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Welf Sundermann

Kommunalverfassung in Nordrhein-Westfalen

 

Begründet von
Johannes Schwabe †

 

7. überarbeitete Auflage

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eISBN 978-3-7869-0970-5

ISBN 978-3-7869-0763-3

© 2009 und 2013 by Maximilian-Verlag, Hamburg

Ein Unternehmen der Tamm Media

Alle Rechte vorbehalten

Produktion: Anita Krumbügel

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

A Geschichtliche Einführung

I.

Entstehung und Entwicklung der Gemeinden bis zum Dreißigjährigen Krieg

1.

Dorf

2.

Stadt

II.

Vom Westfälischen Frieden bis zu den Steinschen Reformen

III.

Reichsfreiherr vom Stein und die Idee der kommunalen Selbstverwaltung

IV.

Kommunalverfassungsrechtliche Entwicklung bis zur Entstehung des Landes Nordrhein-Westfalen

1.

Preußische Kommunalverfassungsgesetze

2.

Deutsche Gemeindeordnung vom 30. Januar 1935

3.

Kommunalverfassung nach 1945

B Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen für die Gemeinden und Gemeindeverbände

I.

Einbettung der Selbstverwaltung in die Staatsverwaltung

II.

Begriff und Funktion der kommunalen Selbstverwaltung

III.

Kommunale Garantien nach dem Grundgesetz

1.

Existenzgarantie für Gemeinden und Kreise

2.

Garantie der Allzuständigkeit

3.

Selbstverwaltungsgarantie im engeren Sinne

3.1

Personalhoheit

3.2

Organisationshoheit

3.3

Finanzhoheit

3.4

Planungshoheit

4.

Garantie des Satzungsrechts

5.

Finanzgarantie

6.

Garantie der Garantien

IV.

Kommunale Garantien nach der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen

1.

Existenz-und Verwaltungsgarantie für die Gemeinden und Gemeindeverbände

2.

Garantie der Selbstverwaltung und der Allzuständigkeit

3.

Finanzgarantie

V.

Verfassungsrechtliche Schranken der kommunalen Selbstverwaltung

VI.

Kommunalverfassungsbeschwerde

VII.

Wichtige Rechtsquellen des Kommunalverfassungsrechts in Nordrhein-Westfalen

VIII.

Typen kommunaler Körperschaften in Nordrhein-Westfalen und ihre Rechtsstellung

1.

Typen kommunaler Körperschaften

2.

Rechtsstellung der kommunalen Körperschaften

2.1

Begriffe Gebietskörperschaft und Gemeindeverband

2.2

Fähigkeiten der kommunalen Körperschaften

2.3

Name und Bezeichnung

2.4

Siegel, Wappen und Flaggen

C …Öffentliche Aufgaben im kommunalen Bereich

I.

Einführung und Einteilung

II.

Unterteilung nach der Rechtsnatur

1.

Selbstverwaltungsaufgaben

1.1

Freiwillige Aufgaben der Selbstverwaltung

1.2

Pflichtaufgaben der Selbstverwaltung

1.3

Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung

2.

Staatliche Auftragsangelegenheiten

2.1

Auftragsangelegenheiten kraft Bundesrechts

2.2

Auftragsangelegenheiten des Landes

2.3

Auftragsangelegenheiten der Gemeindeverbände

3.

Aufgaben der Hauptverwaltungsbeamten als entliehenes Organ des Staates

III.

Verteilung der Aufgaben auf die verschiedenen Stufen gemeindlicher Verwaltung

IV.

Neue Wege der Aufgabenerfüllung

D Rat der Gemeinde

I.

Wahl des Rates

II.

Rechte und Pflichten der Ratsmitglieder

1.

Rechte der Ratsmitglieder

1.1

Rechte des einzelnen Ratsmitgliedes

1.2

Rechte einer Mehrzahl von Ratsmitgliedern

2.

Pflichten der Ratsmitglieder

2.1

Pflichten als »Ortsparlamentarier«

2.2

Treupflicht/Vertretungsverbot

2.3

Pflicht zur Verschwiegenheit

2.4

Mitwirkungsverbot

2.5

Haftung

III.

Ratsvorsitzender

1.

Allgemeines

2.

Wahl des Bürgermeisters

3.

Wahl der ehrenamtlichen Stellvertreter des Bürgermeisters

4.

Abwahl des Bürgermeisters Abberufung seiner ehrenamtlichen Stellvertreter

5.

Konstituierende Ratssitzung

6.

Aufgaben des Bürgermeisters als Ratsvorsitzender

6.1

Vorsitz im Rat

6.2

Vorsitz im Hauptausschuss Teilnahme an Sitzungen der Bezirksvertretungen und der Ausschüsse

6.3

Vertretung und Repräsentation des Rates

IV.

Zuständigkeit des Rates

V.

Rechtsstellung des Rates

VI.

Fraktionen im Rat

1.

Begriff und Rechtsnatur

2.

Bildung, Auflösung

3.

Fraktionswechsel, -austritt, -ausschluss

4.

Fraktionsspaltung

5.

Aufgaben der Fraktionen

6.

Rechte der Fraktionen

7.

Zuwendungen an Fraktionen

E Ausschüsse

1.

Funktion der Ausschüsse

2.

Arten der Ausschüsse

3.

Bildung der Ausschüsse

3.1

Wahl der Ausschussmitglieder

3.2

Bestimmung der Ausschussvorsitzenden

4.

Verfahren in den Ausschüssen

4.1

Entsprechende Anwendung der Ratsvorschriften

4.2

Besonderheiten

4.3

Auslegungsfragen

5.

Zu den Ausschüssen nach Bedarf

6.

Zu den Pflichtausschüssen nach der GO

6.1

Hauptausschuss

6.2

Finanzausschuss

6.3

Rechnungsprüfungsausschuss

7.

Zu den bedingten Pflichtausschüssen

7.1

Bezirksausschuss

7.2

Betriebsausschuss

7.3

Krankenhausausschuss

8.

Zu den Pflichtausschüssen nach anderen gesetzlichen Bestimmungen

8.1

Allgemeines

8.2

»Echte« Ratsausschüsse

8.3

»Unechte« Ratsausschüsse

9.

Beiräte

9.1

Integrationsrat, Integrationsausschuss

9.2

Weitere Beiräte

10.

Andere Gremien, in die der Rat Vertreter entsendet

F Aufgaben und Stellung des Bürgermeisters Wahl, Aufgaben und Stellung der Beigeordneten

I.

Allgemeines

II.

Aufgaben des Bürgermeisters als Hauptverwaltungsbeamter

1.

Funktionen bei der Wahrnehmung der kommunalen Aufgaben

2.

Verpflichtungen gegenüber Rat, Bezirksvertretungen und Ausschüssen

3.

Aufgaben als Inhaber der Organisations- und Personalhoheit

4.

Durchführung der Beschlüsse; gesetzliche Vertretung der Gemeinde

5.

Beanstandungspflicht

5.1

Beanstandung nach § 54 Abs. 2 und 3 GO

5.2

Beanstandung nach § 122 Abs. 1 GO

6.

Aufgaben in Organleihe

7.

Kontrolle des Bürgermeisters durch den Rat

III.

Wahl, Aufgaben und Stellung der Beigeordneten

1.

Allgemeines

2.

Wahl der Beigeordneten, Abberufung

3.

Funktionen und Rechtsstellung der Beigeordneten

G Satzungsrecht der Gemeinden

I.

Satzung als Rechtsquelle

1.

Satzungsbegriff

2.

Rechtsgrundlagen des Satzungsrechts

3.

Satzungsgewalt und Gewaltenteilung

II.

Bereiche des kommunalen Satzungsrechts

1.

Einführung und Katalog

2.

Hauptsatzung

3.

Haushaltssatzung

4.

Betriebssatzung

5.

Satzungen nach anderen gesetzlichen Vorschriften

6.

Satzungen nach Bedarf

III.

Zustandekommen von Satzungen

1.

Normalverfahren

2.

Sonderregelung des § 7 Abs. 6 GO

3.

Zustandekommen von Satzungen auf dem Dringlichkeitswege

IV.

Bewehrung von Satzungen

V.

Kommunale Satzung und Verwaltungsgerichtsbarkeit

VI.

Kommunale Satzung und Bürgerentscheid

H Einwohner und Bürger

I.

Allgemeines

II.

Rechte und Pflichten der Einwohner und Bürger

III.

Besondere Mitgestaltungsrechte

1.

Einwohnerantrag

2.

Bürgerbegehren, Bürgerentscheid

2.1

Bürgerbegehren, Ratsbegehren

2.2

Bürgerentscheid, Ratsbürgerentscheid

I Gemeindegebiet

I.

Gebietsbestand

II.

Gebietsänderungen

1.

Kommunale Neugliederung in Nordrhein-Westfalen

2.

Verfahren bei Gebietsänderungen

2.1

Initiative

2.2

Zulässigkeit

2.3

Gebietsänderungsverträge

2.4

Recht auf Anhörung

2.5

Vollzug und Wirkungen der Gebietsänderung

2.6

Rechtsschutz

III.

Gebietsgliederung

1.

In kreisfreien Städten

1.1

Bezirksvertretungen

1.1.1

Bildung der Bezirksvertretungen

1.1.2

Verfahren in der Bezirksvertretung

1.1.3

Aufgaben der Bezirksvertretungen

1.2

Bezirksverwaltungsstellen

2.

In kreisangehörigen Gemeinden

2.1

Bezirksausschüsse

2.2

Ortsvorsteher

J Staatsaufsicht

I.

Recht des Staates auf Aufsicht

II.

Aufsichtsbefugnis und Arten der Aufsicht

III.

Mittel der Aufsicht

1.

Präventiv-(vorbeugende) Aufsicht

2.

Repressiv-(beugende) Aufsicht

IV.

Anfechtung von Aufsichtsmaßnahmen

V.

Schlussbemerkungen zur Staatsaufsicht

K Kreise

I.

Allgemeines und Geschichtliches

II.

Personelle und territoriale Grundlagen des Kreises

1.

Rechte und Pflichten der Kreiseinwohner

2.

Kreisgebiet

III.

Aufgaben der Kreise

IV.

Wahl, Stellung und Funktionen der Kreisorgane

1.

Kreistag

2.

Kreisausschuss und sonstige Ausschüsse des Kreistages

3.

Landrat

3.1

Wahl, Abwahl

3.2

Aufgaben des Landrates als Vorsitzender des Kreistages

3.3

Aufgaben des Landrates als Hauptverwaltungsbeamter

3.4

Aufgaben des Landrates als untere staatliche Verwaltungsbehörde

L Landschaftsverbände

I.

Historische Entwicklung

II.

Rechtscharakter der Landschaftsverbände

III.

Aufgaben der Landschaftsverbände, Finanzierung

IV.

Organe der Landschaftsverbände

1.

Landschaftsversammlung

2.

Landschaftsausschuss, Fachausschüsse

3.

Direktor des Landschaftsverbandes

M Landesverband Lippe

I.

Rechtscharakter

II.

Aufgaben

III.

Organe

1.

Verbandsversammlung

2.

Verbandsvorsteher

3.

Hauptausschuss/Wirtschaftsausschuss

N Regionalverband Ruhr

I.

Rechtscharakter

II.

Aufgaben

III.

Organe

1.

Verbandsversammlung

2.

Verbandsausschuss

3.

Regionaldirektor

O Gesetz über kommunale Gemeinschaftsarbeit

I.

Arbeitsgemeinschaften

II.

Zweckverband

1.

Bildung

2.

Aufgaben

3.

Organe

3.1

Verbandsversammlung

3.2

Verbandsvorsteher

4.

Wirtschaftsführung, Finanzen

5.

Änderung der Verbandssatzung; Auflösung des Zweckverbandes

III.

Öffentlich-rechtliche Vereinbarung

P Kommunale Spitzenverbände

I.

Begriff

II.

Historische Entwicklung

III.

Supranationale Zusammenschlüsse

IV.

Rechtsform und Organisation

V.

Arbeit und Wirkungsweise

VI.

Rechtliche Verankerung der Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände am Gesetzgebungsverfahren

Q Kommunalverfassungsstreit

Aus dem Leben Steins

Gesetz zu der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung

Literaturhinweise

Abkürzungsverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Vorwort zur 7. Auflage

Die 7. Auflage wurde erforderlich, weil die Vorauflage seit längerer Zeit vergriffen war und durch das GO-Reformgesetz vom Oktober 2007 wichtige Änderungen im nordrheinwestfälischen Kommunalverfassungsrecht eingetreten sind.

Am 19. November 2008 jährte sich der Erlass der Preußischen Städteordnung des Freiherrn vom Stein zum 200. Male. Dieses Lehrbuch versteht sich als Unterstützung und Förderung der Idee der kommunalen Selbstverwaltung; ganz im Sinne auch seines Begründers Johannes Schwabe, von dessen Ableben im September 2007 ich der Leserschaft mit tiefem Bedauern Kenntnis zu geben habe.

Der Autor hofft, dass sein Buch dem Verwaltungsnachwuchs nützlich und allen anderen, die einen Überblick über das Kommunalverfassungsrecht in Nordrhein-Westfalen erhalten möchten, dienlich sein kann.

Gütersloh, im August 2009

Welf Sundermann

Vorwort zur 4. Auflage

Die 4. Auflage des Leitfadens wurde aus mehreren Gründen notwendig. Zum einen war die 3. Auflage in der Fassung des Ergänzungsheftes seit einiger Zeit vergriffen. Zum anderen haben zahlreiche und z.T. umfangreiche Gesetzesänderungen im Kommunalverfassungsrecht eine inhaltliche Gesamtüberarbeitung des Lehrbuches unumgänglich gemacht.

Eine einschneidende Änderung hat sich aber auch dadurch ergeben, dass Johannes Schwabe, der Begründer dieses Leitfadens, aus Altersgründen auf die weitere aktive Mitgestaltung des Werkes verzichtet hat.

Mit dem Dank fürs eine über drei Auflagen hinweg geleistete Arbeit an »seinem« Buch und damit für die Sache der kommunalen Selbstverwaltung verbinde ich den Wunsch, dass er auch in Zukunft unser Werk mit kritischem Interesse und hilfreichem Rat begleiten möge.

Der 4. Auflage wünsche ich weitere Bewährung als nützliche Hilfe für alle Leser des Leitfadens.

Gütersloh, im Februar 1990

Welf Sundermann

Vorwort zur 1. Auflage

Durch die Änderung kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften des Landes Nordrhein-Westfalen mit Wirkung vom 1. Oktober 1969 wurden insbesondere die Gemeindeordnung und die (Land-)Kreisordnung novelliert. Diese beiden Gesetze sind in der Neufassung unter dem 11. August 1969 bekannt gemacht worden (SVG. NRW.2020/2021).

Bisher hat es an einem geeigneten Leitfaden gefehlt, der die Änderungen des Kommunalverfassungsrechts in Nordrhein-Westfalen einbezieht. Diese Lücke will die vorliegende Neuerscheinung schließen.

Das Buch ist hauptsächlich für die Lehrgänge an den Studieninstituten für kommunale Verwaltung (bisher Gemeindeverwaltungsschulen) gedacht. Es soll aber allen Ausbildern und Auszubildenden und überhaupt den Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die mit dem Kommunalverfassungsrecht befasst sind, im Unterricht und Praxis eine Hilfe sein. Als Informationsquelle für die Mitarbeit in Rat und Ausschüssen wird das Buch darüber hinaus die Mitglieder der kommunalen Vertretungskörperschaften interessieren.

An dieser Stelle möchte ich meinem verehrten Lehrer Oberbürgermeister a.D. Ernst Althaus, Herford, danken, der in den Jahren 1954/55 mein Interesse am kommunalen Verfassungsrecht weckte und dessen Unterricht mir für meine spätere Tätigkeit als Schriftführer des Rates der Stadt Bielefeld und für mein jetziges Lehramt viel bedeutet hat.

Meinem Kollegen Dipl.-Komm. Werner Finke danke ich für die kritische Durchsicht des Manuskripts und wertvolle Anregungen; Stadtoberinspektor Horst Bohnenkamp für das Stichwortverzeichnis, die Liste der Satzungen und andere Hilfen.

Dem Maximilian-Verlag sei Dank gesagt für die vertrauensvolle Zusammenarbeit und große Sorgfalt bei der Vorbereitung dieser Neuerscheinung.

Bielefeld, im April 1972

Johannes Schwabe

A Geschichtliche Einführung

 

I. Entstehung und Entwicklung der Gemeinden bis zum Dreißigjährigen Krieg

 

Mit dem Übergang vom Normadentum zur Sesshaftigkeit finden wir bei unseren germanischen Vorfahren das Dorf als weitere Form des Gemeinschaftslebens neben der Familie, die noch zur Zeit des Hordendaseins als ältester Verband allein den Zusammenschluss der Menschen bestimmte. Die Notwendigkeit, einander Beistand zu leisten, zwang zur Gründung einer Gemeinschaft mit Rechtscharakter, die über den Rahmen der Sippe (Großfamilie) hinaus nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit wesentliche Bedürfnisse der Gemeindeglieder erfüllte; vorerst noch ohne entscheidendes Einwirken eines übergeordneten Verbandes.

1

Wir finden hier die ursprüngliche Form eigener Willensbildung auf der untersten Stufe; man nennt daher die ländliche Gemeinde auch »Urzelle der Demokratie«.

2

Im Verlauf der historischen Entwicklung begegnen wir jedoch zwei Grundformen kommunalen Lebens: neben das Dorf tritt die Stadt. Die unterschiedliche Ausprägung dieser beiden Typen baut sich erst in unserer Zeit ab und führt damit zur Abflachung des Gefälles Stadt-Land und schließlich zum Ausgleich durch die Schaffung von Großgemeinden.

3

1. Dorf

 

Die Germanen gründeten keine Städte. Vorherrschende Niederlassungsform war die Dorfsiedlung. Das Leben auf Einzelhöfen – auf »eigenem Los«– hat u.a. in Niedersachsen und Westfalen größere Bedeutung erlangt, nicht aber allgemein. Im Dorf standen Haus und Garten im Eigentum des Dorfgenossen (Dorbering). Die Feldmark wurde zunächst durch Rodung gemeinschaftlich gewonnen, entwickelte sich aber auch hin zum Eigentum des Einzelnen, der Eigentum an Flächen gewann, die er zusätzlich rodete, während Weide und Wege, Bachläufe u.a. als »Allmende« Gemeinschaftseigentum waren und somit jedem

4

Dorfgenossen zur Verfügung standen.1 Nach Art der heutigen Zweckverbände gab es Markgenossenschaften, zu denen sich die Dörfer zur Wahrnehmung gemeinsamer Aufgaben zusammenschlossen, z.B. zur Regulierung von Wasserläufen. Neben dem freien Mann, der als »Vollgenosse« das Gemeindeleben mitzutragen hatte, gab es Abhängige in verschiedener Abstufung bis hin zum völlig Unfreien. Die Verantwortung für das Gemeinwesen trug zunächst die Dorfversammlung, deren Vorsteher – oft Bauermeister genannt – unter der aufkommenden Grundherrschaft immer mehr Zuständigkeiten zum Nachteil der

5

genossenschaftlichen Vertretung gewann. Schließlich setzte ihn der Grundherr ein und machte ihn für das Geschehen im Dorf verantwortlich. Die rechtliche Selbstständigkeit

6

der Dörfer stand jedoch nie außer Zweifel. Im Gegensatz dazu verlor das Dorf im Bereich der Gutsherrschaft im Deutschen Osten diese Rechtsstellung bald und wurde Teil der gutsherrschaftlichen Organisation. Mit dieser Entwicklung schwand die Bedeutung, die das Dorf als Rechts-und Friedensgemeinschaft allmählich gewonnen hatte, die gebot, dass Vergehen gegen seine Rechtsordnung geahndet und seine Aufgaben rechtlich gesichert wurden (früheste Rechtsquelle ist die lex salica, 500 n. Chr.); große Bedeutung erlangte der Sachsenspiegel (Spiegel = Aufzeichnung) des Eike von Repkow (1221 bis 1230/35).

7

8

Von jeher hat es Bemühungen gegeben, Dörfer zur Hebung ihrer Leistungskraft zusammenzuschließen. So sind die Kirchspiele entstanden, die in gewisser Weise Vorläufer unserer Ämter sind, die inzwischen zugunsten von Großgemeinden aufgegeben worden sind. Die Dorfgemeinschaften sind bisweilen auch im Einzelnen für die Erlangung städtischer Rechte eingetreten. Sie haben sich »freien« lassen. Viele trotzten dem Landesherrn das Marktrecht ab. Die so genannte Wik2, eine Handels-und Kaufmannssiedlung, entstand in der Karolingerzeit als Marktgründung, ohne dass diese »Weichbilder« damit zu Städten erhoben wurden, allerdings schloss das die spätere Stadterhebung nicht aus (ähnlich in Süddeutschland die Marktflecken). Vielfach fehlte diesen Gemeinwesen nur noch die Bezeichnung Stadt. Es kann daher nicht pauschal von Macht und Reichtum der Städte und Ohnmacht und Elend des Dorfes im Mittelalter gesprochen werden.

9

Dennoch darf nicht übersehen werden, dass mit dem Aufkommen der Partikulargewalten die eigenständige Aufgabenerfüllung des Dorfes durch den Grundherrn, später durch den Landesfürsten, so eingeschränkt wurde, dass sie in einigen Gebieten nahezu beseitigt war. In einem langwierigen Prozess hatte ohnehin die ländliche Bevölkerung fortschreitend auch die individuellen Freiheitsrechte eingebüßt, und bis in das 19. Jahrhundert hinein schleppte sich die »neuzeitliche« Version der Leibeigenschaft, die so genannte Gutsuntertänigkeit (s.a. A 29). Gerade hier sind jedoch die unterschiedlichen landschaftlichen und örtlichen Gegebenheiten zu werten. Auch rückläufige Entwicklungen dürfen nicht übersehen werden. Zwar war im Jahre 1000 die überwiegende Zahl der deutschen Bauern hörig, die Kreuzzüge und die wirtschaftliche Entwicklung im 12. und 13. Jahrhundert zwangen aber die Grundherren vielfach zu erheblichen Zugeständnissen, so dass sich der Bauer oft freikaufen konnte und es zu einer »mittelalterlichen Bauernbefreiung« kam. Erst mit der Rückkehr des durch den Landsknecht ersetzten Ritters zur Landwirtschaft begann der Niedergang bäuerlicher Freiheiten, der dann in den Bauernkriegen ein

 

erschütterndes Aufbegehren dieses Standes brachte.3 Die Abhängigkeit der Landbevölkerung führte unter dem System der Gutsherrschaft zu einem Höchstmaß an Entrechtung. Hatte die Grundherrschaft im Wesentlichen privatrechtliche Züge, so besaß die Gutsherrschaft in den östlichen Besiedlungs-und Kolonisationsräumen öffentlich-rechtlichen Charakter.

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Mit dem angelegten Gut verband sich für den Edelherrn erblich das Schulzenamt über das Dorf. Das preußische Allg. Landrecht von 1794 (Teil II Tit. 7 §§ 18-86) regelte die Rechtsverhältnisse der preußischen Dorgemeinden. § 47 schrieb die Ernennung des Dorfschulzens durch den Gutsherrnvor. § 91 gab Rittergutsbesitzern das Recht, Untertanen zu haben »und herrschaftliche Rechte über dergleichen Leute auszuüben« (Erbuntertänigkeit)4 Wenn man dazu den armseligen Bildungsstand einer so gehaltenen Bevölkerung berücksichtigt, so wird der Ausschluss der Landbewohner von der Betätigung für ihr Gemeinwesen offenbar. – Nachdem die Französische Revolution die Bauern in Frankreich befreit hatte und ihre Auswirkungen das übrige Deutschland erfassten, gelangte in der Folge auch die deutsche Landbevölkerung in einem mühevollen Prozess zur Wiedererlangung ihrer Freiheiten. Die Kommunalverfassung der Landgemeinden so zu verbessern, dass Stadt und Land ihren Bürgern in angemessenem Standard öffentliche Einrichtungen anbieten können, ist erst in unseren Tagen eingeleitet worden. Hier hatte die Amtsverfassung, wo sie im Lande NRW errichtet war, in unserem Bereich seit langem viel dazu beigetragen, die Kluft

 

Stadt und Land zu überbrücken und – wie es ihre Bestimmung war – die Verwaltungskraft des flachen Landes gehoben.

2. Stadt

 

Die ersten Städte im germanischen Raum wurden von den Römern gegründet. Sie gelangten bald zu einer beachtlichen Blüte. Waren Sie auch im Vergleich zu der Millionenstadt Rom Provinzstädte, so zählte doch z.B. Trier im 4. Jahrhundert mehr als 80.000 Einwohner. Auch Köln hatte damals 50.000 Einwohner, Zahlen, die die deutschen Städte des Mittelalters nie erreicht haben. Andere römische Gründungen, wie Bonn, Worms, Straßburg, Regensburg, Augsburg und Wien blieben demgegenüber klein. Rom war auch in der Anlage Vorbild für diese Städte. In einer Folge von Eroberungen und Brandschatzungen durch Franken, Hunnen, Normannen, Sarazenen und Magyaren sind die Zeugen römischer Vergangenheit in vielen Städten untergegangen. Mit dem Abzug der Römer verloren diese urbanen Zentren außerdem ihre wirtschaftliche Grundlage als Verwaltungssitz und Handelsplatz. Es wird daher zutreffend vom 9. Jahrhundert als der »städtelosen Zeit« gesprochen.5 Eine Kontinuität der Stadtkultur nördlich der Alpen lässt sich nur mit erheblichen Abstrichen im Einzelfall nachweisen. Einige Römerstädte blieben erhalten, weil sie es zum Bischofssitz brachten. Derartige religiöse Mittelpunkte führten sogar zur Entstehung weiterer Städte (z.B. Paderborn, Münster, Magdeburg).

 

Außerdem entwickelten sich städtische Siedlungen an günstigen Verkehrsknotenpunkten (z.B. so genannte Brückenstädte an Handelswegen), im Anschluss an königliche Pfalzen (z.B. Frankfurt, Nürnberg), an herzogliche oder gräfliche Burgen (z.B. München, Braunschweig); in Sachsen und Thüringen besonders unter Heinrich I. (z.B. Quedlinburg, Merseburg, Goslar). In diesen Städten kam es nach und nach zu einer städtischen Verfassung, die sich vom offenen Lande unterschied und den besonderen Verhältnissen einer Stadt Rechnung trug. Die Mehrzahl der deutschen Städte ist allerdings nicht auf diese allmähliche und vielgestaltige Weise entstanden, sondern verdankt ihre Entstehung und ihren planmäßigen Grundriss mit den sich rechtwinklig

11

schneidenden Straßen einem ausdrücklichen Gründungsentschluss.6 Diese planmäßigen Städtegründungen häuften sich im 12. und 13. Jahrhundert und wurden durch königlichen und später auch durch landesherrlichen Willen bewirkt.

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Sie unterscheiden sich von der Stadterhebung (Verleihung von Stadtrechten an bestehende Ortschaften) dadurch, dass hier »der Gründungsgedanke als einmalige schöpferische Tat zutage trat; schöpferisch planvoll in der städtebaulichen Gestaltung, neubildend in der Setzung eines neuen Gemeinwesens und vorausschauend in seiner Zweckbestimmung.« Während in unserem Raume die Bischöfe mehr zu Stadterhebung neigten (Lübbecke 1279),

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sind die Grafen von Lippe, von der Mark und etwa gleichzeitig auch die Grafen von Ravensberg hauptsächlich als Stadtgründer aufgetreten. Von den fünf Stadtgründungsplänen der Grafen von Ravensberg (später wurde noch eine Sechste versucht) hat allerdings »allein Bielefeld den Erwartungen entsprochen« (1214 von Graf Hermann von Ravensberg gegründet und mit Münsterschem Stadtrecht »bewidmet«). Zu den »alten« Städten zwischen »Rhein und Weser« – Soest und Dortmund, den Reichsstiftsstädten Minden, Münster und Paderborn und den abteilichen Stiftstädten Essen, Herford und Höxter – trat nun die gegründete und die erhobene Landstadt.7

 

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Zu den Merkmalen der mittelalterlichen Stadt gehörte zunächst das Marktrecht. Daraus erwuchs die Notwendigkeit einer zügigen Rechtspflege an Ort und Stelle, so dass die niedere Gerichtsbarkeit den Städten anvertraut wurde. Einige Städte erlangten sogar die hohe Gerichtsbarkeit. Alle aber gewannen die Wehr- und Steuerhoheit. Zum Schutz von Menschen und Gütern verwandelte man die Ansiedlung durch Anlage von Wall und Graben in eine Großburg, und der Städter wurde zum Bürger. Zunächst sehen wir die städtischen Ämter (Rat und Bürgermeister »Schöffen«) in den Händen und altfreien Grundbesitzern und Kaufleuten (Patrizier oder Geschlechter). Zahlenmäßig überwogen in den ersten Jahrhunderten die Zuwanderer. Der Haupterwerbszweig war das Handwerk – neben Handel und Ackerbau (Ackerbürger).

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Um Überproduktion auszuschließen, aber gleichzeitig auch die Gewähr für Güte der Arbeit und angemessenen Preis übernehmen zu können, schlossen sich die Handwerker zu Zünften zusammen, die seit dem 12. Jahrhundert die mittelalterliche Stadtwirtschaft beherrschten. Sie haben einen wohlhabenden gewerblichen Mittelstand geschaffen, bildeten die Grundlage der städtischen Wehrverfassung und vermochten es, die handwerksmäßige Arbeit vielfach zur Kunst zu veredeln. Kirchen und Rathäuser, Gemälde und Bildwerke in Erz, Holz und Stein legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Mit Ausgang des 14. Jahrhunderts verfällt der »Zunftgeist« dem Eigennutz, er verhindert die Gewerbefreiheit und hemmt den wirtschaftlichen Fortschritt. Zunächst aber erkämpften sich die Zünfte die Teilhabe am Stadtregiment gegen die ratsfähigen Geschlechter. Fast überall setzten sich die Zünfte durch, allerdings mit unterschiedlichem Ergebnis. Mancherorts kam es zur Zunftherrschaft, in anderen Städten sicherten sich die Zünfte Plätze im Rat, oder es kam zur Einsetzung eines weiteren Rates neben dem alten (engeren) Rat. Dieser Erfolg verbürgte jedoch keine weitgehende Demokratisierung. Im Ergebnis war es nur eine Einbeziehung der Handwerks meister in

 

das Stadtregiment. Die wachsende Zahl der Gesellen und Tagelöhner blieb ausgeschlossen von der bürgerschaftlichen Mitverantwortung.

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Wenn auch die mittelalterliche Stadt im regen Warenaustausch mit ihrem Umland stand, so bildete doch der Fernhandel meist einen wichtigen Bestandteil der Wirtschaft. Wegen der zahlreichen Gefahren auf den Handelswegen schlossen sich die Kaufleute genossenschaftlich zu Gilden zusammen. Ähnliche Strukturen wie bei den Zünften (Ausschließung der Konkurrenz, Beschränkung der Betriebsgröße) setzten sich auch hier durch. Um sich auf gemeinsamen Fahrten und auch im Ausland zu schützen, schlossen sich die Kaufleute zu Bünden zusammen. Die mächtigste dieser »Einigungen« wurde die Hanse (allgem. Grundbedeutung: Schar in der Fremde). So finden wir denn in London (Stahlhof; Stahl = Muster, Probe), Wisby (auf Gotland), in Bergen, Riga und Nowgorod hansische Kontore. Als die betreffenden Länder sich selbst dieses Handels annahmen und die Privilegien der Hanse aufkündigten (Beschlagnahme des Stahlhofes 1598), begann der Niedergang dieses Städtebundes.

So wie es Dörfern in günstigen politischen Situationen oft gelang, dem Landesherrn städtische Freiheiten abzuringen, so gewann eine Anzahl von Städten ausreichend Macht und Bedeutung, um die Teilnahme am Reichsregiment durchzusetzen. Gemeint sind hier die Reichsstädte, von denen Hermann Conrad8 sagt, dass es sich dabei um »eigenartige Staatswesen im Rahmen der Verfassung des alten Reiches« gehandelt habe. Demnach sind zunächst die dem König gehörenden Städte zu Reichsstädten geworden, dazu traten solche Bischofs- und landesherrlichen Städte, die sich die Freiheit von ihrem Stadtherrn errungen hatten. So wurden auch die Bischofsstädte Augsburg, Köln, Regensburg und Straßburg freie Städte. Später entfiel die Unterscheidung in freie und in Reichsstädte.

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Diese Städte erschienen im Spätmittelalter auf den Reichstagen und erlangten schließlich die Reichsstandschaft (Regimentsordnung von 1500 und 1521). Der Westfälische Friede erkannte das 1582 vom Reichstag den Reichsstädten zugestandene Votum als gleichberechtigt neben dem Votum der anderen Reichskollegien (Kurfürstenkollegium und Reichsfürstenrat) an, wenn auch weiterhin das Städtekollegium von der Entscheidung in etlichen Reichsangelegenheiten ausgeschlossen blieb. Die Reichsstandschaft wurde vom Rat der reichsunmittelbaren Stadt ausgeübt. Ende des 18. Jahrhunderts hatten 51 Städte Sitz und (je eine) Stimme im reichsstädtischen Kollegium, dessen Vorsitz die Stadt innehatte, in der der Reichstag jeweils tagte. Die Zahl der Reichsstädte sank nach der Auflösung des Reiches (1806) erheblich. Der Deutsche Bund erkannte 1815 als Reichsstädte nur noch Bremen, Hamburg, Lübeck und Frankfurt a.M. an; Frankfurt kam 1866, Lübeck 1937 zu Preußen. Die Reichsstädte besaßen wie die anderen Reichsstände die Landeshoheit (ius territorii et superioritatis), wenn auch mit gewissen Einschränkungen.9 Das verführte später die Städte dazu, in Nachbildung absolutistischer fürstlicher Gewohnheiten sich als Herrschaft über die Bürger zu

 

betrachten. Besonders schlecht schnitt hier die außerhalb der Stadtmark, im Umland wohnende Landbevölkerung ab, die der Botmäßigkeit der über sie regierenden Stadt ausgesetzt war. Ein kaiserliches Reskript an den Rat der Stadt Frankfurt a.M. vom 11. Oktober 1746 erklärte demgegenüber, dass der Rat nicht die Vorrechte der Fürsten und Stände des Reiches genieße, sondern Verwalter des gemeinen Weisens sei, der Kraft kaiserlicher Ermächtigung von der Bürgerschaft gewählt werde.

 

Die Bürger sollten demnach nicht als Untertanen des Rates behandelt werden. Dennoch hat sich vielfach ein obrigkeitliches Regiment durchgesetzt. Die Bedeutung der Reichsstädte war von Anbeginn mit der kaiserlichen Macht verknüpft, mit deren Niedergang sich auch ihr Schicksal erfüllte. Die zur Aufrechterhaltung der Macht der Städte von ihnen gegründeten Städtebünde konnten auf die Dauer den Schutz des Reiches nicht ersetzen.

 

Die Einwohnerzahl der Reichsstädte wird vielfach überschätzt. Selbst die größeren unter ihnen haben römische Vorbilder nicht erreicht. Im 15. Jahrhundert zählte Köln 40.000, Nürnberg 16.000 bis 17.000, Straßburg 20.000 Einwohner.

 

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Die engmaschige Bebauung der ummauerten Stadt führte oft zu verheerenden Bränden und der Unrat in den Straßen zu Epidemien, die – besonders nach Auftreten der Pest – viele dahinrafften, so dass »Stadtluft« auch damals schon sehr gefährlich werden konnte. Doch auch das Wort »Stadtluft macht frei« hatte seine Bedeutung. Während über lange Phasen in den Städten ein Zugewinn an Freiheit zu verzeichnen war, hatte sich auf dem Lande die persönliche Abhängigkeit bis hin zur Leibeigenschaft durchgesetzt. – Wenn ein seinem Grundherrn entflohener Leibeigener mit erhobenen Armen durch das Holstentor in Lübeck schritt, um in der Freien Reichs-und Hansestadt Aufnahme zu suchen, so wurde er zum freien Mann, wenn es seinem Herrn nicht gelang, ihn »innerhalb von Jahr und Tag« zurückzufordern.

Êberzeugend muss auch der Eindruck der deutschen Stadt auf den Beschauer gewesen sein. So berichtet der Geschichtsschreiber Äneas Sylvius de Piccolomini 1458 bis 1464 (1442 Geheimsekretär Kaiser Friedrichs III. in Wien, 1455 Kardinal, 1458 bis 1464 Papst Pius II.):

 

Wir sagen es frei heraus, Deutschland war niemals reicher, niemals glänzender als heutzutage …

Kein Land in Europa hat bessere und freundlichere Städte als Deutschland. Ihr Äußeres ist so frisch und neu, es ist, als wären sie erst vorgestern fertig geworden …

In Österreich ist Wien die vorzüglichste Stadt mit wahrhaft königlichen Palästen und Kirchen, die Italien bewundern könnte. Gesandte aus Bosnien, die den Turm der Stephanskirche angestaunt, brachen endlich in die Worte aus: Der Turm hat mehr gekostet, als man für das ganze Königreich Bosnien bekäme. Die Schönheit und Größe der hochgegiebelten Privathäuser soll hier nicht einmal erwähnt werden …

Die Könige von Schottland würden wünschen, so gut zu wohnen wie die minderbemittelten Bürger von Nürnberg …

 

Nirgends unter allen Völkern gibt es so viel Freiheit als in deutschen Städten, darum ist bei den Deutschen alles heiter und fröhlich. Niemand wird seines Vermögens beraubt, jedem bleibt sein Erbe, und die Obrigkeit schadet keinem als dem, welcher anderen schadet …10

 

In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass am 23. August 1971 das 450-jährige Bestehen der »Fuggerei« in Augsburg begangen wurde. Diese älteste Sozialsiedlung der Welt war von den Kaufherrn Fugger mit Stiftungsbrief vom 23. August 1521 begründet worden. »Unverschuldet in Not geratene katholische Bürger der Stadt Augsburg« sollten hier Aufnahme finden. Diese Einrichtung hat allen Stürmen der Zeit getrotzt. Am Jubiläumstage lebten hier 250 Mitbürger zwischen 60 und 94 Jahren für eine symbolische Jahresmiete von 1,72 DM (Umrechnungskurs des »rheinischen Talers« von einst).

II. Vom Westfälischen Frieden bis zu den Steinschen Reformen

 

Der Untergang der »Städteherrlichkeit« ist nun – wie bereits mehrfach anklang – im Wesentlichen dem Erstarken der Territorialgewalten besonders im Verlauf und infolge des 30-jährigen Krieges zuzuschreiben. Fast alle Städte waren vom Kriege verheert, ihre Befestigungswerke geschleift, Ratsschatz und Hab und Gut der Bürger geraubt. Heinrich Beurhaus, Prorektor des Archigymnasiums in Dortmund, beschreibt den Zustand der freien Reichs- und Hansestadt nach dem Abzug der letzten kaiserlichen Truppen am 27. Juli 1650:

»Kaum noch der dritte Teil unserer einst so sehr wohlhabenden, so sehr zahlreichen Bürgerschaft möchte übrig seyn. So stark minderte dieses drangvollen Krieges Dauer unserer Bürger Zahl! Viele wurden von Barberey und Gram, zu früh für uns, einem unzeitigen Tode geopfert; viele gab der Mangel dem Grabe hin; viele wanderten aus und zogen ein freywilliges Exil ferneren Leiden durch Soldatenraserey vor. Leere Häuser, verhungerte Kinder, hinwelkende Körper ließen Execution und Contribution uns zurück.«11

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Dazu kamen die Auseinandersetzungen um die innere Kommunalverfassung, die zu einer Entrechtung der breiten Masse der Bürgerschaft führte. Die Ohnmacht, die städtische Finanzwirtschaft zu ordnen, vollendete den Ruin, so dass die Landesfürsten nunmehr mit den Städten nicht viel anders umgingen, als es mit den Landgemeinden ohnehin üblich war. Es darf aber nicht übersehen werden, dass auch dieser Prozess unterschiedlich verlief. In einzelnen Städten und Landgemeinden – das gilt insbesondere für landesherrliche Residenzstädte und solche Gemeinden, wo gewerblicher Fleiß fürstliche Anerkennung fand – hielt eine positive Entwicklung an. Durch die Ansiedlung neuer Gewerbezweige kam auch das Wirtschaftsleben in Gang.

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Am konsequentesten wurde die Beseitigung des Selbstverwaltungsrechts in Brandenburg-Preußen durchgeführt. Preuß12 berichtet darüber, dass nunmehr die Stadtverwaltung unterstes Organ der Staatsverwaltung wurde; entsprechend gehörte auch die Verfügung über städtisches Vermögen dazu. Rat und Beamte waren nachgeordnete fürstliche Diener. Der Entwurf eines »rathäuslichen Regiments für Berlin« aus dem Jahre 1736 ist hierfür beispielhaft; hier heißt es:

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»Principia republicana bringen dem Publico mehr Schaden als Nutzen, sind schon längst wohlbedächtlich supprimiert und abgeschafft und können infolglich ohne Verletzung der königlichen Autorität nicht von neuem eingeführt werden; sondern es werden Seine Königliche Majestät und dero geordnete hohe Collegia besser als der Magistrat urteilen und wissen, wie das Rathaus besetzet, die Stadt regieret und das gemeine Beste gehandhabt werden müsse.«13

 

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Noch sichtbarer wird der Zugriff des Staates durch die »Instruktion von 1766«, durch die den Gemeinden der königlich preußische Steuerrat zugeteilt wurde. Er mischte sich praktisch in alle kommunalen Angelegenheiten ein, insbesondere auch in den Geschäftsgang der Verwaltung durch Kontrolle des Haushalts, Zwangsmaßnahmen gegen Beamte u.a. Die eingeengte Befugnis der kommunalen Organe wird deutlich in der Vorschrift des preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794; »Übrigens genießen Stadtgemeinden in Ansehung ihres Cämmereyvermögens die Rechte der Minderjährigen.«14 Das preußische ALR besaß insofern auch für die Gemeinden große Bedeutung, weil es erstmalig für ganz Preußen einheitliches Städterecht geschaffen hat, das rathäusliche Instruktionen zuließ, die aber genehmigungspflichtig waren; zudem war dem Staat erlaubt, mit Weisungen unmittelbar in das Verwaltungsgeschehen einzugreifen. Die Bevormundung führte zum Desinteresse der Bürgerschaft an ihrer Gemeinde, und da sowohl Bayern als auch Württemberg Vorschriften erließen, die den gleichen Geist atmeten, kam die Mitwirkung der Bürgerschaft an der Gestaltung kommunalen Lebens in weiten

 

Teilen Deutschlands zum Erliegen. Erst der Zusammenbruch der mitteleuropäischen Staaten in Auswirkung der Napoleonischen Siege, insbesondere auf Grund der preußischen Niederlage gegen den französischen Kaiser bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806, führte zu einer Rückbesinnung auf die entrissenen gemeindlichen Freiheiten unter der Ägide des Reichsfreiherrn vom Stein.

 

III. Reichsfreiherr vom Stein und die Idee der kommunalen Selbstverwaltung

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Wirken und Persönlichkeit des Freiherrn vom Stein haben seit eh und je im Kreuzfeuer der Kritik gestanden. Revolutionäre klagen ihn an, weil er die Zerstörung der reaktionären Strukturen verhindert habe. Die Kräfte der Restauration haben ihn verdächtigt, auf einen sozialpolitischen Umschwung ausgewesen zu sein.

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Zu beiden Vorwürfen ist zu sagen, dass Stein sich zwar auf systemimmanente Veränderungen im Sozialgefüge beschränkte, innerhalb dieses Rahmens jedoch konsequent eine immer breiter werdende Schicht von Bürgern auf die Förderung des Gemeinwohls verpflichten wollte. Die umfangreiche Literatur zur Würdigung seiner Persönlichkeit hat eine weitere Bereicherung erfahren durch das Werk von Dieter Schwab: Die »Selbstverwaltungsidee« des Freiherrn vom Stein und ihre geistigen Grundlagen.15 In dieser Schrift wird überzeugend die Auffassung widerlegt, als habe Stein als Pragmatiker der Macht aus staatspolitischen Gründen allein die Teilhabe der Nation an den öffentlichen Aufgaben gefordert. Die Reformen seien auch bei Stein nicht allein im »Gemüthaften« verankert gewesen, und er habe nicht den Ton angebenden Zeitgenossen bei der Ausformung der Selbstverwaltung das Wesentliche zu danken, sondern vielmehr bestimmten Denktraditionen des 18. Jahrhunderts. Für jede wesentliche Position seiner »Selbstverwaltungsidee« lasse sich eine gewichtige

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Denktradition des 18. Jahrhunderts nachweisen. Einer Reihe von Einflüssen von Montesquieu, Shaftesbury, John Locke, Rousseau u.a. geht Schwab nach. Für das Kommunalrecht ist der Hinweis besonders bedeutsam, dass sich Stein offenbar in seinem Glauben an die Überlegenheit der freien Tätigkeit der Gesellschaft über die Beamtenhierarchie zur Verwirklichung des Gemeinwohls an den Liberalismus Adam Smith’s anlehnt. Stein glaubte