WEGE DURCH DIE MAUER

»Mir ist die gefährliche Freiheit lieber als eine ruhige Knechtschaft.«

Jean-Jacques Rousseau

Dem Andenken an meine drei Lehrmeister gewidmet

Detlef Girrmann, geb. 18. Mai 1928, gest. 8. April 2011
Bodo Köhler, geb. 29. Oktober 1928, gest. 24. Dezember 2005
Dieter Thieme, geb. 12. November 1928, gest. 10. Juni 2010

Burkhart Veigel

WEGE DURCH DIE MAUER

Fluchthilfe und Stasi zwischen Ost und West

IMPRESSUM

Unten die Bernauer Straße 10 mit der Verkaufsstelle für Molkerei-Produkte von Minna Buchholz wahrscheinlich Mitte September 1961. Der in den Westen führende Hauseingang ist verriegelt und bewacht, die Volkspolizisten stehen im Haus, es droht die Zwangsräumung der Wohnung und des ganzen Hauses. Jetzt muss es schnell gehen: Blumenkästen weg, die vorbereiteten Seile am Fensterkreuz angeknüpft, zwei rutschen hinunter, einer wirft noch Kleider und Betten hinterher, dann klettert auch er – wieder drei Menschen in Freiheit!

Auf der Rückseite die Situation am 13. August 1961: Im Vordergrund die Stacheldrahtrollen, die am Morgen dieses Sonntags ausgelegt worden waren, um jede Flucht von Ost nach West zu verhindern. Der Stacheldraht wurde direkt dahinter, aber gestaffelt auch 100 Meter weit nach Ost-Berlin hinein, bewacht von schwerbewaffneten Betriebskampfgruppen. Ganz im Hintergrund sieht man ratlose und debattierende Passanten, die aber nicht näher an die Grenze herankommen dürfen. Eine Mauer wurde erst ab dem 16. August 1961 gebaut.

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© Edition Berliner Unterwelten. E-Book zur 3. Printauflage, 2013

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Inhaltsverzeichnis

Warum und Wie – ein Vorwort

Vorwort zur 3. Auflage

Bundesverdienstkreuz-Verleihung

13. August 1961 bis 7. Januar 1962

1. Flucht mit Ausweisen und Pässen

Ein Student wird Fluchthelfer

Die Girrmann-Gruppe

Detlef Girrmann und Dieter Thieme

Die Heinitz-Affäre

Bodo Köhler

Das Triumvirat und die Gruppe

Private Fluchthilfe

Flucht mit West-Berliner Ausweisen

Flucht mit westdeutschen Ausweisen

Organisierte Fluchthilfe

Flucht mit West-Berliner Ausweisen

Flucht mit westdeutschen Ausweisen

Die Tour mit Ausländer-Pässen

Einweisung

Mein erster Auftrag

Full-Time-Fluchthelfer

Ein Zwischenfall in der S-Bahn

Ankunft in West-Berlin

Probleme

Meine Verhaftung

Ein »Österreicher« boxt sich durch

Auch eine »Belgierin« schafft es

Das Ende der Tour

Bilanz

Überlegungen

28. August 1961 bis 13. Oktober 1961

2. Flucht durch die Kanalisation Berlins

Berlin und seine Kanalisation

Die Kanalisation unter der Gleimstraße

Erstbegehung mit privater Fluchthilfe

»Neubegehung«

Organisierte Fluchten

Noch eine Flucht unter der Gleimstraße

Die Kanalisation Esplanade

Öffnung durch Fluchthelfer aus dem Westen

Ein optimaler Fluchtweg – und am Ende eine Katastrophe

Die Kanalisation unter der Alten Jakobstraße und der Neuen Grünstraße

Die Suche nach einem Fluchtweg

Öffnung des Fluchtwegs

Ausbau der Tour

Die Tour läuft!

Besondere Vorkommnisse

Das Ende der Tour über die Kanalisation Alte Jakobstraße

Weitere Fluchten durch die Kanalisation

Dieter Wohlfahrt, der erste erschossene Fluchthelfer

7. Dezember 1961 bis 9. September 1963

3. Flucht mit Pässen über die skandinavischen Länder und Georg Raptis, der Stasi-Spitzel

Aufarbeitung der Katastrophe vom 7. Januar 1962

Der Kindertransport

Vorbereitungen zur Skandinavien-Tour

Die Tour läuft, und Giorgios Raptis spielt mit

Die Stasi wird zum Fluchthelfer

Die lange Liste des Verrats

Wiederbelebung der Skandinavien-Tour im Herbst 1963

Die »Wahnsinns-Tour« vom 7. September 1963

Schulden

Giorgios Raptis

29. Januar 1962 bis 13. Mai 1962

4. Jürgen Mielke, »mein« Spitzel, und die Sache am Zaun

Jürgen Mielke

Der Zaun

Verwirrspiel

13. August 1961 bis 14. November 1962

5. Harry Seidel, seine Tunnel und Siegfried Uhse, der dritte Spitzel

Heinz Jercha und der 27. März 1962

Harry Seidel wird zum Staatsfeind

Der Grenzgänger

Der Osthafen

Der Zaun in der Kiefholzstraße

Das Wachregiment Feliks Dzierzynski

Die Tunnel von Harry Seidel

Der erste Tunnel

Der Jercha-Tunnel

Der Pfingst-Tunnel

Der Kiefholzstraßen-Tunnel

Der Castillon-Tunnel

Der Kleinmachnow-Tunnel

Siegfried Uhse, ein menschenverachtendes Ungeheuer im Schafspelz

Detlev Girrmann

13. Juli 1962 bis März 1963

6. Die Heinrich-Heine- oder Doppelgänger-Tour

Der Vorläufer

Der erste Doppelgänger

Die Tour

Probleme

8. Oktober 1964 bis 1970

7. Der Cadillac und der Franzose

Ein Dreiecksverhältnis: Rudi, der Cadillac und ich

Der Umbau

Die »heiße« Phase

Joes Touren

Perfektion ist planbar

Wilhelm Dimter

Ausbau der Sicherheit

Die Fahrer und ihre Tricks

Der Cadillac und Wolfgang Fuchs

Der Franzose

Schlussbilanz

8. Nachbetrachtungen

Wer waren die Fluchthelfer?

Wo standen die Fluchthelfer politisch?

Fluchthelfer und Fluchthelferinnen

Zusätzliche Aktivitäten

Stellung der Fluchthilfe und der Fluchthelfer in der Gesellschaft

Illegalität und »Übergesetzlicher Notstand«

Warum wurde ich Fluchthelfer?

West-Berlin 1961

Der »Antifaschistische Schutzwall«

Die Grenzer

Verantwortung und Vertrauen

Täter und Opfer, Sieger und Besiegte, Widerstand und Kleingeistigkeit

Die juristische und die – erstaunlicherweise ein Gegensatz – gesellschaftliche Aufarbeitung der DDR-Diktatur

Vergebung und Versöhnung

9. Anhang

Demokratie und Diktatur

Das Ministerium für Staatssicherheit, das MfS, die Stasi

Das Vier-Mächte-Abkommen, der Vier-Mächte-Status

Flucht aus der DDR

Zuchthäuser in der DDR 1950

Die Freie Universität in West-Berlin, die FU

Meine Schulden im Frühjahr 1965

Das umgebaute Goggomobil und sein frühes Ende

Weitere Tunnel in der Heidelberger Straße

Chronologie der beschriebenen Fluchthilfe

Einige aufschlussreiche Dokumente

Namen von Stasi-Mitarbeitern

Anmerkungen

Abbildungsnachweis

Literatur

Namensregister

Rezensionen

Danksagung

Der Autor

Warum und Wie – ein Vorwort

Warum schreibt man heute ein Buch über Fluchthilfe, über Dinge, die jetzt 50 Jahre vergangen sind?

Aber eben: Es ist jetzt 50 Jahre her, dass Ulbricht am 13. August 1961 morgens um 1 Uhr die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin sperren ließ, dass kilometerlang Stacheldraht ausgerollt wurde, dass sich schwerbewaffnete Betriebskampfgruppen entlang der Zonengrenze aufstellten, dass Straßen aufgerissen wurden, um Sperrzäune zu errichten, dass Panzersperren über Nacht die Straßen versperrten, aber auch dass Ehepaare plötzlich getrennt waren, Eltern ihre Kinder nicht mehr sehen konnten, Arbeiter nicht mehr zu ihrer Arbeitsstelle kamen und Studenten nicht mehr an ihre Universität. Es ist jetzt 50 Jahre her, dass der Willkürakt eines kommunistischen Regimes eine Großstadt mit allen Straßen, Flüssen und Verkehrsmitteln trennte. Und es ist jetzt 50 Jahre her, dass der Kommunismus in der DDR sein wahres Gesicht zeigte, das einer Diktatur und eines Unrechtsstaats, und damit seinen Untergang selbst schon vorbereitete.

Das ist der Anlass, warum ich darüber schreiben wollte, wie einige mutige Menschen es geschafft haben, die Sperren zu durchbrechen und dadurch vielen Mitmenschen ein Leben in Freiheit zu ermöglichen.

Daneben gibt es viele Gründe, weshalb ich dieses Buch geschrieben habe, ja schreiben musste:

Als Henry Köhler und Spiegel TV mich 2001 daran erinnerten, dass die Berliner Mauer zwar nicht mehr stand, dass aber die Jahre, in der wir mit ihr leben mussten, nicht vergessen und vor allem nicht aufgearbeitet waren, erkundigte ich mich bei meinen Freunden von damals, wer über diese Zeit schreiben könnte. Ich konnte es nicht, weil ich noch voll berufstätig war. Aber ich fand auch niemanden sonst, der über diese Jahre, die unser Leben geprägt und es oft für immer verändert haben, schreiben wollte oder konnte. Deshalb fing ich an, Flüchtlinge und Fluchthelfer zu interviewen und die entstandenen Kassetten zu transkribieren. Aber erst 2007, nachdem ich meine Praxis an meinen Sohn übergeben hatte und wieder nach Berlin gezogen war, konnte ich mich voll darauf konzentrieren, Zeitzeuge, Historiker und Schriftsteller in einem zu sein.

Susanne Gieffers schrieb bereits 1997 eine hervorragende Magisterarbeit über die »Girrmann-Gruppe«. Marion Detjen hat dann 2005 ein umfangreiches und gut recherchiertes Buch über die gesamte Fluchthilfe durch die Berliner Mauer veröffentlicht (aus der Sicht einer Historikerin: Ein Loch in der Mauer). Auch das im Frühjahr 2011 erschienene Buch von Maria Nooke und Lydia Dollmann Fluchtziel Freiheit beschreibt die Girrmann-Gruppe sehr detailliert. Ich denke aber, dass daneben eine reflektierte Innenansicht stehen sollte, nicht nur der vielen Fakten wegen, die lediglich die Beteiligten wissen können. Aber mir als einem Zeitzeugen war es erlaubt, auch über Gefühle und Gedanken von Flüchtlingen und Fluchthelfern zu schreiben – und die sind oft wichtiger als die Fakten, wenn man die Zeit und das, was sie mit uns gemacht hat, verstehen will.

Dabei war es mir ein Anliegen, weniger über »Helden« oder über den »Kampf um Freiheit« zu schreiben, sondern vielmehr als Historiker die wichtigsten Fakten so exakt wie möglich darzustellen. Das genaue Datum und die Uhrzeit eines Ereignisses waren mir genauso wichtig wie die Motive der Handelnden. Das Buch sollte auch ein Nachschlagewerk für Historiker sein, die die Fülle meines Archivs kaum mit der gleichen Gründlichkeit durchforsten könnten wie ich.

Ich wollte nie ein Buch über mich schreiben, obwohl mir das von einigen Verlegern und Lektoren nahegelegt wurde. Ich möchte die Fluchthilfe beschreiben und mich als Beispiel für einen Fluchthelfer. So machen meine persönlichen Erlebnisse nur etwa ein Drittel des Buches aus. Mir ging es immer um die Sache, um Fakten, Zahlen, Hintergründe von Flucht und Fluchthilfe, und so konnte ich auch – der Wahrheit verpflichtet – einige »kritische« Ereignisse ohne Tabus beschreiben, auch wenn die Schilderungen mir und meinen Freunden wehtun.

Und ich wollte die Fluchthilfe befreien von dem Makel des Anrüchigen. Es ist an der Zeit, festzustellen, dass unsere Fluchthilfe einerseits kaum etwas mit Sozialromantik zu tun hatte, andererseits aber durch einen übergesetzlichen Notstand auch durchaus im Rahmen der Legalität stattfand. Sie war tätige Hilfe für Menschen in Not, und solche Hilfe kennt wenige Grenzen staatlicher oder juristischer Art. Natürlich muss es Menschen geben, die darauf achten, dass diese Grenzen nicht überschritten werden, aber es muss auch die geben, die an die Grenzen gehen, an ihre eigenen wie an gesellschaftliche und politische. Und alle Zeiten brauchen Menschen, die Zivilcourage und Mut beweisen, anderen Menschen helfen und so »einen tanzenden Stern gebären«.

Ich will meine Mitmenschen aber auch nachdenklich machen und sie auffordern, über einige scheinbar feststehende Tatsachen neu nachzudenken. War die DDR friedliebend? Diente die Arbeit der Stasi dem Fortschritt der Menschheit? Und hatte die Partei immer Recht? Aber auch: War die gesamtdeutsche Justiz nach 1989 gut beraten, so viel unter den Teppich zu kehren? War sie überhaupt in der Lage, eine Diktatur aufzuarbeiten?

Und ich möchte dazu anregen, im Hinblick auf die Aufarbeitung der SED-Diktatur nicht weiter auf die strafrechtliche Verfolgung der Verbrechen dieser Diktatur zu setzen, sondern die gesellschaftliche Aufarbeitung dieses Unrechtsstaates auf der Basis moralisch-ethischer Werte zu forcieren. Ich meine, schuldig ist nicht der, der von einem Gericht verurteilt wurde, sondern der, der sich an den Grundregeln des Zusammenlebens von Menschen versündigt hat. Und schuldlos ist nicht der Täter, der aus irgendwelchen Gründen gar nicht angeklagt, freigesprochen oder wieder freigelassen wurde, während seine Opfer immer noch leiden, vielleicht ihr Leben lang. Das Ziel einer gesellschaftlichen Aufarbeitung kann nur sein, den Tätern ihr Unrecht klar zu machen und sie dahin zu bringen, dass sie ihre Untaten bereuen, um den Opfern wieder ein Stück ihres Lebens zurückzugeben (s. dazu auch die entsprechenden Kapitel am Ende der »Nachbetrachtungen« und die Bemerkung auf S. 204).

Natürlich will ich auch spannende Geschichten erzählen. Ich habe versucht, sie aus der Sicht der Betroffenen zu schreiben und ihre Angst, ihre Verzweiflung, aber auch ihren Mut und ihr Glück lebendig werden zu lassen. Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, dabei auch ein Bild dieser Zeit zu zeichnen, wie sich die Diktatur auf das Leben der Menschen ausgewirkt hat, wie sie darin ihre Nischen suchten und welche Kompromisse sie eingingen und eingehen mussten, aber auch, wie sie sich aus diesen Zwängen befreit haben.

Auf Quellenangaben und Fußnoten habe ich weitgehend verzichtet. Das ändert aber nichts an meinem Anspruch auf absolute historische Genauigkeit. Die im Buch genannten Fakten kann ich nach bestem Wissen und Gewissen lückenlos nachweisen.

Als Quellen standen mir zur Verfügung:

– Zahlreiche Stasi-Akten, vor allem zu den drei Spitzeln, über die ich schreibe, aber auch meine eigenen Akten und die, die mir von vielen weiteren Protagonisten zur Verfügung gestellt wurden;

– so gut wie alles, was von Historikern zum Bau der Mauer, über die Stasi, über Flucht und Fluchthilfe und ähnliche Themen geschrieben wurde, und vieles zum Mauerfall: Bettina Effner, Siegmar Faust, Thomas Flemming, Hendrik Hansen, Hope Harrison, Hans-Hermann Hertle, Christoph Kleßmann, Hubertus Knabe, Hagen Koch, Helmut Müller-Enbergs, Ehrhart Neubert, Maria Nooke, Siegfried Reiprich, Gerhard Sälter, Karl F. Schumann, Jochen Staadt, Ed Stuhler, Frederick Taylor, Wolfgang Templin, Joachim Walther, Barbara Zehnpfennig (jeweils auch mit persönlichen Mitteilungen, für die ich herzlich danke), Bernd Bonwetsch, Karsten Dümmel et al., Alexei Filitow, Otto Kimminich, Manfred Rexin, Matthias Uhl, Dieter Voigt, Armin Wagner und viele andere;

– die Arbeiten und Notizen von Susanne Gieffers, die schon 1997 eine ausführliche Magisterarbeit über die Girrmann-Gruppe geschrieben hat;

– Protokolle des Politbüros der SED;

– zahlreiche historische Zeitungsartikel zum Thema;

– viele persönliche Berichte über gelungene und gescheiterte Fluchten in Form von Interviews;

– die Lebenserinnerungen von Valentin Falin, Sergej Chruschtschow, Julij Kwizinskij, Stalins Tochter, Ludwig Rehlinger, Ludwig Geißel, Günter Schabowski, Joachim Gauck und anderen;

– viele Aktenordner und Kisten mit Tausenden von Belegen, Rechnungen, Quittungen, Briefen und Notizen über meine Zeit als Fluchthelfer ab 1962;

– meine kompletten Kalender und Merkhefte; und nicht zuletzt

– das Tonband von Uwe Johnson, auf dem seine Gespräche mit Detlef Girrmann und Dieter Thieme aufgezeichnet sind und dessen Transkription ich 2010 bei Suhrkamp herausgegeben habe (Uwe Johnson Ich wollte keine Frage ausgelassen haben). In diesem Buch ist vor allem der Beginn unserer organisierten Fluchthilfe sehr detailliert dargestellt.

Die von mir verwendeten Endnoten bieten ergänzendes Material und können beim Lesen zunächst übergangen werden.

Zum Thema Kommunismus habe ich im Hinblick auf dieses Buch am 29. Mai 2010 ein Seminar mit renommierten Forschern auf dem Gebiet des Marxismus-Leninismus veranstaltet, das sich mit dem theoretischen Gehalt und den Nachwirkungen dieser Weltanschauung beschäftigte. Meine Erkenntnisse und Aussagen zur gesellschaftlichen Situation in der DDR stützen sich weitgehend auf die Ergebnisse dieses Seminars.

Die Darstellung der historischen Abläufe in den ersten sechs Kapiteln dürfte ziemlich vollständig sein. Zwei Fluchtwege habe ich allerdings weniger ausführlich beschrieben, die Tunnel und die umgebauten Autos. Über die Tunnel, auch über die in der Bernauer Straße, gibt es das Buch Die Fluchttunnel von Berlin von Dietmar Arnold und Sven-Felix Kellerhoff. Außerdem haben beim »Tunnel 57« zwar einige Helfer von mir mitgegraben, aber nicht ich selbst, und es kamen dort auch keine Flüchtlinge von mir mit durch. Über den »Tunnel 57« und die Fluchthelfergruppe um Wolfgang Fuchs ist im Mai 2011 das Buch Fluchthelfer von Klaus von Keussler und Peter Schulenburg erschienen.

Eine lückenlose Schilderung aller umgebauten Autos ist unmöglich. Davon sind in Mauerzeiten so viele »gelaufen«, dass ich in diesem Buch nur ein Auto mit einem eingebauten Versteck detailliert darstelle, einen Cadillac, an dem sich beispielhaft die Besonderheiten dieses Fluchtwegs aufzeigen lassen. Ich habe selbst noch drei weitere Autos umgebaut, einen Austin Healey 3000, ein Goggomobil und eine »Super-Isetta« (BMW 600), deren Geschichte aber nichts Neues bietet. Um Wiederholungen zu vermeiden, habe ich sie weggelassen.

Alleine schon wegen der immensen Fülle des Materials konnte ich nicht alle Flüchtlinge und Fluchthelfer erwähnen, auch wenn deren Leben oft eine eigene Geschichte wert gewesen wäre. Auch die Hintergründe, weshalb, wann und wie ein Mensch in Widerspruch zum DDR-Regime geriet, konnte ich oft nur ungenügend darstellen. Die Betroffenen mögen mir das verzeihen.

Die im Buch erwähnten Personen habe ich nur dann mit vollem Namen genannt, wenn sie dem zugestimmt haben oder wenn ich sicher war, dass sie dem zustimmen würden. Die meisten Namen habe ich abgekürzt, möchte die »Verstümmelten« aber bitten, mich zu informieren, wenn ich in den nächsten Auflagen ihren Namen ausschreiben kann. Ich verstehe es auch als Dienst an der Gesellschaft, sich nicht hinter einer Abkürzung zu verbergen.

Wenn ein Leser feststellen sollte, dass sich in meine Darstellung Fehler eingeschlichen haben, dass sie unvollständig ist, dass er oder Andere nicht erwähnt wurden, obwohl er oder sie eine Rolle in der Geschichte spielten, oder wenn Diskussionsbedarf über die eine oder andere Sichtweise besteht, bitte ich um Nachricht.

Berlin, im Juni 2011

Burkhart Veigel

teilweise korrigiert im Juli 2012

www.fluchthilfe.de

Vorwort zur 3. Auflage

Nach dem Erscheinen der ersten beiden Auflagen meines Buches haben sich viele Flüchtlinge, Fluchthelfer und andere Beteiligte bei mir gemeldet, die sich oder ihre Freunde im Buch wiedererkannten und mir noch weitere Details erzählten. Auch den Polizeiobermeister, der am 27. März 1962 als Erster beim sterbenden Heinz Jercha ankam, habe ich auf diese Weise kennen gelernt. Dadurch konnte ich diese wie andere Geschichten noch sehr viel genauer schildern, teilweise mit einer Chronologie auf die Minute genau.

Auch das Ende »meines« Cadillacs konnte ich inzwischen sehr genau rekonstruieren. Diese Geschichte durfte natürlich in einer neuen Auflage nicht fehlen.

Andererseits habe ich die Diskussionen um hauptamtliche und geheime Mitarbeiter der Stasi, die Debatten über Vergebung und Versöhnung sowie die Scheingefechte um die Inthronisation von Roland Jahn und Joachim Gauck verfolgt. Es schien mir wichtig, den aktuellen Blick auf die Aufarbeitung der zweiten deutschen Diktatur zu notieren und zu kommentieren. Bei dieser Analyse mussten notwendigerweise auch einige böse Worte fallen.

Daneben habe ich mit den »Berliner Unterwelten« zwei weitere Fluchttunnel recherchiert und sie und den Jercha-Tunnel am 27. März 2012 der Öffentlichkeit vorgestellt. Auch diese neuen Fakten wollte ich gerne in einer neuen Auflage sehen.

Das Buch wurde dadurch umfangreicher, aber auch noch einmal spannender, weil man sich durch die zusätzlichen Details noch besser in die Welt von damals hineinversetzen kann, in der einige mutige Menschen nach ihrem Credo lebten: Die Mauer muss weg!

Berlin, im Juli 2012

Burkhart Veigel

 

www.fluchthilfe.de

 

Bundesverdienstkreuz-Verleihung

Hasso Herschel, Dieter Hötger, Hubert Hohlbein, Ralph Kabisch, Klaus von Keussler, Achim Neumann, Ulrich Pfeifer, Hartmut Richter, Achim Rudolph, Wolfhardt Schroedter, Peter Schulenburg, Harry Seidel, Jürgen Sonntag, Rudi Thurow, Burkhart Veigel

Diesen 15 ehemaligen Fluchthelfer verlieh Bundespräsident Jochim Gauck am 19. Juli 2012 das Bundesverdienstkreuz am Bande.

Dazu gab der Autor folgende Erklärung ab:

Ich persönlich widme mein Verdienstkreuz ausdrücklich den an der Grenze erschossenen Fluchthelfern Dieter Wohlfahrt, Heinz Jercha und Siegfried Noffke und den bereits verstorbenen Fluchthelfern wie Detlef Girrmann, Dieter Thieme, Bodo Köhler, Wolfgang Fuchs, Reinhard Furrer, Christian Zobel, Egon Hartung, Siegfried Lonscher, Dietrich Arndt und den vielen Anderen, die ich hier nicht aufzählen kann. Und ich widme es den bei ihrer Hilfe Verhafteten, die die Knute der Diktatur zu spüren bekamen – quasi stellvertretend für uns Andere, die wir unbeschadet davongekommen sind. Ich widme mein Verdienstkreuz allen idealistischen Fluchthelfern, gerade auch denen, die jetzt nicht ausgezeichnet wurden.

Ich freue mich besonders darüber, dass offensichtlich bei der Politik und in der öffentlichen Wahrnehmung ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat in der Form, dass Fluchthelfer keine Störenfriede der Annäherung mehr sind, sondern ehrenwerte Mitbürger!

Dr. Axel Klausmeier hält die Laudatio für die 15 ausgezeichneten Fluchthelfer, 29. Oktober 2012.

13. AUGUST 1961 BIS 7. JANUAR 1962

1. Fluchthilfe mit Ausweisen und Pässen

Ein Student wird Fluchthelfer

Wenn der Sozialismus in der DDR nicht zu einer Diktatur pervertiert wäre, die Millionen von Deutschen zur Flucht aus ihrer Heimat getrieben hat, wenn die Mauer nicht gebaut worden wäre, mitten in Berlin, quer durch die Stadt, und wenn sie nicht Tausende von Familien getrennt und viele Studenten von ihrer Universität im Westteil der Stadt abgeschnitten hätte, wenn nicht der Zufall, auf welcher Seite der Mauer man sich in der Nacht zum 13. August 1961 aufhielt, darüber entschieden hätte, ob man frei denken und reden konnte oder weggeschlossen in einem Spitzelstaat leben musste – dann wäre mein Studienfreund Walter Pietzcker1 am 30. Oktober 1961 auf dem Weg zum Anatomischen Institut nicht auf mich zugekommen mit der Frage: »Machst Du mit? Wir holen die Studenten rüber, die hier studiert haben und jetzt im Osten eingeschlossen sind. Das geht. Es gibt da einen Trick mit Pässen. Aber wir brauchen Leute, die nach Ost-Berlin fahren und die Kommilitonen benachrichtigen können. Du bist doch auch Westdeutscher und kannst noch nach drüben, wie ich.«

»Klar, mache ich!«, sagte ich, ohne lange nachzudenken oder nachzufragen, ob meine Fluchthilfe vielleicht gefährlich werden könnte. Das war so, als ob ich nur auf Walter gewartet hätte, um meinen Zorn loszuwerden, um der Diktatur in der DDR meinen persönlichen Krieg zu erklären. Und das nicht nur mit Worten wie unsere Politiker oder die Presse: Ich konnte etwas tun!

Am frühen Nachmittag fuhr ich, wie von Walter angegeben, in die Ihnestraße 22 zum Studentenwerk. Aber ich kannte niemanden dort. Was waren das für Menschen, die so tollkühn ihre Freiheit für die Freiheit anderer riskierten? Aber ich war auch ein bisschen stolz, dass ich jetzt dazugehören würde, zu den Menschen, die mehr wussten und mehr taten als jeder andere in Berlin. Und die, davon war ich überzeugt, genau das Richtige taten.

Walter hatte mir gesagt, dass ich nach Herrn Girrmann oder Herrn Thieme fragen und Grüße ausrichten solle. Das aber war gar nicht so einfach. Fast eine Stunde musste ich warten, bis mich jemand hereinbat. Dieter Thieme stellte sich vor und fragte, warum ich käme, warum ich zu ihm wolle, wer mich geschickt habe, was ich studiere, ob ich politisch aktiv sei, ob ich Grenzgänger im Semester hätte, wie oft ich schon in Ost-Berlin gewesen wäre, vor dem Bau der Mauer und danach – ein regelrechtes Verhör. Offensichtlich fiel sein Urteil aber positiv aus, denn am Ende fragte er mich, ob ich gleich »was machen« wolle.

Das Studienbuch des Autors. Man sieht das »heiße Bemühen«: »Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, und leider nicht Theologie! Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.« So ähnlich wird wohl auch das Studienbuch von Faust im Kopf von Goethe ausgesehen haben.

Natürlich wollte ich, schon weil mir die Art von Thieme gefiel: effizient, nüchtern, klar. Er ging direkt auf sein Ziel zu und schwafelte nicht von Freiheit oder Pflicht. Aber bevor ich mich einweisen ließ, bevor ich mein endgültiges Jawort gab, wollte ich doch noch einige Fragen diskutieren: »Warum sind die Leute drüben nicht schon weggegangen, als es noch leichter möglich war, als die Mauer noch nicht stand? Was hat sie drüben gehalten, wofür ich jetzt ein Risiko eingehen sollte?«

Detlef Girrmann, der dazu gekommen war, und Dieter Thieme, die Leiter des Studentenwerks, gaben mir dann einige Antworten, die mir schnell klar machten, dass ich wenig davon wusste, was die Menschen in der DDR bedrückte: »Meinen Sie« – damals war das »Sie« die normale Anrede an der Universität, auch der Studenten untereinander –, »dass jemand so leicht drüben weggeht? Weggeht und seine Eltern und seine Freunde zurücklässt, ohne Aussicht, sie je im Leben wieder zu sehen? Dass jemand sein ganzes bisheriges Leben wegwirft, einfach so, weil ihm das politische System nicht gefällt? Und haben nicht alle Politiker des Westens die Menschen beschworen, drüben zu bleiben? Haben sie damit nicht Erwartungen geweckt, der Westen werde im Ernstfall schon etwas unternehmen, um den Bürgern der DDR zu helfen?«

»Muss man nicht auch die Menschen verstehen, die vielleicht Verantwortung für kranke Familienangehörige übernommen haben oder bei ihrem Verschwinden andere Menschen gefährdet hätten? Außerdem: Konnte man sich noch am 12. August 1961 vorstellen, dass es möglich wäre, eine Großstadt zu teilen, eine Stadt mit so vielen Verkehrsverbindungen, mit Abwasserkanälen, technischer Infrastruktur, mit Flüssen und Seen, durch die die Grenze verlief, mit Familien, von denen der eine Teil im Osten, der andere Teil im Westen wohnte? »Rübermachen« sagt sich so leicht; aber leicht fällt das keinem!«

Trennung von Familien

Durch die Sperrung der Grenzen wurden ca. 50.000 Familien in Berlin getrennt.2 Durch selbst organisierte Fluchten und Fluchthilfe verringerte sich die Zahl der getrennten Familien bis zum Jahresende 1961 auf rund 13.000. Diese Zahl blieb dann aber über Jahre fast konstant.

Mir wurde bald klar: Die Gründe, warum jetzt ein Mensch Hilfe brauchte, meine Hilfe brauchte, waren so vielfältig wie einsehbar. Wer kann sich schon so genau in die Situation eines anderen Menschen hineinversetzen, dass er sein spätes, vielleicht zu spätes Handeln verurteilen darf? Nicht er hatte Schuld, dass er immer noch im Osten saß; die Machthaber im anderen Teil Deutschlands waren die Schuldigen. Sie hatten ihren Bürgern die Menschenrechte beschnitten und sie eingesperrt wie in einem Gefängnis. (s. a. S. 463).

So war es nach der »Sicherheitsüberprüfung« durch Dieter Thieme und dem folgenden Gespräch mit Detlef Girrmann klar, dass ich da unbedingt mitmachen wollte; sofort!

Ein Schöngeist (1961) entwickelt sich und wird politisch aktiv (1965).

Die Girrmann-Gruppe

Detlef Girrmann und Dieter Thieme

Detlef Girrmann und Dieter Thieme, beide Jahrgang 1928, waren zehn erfahrungsreiche Jahre älter als ich. Als Kinder und Jugendliche hatten sie – anfänglich durchaus mit einiger Begeisterung – den Nationalsozialismus erlebt. Innerlich und äußerlich zerlumpt und halb erfroren, schafften sie 1945 als Kindersoldaten den Weg zurück nach Hause. Nie wieder wollten sie danach irgendwo leben, wo ihnen unter dem Vorzeichen einer heilbringenden Ideologie und unter Drohungen gesagt wurde, was sie zu denken und zu tun hätten. Sie setzten ihre ganze Hoffnung auf ein neues, geistig freies Leben in der DDR, merkten aber schon 1946, als die SPD gezwungen wurde, sich mit der KPD zur SED zu vereinigen, dass dieser Staat sich zu einer Diktatur entwickelte, die sich kaum von der der Nationalsozialisten unterschied.

Detlef Girrmann 1962 und 2009.

Dieter Thieme 1962 und 2009.

Girrmann, der Jugend-Berichterstatter für den Sender Magdeburg war, durfte im Zuge der Wahlen 1946 Walter Ulbricht interviewen, und der sagte ihm ganz unverblümt, dass hier nur eine Partei zu gewinnen habe, und das sei die SED. Und er, der 18-jährige Girrmann, habe dafür mit aller Kraft zu arbeiten. Dabei war Girrmann noch vor dem erzwungenen Zusammenschluss der Parteien in die SPD eingetreten, um zumindest für sich klarzumachen: Ich bin gegen die Machenschaften der neuen Machthaber wehrlos, aber nicht ehrlos.

Die SED erreichte zur Enttäuschung ihrer Protagonisten und der sowjetischen Besatzungsmacht trotz der massiven Behinderung aller anderen Parteien bei den Wahlen am 20. Oktober 1946 in der Sowjetisch Besetzten Zone (SBZ) nur 47,5 Prozent der Stimmen, und, was schwerer wog, in Ost-Berlin, wo die SPD noch als eigene Partei zugelassen war, nur 19,8 Prozent gegenüber 48,7 Prozent der SPD. Sie schaffte es dann dank ähnlicher Methoden wie im Nationalsozialismus innerhalb weniger Jahre auf eine flächendeckende Quote von 99,9 Prozent.3

Girrmann und Thieme kannten sich schon von der Schule in Magdeburg, kamen sich dann aber erst näher, als sie – und mit ihnen eine ganze Gruppe junger Menschen – versuchten, ihre Mitbürger in Magdeburg und Halle durch Diskussionen, durch Verteilzirkel kritischer Literatur, zuletzt auch durch das Drucken von Flugblättern zum Nachdenken zu bringen. Die Bilanz war verheerend: Es ging kein Schrei nach Freiheit durch die Bevölkerung, aber die DDR-Staatssicherheit kam ihnen auf die Schliche und verhaftete fast alle Beteiligten. Thieme wurde 1950 zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er zwei Jahre unter entsetzlichen Bedingungen großenteils im »Roten Ochsen« in Halle absitzen musste.4 Girrmann konnte gerade noch vor seiner geplanten Verhaftung nach West-Berlin entkommen.

Auch Thieme flüchtete sofort nach seiner Entlassung nach West-Berlin, auf die »kleine freie Insel im roten Meer«. Er und Girrmann leiteten dann neben ihrem Jura-Studium das Studentenwerk der Freien Universität (FU) in West-Berlin. Zu ihren Aufgaben gehörte auch die Registrierung und die Betreuung der Grenzgänger-Studenten5: Sie halfen den oft mittellosen jungen Menschen bei ihren Anträgen auf Stipendien, auf Flüge nach Westdeutschland und auf Büchergeld. Häufig schickten sie mit ihren »Klienten« zusammen auch Pakete in die DDR, speziell an die Angehörigen von inhaftierten Studenten.6

Das Teppich-Schachbrett (22 × 22 cm), das Dieter Thieme in zehn Monaten Einzelhaft aus Fäden knüpfte, die er aus seinen Handtüchern gezogen hatte; die Nadel hatte er einem seiner Aufseher »stibitzt«. Er konnte es über seine gesamte Haftzeit durchschmuggeln. Heute ist es in der »Stiftung Aufarbeitung« ausgestellt. Dieter sagte immer wieder, dass das Knüpfen des Schachbretts ihm das Leben gerettet habe, weil er jeden Tag ein Ziel – das Weiterarbeiten an seinem Kunstwerk – hatte, das dem Tag Struktur gab.

Grenzgänger

Grenzgänger wurden alle Menschen genannt, die im Ostteil Berlins wohnten (weil sie da schon immer gewohnt hatten oder weil sie bei ihren Eltern leben wollten) und im Westteil der Stadt arbeiteten oder studierten (weil sie im Ostteil der Stadt – fast immer aus politischen Gründen – keinen Studienplatz oder keinen Arbeitsplatz bekamen).

1961 gab es in Berlin über 50.000 Grenzgänger, die meisten davon Arbeiter und Angestellte, aber auch etwa 1.000 Studenten und über 1.500 Schüler.

So kannten sie die meisten Grenzgänger persönlich und fühlten sich auch nach dem Bau der Mauer für sie verantwortlich. Und weil sie außerdem die kompletten Daten ihrer Schützlinge – Namen, Alter, Adresse, Deck-Adresse im Westen, Zahl der studierten Semester und, ganz wichtig, Passbilder – in ihrer Kartei hatten, waren sie geradezu prädestiniert, die Fluchthelfer der ersten Stunde zu werden.7 Und das Studentenwerk wurde zur ersten Fluchthelfer-Zentrale.

Die Heinitz-Affäre

Allerdings hatte die FU zu der Zeit einen Rektor, Prof. Ernst Heinitz, der – teils durch persönliche Erfahrungen, teils aus grundsätzlicher Überzeugung – in Ost-West-Fragen anders dachte als die beiden Leiter des Studentenwerks. Eine junge Studentin, die er in seiner Mentorengruppe der Studienstiftung des Deutschen Volkes betreute, war schon im November 1961 durch ihren eigenen bodenlosen Leichtsinn als Fluchthelferin verhaftet und dann zu 2½ Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Heinitz fühlte sich verantwortlich für sie und versuchte, sie gegen einen in der Bundesrepublik einsitzenden DDR-Spion austauschen zu lassen. Schon deshalb wollte er Wohlverhalten gegenüber der DDR demonstrieren. Außerdem war er aber auch der festen Überzeugung, dass die FU ein Hort der Lehre und Wissenschaft sein solle, nicht der politischen Auseinandersetzung.8

Als Heinitz dann vom AStA9 der FU und von Angestellten des Studentenwerks darüber informiert wurde, dass im Studentenwerk eine Fluchthelfer-Zentrale entstanden war, kündigte er dem Leiter, Detlef Girrmann, zum 31.3.1962 mit der Begründung, seine Fluchthelfer-Aktivitäten würden alle Studenten der FU beim Besuch Ost-Berlins gefährden.

Im September 1961 verwehrten die DDR-Grenzer tatsächlich allen Studenten den Grenzübertritt; die Aktion wurde aber nach zwei Tagen wieder abgeblasen. Davon abgesehen gab es nie eine Behinderung von Studenten oder speziell von FU-Studenten.

Dieter Thieme, dem stellvertretenden Leiter des Studentenwerks, kündigte er zum 30. Juni 1962. Zu ihm sagte er, er wolle auch dann noch Rektor sein, »wenn die Russen da sind« (er konnte sich ein Leben mit und unter den Sowjets offensichtlich vorstellen – im Gegensatz zu fast allen West-Berlinern). Und er übernahm sogar einen Ausdruck der DDR-Propaganda, als er von einer »Abwerbung« der Bürger der DDR sprach, die er mit seiner Kündigung unterbinden wolle.

Kein einziger Flüchtling ist »abgeworben« worden, um ihn – so die Propaganda des Ostens – als Arbeitskraft der Wirtschaft des Westens zuzuführen. Wirtschaftliche Interessen spielten bei niemandem eine Rolle, der seine Heimat unter großer Gefahr, oft sogar unter Lebensgefahr, verließ.

Fakt ist, dass Heinitz mit seinem vorauseilenden Gehorsam der DDR gegenüber bei seinen Bemühungen um die Freilassung eines Menschen keinen Erfolg hatte, während Girrmann und Thieme in dieser Zeit Hunderte von eingeschlossenen Menschen in die Freiheit brachten. Die Studentin, um die er sich bemühte, wurde zwar im Frühjahr 1963 tatsächlich in Helmstedt gegen den Spion ausgetauscht, aber aufgrund von Aktivitäten der östlichen Seite.10

Die unverständliche und politisch völlig inakzeptable Haltung von Heinitz war auch die Basis, auf der er im Juni/Juli 1963 versuchte, die Verwaltung des Studentendorfes Schlachtensee zu beeinflussen, mir mein Zimmer dort zu kündigen.11 Als sich Bürgermeister und Dorfrat des Studentendorfes dem widersetzten, bemühte sich Heinitz am 17. Juli 1963 selbst zu einer Sitzung ins Studentendorf.

Dabei präzisierte Heinitz seine Auffassung, eine Universität sei eine Stätte der Lehre und Forschung und nie ein (politisches) Gegengewicht zum Staat. »Die Freie Universität erfüllt ihre Aufgabe nicht durch Förderung politischer Aktivitäten wie Fluchthilfe oder Sprengstoffattentate gegen die Mauer, sondern durch freie Lehre und Forschung.« Es gehe deshalb nicht an, dass vom Boden der Universität aus Fluchthilfe geleistet werde.

Heinitz deutete dann noch an, dass er wisse, dass ein Fluchthelfer einen anderen erschossen habe, um an dessen Geld zu kommen; dass in meinem Zimmer wohl Waffen, u. a. eine Maschinenpistole unter dem Bett, gefunden worden seien; und dass zwei Putzfrauen deswegen gekündigt hätten. Es war aber leicht nachweisbar, dass gar keine Putzfrau gekündigt hatte. Und die Verwaltung des Studentendorfs schrieb Heinitz später offiziell, dass auch niemand je Waffen in meinem Zimmer gesehen habe. Als Heinitz dann noch darum bat, ihm alle Kommilitonen zu nennen, die Fluchthilfe betrieben, weil auch denen gekündigt werden solle, hatte er genau das Gegenteil dessen erreicht, was er eigentlich wollte:

Die Bewohner des Studentendorfes standen jetzt geschlossen hinter mir. Während der Sitzung gab es sogar eine Demonstration im Dorf mit Plakaten wie »Treten Sie zurück, Magnifizenz!«. Und auf dem Campus der FU wurden am 18. August 1963 diese und andere Parolen gegen Heinitz und den AStA auf die Straßen und an einige Gebäude gepinselt.12

Einen Teil der Unterlagen, auch das Protokoll der Sitzung mit Heinitz im Studentendorf, fand ich dann in den Stasi-Akten. Der Spitzel im Dorf ist mir leider nicht bekannt.

Die Bemühungen der furchtsamen und politisch so korrekten FU-Spitze, mich aus dem Studentendorf zu werfen, hatten aber auch deshalb keinen Erfolg, weil die Berliner Morgenpost sich für mich einsetzte und am 18. August 1963 mit der Schlagzeile eröffnete: »Rektor weist Fluchthelfer aus Wohnheim«. Daran schloss sich für zehn Tage eine weltweite (!) Medien-Diskussion an, in der mich die von der DDR finanzierte Zeitschrift Konkret (u. a. mit Redakteurin Ulrike Meinhof) und Kai Herrmann13 von der ZEIT scharf angriffen, die allermeisten anderen Zeitungen aber fast aggressiv verteidigten, vor allem praktisch alle West-Berliner Blätter.14

Die Debatte wurde dann durch den Berliner Senat beendet: Bürgermeister Heinrich Albertz und anschließend der Regierende Bürgermeister Willy Brandt gaben eine Ehrenerklärung für mich ab. Danach wurde der AStA abgewählt und Heinitz zog sich turnusmäßig aus seinen Ämtern zurück.

Ich wohnte über das übliche Maß hinaus sechs Semester im Studentendorf, was mir sehr recht war, weil mich der Osten unter den vielen anderen Studenten kaum überwachen konnte.

Tatsächlich gibt es in den Stasi-Akten keinen einzigen Beobachtungsbericht über mich.

Das Titelblatt der Berliner Morgenpost vom 18. August 1962, mit dem sie eine Lawine lostrat. Im Ausland positionierte sich die Presse fast ausschließlich gegen Ernst Heinitz, den Rektor einer Universität, die aus politischen Gründen und als Gegenstück zur kommunistischen Humboldt-Universität in Ost-Berlin gegründet worden war.

Das Titelblatt der Berliner Morgenpost vom 20. August 1962.

Das Titelblatt der Berliner Morgenpost vom 22. August 1962 mit einer der »Wandmalereien« von Klaus-M. von Keussler und seinen Tunnelgräbern.

So urteilt die Basler Zeitung am 24. August 1963: »Eine Freie Universität, die junge Fluchthelfer bestrafen würde, verdient ihren Namen nicht mehr und würde in erschreckender Umkehrung ihrer Aufgabe Schrittmacherdienste leisten für eine vollständige Kapitulation vor Gewalt, Unrecht und Unterdrückung.«

Einige der »Graffiti«, mit der die FU am 18. August 1963 zum ersten Mal in ihrer Geschichte »verziert« wurde. Auch der Rektor und der AStA der FU wurden nie zuvor so heftig angegriffen. Für die FU damals ein unerhörter Vorgang in jeder Hinsicht!

Bodo Köhler 1962 und 1995

Bodo Köhler

Die Kündigung von Girrmann und Thieme hatte keinen Einfluss auf ihre Tätigkeit als Fluchthelfer. Als unser Kontaktmann beim Verfassungsschutz, »Mertens«15, von den Kalamitäten der beiden an der FU erfuhr, riet er ihnen, sich mit Bodo Köhler zusammenzutun. Köhler war Leiter von zwei »Häusern der Zukunft«, einer Art Nobel-Jugendherbergen. Der private Träger war politisch nicht gebunden und lud alle politisch Interessierten und entsprechende Gruppen nach Berlin ein, um ihnen die Möglichkeit zu geben, ohne Indoktrination die Auswirkungen des Kommunismus auf die Menschen zu studieren. Hier sammelten sich deshalb Schüler und Priester, ausländische Touristen und Verwaltungsangestellte, wache Menschen aller Couleur.

Der Vorteil dieser Häuser war offenkundig: Wegen der hohen personellen Fluktuation waren sie kaum von Spitzeln zu observieren. Wir konnten dort ab und zu auch eine Nacht schlafen, wenn wir es nicht mehr nach Hause schafften oder mit unserer Arbeit am nächsten Tag schon sehr früh beginnen mussten; und die Räume waren groß genug für unsere Treffen und zur Lagerung der ausländischen Pässe, die wir im Lauf der Zeit sammelten. So wurde schon ab November 1961 zunächst das Haus in der Goethestraße 37 in Zehlendorf und ab September 1962 das zweite »Haus der Zukunft«, Am Sandwerder 1 am Wannsee, zu unserer Zentrale.

Bodo Köhler war ebenfalls zehn Jahre älter als ich und hatte als einziger von uns schon eine Familie. Auch er kannte den Osten sehr genau, weil er dort gelebt und die frühe Entwicklung der SBZ diskutierend mitverfolgt hatte. Nach seiner Verhaftung entließ ihn die Stasi für einen Tag, den er zu seiner sofortigen Flucht nach West-Berlin nutzte. Hier studierte er Philosophie und Religionswissenschaften und leitete danach die genannten Bildungseinrichtungen.

Er wurde auf eine ganz andere Art zum Fluchthelfer als Detlef Girrmann und Dieter Thieme. Ein Grenzgänger hatte bei ihm im Haus der Zukunft gewohnt. Nachdem der Student nicht mehr in den Westen konnte, ließ Köhler ihm von seinen westdeutschen Gästen nach und nach seine Bücher, Kleider etc. in den Osten bringen – bis er hörte, dass Flüchtlinge mit West-Berliner Ausweisen in den Westen gekommen waren. Vielleicht, dachte er da, wäre es vernünftiger, den Studenten zu seinen Büchern zu bringen und nicht die Bücher zum Studenten.

Merkzettel, was man von einem Antragsteller erfragen musste; handschriftlich vom Autor noch zusätzlich notiert: Beruf, finanzielle Möglichkeiten des Antragstellers; wie an mich herangekommen; wann, was und wann bezahlt (Zeugen).

Auch in anderer Hinsicht war Köhlers Fluchthilfe-Organisation anders strukturiert als die von Girrmann und Thieme. Er hatte kaum Flüchtlinge, kaum Pässe oder Ausweise, aber viele junge Menschen in seinen Häusern, die ihm oft von sich aus anboten, ihn bei seiner »Ausreise-Hilfe« für Bürger der DDR zu unterstützen, wenn sie von ihren Mitbewohnern davon hörten.16

Das Triumvirat und die Gruppe

Detlef Girrmann, Dieter Thieme und Bodo Köhler wurden nach dem Zusammenlegen ihrer Aktivitäten rasch zu guten Freunden. Dieses »Triumvirat«, das sich Anfang November 1961 gebildet hatte, arbeitete praktisch rund um die Uhr. Einer war immer ansprechbar, ob um 4 Uhr nachmittags oder um 4 Uhr in der Frühe. Sie sammelten alle Informationen über die Grenzkontrollen, sprachen mit den Antragstellern und nahmen die Daten der Flüchtlinge auf, entschieden, welcher Pass zu welchem Flüchtling passte, suchten den »Läufer« aus, der diesen »Fall« betreuen sollte, stellten die »Utensilien« zusammen, planten, was am nächsten und übernächsten Tag passieren musste, besorgten die Pässe, hielten Kontakt zu den Passfälschern, die wir in vielen Fällen brauchten, ja, sie organisierten einfach alles, was im Westen zu tun war. Nach Ost-Berlin gingen sie nie, weil sie dort auf der »schwarzen Liste« der gesuchten politischen Verbrecher standen.

Eine wichtige Aufgabe unserer Zentrale war es auch, mit den Flüchtlingen nach ihrer Ankunft im Westen zu besprechen, wie sie sich im Notaufnahmelager Marienfelde verhalten sollten. Sie durften nichts über ihren Fluchtweg erzählen, auch dann nicht, wenn man ihnen damit drohte, ihnen die Anerkennung als politischer Flüchtling zu versagen.

Diese Anerkennung war verbunden mit Steuererleichterungen und Vorteilen bei der Wohnungssuche.

Der Verfassungsschutz und die alliierten Geheimdienste in Marienfelde bestanden aus Sicherheitsgründen darauf, in die Fluchtwege eingeweiht zu werden. Sie vertrauten Girrmann und Thieme, die ja ein halb-öffentliches