Hanser E-Book
Der Condottiere
Roman
Aus dem Französischen
und mit einem Nachwort
von Jürgen Ritte
Carl Hanser Verlag
Die französische Originalausgabe erschien 2012
unter dem Titel Le Condottière bei Seuil in Paris.
ISBN 978-3-446-24442-9
© Éditions du Seuil 2012
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Carl Hanser Verlag München 2013
Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München,
unter Verwendung des Gemäldes »Bildnis eines Mannes, genannt Il Condottiere (Der Söldnerführer)« (1475) von Antonello da Messina
Satz: Memminger MedienCentrum AG, Memmingen
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für Jacques Lederer
Wie so viele andere, bin ich in die Hölle hinab-
gestiegen, und wie nur manche, bin ich ihr
mehr oder weniger wieder entronnen.
Und ich will mir erstens ins Gedächtnis rufen,
welches die Dinge sind, die ich früher auf
Grund sinnlicher Wahrnehmung für wirklich
hielt, und auf welchen Grundlagen ich sie da-
für hielt; sodann will ich die Gründe prüfen,
aus denen ich sie später in Zweifel gezogen
habe, und endlich überlegen, was ich jetzt von
ihnen zu halten habe.
Madera war schwer. Ich hatte ihn unter den Achseln gepackt und bin rückwärts die Treppe hinunter ins Labor gestiegen. Seine Füße schlugen über die Stufen, und dieses ruckhafte Aufprallen hallte im unregelmäßigen Rhythmus meines Abstiegs hart vom engen Gewölbe zurück. An den Wänden tanzten unsere Schatten. Sein Blut floss noch immer, war schlierig, drang aus dem vollgesogenen Frottee-Handtuch, ergoss sich in raschen Rinnsalen über die seidenen Revers, verlor sich in den Falten seines Jacketts. Klebrige, leicht schillernde Fäden, die an der kleinsten Unebenheit des Stoffes haltmachten und zuweilen bis zum Boden perlten, wo die Tropfen zu sternförmigen Flecken explodierten. Ich habe ihn unten an der Treppe, gleich neben der Tür zum Labor abgelegt und bin wieder hinaufgestiegen, um das Rasiermesser zu holen und die Blutflecken aufzuwischen, bevor Otto zurückkäme. Aber Otto war durch die andere Tür fast zur selben Zeit wie ich eingetreten. Er hat mich angeschaut, ohne zu begreifen. Ich habe den Rückzug angetreten, bin die Treppe hinuntergerannt, habe mich im Labor eingeschlossen. Ich habe die Tür verriegelt und sie mit dem Schrank blockiert. Er ist ein paar Minuten später hinuntergekommen, hat versucht, die Tür aufzustoßen, die Tür hat ihm widerstanden, er ist die Treppe wieder hinaufgestiegen und hat Madera mit sich hochgezogen. Ich habe die Türblockade noch mit der Werkbank verstärkt. Wenig später ist er zurückgekommen. Er hat nach mir gerufen. Er hat mit dem Revolver zweimal auf die Tür geschossen.
Da siehst du’s, du hast dir vielleicht gesagt, dass alles ganz einfach sei. Niemand im Haus, niemand in der Nähe. Wenn Otto nicht so schnell zurückgekommen wäre, wo wärest du jetzt? Du weißt es nicht, du bist hier. In diesem Labor, wie immer, und nichts hat sich geändert, oder nur sehr wenig. Madera ist tot. Und weiter? Du sitzt noch immer in dieser unterirdischen Werkstatt, die einfach nur etwas unordentlicher, etwas schmutziger ist. Es ist dasselbe Tageslicht, das durchs Kellerfenster sickert. Der Condottiere, gekreuzigt auf seiner Staffelei ...
Er hatte um sich herum geschaut. Es war derselbe Schreibtisch – dieselbe Glasplatte, dasselbe Telefon, derselbe Tischkalender auf seinem verchromten Stahlsockel. Da war immer noch diese strenge Kälte, diese strikte Ordnung eines entschlackten Stils, diese eisige Harmonie der Farben – das Dunkelgrün des Teppichbodens, das Fahlrot der Ledersessel, der leichte Ockerton der Wandbespannung –, diese unpersönliche Diskretion, die großen metallenen Aktenschränke ... Aber plötzlich schuf die schlaffe Masse von Maderas Körper den Eindruck des Grotesken. Eine falsche Note, etwas leicht Inkohärentes, Anachronistisches ... Er war von seinem Stuhl gerutscht und lag auf dem Rücken, die Augen halb geschlossen, der leicht geöffnete Mund erstarrt zu einem Ausdruck idiotischen Erstaunens, der noch akzentuiert wurde vom stumpfen Glanz eines Goldzahns. Aus der durchtrennten Kehle quoll das Blut in dickflüssigen Schüben, rann auf den Boden, durchtränkte nach und nach den Teppich, und dieser diffuse, ins Schwarze spielende Fleck, der sich um Maderas Gesicht herum immer weiter ausbreitete, um dieses schon bedenklich weiße Gesicht herum immer weiter ausbreitete, dieser warme, lebendige, animalische Fleck ergriff langsam Besitz von dem ganzen Raum, als ob die Mauern schon vollgesogen seien, als ob diese Ordnung, diese Strenge mit einem Male erschüttert, vernichtet, verwüstet worden sei, als ob nichts anderes mehr existierte als dieser immer weiter ausstrahlende Fleck, als diese abstoßende, lächerliche Masse, dieser aufblühende, ausufernde, grenzenlose Kadaver ...
Warum? Warum hat er diesen Satz gesagt?: »Ich glaube, dass es keine Schwierigkeiten geben wird.« Er versucht, den exakten Tonfall von Maderas Stimme wiederzufinden, dieses Timbre, das ihn beim ersten Mal, als er es hörte, überrascht hatte, dieses ganz leichte Lispeln, dieser etwas zögerliche Singsang, dieses fast unvernehmliche Holpern der Wörter, als ob er stolpere oder zu stolpern drohe, als ob er jeden Augenblick fürchtete, einen Fehler zu begehen. Ich glaube, dass. Was für eine Nationalität? Spanien? Südamerika? Ein Akzent? Ein gewollter Akzent? Schwierigkeiten. Nein. Alles viel einfacher: eine etwas kehlige Stimme. Oder eine eher rauhe Stimme? Er sieht ihn wieder vor sich, wie er mit ausgestreckter Hand auf ihn zukommt: »Gaspard – so muss ich Sie doch ansprechen, oder? – ich bin wirklich entzückt, Sie kennenzulernen.« Und dann? Sagte ihm all das nichts Gutes? Was machte er hier? Was wollte er von ihm? Rufus hatte ihn nicht vorgewarnt ...
Man täuscht sich immer. Man glaubt, dass die Dinge sich ergeben, dass sie ihren normalen Verlauf nehmen. Aber es lässt sich nichts vorhersehen. Es ist so leicht, sich Illusionen zu machen. Und Sie, was wünschen Sie? Wollen Sie ein Gemälde? Ein schönes Renaissance-Gemälde? Das lässt sich einrichten. Warum nicht gleich einen Condottiere ....
Sein schlaffes, etwas geckenhaftes Gesicht. Seine Krawatte. »Rufus hat mir viel von Ihnen erzählt.« Na und dann? Leichtes Spiel! Du hättest aufpassen sollen, du hättest dich in Acht nehmen müssen ... Dieser Herr, von dem du rein gar nichts wusstest ... Aber du hast dich auf die Gelegenheit gestürzt. Alles zu einfach. Und jetzt. Jetzt das ...
Um es bis hierher zu bringen. Er überschlägt rasch die Kosten: das ganze Geld, das für die Einrichtung des Labors ausgegeben worden ist, die Materialien, die Reproduktionen – Fotografien, Makrofotografien, Radiographien, Schwarzlichtaufnahmen, Reliefaufnahmen –, die Projektoren, die Reisen zu den europäischen Museen, sein Unterhalt ... Diese phantastische Summe, und am Ende diese Posse ... War da irgendetwas komisch gewesen an diesem blödsinnigen Eingesperrtsein? Er saß an seinem Tisch, als sei nichts geschehen ... Das war am Vorabend ... Aber oben, Maderas Körper in seiner Blutlache ... Und Otto, der treu Wache schob, seine schweren Schritte. Das alles, um es bis hierher zu bringen! Wo wäre er jetzt, wenn ...? Er denkt an die Sonne über den Balearen – vielleicht hätte es nur einer Geste seinerseits bedurft, vor anderthalb Jahren –, Geneviève wäre in seiner Nähe ... der Strand, die untergehende Sonne ... eine hübsche Postkarte ... Hört hier nun alles auf?
Er erinnerte sich jetzt an die kleinste seiner Bewegungen: Er hatte gerade eine Zigarette angezündet, stand mit leicht ausgestellter Hüfte da, stützte sich mit einer Hand auf den Tisch. Er betrachtete den Condottiere. Dann drückte er hastig die Zigarette aus. Seine linke Hand streifte über den Tisch, hielt inne, griff ein Stück Stoff, zerknüllte es, ein altes Taschentuch, ein Lappen für seine Pinsel. Es war alles aus. Er stützte sich immer schwerer auf den Tisch, ohne dabei den Condottiere aus den Augen zu lassen. Tage und Tage vergeblicher Mühen? Als sei hinter seinem Überdruss nach und nach, und ihrer Sache gewiss, die Wut in ihm aufgestiegen. Seine Hand zerknüllte den Stoff, seine Nägel kratzten über das Holz. Er richtete sich wieder auf, trat an die Werkbank, kramte zwischen den zerstreuten Gerätschaften ...
Ein schwarzes Futteral aus verhärtetem Leder. Ein Griff aus Ebenholz. Eine blitzende Klinge. Er hielt sie ans Licht und überprüfte ihre Schärfe. Woran dachte er? Es schien ihm, als ob außer dieser Wut und diesem Überdruss nichts mehr existiere ... Er ließ sich, den Kopf zwischen den Händen, in den Sessel fallen, das Rasiermesser, nur wenige Zentimeter von seinen Augen entfernt, hob sich scharf und klar von dem gefährlich glatten Wams des Condottiere ab. Ein einziger Schnitt und Quiek ... Ein einziger Schnitt würde genügen ... Der erhobene Arm, die aufblitzende Klinge ... eine einzige Geste ... er würde sich langsam nähern, der Teppichboden würde das Geräusch seiner Schritte schlucken, er würde sich hinter Madera schleichen ...
Eine Viertelstunde war vielleicht verstrichen. Woher kam die Empfindung längst vergangener Gesten? Des fast schon Vergessenen? Wo war er? Er war hinaufgegangen. Er war wieder heruntergekommen. Madera war tot. Otto schob Wache. Und nun? Otto würde Rufus anrufen, Rufus würde kommen. Und dann? Wenn Otto Rufus nicht erreichte? Wo war Rufus? Davon hing alles ab. Von dieser idiotischen Wette. Wenn Rufus käme, wäre er tot, wenn Otto Rufus nicht erreichte, bliebe er am Leben. Für wie lange noch? Otto war bewaffnet. Das Kellerfenster lag zu hoch und war zu eng. Würde Otto einschlafen? Braucht ein Mann, der Wache schiebt, Schlaf ...
Er würde sterben. Diese Vorstellung beruhigte ihn wie ein Versprechen. Er lebte, er würde sterben. Und danach? Leonardo ist tot, Antonello ist tot, und ich fühle mich auch nicht besonders gut. Ein dummer Tod. Opfer der Ereignisse. Opfer des Pechs, des Ungeschicks, eines Fehlers. In Abwesenheit verurteilt. Einstimmig, mit einer Ausnahme – welcher? –, dazu verurteilt, wie eine Ratte im Kellerloch zu sterben, unter einem guten Dutzend ungerührter Blicke – Reliefaufnahmen und Röntgenbilder, alles zu exorbitanten Preisen den Laboratorien des Louvre abgekauft –, dazu verurteilt zu sterben, weil er getötet hatte, dieses gute alte Gesetz der Vergeltung – Gleiches mit Gleichem vergällen –, diese gute althergebrachte Moral, der Tod ist der Anbeginn des Lebens des Geistes – verurteilt zu sterben wegen einer Verkettung von Umständen, eines wirren Zusammentreffens von ein paar winzigen Begebenheiten ... Rund um die Erde verliefen unterseeische Kabel und Drähte ... Hallo, Paris, hier Dreux, legen Sie nicht auf, wir verbinden Sie mit Dampierre. Hallo, Dampierre. Sie haben eine Leitung nach Paris. Sprechen Sie jetzt! Wer hätte sich diese friedlichen Telefonisten mit ihren Kopfhörern als unfehlbare Henker vorstellen können ... Hallo, Herr Koenig, hier ist Otto, Madera ist gerade gestorben ...
Der Porsche wird durch die schwarze Nacht jagen, seine Scheinwerfer werden zu Flammen speienden Drachen. Es wird keinen Unfall geben. Mitten in der Nacht wird Otto öffnen. Mitten in der Nacht werden sie ihn holen.
Und wennschon. Was soll dich das kratzen? Sie werden dich holen. Und dann? Lass dich in einen Sessel fallen und schau bis der Tod eintritt diesem großen Witzbold von einem Messerstecher, diesem unsäglichen Condottiere in die Augen. Verantwortlich oder nicht verantwortlich? Schuldig oder nicht schuldig? Ich bin unschuldig, wirst du brüllen, wenn sie dich bis zum Fuß der Guillotine schleifen. Das werden wir gleich feststellen, wird der Henker antworten. Und das Fallbeil wird klacken. Quiek. Die Justiz in ihrer ganzen Evidenz. Oder ist das nicht evident? Ist das nicht ordnungsgemäß? Warum sollte es ein anderes Ende nehmen?
Als er, reichlich blöde und wie festgewachsen mitten im Salon stehend, sah, wie sie mit Juliette im Schlepptau, die von den Ereignissen leicht überfordert schien, die Eingangshalle betrat und dann an der Schwelle, wahrscheinlich weil sie gerade seine Anwesenheit bemerkt hatte, zu zögern schien, bevor sie entschlossenen Schrittes auf Rufus zutrat, da – Was da? Er hatte sich nicht gerührt. Er hatte sich zunutze gemacht, dass er, vom Kaminfeuer genauso weit entfernt wie von den Lampen über der Bar, mehr oder weniger im Dunkeln stand, und sich nicht bewegt. Unerschütterlich. Das Einzige, was er nicht hätte tun sollen. Das Letzte. Sich nicht rühren. Der Reflex der Würde. Was hatte das mit Würde zu schaffen? Es war das beste Mittel, etwas nicht mehr rückgängig zu machen, was in der Minute zuvor noch als Missverständnis hätte durchgehen können. Warum diese plötzliche Mumifizierung? Warum auf die heuchlerischste Art der Welt so tun, als sei er überrascht, und wie ein gut dressiertes Hündchen »Platz« zu machen, wo er doch seit mindestens einer Stunde auf sie gewartet hatte, und sich gleichzeitig bei Rufus und Juliette bestätigen lassen wollte, dass sie nicht kommen würde? Wie angeschraubt und festgenagelt! Diese bizarre Pose, mitten im Salon, ein Glas in der Hand, würdig und weihevoll, ganz in Würde gewandet, bemüht, den Anschein zu wahren, indem er, allerdings ohne großen Erfolg, die Steifheit und das Unbeteiligte der Betrunkenen annahm, vor allem darauf bedacht, auf sein Herzklopfen zu hören, nicht den Mut aufbringend, irgendwohin zu schauen, nicht den Mut aufbringend, sein Glas zu leeren. Er hätte sprechen, schreien, brüllen können. Er hätte sich ihr nähern können. Er hätte egal was tun können. Aber nein, nichts, keine Bewegung. Kein Zusammenziehen der Augenbrauen, kein Wimpernschlag, nicht einmal ein Atemzug ...
Der erhobene Arm, das Aufblitzen der Klinge. Er war wie eine einzige Masse in sich zusammengesunken, badete in seinem Blut. Dick und fett, mit frischer Gesichtsfarbe. Dann der schlaffe Sack auf den Stufen, mit seinem fleckigen Hemd und dem vor lauter Blut roten Handtuch um den Hals, eine Vogelscheuche aus Schweinsblasen, denen langsam die Luft entwich ...
Du weißt nichts. Du hast dich für den Stärkeren gehalten. Du hast geglaubt, es sei so weit. Der Rausch, die Welt, alles dein. Du bist nicht mehr als ein Penner, kaum in der Lage, einen Kreis zu zeichnen, Du bist ein Schlappschwanz. Alles, was passiert ist, geschieht dir recht, da siehst du, was du davon hast, den Schlaumeier zu spielen, einen auf kleiner Soldat zu machen. Worauf sollte diese ganze Geschichte denn hinauslaufen? Monsieur von und zu Antonello, der nicht einmal richtig in der Lage ist, einen anständigen gesso duro hinzukriegen. Hat wohl geglaubt, der größte Fälscher in the world zu sein, was? Hat sich gedacht, dass es vielleicht ganz lustig sei, etwas echt Altes zu fabrizieren, ein prima Renaissance-Porträt. Hat sich gesagt, warum nicht, nur zu, Alter, immer noch besser, als Erbsen zu zählen. Natürlich. Aber der kleine Condottiere lässt sich nicht so einfach einwickeln. Ist nicht mehr grün hinter den Ohren. Hat was in der Birne. Hat immer ein paar Trümpfe im Ärmel. Du hingegen, du bist naiv wie ein Chorknabe, du hast keinen Grips im Kopf, du hast keinerlei Erfahrung. Du bist weniger als nichts.
Irgendetwas Undurchsichtiges. Was war undurchsichtig? Irgendetwas, das er nicht begreifen konnte. Eine Verkettung, eine Verbindung. Ein Zwischenglied. Altenberg, Genf, Split, Sarajevo, Belgrad. Und dann Paris. Und dann Rufus. Und dann Madera? Und dazwischen? Der Cocktailabend, oder der Vorabend, oder der Tag danach. Erst einmal nichts. Keine besonderen Vorkommnisse. Die Monotonie der Tage. Und dann Tatsachen, eine Geschichte, ein Schicksal, eine Karikatur von einem Schicksal. Und zum Schluss diese Evidenz, diese blutige Masse, Maderas Körper, das Blut, das zwischen den Stuhlbeinen versickerte ...
Ausbrechen, natürlich, aber wozu? Was hast du vor dir? Ein bisschen Gips, ein paar Ziegel, ein paar Steine, ein bisschen harte Erde. Wie viel Meter? Ein Loch von der Breite eines Menschen, ungefähr in der Höhe des Kellerfensters. Wie viel Stunden? Und wieder schießt dir, trocken und brutal wie eine Ohrfeige, das immer gleiche Bild durch den Kopf: Rufus bricht in die Werkstatt ein, findet dich auf deinem Bett kauernd vor, inmitten von Zigarettenstummeln, halb verhüllt von Rauschschwaden ... Otto hat telefoniert. War Rufus gerade ausgegangen? Warum sollte er um vier Uhr nachmittags in seinem Hotel sein? Otto würde heute Abend wieder anrufen ... Dir bleibt noch eine Chance. Du hast noch ein paar Stunden vor dir ... Zeit genug, um nach dem entsprechenden Werkzeug zu suchen ...
Wo auch immer – eines Tages wird ein Telefon surren, wird sich eine ferne Stimme vernehmen lassen, wirst du Schritte hören, wird eine Hand dreimal ganz leise an deine Tür klopfen, wird eine Hand sich auf deine Schulter legen, ganz gleich wo, ganz gleich wann, in der Metro, an einem Strand, auf der Straße, in einem Bahnhof. Ein Tag, ein Monat, ein Jahr werden vergangen sein, du wirst Hunderte oder Tausende von Kilometern hinter dir haben, und plötzlich wird jemand nach dir rufen, auf dich zukommen, ein Blick wird eine Sekunde lang den deinen streifen und gleich wieder verschwinden. Der Zug fährt durch die Nacht. Das Abteil ist leer. Verschwommene Bilder. Du wirst auf deinem Bett liegen, du wirst nichts tun können. Wer wird dich als Erster entdecken: Rufus oder die Polizei? Zunächst er, dann sie? Eine hübsche Szene für ein Melodram, der ausgestreckte, rächende Zeigefinger – da ist er wir haben ihn los ihr kühnen Recken legt euch in die Riemen –, und dann die dicken Balken in den Zeitungen. Heute der Prozess. Das Ereignis. Acht Spalten. Die enthauptete Leiche in einer Gasse. Zeig dem Volk meinen Kopf. Sekunde um Sekunde. Die Waggons rappeln über den Schienenzargen. Alle zwanzig Meter? Du fliehst. Du fliehst mit hundertzwanzig Kilometern pro Stunde. Du sitzt in einem leeren Zug, der mit hundertzwanzig Sachen dahinrauscht. Du sitzt in Fahrtrichtung, in der Ecke gleich am Fenster. Hinter der kalten Scheibe glimmen zuweilen fahle Lichter auf. Wo fährst du hin? Nach Genua, nach Rom, nach München. Ganz gleich wohin. Wovor fliehst du? Die ganze Welt weiß von deiner Flucht, du kommst nicht von der Stelle, der Mond am Horizont bewegt sich genauso schnell wie du. Ganz gleich wohin, Hauptsache, nicht mehr in dieser Welt. Du wirst es nie dorthin bringen.
Ihm war kalt. Die Zigarette, die er auf den Boden hatte fallen lassen, verglomm langsam. Ein dünner, senkrechter Rauchfaden stieg fast direkt vor seinen Augen auf, verzog sich zu unregelmäßigen Schlingen, wand sich noch ein paar Sekunden lang und löste sich dann wie unter der Einwirkung eines unsichtbaren Luftzugs auf, der wer weiß woher kam, vielleicht vom Kellerfenster.
Die Wahrheit. Nichts als die Wahrheit. Ich habe Madera getötet. Ich habe Anatole getötet. Ich habe Anatole Madera getötet. Ich. Ich habe Anatole Madera getötet. Ich habe gemordet. Anatole Madera ermordet. Ein jeder hat Madera ermordet. Madera ist ein Mensch. Ein Mensch ist sterblich. Madera ist sterblich. Madera ist tot. Madera musste sterben. Madera wäre gestorben. Ich habe lediglich den Lauf der Zeit ein wenig beschleunigt. Er war schon verurteilt. Er war krank. Sein Arzt gab ihm nur noch ein paar Jahre zu leben. Wenn man das ein Leben nennen kann. Er litt ungeheuerlich, man brauchte nur hinzuschauen. Er fühlte sich an diesem Nachmittag nicht besonders gut. Ihm war schwer ums Herz. Vielleicht wäre er ja auch gestorben, wenn ich nichts getan hätte. Er hätte sein Leben ganz alleine ausgehaucht. Er hätte sich umgebracht ...
»Ich glaube, dass es keine Schwierigkeiten geben wird.« Zunächst: was wusste man, und dann: warum hat er das gesagt? Die Stimmung in diesem Salon, der mögliche Effekt der Beleuchtung, die Bar, das Kaminfeuer. Sie hielten beide ihr Glas in der Hand. Und die ganze Welt, seine Welt, war mit einem Schlag um ihn herum präsent. Diese Nähe zur Vergangenheit, dieses plötzliche Eintauchen nach der Rückkehr aus einer langen Einsamkeit in das ihm vertrauteste Universum, das hier auf die Ausmaße eines Salons reduziert war: Sie waren alle da, standen im rötlich flackernden Licht des unregelmäßig aufflammenden Kaminfeuers, im zu diffusen, zu künstlich intimen Licht der Barbeleuchtung. Jérôme. Rufus und Juliette. Mila. Anna und Nicolas. Und Geneviève. Und Madera, abstoßend selbstherrlich, mit blitzenden Zähnen hinter dem Lächeln. Zwei Reihen wie auf einem Fresko. Schwarz-weiße Schuhe wie ein mondäner Eintänzer. Vielleicht hätte er in genau diesem Augenblick auf der Hut sein sollen, mit Bedacht und Methode nachdenken müssen, zu verstehen suchen müssen, was das alles bedeuten sollte und was von da an nicht mehr möglich war. Die Geschichte seiner letzten zwölf Jahre, er hatte sie intakt, unverändert, erstaunlich klar in diesen acht lächelnden Gesichtern lesen können. Lauter Zufälle oder Verschwörungen? Musste er noch weiter entfernt suchen, über dieses Lächeln und über diese zwölf Jahre hinaus? Nach einer Lücke suchen, einer logischen Verknüpfung, einer Beziehung: Dies war gewesen, und das war. Ein aufs Neue zusammenhängendes, ein zum ersten Mal zusammenhängendes Universum, ein beruhigendes Universum, so beruhigend, so viel beruhigender als diese Verschwommenheit, diese Ungenauigkeit. Wann war das? Wann wäre das? Eines Abends in Sarajevo, in dieser fürchterlichen Hitze, in dieser absurden, weil freiwilligen Einsamkeit? An einem Nachmittag in Gesellschaft des Condottiere? Es würde ein Signal geben, und er malte sich schon das komplizierte Schema einer in die Gänge kommenden Maschinerie aus: ein Laufwerk, ein ausgerichteter Zeiger, ein gerissener Draht, geöffnete Ventile ... Würde das reichen? Hatte das gereicht? Die Geschichte war so alt wie die Welt. Der erhobene Arm, die blitzende Klinge. Reichte das, damit Madera mit durchschnittener Kehle zusammensackte?
Und jetzt liege ich auf dem Bett, ich habe mich seit vielleicht einer Stunde nicht gerührt. Ich erwarte nichts. Und doch will ich leben. Jeder will leben. Und doch habe ich vielleicht noch die Zeit, aufzustehen, mich an die Arbeit zu machen, ein Loch zu graben, auszubrechen. Nichts leichter als das. Nichts schwieriger als das. Was ist daran schwierig ... Otto befindet sich jetzt auf der anderen Seite der Tür und geht unablässig auf und ab. Vielleicht hat er Rufus am anderen Ende der Leitung gehabt; er hat ihm vielleicht alles erzählt ...
Solltest du feige sein? Du wirst sterben. Sterben sterben. Du wirst auf kleiner Flamme krepieren. Vor Angst. Du wirst verfaulen. Sie werden dich vom Boden aufschaben, sie werden dich wegkehren, man wird dich mit einem Staubsauger entsorgen, man wird dich in eine Mülltonne kippen. Das macht dir Spaß, das amüsiert dich. Du würdest dich gerne in einem Spiegel sehen und Grimassen schneiden. Du würdest gerne abwarten, bis alles vorbei ist, ohne dass du dich rühren, ohne dass du auch nur den kleinen Finger krümmen müsstest, du wünschtest, dass das alles nur ein schlechter Traum ist, wünschtest dich um einen Tag, einen Monat, ein Jahr zurückversetzt. Du wartest. Der andere geht vor der Tür auf und ab. Diszipliniert und blöde, sehr schön. Guter Charakter. Braver Hund. Du könntest versuchen, ihn zu kaufen. Du trittst an die Tür, du erhebst die Stimme. Monsieur Otto Schnabel, wollen Sie zehntausend Dollar verdienen, ohne etwas zu tun? Mein lieber Freund Otto, zehntausend Dollar für Sie. Zehntausenddreihundert Dollar? Zehntausend mal zehntausend Dollar. Eine Billion Dollar? Eine große Schachtel Kaugummi. Ein komplettes Marsmenschenkostüm. Ein Maschinengewehr mit Dumdumgeschossen. Einen ausgestopften Elefanten. Also los, Otto, beweg dich. Eine gute Tat. Du willst ein Autochen, mein Ottochen. Ein schönes Autochen, das ganz von alleine fährt. Ein Fluchzeuch. Du willst ein Fluchzeuch. Ein Fluchzeuch ohne Propeller. Ein Düsenfluchzeuch ...
Du. Du, der größte Fälscher der Welt. Du, der große Witzbold an der Palette. Du findest das komisch. Du findest es drollig, zu warten. Du hast genug davon, du hast die Nase voll. Es reicht dir. Und morgen? Und übermorgen? Und überübermorgen? Aus Mikrofotografien lässt sich keine Welt zimmern. Man erobert die Welt nicht mit schräg einfallendem Licht. Man zeigt die Welt nicht auf einem restaurierten Paneel. Du hast gespielt, und du hast verloren. Und weiter?
Unglückliches Bewusstsein. Erster Preis: Winckler, Gaspard, für seine beachtenswerte Interpretation des sterbenden Schwans. In Toga und Sandalen, die Stirn von Lorbeer umkränzt, ersteigst du murrend die vier Stufen hoch aufs Podium ...
Er fixiert einen toten Punkt auf der Wand. Morgen vielleicht zeichnen. Morgen, Dämmerung oder Tod. Oder auch das Leben. Oder beides, oder weder das eine noch das andere, irgendetwas dazwischen, eine Art status quo. Kommen Sie mich doch mal in meinem Fegefeuer besuchen, auf der anderen Seite des no man’s land ...
Antonellus Messaneus me pinxit