Syrisches Tagebuch
C.H.Beck
Im Norden Syriens liegt die Hochburg der Rebellen. Entsprechend sind die Städte und Dörfer der Region permanent den Angriffen von Assads Luftwaffe ausgesetzt. Die Infrastruktur ist bereits stark zerstört. Die „Grünhelme“ bemühen sich, in der Gegend um die Stadt Azaz wenigstens Krankenhäuser und Schulen funktionsfähig zu halten. In seinem Tagebuch hat Rupert Neudeck seine Erlebnisse und Beobachtungen festgehalten und zeigt, wie ein Bürgerkrieg die Gesellschaft und ihre Menschen verändert. Das Buch führt aber auch nach Deutschland, schildert Neudecks Versuche, weitere humanitäre Hilfe für das Land zu ermöglichen, und führt immer wieder in die Vergangenheit des Landes und der Region ohne die sich die aktuellen Ereignisse nicht verstehen lassen. So ist dieses Tagebuch auch ein tastender, sich stets durch neue Ereignisse selbst hinterfragender Versuch zu verstehen, wie es zu der syrischen Tragödie kommen konnte und wie sie zu beenden ist. Denn eines ist sicher: Es gibt eine Zukunft nach Assad.
Rupert Neudeck gründete 1979 das KOMITEE CAP ANAMUR Deutsche Notärzte e.V., das seitdem als humanitäre „Feuerwehr“ auf der ganzen Welt im Einsatz ist. Jetzt engagiert er sich für die neue Hilfsorganisation „Grünhelme“, die als eine der ersten in Syrien humanitäre Hilfe leistete. Bei C.H.Beck sind von ihm lieferbar: Die Menschenretter von Cap Anamur (2. Aufl. 2003, Die Kraft Afrikas (2010).
Für Bernd Blechschmidt, Simon Sauer und Ziad Nouri, die in finsterer Geiselhaft die Solidarität und Menschlichkeit hochgehalten haben.
Vorwort
Erkundungsreise ins Grenzgebiet (Juli 2012)
Im befreiten Syrien (September–Oktober 2012)
Warten auf den Sturz Assads (Oktober–Dezember 2012)
Ein Land in Anarchie (Januar–Februar 2013)
Spirale der Gewalt (Februar–Mai 2013)
Die Entführung (Mai–Juli 2013)
Schluss
Es hatte mich umgetrieben, das Leiden des syrischen Volkes. Friedlich hatten die Proteste im März 2011 begonnen, zu einem Zeitpunkt, als der arabische Frühling die ganze Region mit Hoffnung auf Freiheit, Mitsprache und soziale Gerechtigkeit erfüllte. Wie in den anderen Ländern zumeist auch war es ein kleiner Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. In Daraa im Süden Syriens an der Grenze zum Libanon waren einige Schulkinder verhaftet worden, die regimekritische Parolen an Häuserwände geschmiert hatten. Die örtlichen Behörden schenkten den Protesten kein Gehör und am 17. März 2011 kam es dort zu einer großen Demonstration der Bevölkerung gegen das Regime Baschar al-Assads. Dieser Tag gilt seitdem als Beginn der syrischen Rebellion.
Es hätte friedlich bleiben können. Doch das Regime reagierte auf die bald nahezu im ganzen Land aufflammenden Proteste mit brutaler Gewalt. Den Demonstranten ging es um ein Ende der Unterdrückung durch die allgegenwärtigen syrischen Geheimdienste, es ging um Würde und Freiheit und es ging um die schlechte wirtschaftliche Lage vieler Syrer, der ein wachsender Reichtum weniger Profiteure von Assads wirtschaftlicher Modernisierungspolitik gegenüberstand. Doch der Präsident ließ seine Sicherheitskräfte scharf schießen. Demonstranten und Regimekritiker wurden verhaftet und gefoltert. Dabei hatten sich mit Baschar al-Assad, der seinem Vater Hafiz im Jahr 2000 nachgefolgt war, nicht nur im Westen einst große Hoffnungen auf allmähliche Reformen im politisch erstarrten Syrien verbunden.
Die Revolution konnte schließlich nichts anderes tun, als sich selbst zu bewaffnen. Seitdem versinkt das Land in einem blutigen Bürgerkrieg. Noch im Juli 2011 gründete sich die Freie Syrische Armee (FSA), die seit Sommer 2012 gewisse Teile des Landes kontrolliert. Bis heute besitzt sie kein Oberkommando, das in der Lage wäre, die versprengten Einheiten und Brigaden wirksam zu koordinieren. Ihren Kern machen übergelaufene Deserteure der offiziellen syrischen Armee aus. In ihren Reihen finden sich aber ebenso einfache syrische Bürger wie, in letzter Zeit in immer größerer Zahl, ausländische Dschihadisten oder schlicht Kriminelle.
Leidtragende der Kämpfe ist vor allem die Zivilbevölkerung. Seit Sommer 2012 führt das Regime in einigen Teilen des Landes, insbesondere im Norden, den Bürgerkrieg hauptsächlich aus der Luft, zerstört Krankenhäuser, Schulen und Wohngebäude. Doch zur Einrichtung einer Flugverbotszone wie in Libyen, die maßgeblich zum Sturz des Diktators Muammar al-Ghaddafi beigetragen hat, konnte sich die internationale Staatengemeinschaft vor allem aus geopolitischen Gründen bisher nicht durchringen.
So sterben und leiden die Syrer weiter, und da Handykameras und Youtube ihre Bilder und Filme bis in unsere Wohnzimmer tragen, tun sie das gewissermaßen vor unseren Augen. «Wenn hinten weit in der Türkei die Völker aufeinander schlagen», wie es in Goethes Faust heißt, so kann heute keiner mehr reden. Menschen aus der Türkei sind in Millionenzahl unsere Nachbarn geworden. Kurden aus Anatolien unsere Berufsgenossen. Und wenn man sich in ein Krankenhaus aufmacht, stehen die Chancen gar nicht schlecht, dass man auf einen syrischen Arzt trifft. So ging es mir, als ich mich in der Kardiologischen Gemeinschaftspraxis in Siegburg wegen eines Vorhofflimmerns einfand und mir mein behandelnder Arzt eröffnete, er sei Syrer. Er stammt aus Homs, wo damals mit die heftigsten Kämpfe tobten.
Ich fragte mich, wie ich den syrischen Revolutionstraum humanitär begleiten könnte. Offiziell waren Mitte 2012 keine humanitären Hilfsorganisationen im Land zugelassen. Im August zog selbst die 300 Mann starke UN-Blauhelmtruppe wieder ab, die im Rahmen der Beobachtermission UNSMIS seit April 2012 im Land gewesen war. Die syrische Bevölkerung wurde von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen. Schon verlässliche Informationen zu bekommen, war ausgesprochen schwierig, da auch westliche Journalisten nur unter erschwerten Bedingungen ins Land gelangen konnten.
Ich versuchte zunächst, etwas von Deutschland aus zu tun. Um es vom Ende her zu sagen: Es war ein Scheitern auf der ganzen Linie. Mir schwebte vor, alle ethnischen und religiösen Parteien des syrischen Konflikts an einen Tisch zu bringen. Und wenn es schon nicht gelänge, alle Parteien und Teile der Gesellschaft aus Syrien selbst zu versammeln, dann doch wenigstens die wichtigsten Vertreter des syrischen Exils in Deutschland. Sed frustra. Es gab niemanden, der mich dabei unterstützen wollte. Also beschloss ich, mit den Grünhelmen selber nach Syrien zu gehen und direkt vor Ort zu helfen. Denn das Einzige, was unter Menschen, die verfolgt, bedroht oder zur Flucht gezwungen werden, wirklich zählt, ist das menschliche Mitgefühl, die Sympathie und die konkrete Hilfe, die wir mit unseren Spenden und den Händen der Helfer leisten wollen und können.
Im Juni 2012 begannen wir mit den konkreten Vorbereitungen. Wir planten, gleich nach dem Ende der Kampfhandlungen über die Türkei nach Syrien zu gehen, um beim Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur zu helfen. Wir wollten dazu beitragen, dass es ein Leben nach Assad geben würde. Als sich abzeichnete, dass die Rebellen größere Teile des türkisch-syrischen Grenzgebiets dauerhaft behaupten könnten, witterten wir die Chance, auch schon vorher helfen zu können. Mitte Juli brach ich daher zu einer ersten Reise ins Grenzgebiet auf, um die Möglichkeiten vor Ort zu erkunden. Entweder würden wir einen Weg nach Syrien hinein finden oder zumindest die syrischen Flüchtlinge in der Türkei unterstützen können. Bei diesem Besuch gelangte ich noch nicht nach Syrien, doch in den folgenden Wochen festigte sich die Position der Rebellen. Aus der Stadt Azaz, die etwa 70.000 Einwohner zählt, wurden die Regierungstruppen vertrieben. Die Rebellen hofften, dort einen Rückzugsraum schaffen zu können, wie es Bengasi für die libysche Revolution war. Azaz liegt kurz hinter der türkisch-syrischen Grenze, gegenüber von Kilis, in fast gerader Linie südlich des türkischen Gaziantep, wo es einen Flughafen gibt. Wir wählten daher Azaz zu unserem Anlaufpunkt und brachen Anfang September zu einer ersten Reise nach Syrien auf. Seitdem bin ich immer wieder dort gewesen, um unsere Arbeiten voranzubringen und neue Projekte zu beginnen. Ich habe die Menschen bewundern gelernt, die versuchen einen Alltag im Bürgerkrieg zu leben, und ich habe viel über Syrien, seine Vergangenheit, Gegenwart und die Zukunft nach Assad nachgedacht. Mein Tagebuch legt davon Zeugnis ab.
Nach fast zehn Monaten Arbeit in Syrien, in denen wir Grünhelme inmitten der betroffenen Zivilbevölkerung gelebt haben, erst in Azaz, dann in Tal Rifaat, schließlich in Harim, geschah das, wovor humanitäre Hilfsorganisationen in Krisengebieten sich am meisten fürchten: Drei unserer Mitarbeiter wurden entführt. Wir hatten uns lange Zeit sicher gefühlt in den Rebellengebieten des Nordens, geborgen im Schoß der Bevölkerung. Doch dann gewannen radikale Gruppen, oftmals islamistisch auftretende «Gotteskrieger» aus dem Ausland, immer mehr an Einfluss und die Atmosphäre veränderte sich. Wir hatten uns daher schon zum Rückzug entschlossen, als das Unglück passierte. Inzwischen sind, nach 50 Tagen entwürdigender Geiselhaft, zwei unserer Mitarbeiter wieder frei. Um den dritten kämpfen wir noch und wir beten, dass er beim Erscheinen dieses Buches ebenfalls in Deutschland zurück sein wird. Die Entführung war für mich persönlich das Schlimmste, was ich in 34 Jahren humanitärer Arbeit erlebt habe. Sie hat mich im Innersten erschüttert. Auch dies spiegelt sich in diesem Tagebuch.
War es gerechtfertigt, als humanitäre Hilfsorganisation auf Seiten der Rebellen in den schwelenden Konflikt einzugreifen? Tatsächlich wurden inzwischen auch von Seiten der Aufständischen Gräueltaten begangen und es ist zu Kriegsverbrechen gekommen. Auch haben die oftmals aus dem Ausland stammenden, von Saudi-Arabien und Katar unterstützten Extremisten, deren stärkster Arm die Al Qaida nahestehende Al Nusra Front ist, den Konflikt verändert. Nicht selten terrorisieren diese Gruppen die Zivilbevölkerung ebenso wie das Assad-Regime. Ein Bürgerkrieg im Bürgerkrieg zeichnet sich ab und Syrien versinkt in einer Spirale der Gewalt.
Es darf aber nicht vergessen werden, dass die Gewalt zuallererst vom Regime ausgegangen ist, das auf die berechtigten Proteste eines nach Freiheit strebenden Volkes nur mit Waffengewalt reagieren zu können glaubte. Überhaupt war die Reise nach Syrien eine aus rein humanitären Gründen. Ich wollte nicht weiter reden. Alle Welt redete, dass das Leiden der Syrer beendet werden, dass man der Regierungsarmee in den Arm fallen müsse, aber niemand tat etwas. Wir wollten wenigstens unsere Ängstlichkeit, die verfluchte, überwinden und losgehen, ohne um Erlaubnis zu fragen.
Cüveçci Köyü, 14. Juli 2012
Es ist uralt biblisches Gebiet, in das wir uns aufmachen, das Gebiet des kleinen Fingers, der als türkisches Territorium in das Staatsgebiet von Syrien hineinragt: Hatay, Antakya. Das ist das Antiochien, das in den Briefen des Apostels Paulus eine so große Rolle spielt und in der Apostelgeschichte. Ich nehme Hidir mit, einen Deutsch-Kurden, der für die Grünhelme in Ruanda gearbeitet hat. Hidir Simsek, der für uns beide ein Quartier besorgt und, wenn möglich, auch über die Grenze nach Syrien mit mir gehen will. Wir haben kurz vorher den großen Artikel von Wolfgang Bauer gelesen: «Es gibt ein Leben nach Assad», der am 12.Juli in der ZEIT erschienen ist. Er hat geschrieben, dass die Revolution in Azaz schon fast gesiegt hat. Wir wollen sehen, ob wir vielleicht dorthin gelangen können.
Gestern Abend sind wir losgeflogen nach Hatay und dort nach Mitternacht angekommen, Hidir hat für mich gedolmetscht, wir haben ein Taxi genommen und für eine Nacht in einem kleinen Hotel eingecheckt. Dann haben wir uns erst einmal dem Schlaf der Gerechten hingegeben. Heute gehen wir herunter zum Frühstück und haben die üblichen Gewürze des Nahen Ostens schon am frühen Morgen in der Nase. Danach machen wir uns auf, erst einmal in Richtung Süden nach Güveçci Köyü, an die türkisch-syrische Grenze. Das Dorf liegt im südlichsten Zipfel der Türkei, in gerader Linie westlich der syrischen Provinzhauptstadt Idlib. Auf syrischer Seite befindet sich ein Gebiet, das, wie das Umland von Azaz, weitgehend in der Hand der syrischen Rebellen sein soll. Wir wollen herausfinden, ob es schon einen Weg hinüber gibt und ob es jenseits der Grenze einigermaßen sicher ist.
In Güveçci Köyü fällt uns sofort auf, wie freundlich und hilfsbereit die türkische Bevölkerung mit den syrischen Flüchtlingen umgeht. In den großen Städten Antiochiens gibt es viele Aleviten, die es nicht selten mit Baschar al-Assad halten. Aber hier in den Dörfern im Süden leben vor allem sunnitische Stämme, die den Schutz suchenden Syrern sehr gewogen sind. Sie kommen in großer Zahl aus den grenznahen Gebieten, aber auch von weiter her. Offenbar wird die Grenze von syrischer Seite nur noch lückenhaft überwacht. In Göveçci Köyü sind bereits 150 Syrer untergekommen. Eine Familie allein hat in ihrem Haus drei Frauen mit sieben Kindern aufgenommen, zu denen es keine Verwandtschaftsbande gibt. Die Männer sind meist im Feld geblieben. Sie schicken ihre Familien in die Türkei, um sie in Sicherheit zu bringen. Wir sitzen nur drei Stunden beim Bürgermeister des Dorfes, einem tatkräftigen Vertreter seiner Gemeinde. In dieser Zeit kommen wieder zwei syrische Familien an. Ich vermute, dass die offizielle Zahl der von der türkischen Regierung aufgenommenen registrierten Flüchtlinge eher verdoppelt werden muss. In der letzten Woche wurde die Zahl von 38.914 Flüchtlingen aus dem syrischen Bürgerkriegsgebiet genannt.
Die Stimmung hier ist positiv diesen Syrern gegenüber. Die Wut der Menschen auf der türkischen Seite der Grenze richtet sich auf Russland, China und den Iran, die weiterhin das alte abgehalfterte Regime von Baschar al-Assad unterstützen. Ansonsten wäre dieses schon gefallen, meinen sie. Sie halten auch den ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan, der als UN-Sondergesandter für Syrien amtiert, für einen Verräter an der Sache der syrischen Brüder und Schwestern. Man muss ihn in ihrem Beisein in Schutz nehmen, denn er bemüht sich, hat aber kaum Macht.
Erschreckend ist die Angststarre der geflohenen Syrer, die sich auch in der Türkei noch von Assads Geheimdiensten verfolgt wähnen. Einer will nicht einmal zur Behandlung seines zerschossenen Beines nach Antakya, weil er gehört hat, dass dort Geheimdienstagenten eine menschenwürdige Behandlung verhindern. Mindestens 15 Geheimdienste mit insgesamt 250.000 Mitarbeitern haben Vater Hafiz und Sohn Baschar aufgebaut. Angst legt sich über alles, was die Menschen sagen und erklären wollen.
Güveçci Köyü, 15. Juli 2012
Der Bürgermeister von Guveçci Köyü findet unsere Idee hervorragend, in den befreiten Gebieten jetzt schon etwas mit Ärzten und Handwerkern von den Grünhelmen vorzubereiten. Dann käme man aus dem unendlichen Gerede der Politik heraus. Er bot uns ein Depot und ein Quartier an, wenn wir hier schon anfangen wollten zu arbeiten, bevor die Grenze aufgeht.
Syrische Flüchtlinge und Einheimische in Güveçci Köyü, im Vordergrund neben Rupert Neudeck der Bürgermeister des Ortes.
Heute Vormittag trafen im Dorf Vertreter der türkischen Organisation IHH (International Humanitarian Help) ein, die eine große Ladung überlebensnotwendiger Hilfsgüter verteilen. Der Bürgermeister selbst führt die Liste, wer was bekommen soll. Die IHH hat ihn zu ihrem Vertreter ernannt. Gleichzeitig taucht eine geheimnisvolle hohe Delegation von Scheichs aus Kuwait in einem klimatisierten schwarzen Wagen auf und wird vom Bürgermeister in die Topographie und Geopolitik des Krieges hinter der nur wenige Steinwürfe weit entfernten Grenze eingeführt.
Heute Nachmittag haben Hidir und ich uns im Grenzgebiet umgesehen. Von Güveçci Köyü aus führt ein Pfad bis nach Syrien hinein. Wir wollen erkunden, ob man illegal über die Grenze gelangen kann und wie die Sicherheitslage ist. Offiziell ist der Übertritt für humanitäre Hilfsorganisationen von türkischer Seite nicht gestattet. Aber das Grenzgebiet bei Güveçci Köyü ist bergig und einsam, so dass wir von den türkischen Polizisten wenig zu befürchten haben. Als wir den letzten Berg hochsteigen und auf der Grenze sind, sehen wir eine befreite Ortschaft. Es gibt unterhalb des Berges ein Rebellencamp, das wir aber nicht besuchen wollen, weil wir als Humanitäre nicht zur Versorgung mit Waffen beitragen können und auch nicht wollen. Sicher ist, dass die Grenze nicht mehr ganz von den syrischen Regierungstruppen beherrscht wird. Sonst hätten wir nicht so problemlos zu ihr vordringen können. Auch gibt es befreite Zonen. Aber was wir von den Menschen hören, die uns begegnen, legt nahe, dass die Lage in diesem Gebiet noch instabil ist. Wir gehen daher nicht nach Syrien hinein. Die syrischen Regierungstruppen kämpfen um ihr Leben, weil sie nicht sicher sein können, ob eine Desertion jetzt noch akzeptiert wird von der Bevölkerung. Zudem gibt es weiter Terror aus der Luft. In der letzten Nacht haben wir Schusswechsel von jenseits der Grenze gehört und die Explosionen von Bombenangriffen der syrischen Luftwaffe. Assad hat noch nicht aufgegeben.
Antakya, 17. Juli 2012
Der Held meiner Erlebnisse an der türkisch-syrischen Grenze ist ein Arzt: Dr. Hassan Naggar. Er ist Jahrgang 1935, aber das sieht man ihm nicht an. Er hat in Antakya, wo wir seit gestern sind, eine Klinik eröffnet, die ganz aus eigenen Mitteln bestückt wurde, mit kleiner Chirurgie und Notfallmedizin. Dr. Hassan hat die Tür offen für alle syrischen Kriegsverletzten. Er ist ein Syrer, der hervorragend Deutsch spricht, so gut, dass man zwischendurch badische und niedersächsische Elemente erkennt. 30 Jahre hat er in Deutschland gearbeitet. Und ist heute noch kein bisschen müde oder im Ruhestand. Er hat bestimmt schon 300 syrische Kriegsopfer behandelt. Einen jungen verletzten Syrer traf ich an der Grenze bei Güveçci Köyü, der begeistert von diesem Dr. Hassan erzählte, und dass er seine Wunde versorgt hätte. Er widmet sich voll und ganz den «syrischen Revolutionären», wie er in seiner jung-alten Sprache begeistert sagt. Er setzt darauf, dass in Syrien eine neue Zeit ohne Baschar al-Assad beginnt.
Die türkische Gesellschaft und die türkische Regierung leisten Hervorragendes bei der Versorgung der syrischen Flüchtlinge. Die Bereitwilligkeit, mit der die Bevölkerung hilft, kann man nur bewundern. Sie leistet aus eigenem Antrieb vielleicht sogar mehr, als ihre Regierung eigentlich will. Zumindest ist diese eifrig bemüht, die türkische und internationale Öffentlichkeit von den Flüchtlingen fernzuhalten. Wir hatten bereits vor Beginn unserer Reise beim türkischen Botschafter in Berlin und über die deutsche Botschaft in Ankara um Erlaubnis gebeten, die Flüchtlingslager besuchen zu dürfen – vergeblich. Nur ab und an erhalten ausgewählte Journalisten eine solche Genehmigung. Nun hatten wir gestern in dem Ort Yayladagi vor der Abfahrt unseres Busses nach Antakya noch Zeit und deshalb wollten wir versuchen, uns ein in der Nähe gelegenes Lager wenigstens von außen anzusehen.
Hidir fragte einen türkischen Polizisten nach dem Weg und erhielt die Auskunft, es seien gerade einmal 600 Meter. Wir hatten allerdings erst 300 davon zurückgelegt, als schon ein Wagen scharf neben uns bremste und drei Polizisten heraussprangen. Sie hielten uns an und fragten nach unseren Pässen. Hidir erstarrte zur Salzsäure, musste aber weiter für mich übersetzen. Ich fragte betont harmlos, was denn sei. Wir wären Touristen und gingen spazieren. Ob das verboten wäre? Doch die Beamten nahmen ungerührt unsere Personalien auf. Da griff ich zu meinem alten Trick und begann, eifrig alles in ein kleines Buch zu schreiben, was mir so auffiel, auch die Nummer des Polizeiwagens. Dies beunruhigte die Vertreter der Staatsmacht so sehr, dass sie gleich mein Notizbuch konfiszieren wollten. Ich musste mit der deutschen Botschaft drohen, um das zu verhindern. An das Lager kamen wir dennoch nicht näher heran. Als einer der drei, offenbar der Vorgesetzte, mir bedeutete, alles diene nur unserer eigenen Sicherheit, bedankte ich mich höflich und wir gingen zurück zu unserem Bus nach Antakya. Hidir war bass erstaunt, welchen Ton ich angeschlagen hätte. Einem türkischen Polizisten gehorcht und folgt man, aber man gibt keine Widerworte.
Warum die türkischen Behörden so darum bemüht sind, die Lager abzuschotten, erschließt sich mir nicht. Vielleicht hat es etwas mit dem Kurdenproblem zu tun. Seit die Revolution ausgebrochen ist, hat in den syrischen Kurdengebieten die PYD, die Partei der Demokratischen Union, an Einfluss gewonnen, die für die staatliche Einheit aller Kurden eintritt. Sie ist ein Ableger der PKK und wird deswegen in Ankara misstrauisch beäugt. Seit Assad seine Truppen aus dem Norden und Osten des Landes zurückzieht, um sein Kerngebiet zu sichern, sollen weite Teile der Kurdengebiete in der Hand der PYD sein – mit Billigung aus Damaskus, wie es heißt.
Waffen allerdings kommen jetzt wohl über die türkische Grenze nach Syrien, alte libysche Bestände, wie uns erzählt wird, es gibt aber keine Bilder und wir finden auch keine Augenzeugen. Die türkische Seite sollte von der deutschen Regierung gebeten werden, die Grenze nicht nur für Waffen, sondern auch für humanitäre Helfer, Ärzte, Aufbauhelfer zu öffnen. Das würde den Prozess der Erosion des Regimes beschleunigen, es würde Flüchtlingen die Rückkehr ermöglichen und den Menschen in den befreiten Zonen die Möglichkeit geben, wieder ein einigermaßen ruhiges Leben zu führen. Wir haben mit vielen hier über den Aufbau eines solchen deutschen humanitären Versorgungspunktes für maximal zwölf Monate gesprochen. Wir bekommen viel Zustimmung. Aber die Türkei spielt die Schlüsselrolle, um diese Form von Grenzen überschreitender Hilfe zu ermöglichen. Solange es dazu nicht kommt, wollen wir als Grünhelme versuchen, illegal Hilfe zu leisten. Die Region um Idlib, die wir von Güveçci Köyü aus hätten erreichen können, erscheint uns dafür allerdings noch zu unsicher. Wie wir hören, ist das Rebellendorf an der Grenze, das wir bei unserem Ausflug gesehen haben, von den Truppen Assads nach einem schweren Bombenangriff wieder zurückerobert worden. Wir wollen daher morgen unser Glück weiter im Nordosten versuchen und sehen, ob wir über die Grenze nach Azaz kommen.
Hatay, 18. Juli 2012
Nun werden wir zurückfliegen müssen, ohne einen Fuß in das befreite Syrien gesetzt zu haben. Nach Azaz muss man von Kilis, das auf der türkischen Seite liegt, geschmuggelt werden, da die Grenze für humanitäre Organisationen und westliche Beobachter noch nicht offen ist. Wolfgang Bauer hatte uns erzählt, wie er hinüber gelangt war, und uns seine Kontaktpersonen genannt. Wir waren daher guter Dinge, dass es uns ebenfalls gelingen würde. Es war auch alles vereinbart und wir hatten einen guten Preis ausgehandelt. Aber dann wollten unsere Kumpane auf türkischer Seite nicht mehr so recht. Wir sind noch nicht einmal in die Nähe der Grenze gekommen, da unsere Mittelsmänner alles unvermittelt abbliesen. Es seien am Morgen plötzlich Polizisten aufgetaucht, die einen Grenzübertritt unmöglich machten, lautete die etwas merkwürdige Begründung. Am Nachmittag könne man es eventuell versuchen. «Dann schlafen die Polizisten.» Das erschien uns dann aber doch zu windig und wenig Vertrauen erweckend, so dass wir nun unsererseits absagten. Wir vermuten, dass unsere Geschäftspartner für den ursprünglich vereinbarten Termin schlicht ein lukrativeres Angebot erhalten haben und deshalb jemand anderen hinüberbringen wollten.
Wie wir hörten, blüht im syrisch-türkischen Grenzgebiet inzwischen das Flüchtlingsschlepper- und Schleusergeschäft. Clevere Autobesitzer können viel Geld verdienen: Der Krieg ernährt den Krieg. Würde die Grenze geöffnet, wäre ihnen allen das Geschäft entzogen. Aber ganz sicher wird das Treiben genauso weiter gehen wie der Krieg selber. Es kann sogar sein, dass er erst jetzt in die schlimmstmögliche Phase tritt. Denn immer mehr Funktionsträger und einfache Soldaten lassen den Herrscher in Damaskus im Stich. Der syrische Botschafter in Bagdad, der General, der sich nach Frankreich abgesetzt hat, die vielen Deserteure, die das Morden an der eigenen Bevölkerung nicht mehr aushalten. Der Zusammenhalt unter den Flüchtlingen scheint demgegenüber zuzunehmen. Die Parole gilt, von der uns die Flüchtlinge erzählen, dass sie bei den Demonstrationen hochgehalten wird: «Keine Sunniten, keine Alawiten, keine Drusen, keine Kurden, keine Ismaeliten. Wir sind alle Syrer!»
Azaz, 4. September 2012
Nach einem ereignisreichen Tag sitzen wir alle vier zusammen auf dem Dach des Hospitals in Azaz und arbeiten an unseren Computern. Bernd Blechschmidt ist bei mir, Mechaniker und Ingenieur aus Berlin, Dr. Saru Murad, ein Deutsch-Syrer mit Erfahrungen im Baugewerbe, und Frank Nordhausen, Korrespondent für die Berliner Zeitung und die Frankfurter Rundschau, der morgen weiter fahren will nach Afrin, um von dort über die Lage der Kurden zu berichten.
Das Leiden der Syrer hat mir keine Ruhe gelassen, seit ich aus der Türkei zurückgekehrt bin. In den letzten Wochen haben wir Pläne geschmiedet und versucht, uns ein Bild der Lage zu machen. Am Ende ging alles sehr schnell. Ayman Mazyek vom Zentralrat der Muslime, mein Stellvertreter im Vorstand der Grünhelme, hat mich am 22. August auf einen Artikel von Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung hingewiesen, in dem Syrien zum Vietnam unserer Tage erklärt wurde. Mazyek war der Meinung, man müsse nun endlich eine große Hilfsaktion starten für das syrische Volk, und sprach mir damit aus der Seele. Zugleich hörten wir über Wolfgang Bauer von der ZEIT, der im August wieder in Azaz gewesen war und uns Kontakte dorthin vermittelt hatte, die Türkei habe jetzt für Humanitäre die Grenze aufgemacht. Man könne einfach hinüber und müsse sich nicht mehr schmuggeln lassen. Nun waren wir uns sicher, dass wir es in Azaz versuchen wollten, zumal es so nahe an der türkischen Grenze liegt, dass wir im Notfall schnell zurückweichen können.
Aber dass ich heute schon im befreiten Syrien sein würde, hätte ich nicht gedacht. Vor einer Woche erst haben wir Grünhelme unseren Aufruf für eine große Hilfsaktion in Syrien veröffentlicht und um Unterstützung für unseren Einsatz in Azaz gebeten. Gestern saßen Bernd, Saru und ich schon im Flugzeug nach Gaziantep, wohin im Sommer von Deutschland aus Direktflüge gehen. Heute Morgen haben wir uns von dort aus auf den Weg gemacht.
Wish you Safty: Der Grenzübergang bei Kilis.
Frank Nordhausen, auch einer, den ich schon seit Jahren kenne, stößt in Gaziantep zu uns. Wir haben kaum Zeit, noch SIM Cards für unsere Handys zu kaufen und Geld umzutauschen, dann ist Frank Nordhausen auch schon da und wir können losfahren in einem Kleinbus vom Typ Dolmus. Meine Spannung steigt, denn ich hatte ja nur gehört, dass die Grenze nach Syrien jetzt offen sein soll. Wir fahren an einem großen Stausee vorbei und kommen nach Kilis und dann an den Grenzübergang. Ich habe einen so langen Grenzübergang und ein so weites Niemandsland noch nie erlebt. An der Grenze winken uns zwei türkische Polizisten durch. Wir müssen nun zu Fuß weiter und gehen einen Kilometer durch die Stacheldrahtverhaue, rechts von uns ist ein Flüchtlingslager aufgebaut, was eigentlich den Regeln des UNHCR widerspricht, denn Flüchtlinge müssen zu ihrer eigenen Sicherheit in gebührender Entfernung zur Grenze untergebracht werden. Es kommt noch eine Zwischenkontrolle, dann nach weiteren 250 Metern die wirkliche Passkontrolle und der Stempel der türkischen Seite. Nun geht es weiter auf die syrische Seite zu. Herrlich, die Revolution hat den ersten Grenzposten übernommen!
«Free Syria» steht da in großen Lettern. Und es steht auch da «Syrian Arab Repablik». Das A sticht mir sympathisch ins Auge. Immer wenn große Dinge auf dieser Welt passieren, geht es nicht mehr um Rechtschreibung, sondern um das größere Ganze. Auf demselben Plakat in lateinischen Lettern, die in dem arabischsprachigen Syrien nicht die Regel sind, steht auch noch «Wish you Safty». Der neue Staat muss so schnell entstehen, dass man keine Zeit hat, Leute aus der Etappe zu besorgen, die ordentlich Englisch gelernt haben in einem Land, in dem lange Zeit Französisch bevorzugt wurde. Denn zwischen den Weltkriegen war Syrien französisches Mandatsgebiet.
Es ist eine berührend freundliche Atmosphäre, die uns, den seltenen Besuchern, hier entgegenschlägt an dem ersten Übergang, der von der FSA erobert wurde. Die Spuren der Kämpfe um dieses weitläufige und als Übergang zum wohl wichtigsten unmittelbaren Nachbarland Syriens strategisch bedeutsame Areal sind noch überall zu besichtigen. Von der Wartehalle mit den beiden Korridoren für Ein- und Ausreise dringt emsige Betriebsamkeit zu uns hinüber, so dass man sich schon denken kann: Wir müssen uns für eine Weile in die Reihe derer stellen, die den Stempel für die Einreise bekommen wollen. Hier herrscht der Wind, ja der Sturmbote einer ganz neuen Zeit, der uns erst einmal an der Grenze festhält. Und als wir schließlich im Land sind, stellt sich heraus, dass man uns den falschen Stempel in den Pass gedrückt hat, nämlich den für die Ausreise. Es ist alles noch ziemlich improvisiert in der «Free Syria Repablic».
Nach Azaz ist es von der Grenze nicht weit. Wir sind erschrocken, wie viel hier während der Kämpfe und durch die Bombardierungen der syrischen Luftwaffe zerstört worden ist. Ganze Viertel sind so gut wie dem Erdboden gleich gemacht worden. An den am schlimmsten getroffenen Stellen ist von den Gebäuden nicht mehr übrig als Halden von Betonresten und Schutt, aus denen die Stahlträger ragen. Ab und an steht ein abgeschossener Panzer mitten auf der Straße. Wer hält es aus, hier zu leben, fragen wir uns? Werden nicht die meisten Bewohner geflohen sein? Können wir hier überhaupt schon arbeiten? Wird es genug Hilfskräfte und Baumaterialien geben, um mit dem Wiederaufbau zu beginnen?
Wir gehen direkt ins Hospital, zu dem wir im Vorfeld über die Beziehungen von Wolfgang Bauer Kontakt aufgenommen hatten. Dort ist alles improvisiert und spontan. Wir werden enthusiastisch begrüßt durch den Helden der Revolution, den Chefarzt Dr. Anaz Hiraki. Dr. Anaz ist eigentlich weder Chef noch Arzt, sondern Anästhesie-Krankenpfleger, und er kann auch kein Englisch, aber durch sein persönliches Vorbild gibt er allen ein Beispiel und hat durch seinen Mut und seine Ausdauer eine Autorität gewonnen, die einem Chefarzt gleichkommt. Zwei 400-Kilogramm-Vakuumbomben, die im Juni/Juli mitten in Azaz nieder gegangen sind, haben fast alle Fensterscheiben im Ort zerstört, auch die im Hospital. Die OP-Säle sind deshalb praktisch nicht zu benutzen. Dies wieder in Ordnung zu bringen und das Hospital nach Kräften zu unterstützen, soll unsere erste Aufgabe im befreiten Syrien sein.
Die Pioniere (von links nach rechts): Bernd Blechschmidt, Saru Murad, ein syrischer Mitarbeiter, Rupert Neudeck, Frank Nordhausen.
Um uns willkommen zu heißen, wird erst einmal ein Essen aufgetragen. Nach arabischer Art weist uns Dr. Anaz die besten Stücke zu und wir können uns gleich akklimatisieren an das Leben in der Revolution. Denn es gibt weder Tisch noch Kantine, wie wir Mitteleuropäer es gewöhnt sind. Gegessen wird im Flur des Krankenhauses. Wir hocken mit dem Rücken zur Wand einander gegenüber und haben das Essen vor uns auf dem Boden – ein kommunikationsförderndes Arrangement, das schnell die Distanz zwischen uns schwinden lässt.
Ein weiteres Detail fällt dem Mitteleuropäer sofort auf: Es wird hier überall geraucht. Rauchverbote, wie sie bei uns bald flächendeckend herrschen, gelten in der Revolution nicht. Auch nicht im OP, frage ich mich? Vielleicht gehört das Rauchen zu Revolutionen dazu. Es ist, wie ich am eigenen Leib merke, ein gutes Mittel um mit der dauerhaften Bedrohung zurechtzukommen, unter der man hier lebt. Alle leiden unter permanenter Nervosität, die mit Zigaretten bekämpft wird. Ein leichter Schock ist für mich, dass auch im Hospital fast alle Waffen tragen. Die Genfer Konvention, die ich als Grundlage für meine Arbeit betrachte, verbietet Waffen in Krankenhäusern. Auch Soldaten müssten sie dort eigentlich ablegen. Mal sehen, ob wir das auch hier durchsetzen können. Ich fühle mich unwohl unter all den Bewaffneten.
Dr. Anaz ist ein Tausendsassa, einer, den man zum Präsidenten der Freien Republik Syrien wählen könnte, wenn er sich aufstellen lassen würde. Er ist nicht nur trotz der Luftangriffe in Azaz geblieben, er schläft jede Nacht im Krankenhaus, seine Familie lebt und überlebt in Daraa, der Stadt, von der die Revolution am 17. März 2011 ausgegangen ist. Gläubig, aber nicht extremistisch will er übermorgen für den Sieg in Aleppo fasten, wie er uns erzählt. Wir fragen ihn, ob wir auch im Hospital leben können während unserer Arbeit in Azaz. Er weist uns ohne Zögern ein Zimmer zu, in das wir sofort mit Sack und Pack einziehen. Morgen wollen wir uns genauer im Ort umsehen und prüfen, ob wir mit der Arbeit beginnen können.
Azaz, 5. September 2012
Wir sitzen auf dem Dach des Hospitals und erholen uns. Heute sind wir vier Stunden beim Kommandeur Abu Ibrahim von der FSA gewesen. Ein sehr eindrucksvoller Mann, mit dem man über alles reden kann. Im zivilen Leben vor der Revolution war er ein Gemüsehändler. Wie viele Soldaten hat er bisher verloren? 41 – sagt er ganz traurig, und alle 41 habe er vor seinen Augen fallen sehen. Bereitwillig antwortet er auf die Frage, wie gefährlich für ihn das Leben sei: Auf seinen Kopf sei die Summe von umgerechnet drei Millionen Euro ausgesetzt worden.
Ja, sagt er, es gebe unter den Aufständischen Dschihadisten, die seien aber eine kleine Minderheit von fünf Prozent. Man versuche sie einzubinden, obwohl man mit ihren Positionen nicht einverstanden sei. Die FSA habe ein Islamisches Gericht, ein Schariagericht, eingerichtet in der Hoffnung, dass damit den Heißspornen unter den Fundamentalisten eine Grenze gesetzt wird.
Haus ohne Fensterscheiben: Schäden am Krankenhaus von Azaz.
Gegenüber den Kurden zieht der Kommandeur ebenfalls eine klare Linie, sie seien beim Befreiungskampf willkommen, aber nur, wenn sie syrienbestimmt seien, nicht, wenn sie eine türkische Agenda hätten. Mit der PKK wolle man nichts zu tun haben, die werde von Assad ausgerüstet als letzte Reserve des Regimes. Und sie störe auch die ansonsten guten Beziehungen zur Türkei. Deshalb sei das künftige Verhältnis zu den Kurden noch offen. Unter ihnen gebe es elf verschiedene Gruppierungen, nach Meinung von Abu Ibrahim sollten sie sich erst einmal selbst einigen.
Wie es scheint, ist der syrische Widerstand mittlerweile dabei, eine Kommandostruktur der FSA-Einheiten zu bilden, um die Operationen in und von Aleppo aus zu leiten. Die Opposition versuche parallel, so Abu Ibrahim, auch einen zivilen Widerstand und eine Übergangsverwaltung aufzubauen. Ausdrücklich zivile Personen leiteten das politische Büro der FSA in Azaz und den Zoll- und Passübergang nach Kilis in der Türkei. Nach meinem Eindruck von dem Gespräch mit dem Kommandeur ist die FSA eine nur aus Not und auf Zeit bewaffnete, gut organisierte und disziplinierte Truppe, die für die Freiheit des syrischen Volkes und die Interessen der Zivilbevölkerung kämpft. Aber natürlich habe ich nur einen kleinen Ausschnitt gesehen und weiß nicht, wie es sich in den anderen Regionen verhält.
Es könnte sein, dass die Assad-Propaganda gleich zwei Nachrichten bis in unsere Medien hat streuen können, die bei uns bereitwillig aufgegriffen wurden, ohne viel Entsprechung in der Realität zu besitzen. Die ausländischen Kämpfer, die sich in Syrien befinden sollen, suchen wir hier vergebens, wir finden nicht einen ausländischen Soldaten. Und der Kommandeur der FSA-Einheiten hat keine der schweren Waffen, die ihm aus der Türkei, Saudi-Arabien, Katar oder von der CIA bereitwillig gegeben worden sein sollen. Abu Ibrahim lebt mit seinen 1500 Kämpfern, davon 85 Prozent aus den zivilen Rängen der Bevölkerung, von den Waffen, die die FSA der Regierungsarmee abgenommen hat.
Azaz, 6. September 2012
Heute Morgen sind wir nicht durch den Muezzin-Ruf wach geworden, sondern durch einen noch lauteren, schrillen Klagelaut über eine Frau, die gestorben ist. Wir sahen die Trauergemeinde losziehen über die Straße am von der Bevölkerung zerstörten Gebäude der syrischen Geheimdienste vorbei. Wir schlossen uns an und folgten dem Zug an der großen durch die Bombardierungen schwer beschädigten Moschee vorbei, an der die Namen von ca. 90 gefallenen Widerstandskämpfern gegen das Regime hängen, wie Saru Murad gezählt hat.
Wie sicher ist es gegenwärtig in Azaz? Die Stadt scheint fest in der Hand der Revolution zu sein. Am Boden kann Assad hier offenbar nichts mehr ausrichten, es bleiben ihm nur die Schläge aus der Luft, wodurch der Hass auf ihn immer größer wird. Gefahr geht nur noch von einem Militärflughafen aus, der sich etwa sieben Kilometer von Azaz entfernt befindet und noch in der Hand der Regierungstruppen ist. Er ist umzingelt von Kämpfern der FSA und kann nur noch aus der Luft versorgt werden. Die Assad-Truppen können den Ring nicht mehr sprengen. Umgekehrt kann aber auch die FSA den Flugplatz nicht erobern. Dafür fehlen ihr schwere Waffen. «Ich kann den Flughafen nicht einnehmen, dann verliere ich zu viele meiner jungen Leute», hat uns der Kommandeur Abu Ibrahim gesagt. Daher beschränkt er sich auf gelegentliche Angriffe. Wenn diese erfolgen, sucht die Bevölkerung Schutz, denn dann können Granaten bis nach Azaz fliegen oder Gegenangriffe