Jenny Han
Ohne dich kein Sommer
Roman
Aus dem Englischen
von Birgitt Kollmann
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
It’s Not Summer Without You bei Simon & Schuster.
Published by arrangement with Jenny Han.
ISBN 978-3-446-24552-5
© Jenny Han 2010
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München 2012/2013
Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann
Umschlag und Umschlagfoto: Peter-Andreas Hassiepen, München
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
E-Book-Konvertierung: Beltz Bad Langensalza GmbH
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J & S forever
1
2. Juli
Es war ein heißer Sommertag in Cousins. Ich lag am Pool, eine Zeitschrift aufgeschlagen auf dem Gesicht. Meine Mutter spielte Solitaire auf der Veranda vorm Haus, Susannah werkelte in der Küche. Vermutlich würde sie bald herauskommen, in der einen Hand ein Glas Sommertee, in der anderen ein Buch, das ich dringend lesen sollte. Irgendeine Liebesgeschichte.
In der Nacht hatte es heftig gestürmt, deshalb waren Conrad, Jeremiah und Steven den ganzen Morgen über zum Surfen am Strand gewesen. Conrad und Jeremiah kamen als Erste nach Hause. Ich hörte sie schon, bevor ich sie sah. Sie kamen die Treppe hoch und lachten sich halb tot darüber, dass es Steven bei einer besonders wilden Welle die Shorts ausgezogen hatte. Conrad schlenderte zu mir herüber, nahm mir die schweißnasse Zeitschrift vom Gesicht und grinste. »Du hast Wörter auf den Backen.«
Ich kniff die Augen zusammen und schaute zu ihm hoch. »Und? Was steht da?«
Er hockte sich neben mich und sagte: »Moment. Lass mal sehen.« Dann sah er mir mit diesem typischen Conrad-Blick forschend ins Gesicht. Schließlich beugte er sich vor, küsste mich, und seine Lippen waren kalt und salzig vom Meer.
Jeremiah sagte: »Vielleicht solltet ihr euch irgendwo ein Zimmer nehmen!«, aber ich wusste, er machte nur Spaß. Er zwinkerte mir zu, schlich sich von hinten an Conrad ran, packte ihn und schmiss ihn in den Pool.
Dann sprang er selbst hinterher und brüllte: »Komm schon, Belly!«
Natürlich hüpfte ich auch rein. Das Wasser fühlte sich gut an. Besser als gut. Hier wollte ich sein, in Cousins. Nirgends sonst.
»Hallo? Hast du überhaupt irgendwas mitbekommen von dem, was ich eben gesagt hab?«
Ich schlug die Augen auf. Taylor schnippte mit den Fingern vor meinem Gesicht. »Tut mir leid«, sagte ich. »Was hast du gesagt?«
Ich war nicht in Cousins. Conrad und ich waren nicht zusammen, und Susannah war tot. Nichts würde je wieder so sein wie zuvor. Wie viele Tage waren vergangen? Wie viele genau? Zwei Monate war es her, dass Susannah gestorben war, und noch immer konnte ich es nicht glauben. Ich erlaubte mir nicht, es zu glauben. Wenn jemand stirbt, den man liebt, fühlt es sich absolut unwirklich an. Es kommt einem vor, als würde es jemand anderem geschehen. Als lebte man ein fremdes Leben. Abstraktes Denken war noch nie meine Stärke. Was heißt das – dass jemand wirklich und wahrhaftig gegangen ist?
Manchmal habe ich die Augen geschlossen und immer wieder stumm vor mich hin gesagt: Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr; das hier ist alles nicht wahr. Das war nicht mein Leben. Doch das war es jetzt. Mein Leben danach.
Wir waren bei Marcy Yoo im Garten. Die Jungs tobten im Pool herum, wir Mädels lagen nebeneinander aufgereiht auf unseren Strandlaken am Beckenrand. Ich war mit Marcy befreundet, aber die anderen, Katie und Evelyn und so, waren eher Taylors Freunde.
Wir hatten schon jetzt dreißig Grad im Schatten, dabei war es gerade mal kurz nach zwölf. Es würde ein heißer Tag werden. Ich lag auf dem Bauch und fühlte, wie mir Schweißtropfen in kleinen Rinnsalen über den Rücken liefen. Langsam hatte ich die Sonne satt. Erst der zweite Juli, und schon zählte ich die Tage, bis der Sommer vorbei war.
»Ich hab dich gefragt, was du zu der Party bei Justin anziehst?«, wiederholte Taylor nachdrücklich. Sie hatte ihr Handtuch Kante an Kante mit meinem gelegt, sodass es war, als teilten wir uns ein großes.
»Keine Ahnung«, sagte ich und drehte den Kopf, damit ich ihr ins Gesicht sehen konnte.
Sie hatte winzige Schweißtropfen auf der Nase. Taylor schwitzte immer zuerst auf der Nase. »Ich zieh das neue Sonnenkleid an, das ich neulich mit meiner Mom im Outlet-Center gekauft hab.«
Ich ließ die Augen wieder zufallen. Da ich meine Sonnenbrille aufhatte, konnte Taylor sowieso nicht feststellen, ob ich sie ansah oder nicht. »Welches?«
»Das weißt du doch, das getupfte Neckholderkleid. Ich hab es dir gezeigt, erst – warte mal – vorgestern.« Taylor ließ einen ungeduldigen kleinen Seufzer los.
»Ach das«, sagte ich, dabei hatte ich immer noch keinen blassen Schimmer, und Taylor merkte das auch.
Gerade wollte ich etwas anderes sagen, irgendwas Nettes über das Kleid, als ich plötzlich eiskaltes Aluminium im Nacken fühlte und aufschrie. Neben mir hockte Cory Wheeler, eine tropfende Coladose in der Hand, und lachte sich schief.
Ich richtete mich auf, wischte mir über den Nacken und blitzte Cory wütend an. »Was soll der Scheiß, Cory?«, blaffte ich ihn an. Dieser Tag stank mir schon jetzt total, ich wollte bloß noch nach Hause.
Cory lachte immer weiter, was mich nur noch wütender machte.
»Du lieber Himmel, bist du kindisch!«, sagte ich.
»Ich wollte dir doch nur ein bisschen Abkühlung verschaffen«, protestierte er. »Du sahst so aus, als wäre dir verdammt heiß.«
Ich gab keine Antwort, ließ die Hand aber im Nacken liegen. Ich spürte die Anspannung in meinen Kiefermuskeln und die entgeisterten Blicke der anderen Mädchen. Corys Lächeln verschwand schlagartig, und er sagte: »Tut mir leid. Magst du die Cola haben?«
Ich schüttelte den Kopf, und er ging schulterzuckend wieder zum Pool hinüber. Ich sah mich um, und mein Blick fiel auf Katie und Evelyn mit ihrer Was-hat-die-denn-für-ein-Problem-Miene. Peinlich. Zu Cory gemein zu sein war so, als wäre man gemein zu einem Schäferhundwelpen. Komplett unsinnig. Aber jetzt war es zu spät. Ich versuchte, Corys Blick einzufangen, aber er wich mir aus.
Taylor sagte leise: »Das sollte einfach nur ein Jux sein, Belly.«
Ich legte mich wieder auf mein Handtuch, dieses Mal auf den Rücken. Dann holte ich tief Luft und atmete wieder aus, ganz langsam. Der Kopf tat mir weh von der dröhnenden Musik aus Marcys iPod-Station. Außerdem hatte ich tatsächlich Durst. Hätte ich doch bloß Corys Cola genommen!
Taylor beugte sich vor und schob mir die Sonnenbrille auf den Kopf, sodass sie mir in die Augen sehen konnte. »Bist du sauer?«
»Nein. Mir ist bloß zu heiß.« Ich wischte mir mit dem Arm den Schweiß von der Stirn.
»Sei nicht sauer. Cory macht immer den Clown, wenn du in der Nähe bist. Er mag dich.«
Ich schaute weg. »Ach was.« Aber auf seine Art mochte Cory mich wirklich, und das wusste ich auch. Ich wünschte nur, es wäre nicht so.
»Sag, was du willst, aber der steht total auf dich. Und ich finde immer noch, du solltest ihm eine Chance geben. Das würde dich ablenken von Du-weißt-schon-wem.«
Ich drehte den Kopf weg, und Taylor sagte: »Ich könnte dir für heute Abend Zöpfe flechten, wie wär’s? So wie letztes Mal.«
»Okay.«
»Was ziehst du denn an?«
»Weiß noch nicht.«
»Auf jeden Fall musst du richtig gut aussehen, schließlich sind heute alle da«, sagte Taylor. »Ich komm schon früh rüber, und wir machen uns zusammen fertig.«
Justin Ettelbrick gab schon seit der Achten jedes Jahr im Juli eine riesige Geburtstagsfete. Normalerweise war ich zu der Zeit immer schon in Cousins am Strand, und mein Zuhause und die Schule und die Freunde aus der Schule waren Millionen Meilen entfernt. Kein einziges Mal hatte es mir leidgetan, dass mir die Party entging, nicht einmal, als Taylor mir von der Zuckerwattemaschine erzählte, die Justins Eltern gemietet hatten, oder von dem tollen Feuerwerk, das in einem anderen Jahr um Mitternacht am See gezündet wurde.
Zum ersten Mal war ich nun zu Justins Party zu Hause, zum ersten Mal würde ich nicht nach Cousins fahren, und das tat mir leid. Das machte mich wirklich traurig. Ich hatte geglaubt, mein ganzes Leben lang würde ich jeden Sommer in Cousins verbringen. Das Sommerhaus war der einzige Ort, zu dem es mich wirklich hinzog. Der einzige Ort, an dem ich immer sein wollte.
»Aber du hast doch noch vor hinzugehen, oder?«, wollte Taylor wissen.
»Klar. Hab ich doch gesagt.«
Sie zog die Nase kraus. »Ich weiß, aber –« Dann brach sie ab. »Schon gut.«
Taylor wartete darauf, dass alles wieder so werden würde wie vorher, das wusste ich. Aber nichts konnte wieder so sein. Ich würde nie wieder so sein.
Immer war ich mir so sicher gewesen. Immer hatte ich gedacht, ich müsste mir etwas nur fest genug wünschen, dann würde alles genau so kommen, wie ich es wollte. Schicksal, so nannte das Susannah. Ich hatte mir immer Conrad gewünscht. An jedem Geburtstag, bei jeder Sternschnuppe, jeder ausgefallenen Wimper, jeder Münze in einem Brunnen. Immer dachte ich dabei an den, den ich liebte. Und ich hatte geglaubt, das würde für alle Zeit so bleiben.
Taylor wollte, dass ich Conrad vergaß, ihn einfach aus meinen Gedanken, meiner Erinnerung ausradierte. Dauernd sagte sie Sachen wie: »Jeder hat eine erste Liebe, über die er hinwegkommen muss, das gehört zum Erwachsenwerden dazu.« Aber Conrad war nicht einfach meine erste Liebe. Er war nicht einfach ein Schritt auf dem Weg ins Erwachsenenleben. Er war so viel mehr als das. Conrad und Jeremiah und Susannah waren meine Familie. In meinen Erinnerungen würden diese drei immer zusammengehören, eine Einheit bilden. Nie konnte es einen von ihnen geben ohne die anderen.
Würde ich Conrad vergessen, würde ich ihn aus meinem Herzen aussperren, so tun, als hätte er dort nie einen Platz gehabt, dann wäre das, als täte ich das Gleiche mit Susannah. Und das wäre unmöglich.
2
Sobald die Schule im Juni endete, packten wir das Auto voll und fuhren auf schnellstem Weg nach Cousins. Am Tag davor ging meine Mutter in den Supermarkt und kaufte bergeweise Sonnencreme, Apfelsaft, Müsliriegel, Vollkornflocken. Wenn ich bettelte, sie solle doch mal Lucky Charms oder Capt’n Crunch kaufen, sagte sie nur: »Keine Sorge, Beck hat garantiert genug von diesem zähnezerfressenden Zeug da.« Und natürlich hatte sie recht. Susannah – oder Beck, wie meine Mutter sie nannte – liebte all diese Getreideflocken für Kinder genau wie ich. Wenn wir im Sommerhaus waren, vertilgten wir gigantische Mengen von Cornflakes und dergleichen; eine Chance, muffig zu werden, hatte das Zeug nicht. Ich erinnere mich an einen Sommer, in dem die Jungs morgens, mittags und abends nichts als ihre diversen Frühstücksflocken aßen. Mein Bruder Steven wollte immer Frosties, Jeremiah Capt’n Crunch und Conrad Honigpops. Jeremiah und Conrad waren Becks Söhne, und beide liebten ihre speziellen Flocken. Ich selbst aß, was gerade da war, aber immer mit viel Zucker obendrauf.
Mein ganzes Leben lang waren wir jeden Sommer nach Cousins gefahren. Kein einziges Jahr hatten wir ausgelassen. Bald siebzehn Sommer lang war ich den Jungs hinterhergelaufen, hatte sehnsüchtig darauf gewartet, dass ich irgendwann alt genug sein würde, um bei ihnen mitmachen zu dürfen. Bei ihrer Sommerbande. Endlich hatte ich es geschafft, und jetzt war es zu spät. Vergangenen Sommer hatten wir uns am letzten Abend versprochen, dass wir jedes Jahr wiederkommen würden. Schon unheimlich, wie leicht Versprechen gebrochen werden konnten. Einfach so.
Als ich nach dem letzten Sommer wieder zu Hause war, wartete ich. Der August ging zu Ende, der September kam, die Schule fing an, und immer noch wartete ich. Es war gar nicht so, als hätten Conrad und ich uns gegenseitig irgendwelche großen Versprechen gegeben. Es war nicht so, als wären wir zusammen. Wir hatten uns geküsst, mehr nicht. Inzwischen ging er aufs College, wo es eine Million Mädchen gab. Mädchen ohne abendliche Sperrstunde, Mädchen im selben Wohnheim, alle schlauer als ich und hübscher als ich, alle geheimnisvoll und neu auf eine Weise, wie ich es nie für ihn sein könnte.
Ich dachte ständig an ihn – daran, was das alles zu bedeuten hatte, was wir einander inzwischen bedeuteten. Denn dahinter zurück konnten wir nicht mehr, das wusste ich. Was zwischen uns geschehen war – zwischen Conrad und mir, Jeremiah und mir –, hatte alles verändert. Als dann der August vorüberging und es September wurde und das Telefon immer noch nicht geläutet hatte, da musste ich mich nur daran erinnern, wie er mich an jenem letzten Abend angesehen hatte – und schon wusste ich wieder, dass immer noch Hoffnung bestand. Ich wusste, ich hatte mir das alles nicht eingebildet. Das hätte ich gar nicht gekonnt.
Von meiner Mutter wusste ich, dass Conrad am College mit einem total nervigen Typ aus New Jersey zusammenwohnte und dass Susannah sich Sorgen machte, er bekäme nicht genug zu essen. Meine Mutter erzählte mir diese Sachen wie nebenbei, um meinen Stolz nicht zu verletzen, und ich drängte sie nie, mir mehr zu berichten. Ich wusste, er würde anrufen, ich wusste es einfach. Ich musste nur warten, mehr nicht.
Der Anruf kam in der zweiten Septemberwoche, drei Wochen nachdem wir uns zuletzt gesehen hatten. Ich saß im Wohnzimmer und aß Erdbeereis, und Steven und ich zankten uns um die Fernbedienung. Es war ein Montagabend, neun Uhr, also beste Sendezeit. Das Telefon läutete, und weder Steven noch ich machten Anstalten dranzugehen. Wer von uns als Erster aufstand, hatte die Schlacht ums Fernsehprogramm schon verloren.
Meine Mutter nahm den Anruf in ihrem Arbeitszimmer entgegen. Sie brachte das Telefon ins Wohnzimmer und sagte: »Belly, für dich – Conrad.« Dann zwinkerte sie mir zu.
Auf einmal schwirrten Schmetterlinge in meinem Bauch, und in meinen Ohren rauschte, dröhnte das Meer. Es war, als wäre ich high. Ein goldener Schimmer lag auf allem. Ich hatte gewartet, und dies war meine Belohnung! Ich hatte Geduld bewiesen, und ich hatte recht behalten. Beides fühlte sich jetzt so gut an, besser als je zuvor.
Steven holte mich auf den Boden zurück. »Wieso sollte Conrad dich anrufen?«, fragte er irritiert.
Ich ignorierte ihn, nahm meiner Mutter den Hörer aus der Hand und ging weg – weg von Steven, weg von der Fernbedienung, weg von meinem schmelzenden Eis. Nichts davon war jetzt noch wichtig. Ich ließ Conrad warten, bis ich die Treppe erreicht hatte und saß, erst dann sagte ich: »Hey.«
Ich versuchte, nicht zu lächeln, ich wusste, er würde es meiner Stimme anmerken.
»Hey«, sagte er, »was tut sich so bei dir?«
»Nicht viel.«
»Weißt du was? Mein Zimmergenosse schnarcht noch lauter als du.«
Am nächsten Abend rief er wieder an und auch am übernächsten. Wir telefonierten stundenlang. Anfangs war Steven noch verwirrt, wenn diese Anrufe für mich waren und nicht für ihn. »Wieso ruft Conrad dich plötzlich dauernd an?«, wollte er wissen.
»Wieso wohl? Er mag mich. Wir mögen uns.«
Steven tat, als müsste er würgen. »Der hat den Verstand verloren«, sagte er kopfschüttelnd. »Findest du es unmöglich, dass ein Conrad Fisher mich mögen könnte?«, fragte ich mit trotzig verschränkten Armen.
Über seine Antwort musste Steven keine Sekunde nachdenken. »Allerdings«, sagte er. »Total unmöglich.«
Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen: Er hatte recht.
Es war wie ein Traum. Unwirklich. Nach all dem Wünschen und Sehnen und Schmachten, Jahr um Jahr, ganze Sommer lang, rief er auf einmal mich an. Er redete gern mit mir. Ich brachte ihn zum Lachen, selbst wenn ihm gar nicht danach war. Ich verstand, was er durchmachte, denn mir ging es ganz ähnlich. Es gab nur wenige Menschen auf der Welt, die Susannah so liebten wie wir. Und ich dachte, das müsse reichen.
Etwas entwickelte sich zwischen uns. Etwas, das nie genauer definiert wurde, aber da war. Etwas Tolles.
Ein paarmal fuhr er die dreieinhalb Stunden vom College zu mir. Einmal blieb er über Nacht, weil es so spät geworden war, dass meine Mutter nicht wollte, dass er noch zurückfuhr. Conrad übernachtete im Gästezimmer, während ich stundenlang schlaflos in meinem Bett lag und mir vorstellte, wie er nur wenige Schritte von mir entfernt schlief, bei mir zu Hause, ausgerechnet.
Steven nervte total, er rückte uns die ganze Zeit auf die Pelle, sonst hätte Conrad wenigstens versucht, mich zu küssen, das wusste ich. Aber mein Bruder war dauernd um uns rum, und so lange war das praktisch unmöglich. Wenn Conrad und ich zum Beispiel vor dem Fernseher saßen, quetschte Steven sich einfach dazwischen. Er redete mit Conrad über irgendwelchen Kram, von dem ich nichts verstand oder der mich langweilte, Football zum Beispiel. Einmal, nach dem Essen, fragte ich Conrad, ob er vielleicht Lust hätte, Eis essen zu gehen, und sofort mischte Steven sich ein und meinte: »Klingt gut.« Ich funkelte ihn böse an, doch er grinste bloß zurück. Da nahm Conrad meine Hand, vor Steven, und sagte: »Warum gehen wir nicht alle?« Das taten wir dann auch, sogar meine Mutter ging mit. Es war nicht zu fassen – da hatte ich endlich ein Date, und auf dem Rücksitz saßen meine Mutter und mein Bruder.
Aber eigentlich machte das alles jene eine erstaunliche Nacht im Dezember nur umso schöner. Conrad und ich fuhren nach Cousins zurück, nur wir zwei. Vollkommene Nächte sind so selten, aber diese war es wirklich. Eine Nacht, für die sich jedes Warten lohnt.
Ich bin froh, dass wir sie hatten.
Denn im Mai war alles aus.
3
Ich bin früh von Marcy aufgebrochen. Taylor habe ich gesagt, ich wolle mich noch ein bisschen hinlegen, um fit zu sein für Justins Party. Teilweise stimmte das auch, ich wollte mich wirklich ausruhen, aber die Party war mir völlig egal. Sobald ich zu Hause war, zog ich mir mein weites Cousins-T-Shirt an, füllte eine große Wasserflasche mit Traubenlimo und zerstoßenem Eis und hängte mich dann so lange vor den Fernseher, bis mir der Kopf dröhnte.
Außer dem Fernseher und der Klimaanlage, die sich an- und abschaltete, war kein Mucks zu hören. Nur wunderbare, friedliche Stille. Ich hatte das ganze Haus für mich. Steven hatte einen Sommerjob im Elektroniksupermarkt Best Buy. Er sparte nämlich auf einen 50-Zoll-Flachbildschirm, den er im Herbst mit ans College nehmen wollte. Meine Mutter war zwar da, saß aber bloß den ganzen Tag am Schreibtisch. Sie habe noch so viel Arbeit nachzuholen, sagte sie.
Ich verstand sie. An ihrer Stelle hätte ich auch allein sein wollen.
Taylor kam gegen sechs. Bewaffnet mit ihrer grellrosa Kosmetiktasche von Victoria’s Secret, kam sie ins Wohnzimmer marschiert. Als sie mich ich auf der Couch liegen sah, in meinem Cousins-T-Shirt, starrte sie mich an: »Sag bloß, du hast noch nicht geduscht?«
»Doch, heute Morgen«, sagte ich, ohne aufzustehen.
»Und anschließend hast du stundenlang in der Sonne gelegen.« Sie zog mich an beiden Armen hoch. Ich ließ sie. »Los jetzt, ab unter die Dusche mit dir.«
Ich folgte ihr nach oben und ging ins Bad. Taylor verschwand in meinem Zimmer. So schnell hatte ich noch nie geduscht. Taylor schnüffelte für ihr Leben gern, und wenn ich sie zu lange allein ließ, würde sie sich hemmungslos in meinem Zimmer umsehen.
Als ich hereinkam, saß sie vor meinem Spiegel auf dem Boden und trug mit schnellen Bewegungen Bronzer auf ihre Wangen auf. »Soll ich dich auch schminken?«
»Nein, danke«, antwortete ich. »Mach mal die Augen zu, ich ziehe mich schnell an, ja?«
Sie verdrehte die Augen, schloss sie dann aber doch. »Du bist so was von prüde, Belly, echt.«
»Na und?«, sagte ich, während ich Slip und BH anzog. Dann warf ich mir wieder mein Cousins-T-Shirt über. »Okay, kannst gucken.«
Taylor riss die Augen sperrangelweit auf, um sich die Wimpern zu tuschen. »Ich könnte dir die Nägel lackieren. Ich hab drei neue Farben.«
»Nee, wozu.« Ich hielt ihr meine Hände hin. Sämtliche Nägel waren bis zum Nagelbett abgebissen.
Taylor verzog das Gesicht. »Na gut, und was ziehst du an?«
»Das hier«, sagte ich und verkniff mir ein Grinsen. Dabei zeigte ich auf mein T-Shirt. Vom vielen Tragen hatte es schon winzige Löcher am Hals und war so weich wie eine Babydecke. Ich wünschte, ich könnte darin zur Party gehen.
»Sehr witzig«, sagte Taylor und rutschte auf Knien zu meinem Schrank. Dann stand sie auf und fing an, darin herumzuwühlen. Als wüsste sie nicht sowieso auswendig, was ich zum Anziehen besaß, schob sie einen Kleiderbügel nach dem anderen zur Seite. Normalerweise machte mir das nichts, aber heute war ich nicht gut drauf, heute nervte mich alles.
»Lass gut sein«, sagte ich. »Ich zieh meine abgeschnittenen Jeans an und ein Tank Top.«
»Belly, für Justins Partys stylen sich alle. Du kannst das nicht wissen, du warst ja nie da, aber in deinen alten abgeschnittenen Jeans kannst du unmöglich hingehen.« Taylor zog mein weißes Sommerkleid heraus. Das letzte Mal hatte ich es im vergangenen Sommer getragen, auf der Party mit Cam. Susannah hatte gemeint, das Kleid würde mich zur Geltung bringen, so wie ein Bild erst im richtigen Rahmen wirkt.
Ich stand auf, nahm Taylor das Kleid aus der Hand und hängte es in den Schrank zurück. »Das hat Flecken«, sagte ich. »Ich such mir was anderes.«
Taylor setzte sich wieder vor den Spiegel und meinte: »Dann zieh doch das schwarze an, das mit den Blümchen. Das macht ein echt scharfes Dekolleté.«
»Das ist unbequem«, sagte ich. »Zu eng.«
»Und wenn ich ganz lieb Bitte sage?«
Seufzend nahm ich das Kleid vom Bügel und zog es an. Manchmal war es bei Taylor leichter, einfach nachzugeben. Wir waren Freundinnen, beste Freundinnen, seit wir kleine Mädchen waren. So lange schon, dass es eher so etwas wie eine Gewohnheit war, etwas, zu dem man nicht mehr Ja oder Nein sagte.
»Siehst du, das sieht toll aus.« Sie kam herüber und zog mir den Reißverschluss hoch. »Okay, und jetzt zu unserem Schlachtplan.«
»Was für ein Schlachtplan?«
»Ich finde, du solltest dich auf der Party mal an Cory Wheeler ranmachen, ein bisschen mit ihm rumknutschen.«
»Taylor –«
Sie hob eine Hand. »Lass mich doch erst mal ausreden! Cory ist supernett und supersüß. Wenn er ein bisschen trainiert und ein paar Muskeln kriegt, dann könnte er ein richtig heißer Typ werden.«
»Also bitte!«, schnaubte ich.
»So süß wie ein gewisser C ist er schon lange.« Sie nannte ihn nie mehr bei seinem Namen. Er war nur noch »Du-weißt-schon-wer« oder »ein gewisser C«.
»Taylor, hör auf, mich so zu drängen. Ich kann ihn nicht einfach vergessen, bloß weil du das willst.«
»Kannst du’s nicht wenigstens mit Cory versuchen?«, bettelte sie. »Nur für eine Weile, meinetwegen als Lückenfüller. Ihm macht das nichts.«
»Wenn du noch ein einziges Mal mit Cory anfängst, komm ich gar nicht erst mit«, erklärte ich, und das meinte ich ernst. Ich hoffte sogar, sie würde ihn noch einmal erwähnen, dann hätte ich wenigstens eine Ausrede.
Sie machte große Augen. »Okay, okay. Tut mir leid. Mein Mund bleibt ab jetzt fest verschlossen.«
Sie griff nach ihrem Schminktäschchen und setzte sich bei mir auf die Bettkante. Ich hockte mich zu ihren Füßen hin, und sie nahm einen Kamm und zog mir einen Scheitel. Mit festen, flinken Fingern flocht sie mir die Haare, und als sie fertig war, steckte sie die Zöpfe oben auf dem Kopf fest. Solange sie arbeitete, schwiegen wir. Als sie fertig war, sagte Taylor: »Ich finde es toll, wenn du die Haare so trägst. Fast wie eine Indianerin siehst du aus, eine Cherokee-Prinzessin oder so.«
Ich musste lachen, verstummte aber sofort wieder. Unsere Blicke trafen sich im Spiegel, und Taylor sagte: »Du darfst lachen, wirklich. Du darfst auch mal wieder Spaß haben.«
»Ich weiß«, antwortete ich, aber das stimmte nicht.
Bevor wir losgingen, schaute ich noch kurz bei meiner Mutter rein. Sie saß im Arbeitszimmer zwischen ihren Ordnern und Stapeln von Papier. Susannah hatte meine Mutter zu ihrer Testamentsvollstreckerin ernannt, und das bedeutete offenbar eine Menge Papierkram. Meine Mutter telefonierte viel mit Susannahs Anwältin. Alles sollte perfekt laufen, genau nach Becks letzten Wünschen.
Susannah hatte Steven und mir einen Geldbetrag fürs College hinterlassen. Mir hatte sie außerdem Schmuck vererbt, ein mit Saphiren besetztes Tennisarmband, von dem ich mir nicht vorstellen konnte, dass ich es je tragen würde. Außerdem eine Kette mit Diamanten für den Tag meiner Hochzeit – das hatte sie explizit dazugeschrieben. Und Opalohrringe mit passendem Fingerring. Die mochte ich am liebsten.
»Mom?«
Sie sah auf. »Ja?«
»Hast du gegessen?« Ich kannte die Antwort auch so. Seit ich von Marcy zurück war, hatte sie ihr Arbeitszimmer noch nicht ein Mal verlassen.
»Ich hab keinen Hunger«, sagte sie. »Falls nichts im Kühlschrank ist, kannst du dir ja eine Pizza bestellen.«
»Ich könnte dir ein Sandwich machen«, bot ich ihr an. Anfang der Woche hatte ich eingekauft. Steven und ich wechselten uns jetzt immer ab. Ich bezweifelte, dass Mom überhaupt wusste, welches Wochenende wir hatten: Vierter Juli, Nationalfeiertag.
»Nein, schon gut. Ich komm später runter und mach mir was.«
»Okay.« Ich zögerte. »Taylor und ich gehen auf eine Party. Es wird nicht so spät.«
Ein Teil von mir hoffte, sie würde mich bitten, zu Hause zu bleiben. Ein Teil von mir wollte ihr anbieten, zu Hause zu bleiben und ihr Gesellschaft zu leisten; wir könnten einen Filmklassiker ansehen, Popcorn machen.
Aber ihre Gedanken waren schon wieder bei der Arbeit, sie kaute an ihrem Kugelschreiber. »Klingt gut«, sagte sie. »Pass auf dich auf.«
Ich zog die Tür hinter mir zu.
Taylor saß in der Küche und schrieb eine SMS, während sie auf mich wartete. »Komm, beeil dich, lass uns losgehen.«
»Moment noch, ich muss nur noch schnell was erledigen.« Ich ging zum Kühlschrank und nahm Zutaten für ein Sandwich heraus. Putenbrust, Senf, Käse, Weißbrot.
»Belly, es gibt genug zu essen auf der Party. Wieso musst du dir jetzt noch was machen!«
»Das ist für meine Mom«, sagte ich.
Ich legte das fertige Sandwich auf einen Teller, deckte ihn mit Frischhaltefolie ab und stellte ihn auf den Tresen, wo sie ihn gleich sehen würde.
Justins Party war tatsächlich genau so, wie Taylor es mir beschrieben hatte. Unsere halbe Stufe war da, von Justins Eltern hingegen war weit und breit nichts zu sehen. Bunte Party-Lampen säumten den Hof, und die Musik war voll aufgedreht, die Lautsprecher vibrierten praktisch. Ein paar Mädchen tanzten schon.
Es gab ein Fass Bier und eine große rote Kühlbox. Justin war der Mann am Grill. Er briet Steaks und Bratwürste und trug eine Schürze mit der Aufschrift »Küsst den Koch«.
Taylor schnaufte verächtlich. »Als ob irgendeine mit dem rumknutschen würde.« Zu Anfang des Schuljahres hatte sie sich um Justin bemüht, bevor sie sich für Davis, ihren jetzigen Freund, entschieden hatte. Justin und sie waren ein paarmal zusammen weggegangen, bevor er wegen einer aus dem Abschlussjahrgang mit ihr Schluss gemacht hatte.
Ich hatte nicht an Mückenspray gedacht, und die Biester fraßen mich regelrecht auf. Dauernd musste ich mich bücken, um mich an den Beinen zu kratzen, und ich war froh darüber. Froh, dass ich auf die Art beschäftigt war. Cory hing nämlich am Pool rum, und ich hatte Angst, aus Versehen seinem Blick zu begegnen.
Die meisten tranken Bier aus roten Plastikbechern. Taylor holte Wine Coolers für uns beide. Diese klebrig süße Mischung aus Wein, Sprudel, Limo und Zucker schmeckte dermaßen künstlich, dass ich nach zwei Schlucken den Rest wegkippte.
Taylor entdeckte Davis unter den Jungs am Bier-Pong-Spieltisch. Sie legte einen Finger auf die Lippen und nahm mich bei der Hand. Wir schlichen uns von hinten an, und Taylor schlang die Arme um ihn. »Hab’ dich!«
Er drehte sich um, und die beiden küssten sich, als hätten sie sich ewig nicht gesehen – dabei war es gerade mal ein paar Stunden her. Ich stand ein Weilchen da, hielt mich verlegen an meiner Handtasche fest und sah überall anders hin als zu den beiden. Davis war eigentlich der Nachname, sein Vorname war Ben, aber alle sagten nur Davis zu ihm. Davis war wirklich niedlich, er hatte Grübchen, und seine Augen hatten die Farbe dieser grünen Glasscherben, die man am Strand findet. Außerdem war er nicht sehr groß, was Taylor zuerst als ein schweres Handicap bezeichnet hatte, was sie jetzt aber angeblich nicht wirklich störte. Ich hasste es, mit den beiden zusammen zur Schule zu fahren – die ganze Zeit hielten sie Händchen, während ich wie ein kleines Kind hinter ihnen saß. Wenigstens einmal im Monat machten sie Schluss, dabei waren sie erst seit April zusammen. Als sie wieder einmal auseinander waren und er sie weinend anrief und umzustimmen versuchte, stellte Taylor ihn auf Lautsprecher. Ich fühlte mich mies, weil ich mithörte, aber gleichzeitig war ich auch neidisch und schwer beeindruckt, dass sie ihm so viel bedeutete, genug, um ihretwegen zu weinen.
»Pete ist mal eben zum Klo«, sagte Davis und schlang einen Arm um Taylor. »Magst du für ihn spielen, bis er zurück ist, als meine Partnerin?«
Sie schaute zu mir herüber, schüttelte den Kopf und befreite sich aus seiner Umarmung. »Ich kann Belly nicht allein lassen.«
Ich funkelte sie an. »Taylor, ich brauch wirklich keinen Babysitter. Spiel ruhig.«
»Sicher?«
»Ganz sicher.«
Bevor sie anfangen konnte zu diskutieren, ging ich weg. Ich begrüßte erst Marcy, dann Frankie, mit der ich in der Mittelschule immer zusammen im Schulbus gefahren war, Alice, meine beste Freundin aus dem Kindergarten, und schließlich Simon, der mit mir in der Jahrbuchredaktion war. Die meisten Leute kannte ich schon seit ewigen Zeiten, und doch hatte ich noch nie heftigeres Heimweh nach Cousins gehabt als jetzt.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Taylor mit Cory quatschte, und ich beeilte mich wegzukommen, bevor sie mich zu sich rüberrufen konnte. Ich schnappte mir eine Cola und ging Richtung Trampolin. Da gerade keiner sprang, kickte ich meine Flipflops in die Ecke, stieg hoch und legte mich mittendrauf. Meinen Rock klemmte ich an den Seiten fest. Inzwischen standen Sterne am Himmel, kleine leuchtende Diamanten. Ich trank meine Cola so schnell, dass ich ein paarmal aufstoßen musste. Erschrocken sah ich mich um, ob mich jemand gehört hatte, aber alle waren schon wieder beim Haus. Dann versuchte ich, die Sterne zu zählen, was ungefähr so sinnvoll ist wie der Versuch, Sandkörner zu zählen. Ich tat’s trotzdem, nur um etwas zu tun zu haben. Ich überlegte, wann ich mich wohl unauffällig verdrücken könnte. Wir waren mit meinem Auto gekommen, und Taylor könnte mit Davis zurückfahren. Schließlich überlegte ich noch, ob es wohl sehr seltsam aussehen würde, wenn ich mir ein paar Hotdogs einpackte für später.
Schon seit zwei Stunden hatte ich nicht mehr an Susannah gedacht. Mindestens. Vielleicht hatte Taylor ja recht, vielleicht gehörte ich ja genau hierhin. Wenn ich nicht aufhörte, mich nach Cousins zu sehnen, wenn ich immer nur zurückblickte, dann wäre ich verloren, für immer.
Ich war mitten in diesen Gedanken, als Cory aufs Trampolin kletterte und sich direkt neben mich legte. »Hey, Conklin«, sagte er.
Seit wann redeten Cory und ich uns mit Nachnamen an? Das war ja ganz was Neues.
Also sagte ich meinerseits »Hey, Wheeler«, sah an ihm vorbei und versuchte, mich auf die Sterne zu konzentrieren und nicht daran zu denken, wie nah er mir war.
Cory stützte sich auf einen Ellbogen und fragte: »Macht’s Spaß?«
»Klar.« Ich kriegte Bauchschmerzen. Dieses ständige Wegrennen von Cory verursachte anscheinend Magengeschwüre.
»Schon Sternschnuppen gesehen?«
»Noch nicht.«
Cory roch nach Rasierwasser und Bier und Schweiß, und komischerweise war das gar keine schlechte Mischung. Die Grillen zirpten laut, und die Party schien weit weg.
»Sag mal, Conklin …«
»Was?«
»Triffst du dich eigentlich immer noch mit dem Typ, mit dem du auf dem Schulball warst? Dem mit den zusammengewachsenen Augenbrauen?«
Wider Willen musste ich schmunzeln. »Conrads Augenbrauen sind nicht zusammengewachsen. Und zu deiner Frage: Nein. Wir – sind nicht mehr zusammen.«
»Cool«, sagte er. Das Wort hing in der Luft.
Das war einer dieser Momente, in denen man sich wie an einer Weggabelung fühlt. Der Abend konnte sich so oder so entwickeln: Ich müsste mich nur ein kleines bisschen nach links beugen, dann könnte ich ihn küssen. Ich könnte die Augen schließen und mich ganz in ihm verlieren. Weitermachen mit dem Vergessen. So tun als ob.
Cory war süß und nett, aber ein Conrad war er wirklich nicht. Nicht mal annähernd. Cory war wie ein Bürstenschnitt, geradlinig, ohne Überraschungen. Anders als Conrad. Der konnte mich mit einem einzigen Blick, einem Lächeln total aus dem Takt bringen.
Cory streckte eine Hand aus und stupste mich leicht am Arm. »Tja dann, Conklin, vielleicht könnten wir …«
Ich fuhr hoch und sagte das erste Beste, was mir in den Kopf kam: »Mist, ich muss dringend zum Klo. Wir sehen uns, Cory!«
Ich machte, dass ich vom Trampolin runterkam, suchte meine Flipflops, und lief zurück zum Haus. Beim Pool entdeckte ich Taylor und steuerte geradewegs auf sie zu. »Ich muss mit dir reden«, zischte ich sie an.
»Und? Was hast du geantwortet?« Taylors Augen blitzten, und sie guckte so ekelhaft selbstzufrieden, als hätte sie das alles eingefädelt.
»Ich müsste mal dringend zum Klo, das hab ich gesagt!«
»Belly! Du solltest doch mit ihm knutschen! Mach, dass du zurück zum Trampolin kommst.«
»Kannst du jetzt mal aufhören, Taylor? Ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht interessiert bin. Außerdem hab ich gesehen, wie du vorhin mit ihm geredet hast. Hast du ihm etwa gesagt, er soll mich fragen, ob ich mit ihm weggehe?«
Sie zuckte leicht mit den Schultern. »Na ja … der ist doch schon das ganze Jahr hinter dir her, und er hat sich echt Zeit gelassen. Kann schon sein, dass ich ihm einen kleinen Schubs in die richtige Richtung gegeben habe – aber nur einen ganz kleinen. Und ihr habt wirklich so süß zusammen ausgesehen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich wünschte wirklich, du hättest das nicht gemacht.«
»Ich wollte dich doch nur auf andere Gedanken bringen!«
»Danke, nicht nötig.«
»Und ob!«
Eine Minute lang starrten wir uns an. An manchen Tagen, Tagen wie diesem, hätte ich sie erwürgen können. Ständig versuchte sie, mich herumzukommandieren. Es stand mir bis oben hin: Taylor schubste mich hierhin und dorthin, sie wollte bestimmen, was ich anziehen sollte, gerade so, als wäre ich eine ihrer schäbigeren, armseligeren Puppen. Und so war es immer schon zwischen uns gewesen.
Trotzdem war ich irgendwie erleichtert, denn wenigstens hatte ich jetzt eine gute Ausrede. »Ich geh dann mal«, sagte ich.
»Was soll das denn heißen? Wir sind doch eben erst gekommen!«
»Ich bin nicht in Stimmung, okay?«
Anscheinend war sie es allmählich leid mit mir, denn sie sagte: »Langsam nervt das echt, Belly. Seit Monaten jammerst du bloß rum. Das ist nicht gesund. Meine Mom sagt auch, du solltest dich mal mit einem Typen treffen.«
»Wie bitte? Du hast mit deiner Mom über mich geredet?«, knurrte ich. »Sag ihr, sie soll sich ihre psychologischen Ratschläge für Ellen aufsparen.«
Taylor schnappte nach Luft. »Ich hör wohl nicht recht.«
Ellen war Taylors Katze und litt, laut Diagnose von Taylors Mutter, an saisonaler affektiver Störung, auch Winterdepression genannt. Den ganzen Winter über verabreichten sie dem Tier Antidepressiva, und wenn Ellen im Frühling immer noch launisch war, brachten sie sie zu einem Katzenflüsterer. Genützt hat es allerdings nie was. Wenn man mich fragte: Ellen war schlicht und einfach ein gemeines Biest.
Ich holte Luft. »Monatelang hab ich mir angehört, wie du wegen Ellen rumgeheult hast, und dann stirbt Susannah, und alles, was dir dazu einfällt, ist, ich soll mit Cory rummachen und Bier-Pong spielen und sie einfach vergessen. Tut mir leid, aber so läuft das bei mir nicht.«
Taylor sah sich kurz um, dann beugte sie sich vor und sagte: »Tu doch nicht so, als wärst du bloß wegen Susannah traurig. Es geht dir doch auch um Conrad, und das weißt du selber.«
Ich konnte es nicht fassen, was sie da gerade gesagt hatte. Es hatte wirklich gesessen. Und zwar deswegen, weil es stimmte. Trotzdem war es ein Schlag unter die Gürtellinie. Mein Vater sagte immer, Taylor sei nicht zu besiegen. Recht hatte er. Aber egal, Taylor Jewel war nun mal ein Teil von meinem Leben, so wie ich von ihrem.
»Wir können schließlich nicht alle so sein wie du«, sagte ich, und das war gar nicht mal ausschließlich als Spitze gemeint.
»Aber wenigstens bemühen könntet ihr euch«, schlug sie mit einem kleinen Lächeln vor. »Hör zu, das mit Cory tut mir leid. Ich wollte nur, dass du wieder froh bist.«
»Ich weiß ja.«
Sie legte einen Arm um mich, und ich ließ es zu. »Das wird ein ganz toller Sommer, du wirst schon sehen.«
»Ein toller Sommer!«, echote ich. Toll musste er für mich gar nicht werden, mir würde es schon reichen, ihn einfach nur zu überstehen. Dass es irgendwie weiterging. Diesen Sommer musste ich schaffen, der nächste wäre dann sicher leichter. Bestimmt.
Also blieb ich noch ein bisschen. Saß mit Davis und Taylor auf der Veranda, sah zu, wie Cory mit einer aus dem Sophomore-Jahrgang flirtete, aß einen Hotdog. Dann fuhr ich nach Hause.
So ist jetzt also das Leben