Fee,
Die wurde vom Wind davongeweht.
Er hätte seine neue Mutter gern genauso geliebt. Und vielleicht, dachte er, wünschte Parwana sich dies auch – ihn lieben zu können. Wie Iqbal, ihren einjährigen Sohn, dessen Gesicht sie ständig mit Küssen bedeckte, den sie hätschelte und tätschelte, sobald er nur hustete oder nieste. Oder wie Omar, ihr erstes Kind. Sie hatte ihn vergöttert, aber er war während des Winters vor drei Jahren an Kälte gestorben. Er war erst zwei Wochen alt gewesen. Parwana und sein Vater hatten ihm gerade erst einen Namen gegeben. Er war einer von drei Säuglingen aus Shadbagh, die dieser bittere Winter das Leben gekostet hatte. Abdullah erinnerte sich daran, wie Parwana Omars kleinen, noch in einer Windel steckenden Leichnam umklammert hatte, und er erinnerte sich an ihre verzweifelte Trauer. Er erinnerte sich an den Tag, als sie ihn auf dem Hügel im gefrorenen Boden beerdigt hatten, ein winziges Grab unter dem bleigrauen Himmel. Mullah Shekib hatte die Gebete gesprochen, und der Wind hatte ihnen Eis und Schnee in die Augen gepeitscht.
Parwana, so befürchtete Abdullah, würde vor Zorn kochen, wenn sie merkte, dass er sein einziges Paar Schuhe gegen eine Pfauenfeder eingetauscht hatte. Sein Vater hatte wie ein Pferd geschuftet, um diese Schuhe bezahlen zu können. Sie wäre außer sich, wenn sie es bemerkte, und vielleicht, dachte Abdullah, würde sie ihn sogar schlagen. Das hatte sie schon mehrmals getan. Ihre Hände waren schwer und kräftig – weil sie jahrelang ihre behinderte Schwester hatte heben müssen, wie Abdullah vermutete –, und sie konnte sowohl einen Besenstiel schwingen als auch gut gezielte Hiebe austeilen.
Doch er wusste, dass Parwana keine Freude daran hatte, ihn zu schlagen. Außerdem konnte sie durchaus zärtlich zu ihren Stiefkindern sein. So hatte sie Pari einmal ein silbergrünes Kleid aus einem Stoffballen genäht, den sein Vater aus Kabul mitgebracht hatte. Und sie hatte Abdullah erstaunlich geduldig gezeigt, wie man zwei Eier gleichzeitig aufschlug, ohne dabei Eigelb und Eiweiß zu vermischen. Außerdem hatte sie ihnen, wie schon in jungen Jahren ihrer eigenen Schwester, beigebracht, kleine Puppen aus Kornähren zu flechten. Sie hatte ihnen gezeigt, wie man aus Stofffetzen Kleider für die Puppen nähte.
Doch Abdullah wusste, dass all dies nur Gesten waren, die ihrem Pflichtgefühl entsprangen und nicht einer Liebe, wie sie sie für Iqbal empfand. Er wusste genau, welches Kind Parwana retten würde, falls ihre Hütte eines Nachts in Brand geriet, und sie würde es bedenkenlos tun. Unter dem Strich war die Rechnung einfach: Pari und er waren nicht ihre Kinder. Die meisten Menschen liebten nur ihr eigenes Fleisch und Blut. Seine Schwester und er gehörten nicht zu Parwana, daran war nichts zu ändern. Sie waren die Hinterlassenschaft einer anderen Frau.
Er wartete, bis Parwana das Brot in die Hütte brachte, und sah dann zu, wie sie wieder herauskam, Iqbal im einen und einen Berg Wäsche im anderen Arm. Er schaute ihr nach, als sie zum Bach ging, und schlich erst ins Haus, nachdem sie außer Sicht war. Seine Fußsohlen schmerzten bei jedem Schritt. In der Hütte zog er die alten Plastiksandalen an, das einzige Schuhwerk, das ihm geblieben war. Abdullah wusste, dass er etwas sehr Unvernünftiges getan hatte. Doch als er sich neben Pari kniete und sie behutsam weckte und die Feder dann wie ein Zauberer hinter dem Rücken hervorzog, wusste er, dass es sich gelohnt hatte, denn sie war erst zutiefst überrascht und zeigte dann strahlende Freude, bedeckte seine Wangen mit Küssen und kicherte, als er sie mit der weichen Federspitze am Kinn kitzelte – und seine Füße taten plötzlich gar nicht mehr weh.
Sein Vater wischte sich das Gesicht erneut mit dem Ärmel ab. Sie tranken abwechselnd aus dem Wasserbeutel. Danach sagte sein Vater: »Du bist müde, Junge.«
»Nein«, log Abdullah. Er war tatsächlich erschöpft. Und seine Füße schmerzten. Es war nicht einfach, die Wüste in Sandalen zu durchqueren.
Sein Vater sagte: »Steig auf.«
Abdullah lehnte sich auf dem Karren gegen die Holzlatten. Er konnte die Rückenwirbel der vor ihm sitzenden Pari auf Brust und Bauch spüren. Während sie von ihrem Vater gezogen wurden, betrachtete er den Himmel und die Berge und die endlosen, in der Ferne verschwimmenden Ketten der rundlichen, eng beieinanderliegenden Hügel. Er betrachtete den Rücken seines Vaters, der sie mit gesenktem Kopf zog und dessen Füße den rotbraunen Sand aufwirbelten. Eine Karawane von Kuchi-Nomaden kam ihnen entgegen, eine staubige Prozession mit Glöckchengebimmel und Kamelgeschnaube, und eine Frau mit kajalgeschminkten Augen und weizenfarbenen Haaren schenkte Abdullah ein Lächeln.
Ihre Haare erinnerten Abdullah an seine Mutter, die er plötzlich schmerzlich vermisste. Er vermisste ihre Zärtlichkeit und ihr fröhliches Wesen, ihre Verwirrung angesichts der Grausamkeit anderer Menschen. Er erinnerte sich an ihr glucksendes Lachen und die schüchterne Art, mit der sie manchmal den Kopf zur Seite gelegt hatte. Seine Mutter war ein zartes Geschöpf gewesen, sowohl körperlich als auch geistig, eine gertenschlanke Frau mit schmaler Taille und üppigen Haaren, die immer unter dem Kopftuch hervorgeschaut hatten. Abdullah hatte sich oft gefragt, wie ein so zarter, kleiner Körper so viel Lebensfreude und Güte beherbergen konnte. Er konnte es tatsächlich nicht: Beides brach immer wieder aus ihr heraus, entströmte ihren Augen. Sein Vater war anders. Sein Vater besaß eine gewisse Härte. Er hatte die gleiche Welt vor Augen wie seine erste Frau, sah jedoch nur Gleichgültigkeit. Endlose Schufterei. Die Welt seines Vaters war gnadenlos. Man bekam darin nichts geschenkt. Nicht einmal Liebe. Man musste für alles bezahlen, und wenn man arm war, war Leiden die Währung. Abdullah betrachtete den Grind im Scheitel seiner kleinen Schwester, ihr schmales, über dem Karrenrand hängendes Handgelenk, und er wusste, dass ein Teil ihrer Mutter bei deren Tod auf Pari übergegangen war. Ein Teil ihrer fröhlichen Hingabe, ihrer Arglosigkeit, ihrer unerschütterlichen Hoffnung. Pari war der einzige Mensch auf der ganzen, weiten Welt, der ihn niemals verletzen würde, niemals verletzen konnte. An manchen Tagen hatte Abdullah das Gefühl, dass seine wahre Familie nur aus ihr bestand.
Die Farben des Tages lösten sich langsam in Grau auf, und die undurchdringlichen Silhouetten der fernen Berggipfel glichen gekrümmt dasitzenden Riesen. Am Morgen waren sie an einigen Dörfern vorbeigekommen, fast alle so staubig wie Shadbagh. Kleine, quadratische, weit auseinanderliegende, teils auf Berghängen erbaute Lehmziegelhäuser, von deren Dächern Rauchfäden aufstiegen. Wäscheleinen, vor Kochstellen hockende Frauen. Einige Pappeln, ein paar Hühner, Kühe und Ziegen, und immer eine Moschee. Das letzte Dorf, an dem sie vorbeikamen, lag neben einem Mohnfeld, und ein alter Mann, der sich an den Samenkapseln zu schaffen machte, winkte ihnen. Er rief etwas, das Abdullah nicht verstand. Sein Vater winkte zurück.
Pari sagte: »Abollah?«
»Was denn?«
»Ist Shuja traurig?«
»Nein, es geht ihm gut.«
»Ihm wird doch niemand weh tun?«
»Er ist ein großer Hund, Pari. Er kann sich wehren.«
Shuja war tatsächlich groß. Ihr Vater meinte, er müsse früher ein Kampfhund gewesen sein, weil Ohren und Schwanz aufgeschlitzt waren. Ob er sich wehren konnte oder wollte, stand jedoch auf einem anderen Blatt. Als dieser Streuner zum ersten Mal in Shadbagh aufgetaucht war, hatten die Kinder ihn mit Steinen beworfen und mit Ästen oder rostigen Fahrradspeichen gepiekt. Shuja hatte sich nicht gewehrt. Nach einer Weile hatten die Dorfkinder keine Lust mehr, ihn zu quälen, und ließen ihn in Ruhe. Shuja blieb jedoch weiter so misstrauisch und vorsichtig, als hätte er ihre Gemeinheiten nicht vergessen.
Er ging in Shadbagh allen außer Pari aus dem Weg. Was sie betraf, so ließ er jede Vorsicht fahren. Er liebte sie heiß und innig. Sie war sein Universum. Wenn Shuja morgens sah, wie Pari die Hütte verließ, sprang er auf und zitterte am ganzen Körper. Sein verstümmelter Schwanz wedelte wild hin und her, und er tänzelte, als würde er auf heißen Kohlen laufen. Er umsprang sie fröhlich, und er blieb Pari den ganzen Tag auf den Fersen und beschnüffelte ihre Füße, und abends, wenn sich ihre Wege trennten, lag er einsam draußen vor der Tür und wartete auf den Morgen.
»Abollah?«
»Ja?«
»Werde ich mit dir zusammenleben, wenn ich groß bin?«
Abdullah betrachtete die tiefstehende, orangerote Sonne, die schon fast den Horizont berührte. »Von mir aus gern. Aber das wirst du nicht wollen.«
»Doch, das will ich!«
»Du wirst dir ein eigenes Zuhause wünschen.«
»Aber wir könnten Nachbarn sein.«
»Vielleicht.«
»Du wirst ganz in der Nähe wohnen.«
»Und wenn du irgendwann genug von mir hast?«
Sie stieß ihm den Ellbogen in die Seite. »Das wird nicht passieren, niemals!«
Abdullah grinste in sich hinein. »Gut. Alles klar.«
»Du wirst in meiner Nähe wohnen.«
»Ja.«
»Bis wir alt sind.«
»Uralt.«
»Für immer.«
»Ja, für immer.«
Sie drehte sich auf dem Karren zu ihm um. »Versprichst du mir das, Abollah?«
»Für immer und ewig.«
Später nahm ihr Vater Pari auf den Rücken, und Abdullah zog den leeren Karren. Unterwegs verfiel er in eine dumpfe Trance. Er spürte nur noch, wie sich seine Knie hoben und senkten, fühlte die Schweißperlen, die unter seiner Kappe hervortropften. Sah die kleinen Füße von Pari, die gegen die Hüften seines Vaters stießen. Und schließlich nur noch die Schatten seines Vaters und seiner Schwester, die auf dem grauen Grund der Wüste immer länger wurden und sich von ihm entfernten, wenn es bergab ging.
Onkel Nabi war es gewesen, der seinem Vater diesen neuen Job besorgt hatte. Onkel Nabi war Parwanas großer Bruder und damit Abdullahs Stiefonkel, und er arbeitete als Koch und Fahrer in Kabul. Einmal im Monat fuhr er mit dem Auto von Kabul nach Shadbagh, und seine Besuche wurden stets von stakkatoartigem Gehupe und dem Gejohle der Dorfkinder angekündigt, die hinter dem großen, blauen Auto mit Klappverdeck und Chromleisten herrannten. Die Kinder klatschten gegen die Kotflügel und Scheiben, bis Onkel Nabi den Motor abstellte und ausstieg, ein Bild von einem Mann mit langen Koteletten und welligen, schwarzen, nach hinten gekämmten Haaren, mit einem viel zu großen olivgrünen Anzug samt weißem Hemd und braunen Slippern. Alle traten vor die Tür, um ihn zu bestaunen, weil er das Auto seines Arbeitgebers fuhr und einen Anzug trug, und weil er in der großen Stadt Kabul arbeitete.
Onkel Nabi hatte Abdullahs Vater während seines letzten Besuches von dem Job erzählt. Die reichen Leute, für die er arbeitete, hatten vor, ihr Haus auf der Rückseite durch ein kleines Gästehaus mit eigenem Bad zu erweitern, getrennt