[*]
Die gesamte Duell-Szene wurde bei der Inszenierung gestrichen.
[*]
DIE SZENE ZWISCHEN MAWRIKI NIKOLAJEWITSCH UND NIKOLAI STAWROGIN WURDE BEI DER INSZENIERUNG GESTRICHEN.
[*]
Die drei vorhergehenden Repliken wurden in der Inszenierung, in der die Szene gestrichen war, durch die folgenden ersetzt:
Alexej (tritt ein) Peter Werchowenski verlangt, Sie zu sehen.
Pjotr (kommt hinterher) Ich bin eben Mawriki Nikolajewitsch begegnet. Er wollte Ihnen seine Braut anbieten. Ich habe ihm geraten zu warten. Außerdem brauchen wir ihn gar nicht: Sie brennt vor Lust herzukommen. Wir holen sie zusammen, ja? Dies Prachtstück!
[*]
Diese Szene wurde in der Inszenierung gestrichen bis auf die Replik des Erzählers ganz am Ende.
Schauspiel in vier Akten
Caligula
Caesonia
Helicon
Scipio
Cherea
Senectus, der alte Patrizier
Metellus, Patrizier
Lepidus, Patrizier
Octavius, Patrizier
Patricius, der Oberhofmeister
Mereia
Wachen
Diener
Mucius’ Frau
Dichter
Schauplätze sind der Palast Caligulas und Chereas Haus. Zwischen dem ersten Akt und den folgenden Akten liegt ein Abstand von drei Jahren.
Caligula wurde am 25. September 1945 am Théâtre Hébertot, Paris, uraufgeführt. Regie: Paul Oettly
(Einige Patrizier, darunter ein sehr alter, stehen in einem Saal des Palastes zusammen. Sie wirken nervös.)
ERSTER PATRIZIER
Immer noch nichts.
DER ALTE PATRIZIER
Morgens nichts, abends nichts.
ZWEITER PATRIZIER
Seit drei Tagen nichts.
DER ALTE PATRIZIER
Die Boten reiten davon, die Boten kehren zurück. Sie schütteln den Kopf und sagen: «Nichts.»
ZWEITER PATRIZIER
Die ganze Umgebung wurde abgesucht, alles umsonst.
ERSTER PATRIZIER
Warum sorgen wir uns im Voraus? Warten wir ab. Vielleicht kommt er, wie er gegangen ist.
DER ALTE PATRIZIER
Ich habe ihn aus dem Palast gehen sehen. Er hatte einen seltsamen Blick.
ERSTER PATRIZIER
Ich war auch da und habe ihn gefragt, was mit ihm sei.
ZWEITER PATRIZIER
Hat er geantwortet?
ERSTER PATRIZIER
Ein einziges Wort: «Nichts.»
(Pause. HELICON tritt ein, Zwiebeln essend.)
ZWEITER PATRIZIER (noch immer nervös)
Es ist beunruhigend.
ERSTER PATRIZIER
Ach was, alle jungen Leute sind so.
DER ALTE PATRIZIER
Natürlich, mit dem Älterwerden gibt sich alles.
ZWEITER PATRIZIER
Glaubt ihr?
ERSTER PATRIZIER
Hoffen wir, dass er vergisst.
DER ALTE PATRIZIER
Sicher! Eine verloren, zehn neue gewonnen.
HELICON
Woraus schließt ihr, dass es um Liebe geht?
ERSTER PATRIZIER
Worum denn sonst?
HELICON
Um die Leber vielleicht. Oder einfach um den Ekel, euch jeden Tag zu sehen. Man könnte seine Zeitgenossen so viel besser ertragen, wenn sie imstande wären, ab und zu die Visage zu wechseln. Aber nein, das Menü ändert sich nicht. Immer dasselbe Frikassee.
DER ALTE PATRIZIER
Ich ziehe es vor zu denken, es sei Liebe. Das ist rührender.
HELICON
Und beruhigend vor allem, so viel beruhigender. Von dieser Art Krankheit bleiben weder die Intelligenten noch die Dummen verschont.
ERSTER PATRIZIER
Jedenfalls hält der Kummer zum Glück nicht ewig an. Seid ihr imstande, länger als ein Jahr zu leiden?
ZWEITER PATRIZIER
Ich nicht.
ERSTER PATRIZIER
Niemand vermag das.
DER ALTE PATRIZIER
Das Leben wäre unmöglich.
ERSTER PATRIZIER
Seht ihr. Ich zum Beispiel habe voriges Jahr meine Frau verloren. Ich habe viel geweint, und dann habe ich vergessen. Hin und wieder bin ich betrübt. Aber alles in allem ist es nicht schlimm.
DER ALTE PATRIZIER
Die Natur richtet alles aufs beste.
HELICON
Wenn ich euch ansehe, habe ich allerdings den Eindruck, dass sie manchmal danebenhaut.
(CHEREA tritt ein.)
ERSTER PATRIZIER
Nun?
CHEREA
Noch immer nichts.
HELICON
Ruhe, meine Herren, Ruhe. Wahren wir den Schein. Das Römische Reich sind wir. Wenn wir das Gesicht verlieren, verliert das Reich den Kopf. Jetzt ist nicht der richtige Augenblick, o nein! Und zunächst einmal wollen wir essen, danach wird es dem Reich bessergehen.
DER ALTE PATRIZIER
Richtig, der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach.
CHEREA
Mir gefällt das nicht. Aber es ging alles zu gut. Dieser Kaiser war vollkommen.
ZWEITER PATRIZIER
Ja, er war genau richtig: gewissenhaft und unerfahren.
ERSTER PATRIZIER
Was habt ihr denn nur, und warum dieses Gejammer? Nichts hindert ihn, so weiterzumachen. Gut, er liebte Drusilla. Aber schließlich war sie seine Schwester. Mit ihr zu schlafen war schon allerhand. Aber Rom in Aufruhr zu versetzen, weil sie gestorben ist, das geht zu weit.
CHEREA
Trotzdem. Mir gefällt das nicht, und diese Flucht sagt mir nichts Gutes.
DER ALTE PATRIZIER
Ja, kein Rauch ohne Feuer.
ERSTER PATRIZIER
Auf jeden Fall kann die Staatsraison keinen Inzest dulden, der das Ausmaß einer Tragödie annimmt. Inzest, gut und schön, aber diskret.
HELICON
Ihr wisst ja, ein Inzest fällt zwangsläufig auf. Das Bett quietscht, wenn ich mich so ausdrücken darf. Wer sagt euch übrigens, dass es um Drusilla geht?
ZWEITER PATRIZIER
Um was denn sonst?
HELICON
Ratet einmal. Wohlgemerkt ist es mit dem Unglück wie mit dem Heiraten. Man glaubt, man wähle, und dann wird man gewählt. So ist das eben, ob man will oder nicht. Unser Caligula ist unglücklich, aber vielleicht weiß er nicht einmal, warum! Er fühlte sich wohl in die Enge getrieben, da ist er einfach geflohen. Wir hätten es alle genauso gemacht. Zum Beispiel wenn ich, so, wie ich vor euch stehe, meinen Vater hätte aussuchen können, wäre ich nicht geboren.
(SCIPIO tritt ein.)
CHEREA
Nun?
SCIPIO
Immer noch nichts. Bauern haben ihn angeblich gestern Nacht hier in der Nähe im Gewitter herumlaufen sehen.
(CHEREA geht wieder zu den Senatoren hinüber. SCIPIO folgt ihm.)
CHEREA
Ist das nicht schon drei Tage her, Scipio?
SCIPIO
Ja. Ich war dabei, da ich ihn wie gewöhnlich begleitete. Er ist an Drusillas Leiche getreten. Er hat sie mit zwei Fingern berührt. Dann schien er nachzudenken, machte kehrt und ging gemessenen Schritts hinaus. Seitdem laufen wir hinter ihm her.
CHEREA (kopfschüttelnd)
Dieser Junge liebte die Literatur zu sehr.
ZWEITER PATRIZIER
Das entspricht seinem Alter.
CHEREA
Aber nicht seiner Stellung. Ein Künstler als Kaiser, nicht auszudenken! Einen oder zwei von der Sorte hatten wir ja schon. Schwarze Schafe gibt es überall. Aber die anderen hatten den guten Geschmack, Beamte zu bleiben.
ERSTER PATRIZIER
Das war geruhsamer.
DER ALTE PATRIZIER
Schuster, bleib bei deinen Leisten.
SCIPIO
Was können wir tun, Cherea?
CHEREA
Nichts.
ZWEITER PATRIZIER
Warten wir ab. Wenn er nicht zurückkommt, muss er ersetzt werden. Unter uns, an Kaisern fehlt es nicht.
ERSTER PATRIZIER
Nein, uns fehlt es nur an Leuten mit Charakter.
CHEREA
Und wenn er schlecht aufgelegt zurückkommt?
ERSTER PATRIZIER
Du meine Güte, er ist noch ein Kind, wir werden ihn schon zur Vernunft bringen.
CHEREA
Und wenn er für gutes Zureden taub ist?
ERSTER PATRIZIER (lacht)
Nun, habe ich nicht früher einmal eine Abhandlung über den Staatsstreich geschrieben?
CHEREA
Gewiss, wenn es sein müsste! Aber mir wäre es lieber, ich könnte bei meinen Büchern bleiben.
SCIPIO
Entschuldigt mich bitte.
(Er geht hinaus.)
CHEREA
Er ist entrüstet.
DER ALTE PATRIZIER
Er ist ein Kind. Die jungen Leute halten zusammen.
HELICON
Ob sie zusammenhalten oder nicht, älter werden sie in jedem Fall.
EINE WACHE (erscheint)
Jemand hat Caligula im Palastgarten gesehen.
(Alle gehen hinaus.)
(Die Bühne bleibt einige Sekunden leer. Verstohlen tritt CALIGULA von links ein. Er wirkt verstört, er ist schmutzig, sein Haar trieft, und seine Beine sind verschmutzt. Er führt mehrmals die Hand an den Mund. Er geht auf den Spiegel zu und bleibt stehen, sobald er sein eigenes Bild erblickt. Er murmelt undeutliche Worte, dann geht er nach rechts und setzt sich mit zwischen den gespreizten Knien hängenden Armen. HELICON kommt links herein. Als er CALIGULA erblickt, bleibt er am Bühnenrand stehen und beobachtet ihn schweigend. CALIGULA dreht sich um und sieht ihn. Pause.)
HELICON (von einem Ende der Bühne zum anderen)
Guten Tag, Gajus.
CALIGULA (ungezwungen)
Guten Tag, Helicon.
HELICON
Du siehst müde aus.
CALIGULA
Ich bin viel gelaufen.
HELICON
Ja, du warst lange fort.
(Pause.)
CALIGULA
Es war schwer zu finden.
HELICON
Was denn?
CALIGULA
Das, was ich wollte.
HELICON
Und was wolltest du?
CALIGULA (noch immer ungezwungen)
Den Mond.
HELICON
Was?
CALIGULA
Ja, ich wollte den Mond.
HELICON
Aha!
(Schweigen. HELICON kommt näher.)
Wozu?
CALIGULA
Nun … Das ist etwas, was ich nicht habe.
HELICON
Natürlich. Und jetzt ist alles in Ordnung?
CALIGULA
Nein, ich habe ihn nicht bekommen.
HELICON
Das ist ärgerlich.
CALIGULA
Ja, deshalb bin ich müde.
(Pause.)
Helicon!
HELICON
Ja, Gajus.
CALIGULA
Du denkst, ich sei verrückt.
HELICON
Du weißt doch, dass ich nie denke. Dazu bin ich viel zu intelligent.
CALIGULA
Ja. Nun gut! Aber ich bin nicht verrückt, ich war sogar noch nie so vernünftig. Nur habe ich plötzlich ein Bedürfnis nach Unmöglichem verspürt. (Pause.) Die Dinge scheinen mir so, wie sie sind, nicht befriedigend.
HELICON
Das ist eine ziemlich weit verbreitete Ansicht.
CALIGULA
Es ist wahr. Aber vorher wusste ich es nicht. Jetzt weiß ich es. (Immer noch ungezwungen) Diese Welt ist so, wie sie gemacht ist, nicht zu ertragen. Darum brauche ich den Mond oder das Glück oder die Unsterblichkeit, etwas, was unsinnig sein mag, was aber nicht von dieser Welt ist.
HELICON
Das ist eine Überlegung, die Hand und Fuß hat. Aber im Allgemeinen kann man sie nicht zu Ende führen.
CALIGULA (steht auf, aber mit derselben Natürlichkeit)
Du hast keine Ahnung. Eben weil man sie nie zu Ende führt, wird nichts erreicht. Aber vielleicht genügt es, bis zum Ende konsequent zu bleiben.
(Er schaut HELICON an.)
Ich weiß auch, was du denkst: Wie viel Aufhebens um den Tod einer Frau! Nein, das ist es nicht. Ich glaube mich zwar zu erinnern, dass vor einigen Tagen eine Frau gestorben ist, die ich liebte. Aber was ist die Liebe? Eine Bagatelle. Jener Tod bedeutet nichts, das schwöre ich dir. Er ist nur ein Hinweis auf eine Wahrheit, die mir den Mond unerlässlich macht. Das ist eine ganz einfache, ganz klare Wahrheit, ein bisschen dumm, aber schwierig herauszufinden und schwer zu ertragen.
HELICON
Und was ist das für eine Wahrheit, Gajus?
CALIGULA (abgewandt, in sachlichem Ton)
Die Menschen sterben, und sie sind nicht glücklich.
HELICON (nach einer Pause)
Ach, komm, Gajus, das ist eine Wahrheit, mit der man sich sehr gut abfinden kann. Schau dich um. Das hält sie nicht vom Essen ab.
CALIGULA (plötzlich laut werdend)
Weil alles um mich herum Lüge ist und ich will, dass man in der Wahrheit lebt! Und gerade ich habe die Möglichkeit, sie dazu zu bringen, in der Wahrheit zu leben. Ich weiß nämlich, was ihnen fehlt, Helicon. Ihnen mangelt es an Erkenntnis, und sie brauchen einen Lehrer, der weiß, wovon er spricht.
HELICON
Nimm mir nicht übel, was ich dir sagen werde, Gajus. Aber du solltest dich erst einmal ausruhen.
CALIGULA (setzt sich, in sanftem Ton)
Das ist nicht möglich, Helicon, das wird nie wieder möglich sein.
HELICON
Und warum nicht?
CALIGULA
Wenn ich schlafe, wer gibt mir dann den Mond?
HELICON (nach kurzem Schweigen)
Das stimmt.
(CALIGULA steht mit sichtlicher Mühe auf.)
CALIGULA
Horch, Helicon. Ich höre Schritte und Stimmen. Sei verschwiegen und vergiss, dass du mich gesehen hast.
HELICON
Ich habe verstanden.
(CALIGULA geht zum Ausgang. Er dreht sich um.)
CALIGULA
Und, bitte, hilf mir von nun an.
HELICON
Ich habe keinen Grund, es nicht zu tun, Gajus. Aber ich weiß vieles, und weniges interessiert mich. Wobei kann ich dir denn helfen?
CALIGULA
Bei dem Unmöglichen.
HELICON
Ich werde mein Bestes tun.
(CALIGULA geht hinaus. SCIPIO und CAESONIA kommen eilig herein.)
SCIPIO
Hier ist niemand. Hast du ihn nicht gesehen, Helicon?
HELICON
Nein.
CAESONIA
Helicon, hat er wirklich nichts gesagt, bevor er davongelaufen ist?
HELICON
Ich bin nicht sein Vertrauter, ich bin sein Zuschauer. Das ist klüger.
CAESONIA
Ich bitte dich.
HELICON
Liebe Caesonia, Gajus ist ein Idealist, das weiß doch jeder. Das heißt, er hat noch nicht verstanden. Ich schon, deshalb kümmere ich mich um nichts. Wenn Gajus aber zu verstehen beginnt, ist er mit seinem guten Herzchen imstande, sich um alles zu kümmern. Und Gott weiß, was uns das einbringen wird. Aber ihr erlaubt, das Essen wartet!
(Er geht hinaus.)
(CAESONIA setzt sich erschöpft.)
CAESONIA
Eine Wache hat ihn vorbeigehen sehen. Aber ganz Rom sieht Caligula überall. Und Caligula sieht in der Tat nur, was er sich vorstellt.
SCIPIO
Was stellt er sich vor?
CAESONIA
Woher soll ich das wissen, Scipio?
SCIPIO
Drusilla?
CAESONIA
Wer kann es sagen? Aber es ist wahr, dass er sie liebte. Es ist wahr, dass es hart ist, heute sterben zu sehen, was man gestern noch in den Armen hielt.
SCIPIO (schüchtern)
Und du?
CAESONIA
Ich? Ach, er begehrt mich, aber er müsste mich lieben.
SCIPIO
Caesonia, wir müssen ihn retten.
CAESONIA
Du liebst ihn wohl?
SCIPIO
Ich liebe ihn. Du kannst nicht wissen, wie gut er zu mir war, wie er mir geholfen hat, wie er meiner Familie geholfen hat. Er hat mich ermutigt, und ich habe einige seiner Worte beherzigt. Er sagte mir, das Leben sei nicht leicht, aber es gebe ja die Religion, die Kunst und die Liebe, die man uns entgegenbringt. Er wiederholte oft, Leid zu verursachen sei die einzige Art, sich zu betrügen. Er wollte ein Gerechter sein.
CAESONIA (steht auf)
Das war er, ein Kind.
(Sie geht zum Spiegel und betrachtet sich darin.)
Ich habe nie einen anderen Gott gehabt als meinen Körper, und zu diesem Gott möchte ich heute beten, damit ich Gajus wiederbekomme.
(CALIGULA tritt ein. Als er CAESONIA und SCIPIO erblickt, zögert er und weicht zurück. Im selben Augenblick treten auf der gegenüberliegenden Seite die Patrizier und der Oberhofmeister auf. Sie bleiben verblüfft stehen. CAESONIA dreht sich um. Sie und SCIPIO laufen auf CALIGULA zu. Er gebietet ihnen mit einer Geste Halt.)
OBERHOFMEISTER (mit unsicherer Stimme)
Wir … wir haben dich gesucht, Cäsar.
CALIGULA (mit veränderter, schroffer Stimme)
So.
OBERHOFMEISTER
Wir … das heißt …
CALIGULA (brutal)
Was wollt ihr?
OBERHOFMEISTER
Wir waren beunruhigt, Cäsar.
CALIGULA (auf ihn zugehend)
Mit welchem Recht?
OBERHOFMEISTER
Äh! Mmh … (In einer plötzlichen Eingebung, sehr schnell) Nun, du weißt doch, dass du einige Probleme regeln musst, die den Staatsschatz betreffen.
CALIGULA (von einem nicht enden wollenden Lachen gepackt)
Den Staatsschatz? Stimmt ja, der Staatsschatz, das ist lebenswichtig.
OBERHOFMEISTER
Gewiss, Cäsar.
CALIGULA (immer noch lachend zu CAESONIA)
Nicht wahr, meine Liebe, der Staatsschatz ist überaus wichtig?
CAESONIA
Nein, Caligula, er ist Nebensache.
CALIGULA
Du verstehst eben nichts davon. Der Staatsschatz ist von gewaltiger Bedeutung. Alles ist wichtig: die Finanzen, die öffentliche Moral, die Außenpolitik, die Versorgung der Armee und die Agrargesetze! Alles ist lebenswichtig, sage ich dir. Alles ist gleichrangig: Roms Größe und deine Gichtanfälle. Ah, ich werde mich um all das kümmern. Hör mir einmal zu, Patricius.
OBERHOFMEISTER
Wir hören dir zu.
(Die Patrizier treten näher.)
CALIGULA
Du bist mir treu ergeben, nicht wahr?
OBERHOFMEISTER (vorwurfsvoll)
Cäsar!
CALIGULA
Nun, ich habe dir einen Plan vorzulegen. Wir werden die Volkswirtschaft in zwei Phasen von Grund auf umkrempeln. Ich erkläre es dir, Patricius … wenn die Patrizier gegangen sind.
(Die Patrizier gehen hinaus.)
(CALIGULA setzt sich neben CAESONIA.)
CALIGULA
Hör gut zu. Erste Phase: alle Patrizier, alle Bürger des Reichs, die irgendwelches Vermögen besitzen – ob klein oder groß, ist ganz einerlei –, müssen zwingend ihre Kinder enterben und auf der Stelle ein Testament zugunsten des Staates machen.
OBERHOFMEISTER
Aber Cäsar …
CALIGULA
Ich habe dir noch nicht das Wort erteilt. Je nach unseren Bedürfnissen werden wir diese Personen in der Reihenfolge einer willkürlichen Liste töten. Gelegentlich können wir diese Reihenfolge ebenso willkürlich ändern. Und wir werden erben.
CAESONIA (rückt von ihm ab)
Was ist in dich gefahren?
CALIGULA (unbeirrt)
Die Reihenfolge der Hinrichtungen ist eigentlich völlig unwichtig. Vielmehr sind diese Hinrichtungen gleich wichtig, was zur Folge hat, dass sie überhaupt nicht wichtig sind. Im Übrigen sind die einen so schuldig wie die anderen. Außerdem ist es nicht unmoralischer, die Bürger direkt zu bestehlen, als die für sie unentbehrlichen Lebensmittel heimlich mit indirekten Steuern zu belegen. Regieren heißt stehlen, das weiß doch jeder. Aber es kommt darauf an, wie. Ich werde ehrlich stehlen. Das wird für euch eine Abwechslung von den Kleinverdienern sein. (Barsch zu dem OBERHOFMEISTER) Du wirst diese Befehle unverzüglich ausführen. Alle Einwohner von Rom unterschreiben ihr Testament noch heute Abend, alle Provinzbewohner spätestens in einem Monat. Schick reitende Boten aus.
OBERHOFMEISTER
Cäsar, du machst dir nicht klar …
CALIGULA
Hör mir gut zu, du Schwachkopf. Wenn der Staatsschatz lebenswichtig ist, dann ist das Menschenleben es nicht. Das ist klar. Alle, die so denken wie du, müssen diese Schlussfolgerung anerkennen und ihr Leben für nichts achten, da ihnen das Geld alles bedeutet. Ich habe beschlossen, logisch zu sein, und da ich die Macht habe, werdet ihr sehen, wie teuer die Logik euch zu stehen kommt. Ich werde die Widersprechenden und die Widersprüche ausrotten. Wenn es sein muss, fange ich mit dir an.
OBERHOFMEISTER
Cäsar, mein guter Wille steht außer Zweifel, das schwöre ich dir.
CALIGULA
Meiner auch, das kannst du mir glauben. Dass ich einwillige, deinen Standpunkt zu übernehmen und den Staatsschatz für einen Gegenstand des Nachdenkens zu halten, ist der Beweis. Kurz und gut, bedank dich bei mir, dass ich dein Spiel mitmache und mit deinen Karten spiele. (Pause und dann ruhig) Mein Plan ist durch seine Einfachheit genial, womit die Debatte abgeschlossen ist. Du hast drei Sekunden, um zu verschwinden. Ich zähle, eins …
(Der OBERHOFMEISTER verschwindet.)
CAESONIA
Ich erkenne dich gar nicht wieder! Das ist ein Scherz, nicht wahr?
CALIGULA
Eigentlich nicht, Caesonia. Das ist Pädagogie.
SCIPIO
Das ist doch nicht möglich, Gajus!
CALIGULA
Genau!
SCIPIO
Ich verstehe dich nicht.
CALIGULA
Genau! Es geht um das, was nicht möglich ist, oder vielmehr darum, möglich zu machen, was nicht möglich ist.
SCIPIO
Aber das ist ein Spiel, das keine Grenzen hat. Es ist der Zeitvertreib eines Verrückten.
CALIGULA
Nein, Scipio, es ist die Stärke eines Kaisers.
(Er lehnt sich mit einem Ausdruck von Müdigkeit zurück.)
Ich habe endlich das Nützliche der Macht erkannt. Sie gibt dem Unmöglichen eine Chance. Heute und für alle Zeiten hat meine Freiheit keine Grenzen mehr.
CAESONIA (traurig)
Ich weiß nicht, ob das ein Grund zur Freude ist, Gajus.
CALIGULA
Ich weiß es auch nicht. Aber ich vermute, dass es ein Grund zum Leben ist.
(CHEREA tritt ein.)
CHEREA
Wir haben von deiner Rückkehr erfahren. Wir wünschen deiner Gesundheit gutes Ergehen.
CALIGULA
Meine Gesundheit dankt euch. (Pause, dann plötzlich) Geh, Cherea, ich will dich nicht sehen.
CHEREA
Ich bin überrascht, Gajus.
CALIGULA
Sei nicht überrascht. Ich mag die Literaten nicht und kann ihre Lügen nicht ertragen. Sie reden, um sich nicht zuhören zu müssen. Wenn sie sich zuhörten, wüssten sie, dass sie nichts sind, und könnten nicht mehr reden. Los, wegtreten, mir graut vor falschen Zeugen.
CHEREA
Wenn wir lügen, geschieht es oft, ohne dass wir es wissen. Ich plädiere für nicht schuldig.
CALIGULA
Eine Lüge ist nie unschuldig. Und eure misst den Menschen und den Dingen Bedeutung bei. Eben das kann ich euch nicht verzeihen.
CHEREA
Und doch müssen wir für diese Welt plädieren, wenn wir darin leben wollen.
CALIGULA
Plädiere nicht, die Sache ist entschieden. Diese Welt ist ohne Bedeutung, und wer das erkennt, erringt seine Freiheit.
(Er ist aufgestanden.)
Und ich hasse euch, gerade weil ihr nicht frei seid. Im ganzen Römischen Reich bin ich der Einzige, der frei ist. Freut euch, ihr habt endlich einen Kaiser bekommen, der euch die Freiheit lehrt. Geh, Cherea, und du auch, Scipio, Freundschaft bringt mich zum Lachen. Geht und verkündet Rom, dass ihm seine Freiheit endlich wiedergegeben ist und dass damit eine große Prüfung beginnt.
(Sie gehen hinaus. CALIGULA hat sich abgewandt.)
CAESONIA
Du weinst?
CALIGULA
Ja, Caesonia.
CAESONIA
Aber was hat sich denn geändert? Wenn du auch Drusilla geliebt hast, so hast du sie doch zugleich mit mir und vielen anderen geliebt. Das allein kann nicht der Grund sein, dass ihr Tod dich drei Tage und drei Nächte aufs Land hinaustreibt und du mit diesem feindlichen Gesicht zurückkehrst.
CALIGULA (hat sich umgedreht)
Wer redet denn von Drusilla, du Törin? Kannst du dir nicht vorstellen, dass ein Mann wegen etwas anderem als der Liebe weint?
CAESONIA
Entschuldige, Gajus. Aber ich versuche zu verstehen.
CALIGULA
Männer weinen, weil die Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten.
(Sie geht zu ihm.)
Fass mich nicht an. Ich will nicht, dass man mich anfasst.
(Sie weicht zurück.)
Aber setz dich neben mich.
CAESONIA
Ich tue, was du willst.
(Sie setzt sich.)
In meinem Alter weiß man, dass das Leben nicht gut ist. Aber wenn das Böse auf der Erde ist, warum sollte man es noch schlimmer machen wollen?
CALIGULA
Das kannst du nicht verstehen. Was soll’s? Ich werde da vielleicht herauskommen. Aber ich fühle namenlose Wesen in mir aufsteigen. Was soll ich gegen sie tun?
(Er wendet sich ihr zu.)
Oh, Caesonia, ich wusste, dass man verzweifelt sein kann, aber ich wusste nicht, was dieses Wort bedeutet. Ich glaubte, wie alle, es sei eine Krankheit der Seele. Aber nein, was leidet, ist der Körper. Meine Haut tut mir weh, meine Brust, meine Glieder. Mein Kopf ist leer, und mir ist übel. Und das Schrecklichste ist dieser Geschmack im Mund. Weder nach Blut noch nach Tod noch nach Fieber, sondern all das auf einmal. Ich brauche nur die Zunge zu bewegen, und alles wird wieder schwarz, und die Menschen widern mich an. Wie hart, wie bitter es ist, ein Mann zu werden!
CAESONIA
Das geht vorüber, mein Kleiner. Du musst schlafen, lange schlafen, dich gehenlassen und nicht mehr nachdenken. Ich werde über deinen Schlaf wachen. Beim Erwachen wirst du den Geschmack dieser Welt wiederfinden. Dann nutze deine Macht dazu, was noch liebenswert ist, mehr zu lieben. Auch das Mögliche verdient, eine Chance zu bekommen.
CALIGULA
Aber dazu ist Schlaf nötig, ist Gelöstheit nötig. Das geht nicht.
CAESONIA
Das meint man, wenn man völlig erschöpft ist. Irgendwann hat man dann wieder eine feste Hand.
CALIGULA
Aber man muss wissen, wo man sie anlegt. Und was soll ich mit einer festen Hand, wozu dient mir diese so erstaunliche Macht, wenn ich die Zustände nicht ändern kann, wenn ich nicht erreichen kann, dass die Sonne im Osten untergeht, dass das Leid abnimmt und die Menschen nicht mehr sterben? Nein, Caesonia, es ist gleichgültig, ob ich schlafe oder wach bleibe, wenn ich nicht auf die Ordnung dieser Welt einwirken kann.
CAESONIA
Aber das heißt, den Göttern gleichen zu wollen. Ich kenne keinen schlimmeren Wahnsinn.
CALIGULA
Du auch! Auch du hältst mich für wahnsinnig. Und dabei, was ist ein Gott, dass ich wünschte, ihm gleich zu sein? Was ich heute mit aller Kraft wünsche, geht über die Götter hinaus. Ich übernehme die Verantwortung für ein Reich, in dem das Unmögliche Herrscher ist.
CAESONIA
Du wirst nicht erreichen können, dass der Himmel nicht der Himmel ist, dass ein schönes Gesicht hässlich und ein Menschenherz empfindungslos wird.
CALIGULA (mit wachsender Erregung)
Ich will den Himmel ins Meer stürzen, Hässlichkeit und Schönheit vermischen, aus Leid Gelächter hervorbrechen lassen.
CAESONIA (vor ihm aufgerichtet, flehend)
Es gibt Gut und Böse, das Erhabene und das Niedrige, das Gerechte und das Ungerechte. Und ich schwöre dir, dass sich das nicht ändern wird.
CALIGULA (wie zuvor)
Es ist mein Wille, es zu ändern. Ich werde diesem Jahrhundert die Gleichheit schenken. Und wenn alles gleich gemacht ist – das Unmögliche endlich auf Erden, der Mond in meiner Hand –, dann werde vielleicht ich selbst verwandelt sein und die Welt mit mir, dann endlich werden Menschen nicht mehr sterben und glücklich sein.
CAESONIA (mit einem Schrei)
Du wirst die Liebe nicht leugnen können.
CALIGULA (aus der Haut fahrend, wutschnaubend)
Die Liebe, Caesonia!
(Er hat sie bei den Schultern gefasst und schüttelt sie.)
Ich habe erfahren, dass sie nichts ist. Der andere da hat recht: der Staatsschatz! Du hast ihn doch gehört, nicht wahr? Damit fängt alles an. Ah, jetzt werde ich endlich leben! Leben, Caesonia, leben ist das Gegenteil von lieben. I c h sage es dir, und i c h lade dich ein zu einem ungeheuren Fest, zu einer Haupt- und Staatsaktion, zum schönsten aller Schauspiele. Und ich brauche Leute, Zuschauer, Opfer und Schuldige.
(Er springt zum Gong und schlägt ihn unentwegt, lauter und lauter.)
(Weiter den Gong schlagend) Bringt die Schuldigen herein. Ich brauche Schuldige. Und schuldig sind sie alle. (Schlägt weiter den Gong) Die zum Tode Verurteilten sollen hereinkommen. Publikum, ich will mein Publikum! Richter, Zeugen, Angeklagte, alle im Voraus verurteilt! Ah, Caesonia, ich werde ihnen zeigen, was sie noch nie gesehen haben, den einzigen freien Menschen in diesem Reich!
(Mit den Gongschlägen dringen nach und nach anschwellende, näher kommende dumpfe Geräusche in den Palast. Stimmen, Waffenlärm, Schritte und Getrampel. CALIGULA lacht und schlägt weiter den Gong. Wachen treten ein, gehen wieder hinaus.)
CALIGULA (weiter den Gong schlagend)
Und du, Caesonia, wirst mir gehorchen. Du wirst mir immer beistehen. Das wird herrlich. Schwöre, dass du mir beistehst, Caesonia.
CAESONIA (verstört, zwischen zwei Gongschlägen)
Ich brauche nicht zu schwören. Ich liebe dich.
CALIGULA (wie zuvor)
Du wirst alles tun, was ich dir sage.
CAESONIA (wie zuvor)
Alles, Caligula, aber hör jetzt auf.
CALIGULA (immer noch den Gong schlagend)
Du wirst grausam sein.
CAESONIA (weinend)
Grausam.
CALIGULA (wie zuvor)
Kalt und unerbittlich.
CAESONIA
Unerbittlich.
CALIGULA (wie zuvor)
Du wirst auch leiden.
CAESONIA
Ja, Caligula, aber ich werde verrückt dabei.
(Voller Bestürzung sind Patrizier und mit ihnen die Palastdiener hereingekommen. CALIGULA gibt dem Gong einen letzten Schlag, hebt den Schlägel, wendet sich ihnen zu und ruft sie.)
CALIGULA (von Sinnen)
Kommt alle her. Kommt näher. Ich befehle euch, näher zu treten.
(Er stampft mit dem Fuß auf.)
Hier steht ein Kaiser, der verlangt, dass ihr näher tretet.
(Alle treten voller Schrecken näher.)
Kommt schnell. Und jetzt komm hierher, Caesonia.
(Er nimmt sie bei der Hand, führt sie vor den Spiegel und wischt hektisch mit dem Schlägel ein Bild auf der glatten Fläche aus.)
(Lacht) Nichts mehr, siehst du. Keine Erinnerungen mehr, alle Gesichter weg! Nichts, gar nichts mehr. Und weißt du, was bleibt? Tritt näher. Schau. Tretet näher. Schaut.
(Er baut sich in der Haltung eines Wahnsinnigen vor dem Spiegel auf.)
CAESONIA (blickt in den Spiegel, voller Entsetzen)
Caligula!
(CALIGULA wechselt den Ton, legt einen Finger auf den Spiegel, sein Blick wird plötzlich starr.)
CALIGULA (triumphierend)
Caligula.