Christian Klier, 1970 in Nürnberg geboren, studierte Germanistik und Romanistik. Neben der fränkischen Lebensart, die der Autor sehr zu schätzen weiß, ist er bekennender Frankreich-Liebhaber. Er arbeitet als Autor und Lehrer und lebt in der Metropolregion Nürnberg. 2010 erschien sein Erstling »Klotz, der Tod und das Absurde«, 2012 folgte »Klotz und der unbegabte Mörder«.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: photocase.de/were
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-316-3
Originalausgabe
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Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
Dietrich Bonhoeffer
If I had a gun
I’d shoot a hole into the sun
And love will burn this city down for you.
Noel Gallagher
Prolog
Nürnberg, Silbersee am ehemaligen Reichsparteitagsgelände
Mittwoch, 18. September 2013, 8 : 37 Uhr
Der gezackte Bug trennte das Wasser. Zerschnitt mitleidslos die Morgensonne, die am Ufer jäh endete. Die Flugabwehrkanone, die sich dicht vor der Kommandobrücke befand, drehte sich nach links, dann wieder nach rechts. Auf dem Turm lachte ein Sägefisch, und im Wintergarten stand ein Marinesoldat, der den Himmel nach Flugzeugen absuchte.
Bernhard Dünnfelder war mächtig stolz, und er freute sich schon auf das kommende Wochenende. Da hatten sie wieder Modellboot-Treffen drüben am Großen Dutzendteich, und da würde er dann den Vereinskameraden sein neuestes Wunderwerk vorstellen können. Jetzt glitt das Weltkriegs-U-Boot noch friedlich durch die Fluten des Silbersees. Kümmerte sich nicht um den Schwefelwasserstoff-Gestank und die Sportangler, die in dieser Giftbrühe im Trüben fischten.
Dünnfelder beschloss, eine kreative Pause einzulegen, und stoppte die Motoren. Das U-Boot dümpelte nun wenige Meter vor dem gegenüberliegenden Ufer, über dem sich ein kleines Wäldchen erhob. Der Modellbau-Freund legte die Fernbedienung auf einen Klapptisch, nahm auf einem Campingstuhl Platz und suchte in seinem Rucksack nach etwas Essbarem.
Stets behielt Dünnfelder dabei den Stolz seiner Modellbaumarine im Blick. Während seine Finger ein Schnitzelbrötchen ertasteten, überlegte er, ob – und wenn ja, wie – er das Boot noch optimieren konnte. Da war zum Beispiel die Flak. Auf Knopfdruck verließen kleine gelbe Kügelchen, die eine Reichweite von bis zu vierzig Metern hatten, das Geschützrohr. Ob man da vielleicht eine flackernde Leuchte einbauen konnte, die das Geschützfeuer auch optisch simulierte? Das Problem war das Wasser. Die Gefahr war groß, dass bei einem Tauchgang Feuchtigkeit in die Lampe eindrang und diese dann unbrauchbar machte.
Gedankenverloren biss Dünnfelder in den Wecken und ließ seine Kiefer langsam das Schnitzel zermahlen.
Und was war mit den Torpedos? Waren die elektrischen wirklich besser als die gasbetriebenen? Schließlich befand sich im elektrischen Torpedo eine Batterie, die über ein nicht unerhebliches Gewicht verfügte und das Geschoss schneller nach unten zog, als das bei einem Gastorpedo der Fall war.
Er überlegte hin und her, als er plötzlich am Rand des Wäldchens zwei Gestalten aus den Büschen kommen sah. Dünnfelder griff nach dem Admiralsfernrohr.
Hm, die waren doch höchstens dreizehn oder vierzehn, die Burschen da drüben. Was machten die hier? Sollten die nicht eigentlich in der Schule sein? Soweit er wusste, waren die Sommerferien vorüber. Er war sich da sogar ziemlich sicher, schließlich hatte er beim letzten Familientreffen seinen Enkel gefragt, und der hatte gesagt, dass seit dieser Woche wieder Schule sei. Und der musste es ja wissen. Ging ja schon seit bald zehn Jahren in die Schule.
Die Jugendlichen traten auf einen Steg. Einer der beiden zog eine Zigarettenschachtel aus seiner Jeans, steckte sich eine Zigarette in den Mund und gab die Schachtel an seinen Kumpel weiter.
Das darf doch wohl nicht wahr sein, dachte Bernhard Dünnfelder, als das Feuerzeug aufflammte. Als ob der Stinkbombengeruch hier am See nicht schon genug wäre. Also irgendwie muss man da jetzt doch einschreiten! Es heißt ja immer, von wegen Zivilcourage und so.
Dünnfelder legte das Fernrohr beiseite, fasste sich ein Herz und brüllte: »Hey, ihr Buben! Wie alt seid ihr denn, dass ihr schon raucht?«
Die beiden saugten ungerührt weiter an ihren Glimmstängeln.
»Hey, ihr da!«, Dünnfelder winkte, »ja, euch mein ich!«
Jetzt schaute wenigstens einer zu ihm herüber.
»Hört gefälligst mit der Raucherei auf! Das ist ungesund! Und verboten ist es auch!«
Hatte er da richtig gesehen? Hatte der eine da mit der weißen Jacke ihm tatsächlich den Stinkefinger gezeigt?
»Sag mal, bist du noch ganz richtig da oben?«, Dünnfelder klopfte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, »dir werd ich’s zeigen, du Bürschla!«
Ein wütender Griff nach der Fernsteuerung. Die Zeit ist reif, dachte er grimmig, endlich mal die Wirksamkeit des Flakgeschützes zu erproben!
Das U-Boot setzte sich in Bewegung. Jetzt hatten auch die jugendlichen Raucher das graue Ungetüm bemerkt. Als Dünnfelder seine Geheimwaffe nahe genug wähnte, justierte er das Geschützrohr. Dann drückte er auf »Feuer«.
Der Junge mit der weißen Jacke schrie auf. Als ihm vor Schreck die brennende Kippe aus dem Mund fiel, konnte sich Großadmiral Dünnfelder das Lachen nicht verkneifen.
»So! Das habt ihr jetzt davon!«
Der angeschossene Teenager hielt sich die Backe. Erst jetzt fiel Dünnfelder auf, dass der andere Bub verschwunden war.
»Ja! Haut bloß ab hier! Geht zurück in die Schule, wo ihr hingehört!«
Vor seinem geistigen Auge sah Dünnfelder sich selbst, aufrecht stehend, in einer blauen Uniform. Im Hintergrund ein Hafenkai und zünftige Marschmusik. Und da war noch jemand anderes. Jemand, der auch in einer Uniform steckte und ihm gerade einen Orden an die geschwellte Brust heftete.
Ein platschendes Geräusch riss den virtuell dekorierten Helden aus seinen Gedanken. Dünnfelders Mund war geöffnet. Irgendein Laut wollte allerdings nicht entweichen. Das sind Steine, fuhr es ihm durch den Kopf. Steine, die da aus dem Gebüsch flogen und haarscharf neben seinem Boot einschlugen! Die Jugend von heute, dachte er weiter, hat nicht nur keinen Respekt mehr vor dem Alter. Nein, sie entblödet sich auch nicht, mit ungleichen Waffen zu kämpfen.
»Hey, du alter Sack!«, blökte es vom anderen Ufer, »glaubst du, dein Scheißkahn macht’s noch lange?«
Aber Dünnfelder hörte nichts mehr. Er war jetzt ganz und gar Kapitänleutnant. Hatte die volle Verantwortung über U 96. Musste kämpfen und das U-Boot dann wieder heil in den Heimathafen zurückbringen.
Inzwischen schleuderten beide Jungs Steine auf das Schiff. Dünnfelder biss die Zähne zusammen. Wenn es nur nicht zum Wassereinbruch käme! Hier schoss man nicht mehr mit Kanonen auf Spatzen, nein, der Vergleich hinkte: Hier warf man Atombomben auf kleine, unschuldige Marinesoldaten! Doch wenn man untergehen würde, würde man sich vorher wehren! Mit aller Kraft und allen Mitteln, die zur Verfügung standen.
Kaleun Dünnfelder öffnete die Torpedoklappen. Da traf ein Stein das Vorderdeck und riss das Flakgeschütz ins Wasser.
»Feuer«, brüllte Dünnfelder und drückte im Stakkato-Rhythmus auf den Auslöser für die Torpedos.
Als die Jugendlichen die länglichen Stäbchen sahen, die da durchs Wasser auf sie zusurrten, stellten sie tatsächlich für einen Moment ihren Beschuss ein. Dünnfelder nutzte die Unterbrechung, um das Tauchsystem zu aktivieren.
Nach wenigen Sekunden waren die Torpedos verhungert und sackten müde in die Tiefe. Die Buben lachten, und Dünnfelder ärgerte sich, dass er die kleinen Dinger nicht mit Sprengköpfen versehen hatte.
Der Tauchgang hatte begonnen, da schlug ein Stein am Heck ein. Der Schiffskörper schaukelte ein wenig, dann ging er unter.
Sobald das Boot unter der Wasseroberfläche verschwunden war, gaben die Jungs ihren Angriff auf und suchten das Weite.
Aus den Augen, aus dem Sinn, dachte Dünnfelder und schaltete den Scheinwerfer und die Unterwasserkamera ein. Auf dem integrierten Monitor seiner Fernbedienung erschienen Schlieren, eine trübe grünliche Suppe. Er würde noch ein paar Minuten warten, bis er ganz sicher war, dass die Buben nicht wieder zurückkamen. Dann würde er die Tauchfahrt beenden. Er überprüfte die Steuerung und gewann den Eindruck, dass irgendetwas nicht stimmte.
Die Drecksbagage musste das Tiefenruder erwischt haben! Das Boot wollte, konnte nicht mehr auftauchen! Zwar funktionierte der Motor noch, auch war eine Steuerung nach back- und steuerbord möglich, aber U 96 glitt immer weiter in die Tiefe hinab. Der Stolz seiner Kriegsmarine war unrettbar verloren, dachte Bernhard Dünnfelder, als er die Schiffsschrauben abstellte. Auf den Bildschirm fiel eine Träne.
Und dann, dann erschien auf dem Monitor etwas, das dem selbst ernannten Großadmiral vom Silbersee fast den Atem raubte.
Teil 1
Zwei Tage zuvor …
Nürnberg, Schießanlage IV. Bereitschaftspolizei-Abteilung
Montag, 16. September 2013, 9 : 14 Uhr
Er hörte Hilferufe. Aber er konnte niemanden sehen.
»Hier drüben!«
»Wo?«, fragte er unsicher.
Hauptkommissar Werner Klotz sprang aus der Seitengasse. Nun ja, es war zumindest die Andeutung eines Sprunges.
Peter Escherlich blickte seinen Kollegen auffordernd an. »Hier drüben, Werner! Wo bleibst du denn, verdammt?«
Klotz drückte sich an einer Mauer entlang. Er kontrollierte, ob er seine Waffe entriegelt hatte, dann sah er zu Escherlich, der hinter einer Hausecke auf der anderen Straßenseite Schutz suchte.
Plötzlich drehte sich Escherlich zu ihm herüber, hielt seine Pistole über Klotz und gab einen gezielten Schuss ab. Klotz vernahm das Klappern eines Fensterladens und blickte nach oben. Aus der Fensteröffnung drang ein Schmerzensschrei. Puh, das war gerade noch einmal gut gegangen.
»Kommst du jetzt endlich, oder willst du Wurzeln schlagen?«, raunzte Escherlich ihn an.
Klotz lief schnaufend über die Straße.
»Mein Gott, hast du vielleicht Achselterror!«, begrüßte ihn der Kollege.
Klotz sah links und rechts an sich hinunter und entdeckte die Schweißränder an seinem Hemd. Achselterror, dachte er, was war das überhaupt für ein Wort? Wahrscheinlich wieder irgendetwas Berufsjugendliches. Wie alt war dieser Escherlich eigentlich noch mal? War da nicht irgendwas mit Anfang vierzig? Und was trug der schon wieder für ein Shirt?
»Und was soll das da sein auf deiner Klamotte?«, pfiff er Escherlich an.
Der war gerade dabei, vorsichtig um die Hausecke zu linsen, drehte sich um und setzte eine Miene auf, die völliges Unverständnis ausdrückte. »Bist du jetzt völlig meschugge, Mann? Dir ist schon klar, was wir hier zu tun haben?«
Klotz bemerkte, dass man inzwischen näher an den Hilferufen dran war. Escherlich stieß Klotz mit dem Ellenbogen in die Seite. Dieser folgte dem Blick des Kollegen. Da war ein Fenster, das sich neben einem Balkon befand. Die Gardine hatte sich bewegt.
»Da ist jemand! Schieß, Mann!«
Schnell brachte Klotz seine Waffe in Anschlag. Doch bevor er etwas machen konnte, hatte Escherlich bereits abgedrückt.
»Werner, ich geb dir ’nen gut gemeinten Rat: Pass besser auf!«
Klotz überlegte, ob er noch etwas erwidern sollte, entschloss sich dann aber, zu schweigen. Letztendlich hatte Escherlich ja recht. Konzentration, das war hier jetzt angesagt.
»Hilfe, Hilfe!«
Klotz warf einen hektischen Blick um die Ecke. Neben einem Streifenwagen lag ein Uniformierter, der sich die Schulter hielt.
»Gut, Peter. Auf drei rennst du los, ich geb dir Feuerschutz!«, übernahm der Hauptkommissar das Kommando.
»Okay, also los. Eins, zwei …«
Escherlich preschte los. Als er den verletzten Kollegen bis auf wenige Meter erreicht hatte, schwang neben einem Garagentor plötzlich eine Tür auf. Klotz feuerte zwei Schüsse ab.
Ein schriller Signalton erklang. Und eine Warntafel, die sich am Ende des Kellers befand, hatte zu blinken begonnen: »Schießen sofort einstellen!« An der Decke schaltete sich eine Neonröhre nach der anderen ein, um die Schießanlage in ein kaltes, sachliches Licht zu tauchen.
»Oh Mann! Scheiße, Werner! Wir hätten es fast gehabt!«
Escherlich ließ seine Rotwaffe auf den Boden fallen. Erst jetzt konnte Klotz erkennen, was sich da in neongrüner Farbe auf dem Shirt seines Kollegen befand. Ein lachender Totenkopf und eine Bildunterschrift: Toxic!
Er hörte das Geklapper der Schuhe hinter sich näher kommen und dachte für einen Moment an ein Pferd. Allein an dem Rhythmus der Schritte erkannte er, dass da nichts Gutes im Anmarsch war. Jetzt hatte das Klappern aufgehört, dafür tippte ein Finger auf seine Schulter.
Klotz wischte das verschwitzte Haar zur Seite, dann drehte er sich um.
Toxic! las er jetzt nicht mehr, nein, er sah es kommen. Britta Gulden steckte in einem graublauen Hosenanzug. Die Bügelfalten über ihren schwarzen Schuhen erschienen Klotz wie die Klingen zweier scharfer Messer.
»Schauen Sie nicht auf meine Schuhe, Klotz! Sehen Sie mich an!«
Er spürte einen unangenehmen Luftzug am unteren Bauchbereich und zog das Polizeishirt nach unten.
»Frau Staatsanwältin?«
»Im Gegensatz zu Kommissar Escherlich wurde die Übung von Ihnen nicht erfüllt!«
Ihr Ton war ebenso trocken wie vernichtend. Er warf einen Blick auf die Pistole in seiner Hand. Der Finger befand sich immer noch am Abzug.
»Bevor Sie den Test ein zweites Mal machen werden, empfehle ich Sie erst mal an den Amtsarzt weiter.« Die giftgrünen Augen der Staatsanwältin sahen demonstrativ auf seinen Bauch.
Na, das kann ja heiter werden, dachte Klotz und erinnerte sich an seine letzte Diät vor einem halben Jahr und den darauffolgenden Jojo-Effekt, der bis heute noch nicht ausgestanden war.
Nun schaltete sich Escherlich ein, der mittlerweile bei den beiden stand. »Wenn ich das bemerken darf, Frau Staatsanwältin, ich glaube nicht, dass das nötig sein wird. Ich hatte eher den Eindruck, dass Werner Probleme mit der richtigen Atemtechnik hat.«
Danke, Peter!
»Ja, wie soll er denn richtig atmen, wenn er so eine Wampe vor sich herträgt?«
»Wenn ich auch was dazu sagen dürfte«, meldete sich Klotz zu Wort. »Ich hab ja mit dem Rauchen aufgehört, wie Sie wissen, und da …«
»Das ist doch schon Jahre her!«, unterbrach ihn die Staatsanwältin und scharrte mit den Hufen.
Dann warf sie ihren Ermittlern einen forschen Blick zu, wandte sich um und ging.
»Eine schöne Scheiße, in die du dich da hineinmanövriert hast!« Escherlich zog sich eine Gauloise aus einer Zigarettenschachtel.
»Rauchen verboten!«, ertönte es aus der anderen Ecke des Kellers.
Escherlich erkannte den Uniformierten wieder, der den Verletzten gespielt hatte.
»Sei bloß ruhig, du! Du Nichtraucher-Faschist! Das nächste Mal lass ich dich verbluten!«
»Komm, lass uns rausgehen, Peter«, schlug Klotz vor, der es ausnahmsweise mal für klüger hielt, heute keinen Konfrontationskurs zu fahren.
Die Kommissare waren bis an die Kornburger Straße gegangen. Durch das Waldstück gegenüber streifte ein Hund. In einiger Entfernung folgte ein älterer Mann. Er trug einen Berghut mit Gamsbart. Auf den Blättern der Bäume lagen Tropfen, die das schwache Sonnenlicht reflektierten. Es roch nach Forst und Erde. Der Herbst wird kommen, dachte Klotz, bald. Escherlich zündete sich seine Zigarette an.
Klotz wartete ein paar Rauchschwaden ab, dann begann er. »Du, Peter.«
»Ja?«
»Was hab ich eigentlich falsch gemacht?«
»Wie meinst du das?«, fragte Escherlich unsicher.
Offensichtlich hatte er den Eindruck, dass die Frage grundsätzlich gemeint war.
»Na ja, was hab ich da bei dem Schießtraining eben eigentlich verbockt?«
Escherlich musste husten. Er hatte sich verschluckt.
»Wie bitte?«, keuchte er. »Ist das dein Ernst?«
»Ja, schon. Ich hab doch alles richtig gemacht. Ich hab geschossen, sogar zwei Mal.«
»Auf einen Rentner, Mann! Einen alten Opa mit Stock!«
Klotz blickte seinen Kollegen ungläubig an.
»Ein alter Opa? Das war doch ein Skinhead mit einer Eisenstange in der Hand. Der wollte auf dich los!«
»Willst du mich verarschen, Werner? Soll das ein Scherz sein?«, Escherlich hustete noch einmal, dann lachte er auf. »Wir haben den 16. September, nicht den ersten April!«
»Nein, das ist kein Witz! Der hatte doch so ein Ding am Arm, da war ein Hakenkreuz drauf, das hab ich doch gesehen!«
»Ein Hakenkreuz? Bist du jetzt ganz von Sinnen? Das war eine gelbe Binde mit drei schwarzen Punkten!« Fassungslos warf Escherlich die halb aufgerauchte Zigarette weg.
Nach einer Weile sagte er: »Vielleicht hat die Gulden ja recht. Vielleicht ist es besser, wenn du mal einen Arzt aufsuchst. Aber nicht wegen deines Gewichts. Fang am besten bei den Augen an.«
»Das war eine Hakenkreuzbinde!«, protestierte Klotz. »Ich bin doch nicht blind!«
69 Jahre zuvor …
Nürnberg, Königstraße
Dienstag, 26. Dezember 1944, 21 : 24 Uhr
Sahen seine Augen noch, oder war er stockblind? Es war zu finster, um das entscheiden zu können. Mit den Fingerkuppen strich Aaron Schönsee über die Innenseite des Eichenschranks. Jetzt waren es eben seine Hände, die für ihn sehen würden, dachte er, und starrte in die Dunkelheit. Eine Leinwand, dachte er, eine tiefschwarze Leinwand, eine Fläche für Projektionen, für Gedanken, Gefühle und Erinnerungen.
Er erinnerte sich an Heiligabend. Zwei Tage war das jetzt her. Überall auf der Welt feierten die Menschen in dieser Nacht, sangen andächtige Lieder, gingen in ihre Kirchen und machten sich gegenseitig Geschenke. Vergaßen – wenn auch für Augenblicke nur – diesen schrecklichen Krieg und die unaussprechlichen Dinge, die überall geschahen. Die ganz besonders bei ihnen im Lager geschahen.
Heiligabend. Sie waren schon in ihren Stockbetten gelegen und hatten sich bemüht, die Kälte um sich herum zu vergessen. Um nicht zu frieren, um endlich einschlafen zu können. Um vielleicht in einen Traum zu fallen, der besser wäre als die Wirklichkeit, die sie umgab.
Es musste kurz vor Mitternacht gewesen sein, als die Türen zu den Baracken aufsprangen. Die harten Stiefel der SS auf den Holzbohlen. Alles aufstehen! Antreten zum Appell!
Wenige Sekunden später waren sie dann gestanden. Zitternd und in Reih und Glied. Vor ihnen ein angetrunkener SS-Mann, der ausspuckte und lachte. Der eine Sektflasche in die Luft hielt und grölte: »Na, ihr Scheißjuden, wollt ihr auch was?« Der die Antwort nicht abwartete, sondern einfach die Flasche warf, in die Menge hinein. Das Geräusch von splitterndem Glas. Und ein Häftling, der plötzlich aus seinem Auge blutete.
Zwei Gefangene schleppten einen Tannenbaum auf den Appellplatz. Hinter ihnen eine SS-Frau. Die beiden stellten den Baum auf. Als er stand, schmückten sie ihn mit Kerzen. Dann kamen mehrere SS-Männer und zündeten die Kerzen an. Die beiden Gefangenen verschwanden mit der SS-Frau in der Dunkelheit. Wenig später erschienen sie wieder. Sie hielten ein schweres Holzgestänge, das sie vor dem erleuchteten Christbaum abstellten. Alle auf dem Platz ahnten, was kommen würde, als sie den schweren, langen Balken sahen, der die beiden Stützen miteinander verband.
Die SS-Frau hatte die Peitsche von ihrem Gürtel gelöst. Jetzt schlug sie auf die Gefangenen ein, die den Christbaum und das Holzgestänge aufgestellt hatten.
»Ihr faules Pack! Ihr Zigeuner, ihr Ratten, ihr Judenschweine!«
Der betrunkene SS-Mann hatte den verletzten Häftling aus den Reihen gezogen. Packte ihn an den Haaren, spuckte ihm ins blutende Gesicht und bewegte sich mit ihm in Richtung Balken.
Als sie genügend Gefangene zusammengetrieben hatten, verteilten sie Stricke an die Kapos. Ein Offizier brüllte einen Befehl. Und die Kapos hängten die Gefangenen auf.
Heiligabend. Vor einem Christbaum hängen die Toten. Nackt, ohne Schutz, hängen sie in der Nacht. Und als der verletzte Häftling das Leben aushaucht, rinnt ihm das Blut aus dem Auge. Die SSler betrinken sich, und die anderen frieren. Vor Kälte, vor Wut, vor bitterer Ohnmacht. Freuet euch, denn euch ist heute der Heiland geboren!
Am Tag nach Heiligabend hatte man ihn dann wieder einmal eingeteilt für eine Fahrt nach Nürnberg zum Reichsparteitagsgelände. Dass er Steinbildhauermeister war, das hatte ihn gerettet, dachte er. Deshalb war er nicht aufgehängt oder erschossen worden. Deshalb lebte er noch. Sie brauchten ihn. Er war ein Werkzeug für sie, nichts weiter. Aber ein Werkzeug, auf das sie nicht verzichten konnten.
Und sie waren gefahren. Auf einem grauen Lkw durch eine graue Welt. Die grauen Menschen auf den grauen Straßen hatten sie nicht beachtet, wie sie da saßen, hinten auf der Ladefläche, in ihren grau gestreiften Anzügen. Über ihnen ein Himmel, der so schwer und grau war wie Beton.
Aaron Schönsee hörte von Ferne ein Weihnachtslied an sein Ohr dringen. Er war sich nicht sicher, ob er es wirklich hörte oder ob er es sich bloß einbildete. Die Mauern des Hauses, in dem er sich befand, waren ziemlich massiv. Manchmal spürte man eine Erschütterung. Vielleicht von vorbeifahrenden Lastwagen. Vielleicht war es auch eine Bombe, die irgendwo explodierte. Er wusste es nicht.
Er versuchte sich auszustrecken, so gut es ging. Mit angewinkelten Beinen konnte man ganz gut liegen in diesem Eichenschrank. Besser zumindest als im Lager, wo sich alles drängte, wo alles zu eng war, wo hinter jeder Ecke Angst und Verderben lauerten. Alles, wirklich alles auf dieser Welt, dachte er, war besser als dieses Lager.
Aaron führte seine Hand an den Saum seines Hemdes. Sehen konnte er sie nicht, die Streifen auf der Sträflingskleidung. Aber er spürte den Stoff, den groben, minderwertigen Stoff, und er wurde sich bewusst, dass er sie immer noch trug, diese Kleider, die ihn zu dem machten, was er war.
Ein entlaufener Häftling aus dem Konzentrationslager Flossenbürg.
Nürnberg, Kantine der Kriminalpolizei
Montag, 16. September 2013, 11 : 58 Uhr
Klotz öffnete die Tür zur Kantine. Er vernahm das Klimpern und Klappern von Geschirr und Besteck. Ein Schwall aus Dialogen, Lachern und Gehüstel spülte ihn an, und er bereute es jetzt schon, hierhergekommen zu sein. Aber hier würde er nicht in Versuchung geraten, dachte er. Das Fleischbuffet, das von einer wärmenden Rotlichtlampe überstrahlt wurde, war alles andere als appetitlich. Und die sonstigen Gerichte, die man in großen Kellen auf den Teller geschlagen bekam, machten ihn auch nicht sonderlich an. Lustlos schlurfte er zum Grünzeug, nahm sich eine Schüssel, in die er nach und nach verschiedene Salat- und Gemüsesorten legte. Auf dem Weg zur Kasse griff er nach einer Flasche Mineralwasser und bemühte sich, während dieser Handlung das Gesicht so wenig wie möglich zu verziehen.
Nachdem er bezahlt hatte, hob er den Kopf und sah sich um in dem Saal. Er brauchte nicht lange zu suchen. Da drüben am Fenster saßen Escherlich und Haevernick.
Klotz stellte sein Tablett ab. Astrid Haevernick warf einen kurzen Blick auf die Salatschüssel und verzog ihren Mund zu einem Lächeln. Aber – hatte er da richtig gesehen? – ihre Augen, ihre schönen hellen Augen, sahen irgendwie verweint aus. Ob das mit dem Ergebnis der gestrigen Landtagswahl zusammenhing? Wohl eher nicht, auch wenn das tatsächlich ein Grund zum Heulen war.
»Na, erste Konsequenzen gezogen, oder hast du etwa grün gewählt?«, fragte Escherlich und deutete auf das Ökofutter, vor dem der Hauptkommissar mit seiner barocken Körperfülle Platz genommen hatte.
»Mein lieber Peter«, begann Klotz und atmete demonstrativ aus. »Wenn du meinst, dass das irgendetwas mit dem angeblich verpatzten Schießtraining zu tun haben könnte, dann liegst du falsch. Es ist einfach so, dass ich abnehmen muss. Ich denke, das ist kein Geheimnis. Und heute hier und jetzt fange ich eben damit an. Punkt.«
Er sah hinüber zu Haevernick, doch die wandte sich ab. Verbarg ihre Augen hinter einem Vorhang aus blonden Haaren, die eben noch in einem Zopf gebündelt gewesen waren. Das Essen auf ihrem Teller sah unberührt aus.
»Vielleicht solltest du wieder mit dem Rauchen anfangen«, meinte Escherlich. Seine Finger spielten mit der Zellophanhülle, die zu einer Zigarettenschachtel gehörte und ein knisterndes Geräusch von sich gab.
»Nein, danke«, kommentierte Klotz und stopfte sich ein Salatblatt in den Mund.
Eine Weile herrschte betretene Stille. Irgendwie wollte kein richtiges Gespräch aufkommen, und doch spürte man, dass jeder hier am Tisch etwas auf dem Herzen hatte. Während Klotz abwechselnd von seinem Mineralwasser und dem Grünzeug zu sich nahm, dachte er nach. Ihm fiel ein, dass Haevernick in letzter Zeit häufiger mal die eine oder andere seltsame Verhaltensweise gezeigt hatte. War sie nicht während der letzten Besprechung erstaunlich lange auf der Toilette gewesen? Und als er ihr gestern über den Weg gelaufen war, hatte sie ein Taschentuch in der Hand gehabt und sich die Augen gewischt. Er hatte sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigt, doch sie hatte nur »Pollenallergie« genuschelt und war schnell weitergegangen. Pollen? Flogen die eigentlich noch im September?
Klotz überlegte, ob seine doch manchmal etwas gewöhnungsbedürftige Art des Umgangs der Grund für Haevernicks emotionale Schieflage war. Im Geiste überprüfte er, ob er sie kürzlich irgendwie hart angegangen war. Er konnte sich aber beim besten Willen an keinen Vorfall erinnern. Vielleicht hatte sie ja private Probleme. Führte sie nicht schon seit Jahren eine glückliche Ehe?
»Wie lange bist du eigentlich schon mit Roman verheiratet, Astrid?«
Haevernick schluchzte auf. Dann erhob sie sich, schob den Stuhl schnell unter den Tisch und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Klotz war völlig perplex. Die kühle, beherrschte Ausstrahlung, die für die Oberkommissarin eigentlich typisch war, schien wie weggeblasen.
»Gratuliere, Werner!«, zischte Escherlich zwischen den Zähnen hervor und sah Klotz mit zusammengekniffenen Augen an.
Der schwieg. Für einen Moment hatte er wieder das Bild vor Augen, als Melanie ihn verlassen hatte. Ein Jahr war das jetzt her. Und er hatte in den fast sechs Jahren, die sie zusammen gewesen waren, immer den Eindruck gehabt, dass insgesamt doch alles ganz gut lief. Aber das war nicht so. Das hatte er verstanden, an diesem Tag, an dem Melanie mit ihm Schluss gemacht hatte. Für Melanie war seine Welt einfach zu voll mit Versäumnissen und Verfehlungen. Er hatte sie zu sehr vernachlässigt, hatte sich nicht für die Beziehung engagiert. Seine Aufmerksamkeit war die eines heillosen Egoisten, der immer nur um sich selbst kreist. So oder so ähnlich hatte sie es formuliert, Melanie.
Escherlich war aufgestanden.
»Woher soll ich denn bitte wissen …?«, begann Klotz seine Rede.
»Die halbe Abteilung weiß inzwischen darüber Bescheid, dass Haevernicks Ehe am Ende ist. Willst du mir im Ernst erzählen, du hättest davon nichts gewusst?«
»Woher soll ich das denn wissen?«, konterte Klotz in ärgerlichem Ton. »Mir sagt ja wie immer keiner was!«
Escherlich blieb stehen und schien zu überlegen.
Klotz profitierte von der Unsicherheit des Kollegen und erinnerte ihn an seine Aufgaben. »Schau, dass du heute Nachmittag den Bericht fertig machst.«
»Welchen Bericht?«, erwiderte Escherlich, der mit seinen Gedanken noch woanders war.
»Den Tatortbefundbericht über den Suizid. Die alte Frau, die sich an dem Heizkörper erhängt hat.«
»Ach das.«
Escherlich drehte sich um und ließ den Hauptkommissar mit seiner Mineralwasserflasche allein.
Klotz’ Gedanken kehrten zurück zu Melanie. Melanie und die Folgen: Sie war dann weggezogen aus Nürnberg, zurück ins Niederbayerische, wo sie herkam. Er hatte keine Ahnung, was sie jetzt machte. Sie hatten keinen Kontakt mehr. Traurig war das, dachte er, sehr traurig. Ein ganzes Jahr lang hatte er es nicht fertiggebracht, die gemeinsame Wohnung am Hummelsteiner Weg aufzugeben. Melanie war längst weg, und er, er vegetierte in der viel zu großen Wohnung vor sich hin. Hatte sich immer wieder erfolgreich gegen die Versuche seiner Mutter gewehrt, die bei ihm ständig aufräumen und putzen wollte.
Aufräumen und putzen, das waren wohl die beiden Grundpfeiler dieser Frauengeneration, dachte Klotz, und ihm fiel wieder die alte Dame ein, die sie gestern tot in ihrer Wohnung gefunden hatten. Halb auf dem Boden liegend, um den Hals eine Schlinge, die am Heizkörper befestigt war. Atypisches Erhängen nannte man das. Die wenigsten wussten, dass es nicht zwingend notwendig war, mit den Füßen in der Luft zu hängen, um zu sterben.
Erst jetzt bemerkte Klotz, dass die Frau etwa so alt gewesen sein musste wie seine Mutter. Plötzlich bekam er Angst. Wenn sie bei ihm anrufen und ihn fragen würde, ob sie in seiner neuen Wohnung Ordnung mache dürfe, dann würde er diesmal nicht Nein sagen.
»Und? Was hast du Schönes für mich?«
Klotz sah sich um in dem Hof der Instandsetzungsabteilung, kehrte mit seinem Blick von einem lecken Ölfass zurück zu Alberts Gesicht, auf dem ein breites Lächeln strahlte. Mann, hat der ein Gebiss beisammen, dachte Klotz und nahm sich vor, für die Zeit des Gespräches Alberts schwarzbraune Zähne möglichst zu ignorieren.
»Ganz was Großes!«, antwortete Albert und hörte auf zu lächeln. »Lass uns reingehen!«
Albert öffnete die Garage.
»Wahnsinn! Er ist wieder da!« Klotz ging in die Knie und betrachtete den Kühlergrill des 79er Camaro. Dann fiel ihm auf, dass der Schriftzug auf der Motorhaube fehlte. Und er erinnerte sich an Maximilian Rausch, einen Jungen, der nur siebzehn Jahre alt geworden war, durch seine, durch Klotz’ Schuld. Maxis Tod, das war eine seiner größten Verfehlungen, und plötzlich verstand er Melanie. Verstand, warum man mit so einem Typen, wie er einer war, Schluss machte.
Klotz stand auf und griff nach dem dampfenden Plastikbecher, der ihm von Albert gereicht wurde. Während er trank, starrte er auf die Motorhaube, lackiert in cool down pink. Seit einigen Jahren strich man in der Schweiz die Gefängniszellen in dieser Farbe, um die Aggressionen der Insassen abzumildern. Klotz dachte wieder an Maxi. Wahrscheinlich war er es gewesen, der damals vor vier Jahren »Pussy Wagon« auf diese Motorhaube gesprüht hatte. Keine Spur war mehr davon zu sehen, die Schmiererei war vollkommen beseitigt worden. So wie Maximilian auch.
Nur nicht sentimental werden, ermahnte sich der Hauptkommissar und riss sich zusammen.
»Wie kommt’s, dass die Kiste wieder da ist?«, fragte er Albert.
»Sie sitzt wieder ein.«
»Wie? Sie sitzt wieder ein? Die Kiste?«
»Nee. Ich mein, der Wagen gehört einer Frau. Und die sitzt wieder.«
»Einer Frau?«, fragte Klotz in ungläubigem Ton. »Keinem Zuhälter oder Menschenhändler oder irgendeinem fehlgeleiteten Jugendlichen?«
»Einer Frau«, bekräftigte Albert und zeigte seine schlechten Zähne. »Willst du wissen, was das für eine ist?«
»Würde mich schon interessieren.«
»Die Tante ist der Wahnsinn. Aber nicht so, wie du denkst. Also, das ist ’ne ganz graue Maus im zivilen Leben. Arbeitet im Hauptberuf als Bibliothekarin in der Stadtbücherei. Aber an den Wochenenden, ich sag dir. Da dreht die auf. Wird voll zur Partyqueen. Zieht von einer Disco zur anderen, aber nur die gehobene Preisklasse, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Verstehe. Und warum sitzt die jetzt ein?«
Albert strich über das Targadach des Camaro.
»Betrug.«
»Betrug? Geht’s ein bisschen genauer?«
»Die Dame hat sich ausschließlich an potente Männer rangeschmissen, also an finanziell potente, na ja, vielleicht waren sie ja auch ansonsten potent …«
»Komm zum Punkt, Albert! Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit!«
»Auf jeden Fall hat sie denen ihre Kreditkarten abgeluchst. Ging damit auf Shopping-Tour. Designerklamotten, Pelzmäntel, teure Schuhe und so weiter. Ihre letzte Aktion war ein Urlaub auf den Seychellen. Da hat man sie dann auch geschnappt, am Flughafen, als sie wieder zurückkam.«
Zwei Seiten, dachte Klotz. Eine Tagseite und eine Nachtseite. Wie viele Menschen waren so? So janusköpfig, so falsch? Als Mordermittler hatte er schon oft genug Leute vor sich gehabt, die aussahen wie die Unschuld vom Lande, in deren Innerstem aber ein kaltblütiges Mörderherz schlug. Oft gehörten sie zu der Sorte Mensch, die jeden Sonntag in die Kirche ging. Da konnte man sie ja guten Gewissens abladen, seine Schuld. Bei einem Schöpfer, der einem alles verzieh. Zur Polizei gingen die wenigsten. Da musste man ja geradestehen für seine Schuld. Mit ein paar Ave-Marias war’s da nicht getan.
Sein Handy klingelte. Klotz stellte den Kaffeebecher auf einem Kotflügel ab und ging ran.
»Ja? … Und wo? Königstraße? … Ja, ich komme. Sofort.«
Klotz steckte das Handy schnell in die Manteltasche zurück.
»Der Schlüssel, Albert!«
»Steckt.«
Klotz riss die Tür auf und warf sich auf den Fahrersitz. Als der Wagen nach vorn sprang, flogen Plastikbecher und Kaffee gegen die Windschutzscheibe. Mit quietschenden Reifen fuhr er vom Hof.
* * *
Wieder führte er die Flasche zum Mund. Der rote Wein floss auf beiden Seiten aus den Mundwinkeln und tropfte auf seine Uniform.
»Heil Hitler!«
Der Mann, den er angerempelt hatte, sah ihn mit erschrockenen Augen an.
»Heil Hitler hab ich gesagt, du Arschloch! Verpiss dich!«
Er warf die Flasche zur Seite. Splitterndes Glas. Dann griff er sich in den Schritt, öffnete den Hosenschlitz und holte sein Geschlecht heraus. Die Schmerzen waren unerträglich.
»Du blöde Nazisau!«
Er drehte den Kopf. Vor dem Nassauer Haus krümmte sich ein Jugendlicher, dem Blut von der Stirn strömte. Die Flasche, dachte er nur, die Scheißflasche.
»Du dreckiges Nazischwein!«
Die Stimme war jetzt bedeutend näher. Plötzlich traf ihn eine Faust von der Seite. Ein Schmerz, aber nicht so stark wie der zwischen seinen Beinen. Er schlug zurück. Direkt auf den Kopf. Dann noch mal und noch mal. Immer in die Wunde hinein. Der Mann fiel auf den Boden und blieb liegen. Schnell weg hier.
Er griff sich wieder schützend zwischen die Beine und versuchte, so schnell wie möglich über den Platz zu laufen. Doch alles drehte sich. Er wankte, torkelte. Lief in einen Marktstand hinein. Drückte sich aus den Gemüsekisten heraus. Lief weiter. Passanten wichen ihm aus. Er schrie sie an. Beschimpfte sie. Grölte seine Naziparolen. Schlug mit der Faust gegen ein Wahlplakat, auf dem Christian Ude lächelte.
Er überlegte. Sollte er vielleicht die Bahn nehmen? Gegenüber dem U-Bahn-Eingang war eine Eisdiele, vor der ein Lieferwagen parkte. Dort ging er hin. Die hinteren Türen des Wagens waren geöffnet. Der Fahrer war gerade dabei, seine Lieferung abzuladen.
Eine Polizeisirene, die immer lauter wurde. Er stieg in den Lieferwagen. Er sah in den Rückspiegel. Da war ein rosafarbenes Auto, auf dem ein Blaulicht blinkte. Beinahe hätte er gelacht. Beinahe hätte er seine Schmerzen vergessen. Dann sah er den silberglänzenden Totenkopf, der auf seiner Uniformmütze prangte. Er drehte den Zündschlüssel und drückte aufs Gas.
Nürnberg, Königstraße
Donnerstag, 28. Dezember 1944, 17 : 28 Uhr
Aaron Schönsee war aufgeschreckt. Hoffentlich hatte er nicht geschrien, dachte er angstvoll, und sah noch immer den Totenkopf, der in seinem Traum so hell geglänzt hatte. Der ihn angelacht hatte. Der seine Kiefer aufgerissen und ihn verschlungen hatte, in einen Abgrund hinein, aus dem es keine Wiederkehr gab. Er musste das Lied loswerden, dachte er. Dieses Lied, das sie in seinem Alptraum gesungen hatten. Immer und immer wieder. »Wir werden weiter marschieren / Wenn alles in Scherben fällt …«
Und sie marschierten weiter, obwohl alles in Scherben fiel. In Tausende und Abertausende von Scherben. Aber sie taten so, als ob sie das nicht sähen. Schwadronierten immer wieder von einem Endsieg, der angeblich kurz bevorstand. Von Wunderwaffen und dem unerschütterlichen Glauben an ihren Führer. Wer Augen hatte zu sehen, der sah etwas anderes.
Er erinnerte sich wieder an den Tag nach Heiligabend. Wie sie da angekommen waren, an diesem Nazigelände. Der Teich, an dem ein paar Enten schnatterten. Die große Halle auf der anderen Seite. Die kahlen Bäume, die in den Dezemberhimmel stachen.
Man hatte sie dafür abgestellt, dass sie beschädigte Platten an der Hitlertribüne ausbesserten. Für einen Führer, der die Stadt der Reichsparteitage schon lange nicht mehr besuchte. Genau das war ihm durch den Kopf gegangen, als er mit den anderen Häftlingen zusammen von dem Lkw gescheucht wurde. Wo ist er denn jetzt, euer strahlender Führer? Jetzt, wo diese Stadt in Schutt und Asche liegt?
Sie hatten noch nicht lange mit ihrer Arbeit begonnen, als ein Tiefflieger am Horizont auftauchte. Die Wachsoldaten suchten so schnell wie möglich Deckung. Den Häftlingen war dies strengstens verboten. Selbst unter Beschuss mussten sie weiterarbeiten. Verstieß man gegen diese Regel, so wurde man nach dem Angriff umgehend exekutiert.
Er war gerade dabei gewesen, mit einem anderen Gefangenen einen Stein auf die Treppe der Tribüne zu hieven, als der Angriff erfolgte. Vor und hinter ihnen schlugen die Salven aus den schweren Maschinengewehren des Flugzeugs ein. Trotzdem gingen sie weiter. Er sah in die Luft, versuchte dem Verlauf des MG-Feuers zu folgen. Und dann blieb sein Blick an diesem riesigen goldenen Hakenkreuz haften, das oben in der Mitte der Tribüne über der Führerkanzel thronte. Er sah, wie die Schüsse dort einschlugen und er löste seine Hände von den Stangen, auf denen der Steinblock lag.
Dann rannte er los.
Es klopfte. Aaron Schönsee hielt den Atem an und lauschte. Dreimal lang, dreimal kurz. Das war das Zeichen. Die Tür öffnete sich.
Nürnberg, Königstraße
Montag, 16. September 2013, 13 : 43 Uhr
Love is an act of blood and I’m bleeding.
Dream Theater: Space-Dye Vest. Er kannte das Lied gut, das da im Radio lief. Er hatte es hunderte Male gehört. Hatte es mit ihr gehört, immer wenn sie zusammen waren. Immer wenn sie das böse Spiel miteinander gespielt hatten. Ihr böses, geiles Spiel. Ihr schwarzes Höllenspiel. Zerrissen zwischen Schmerz und unendlicher Lust.
Er sah wieder in den Rückspiegel. Da war dieses lächerliche rosa Auto, das ihm folgte. Das Blaulicht kam näher und blitzte ihm ins Gesicht, spiegelte sich in dem Totenkopf auf seiner Mütze. Für einen Moment kam ihm das beinahe zynisch vor.
Die Menschen vor ihm sprangen, so schnell sie konnten, zur Seite. Der Wagen wurde schneller und schneller. Er fühlte den Schmerz hämmern, und er schlug mit der Faust gegen die Windschutzscheibe, so fest, dass sie in tausend Splitter zersprang.
Diese Schmerzen! Warum nur diese Schmerzen? Er sah hinunter auf sein Geschlecht. Eine riesige Schwellung, ein Pochen, ein Glühen. Tödlich und wild. Warum nur konnte es nicht aufhören?
Viel war von seinem Verstand nicht mehr übrig. Das Bild der Straße und der rennenden Menschen verschwamm immer mehr. Löste sich auf in etwas, das keine Bedeutung mehr hatte. Seine Sehnsucht, sein Leben.
Doesn’t love you, but I love you.
Er wollte es nicht mehr hören, dieses Lied. Seine Faust schlug gegen den Radioapparat. Er wollte ihr Bild nicht mehr sehen, wie sie ständig davon redete, er müsste sich entscheiden. Gar nichts musste er. Er sah sie beide, gefangen in ihrem bösen Spiel. Nein, das war keine Liebe. Das war niemals Liebe gewesen. Nur sie war so dumm, es für Liebe zu halten. Er wusste es besser. Denn er wusste, dass er die Liebe nicht kannte. Liebe, das hatte überhaupt keine Bedeutung für ihn. Liebe, das war kein Akt des Blutes, und er blutete auch nicht. Er hatte Schmerzen. Schmerzen, die ihn an den Rand der Bewusstlosigkeit trieben.
Er sah sie zu spät, die beiden Streifenwagen, die ihm den Weg versperrten.
Jetzt spürte er einen Schlag, einen harten, ultimativen Schlag, der alles verändern würde.
I don’t care what you do.
Er wusste nicht, warum es geschah, und staunte. Das Raum-Zeit-Gefüge, empfand er mehr, als dass er es dachte, das Raum-Zeit-Gefüge, es existierte nicht mehr. Er sah sie jetzt überdeutlich, die Menschen und ihre Gesichter. Sie glitten an ihm vorbei, in einer Klarheit, wie er sie noch nie zuvor gekannt hatte.
Ein Mann in einem dunklen Anzug. Eine Frau, die eine rote Einkaufstüte in ihrer Hand hielt. Die hellen Augen eines Kindes. Er sah den Schrecken in diesen Augen, er sah ihre Angst. Er fühlte genau das, was diese Gesichter fühlten. Er flog, und dieses Fliegen, das doch nur für den Bruchteil einer Sekunde geschah, es schien Minuten zu dauern.
Minuten, in denen er seine Schmerzen vergaß, Minuten, in denen er sich, seine tiefe Lieblosigkeit vergaß, Minuten, in denen er zum ersten Mal in seinem Leben von sich selbst befreit war.
Glück. Für den Bruchteil einer letzten Sekunde.
Teil 2
Nürnberg, Ecke Königstraße/Johannesgasse