Worum geht es im Buch?
Angelika Oberauer
Ins warme Licht der Freiheit
Eine junge Frau in den Wirren des Kriegsendes
Es hätte eine behütete, schöne Kindheit und Jugend sein können im sächsischen Dreiländereck. Doch nach und nach brechen die Schatten der Zeitgeschichte in Ursulas Leben ein: der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Schorsch, ihre erste Liebe, fällt in den Kämpfen gegen Kriegsende.
Als die Niederlage besiegelt ist, flieht die junge Frau wie viele andere Menschen aus dem Dorf vor der Roten Armee. Man will sich nach Prag in Sicherheit bringen – ohne zu ahnen, dass diese Flucht geradewegs in die Hölle führt.
Eine lange Zeit wird es dauern, bis Ursula wieder das warme Licht der Freiheit sehen darf …
Angelika Oberauer hat in diesem Buch die Erinnerungen ihrer Mutter niedergeschrieben – mit ebenso viel Einfühlungsvermögen wie Realismus der Darstellung. Ein erschütterndes Zeitdokument, das den Leser unmittelbar ergreift!
Im Mai 1995 nutzten meine Familie und ich die Pfingstferien, um endlich einmal das Nachbarland Tschechien kennenzulernen. Das Ende des Kalten Krieges und der Zusammenbruch der kommunistischen Regierungen hatten die Länder, die einst jenseits des Eisernen Vorhangs lagen, zu attraktiven Reisezielen werden lassen.
Wir verfolgten keinen besonderen Plan, sondern fuhren gewissermaßen ins Blaue – ein bisschen faulenzen, schwimmen, wandern und natürlich auch ein wenig Kultur.
Bei herrlichem Wetter blieben wir ein paar Tage am Moldaustausee, fuhren dann weiter ins Riesengebirge, wo wir einige Gipfel, darunter natürlich die berühmte Schneekoppe, erkletterten, und fühlten uns dann ausgeruht genug für Prag mit seiner überwältigenden Fülle an Sehenswürdigkeiten.
Prag! Wer hatte nicht schon von dieser wundervollen Stadt gehört – vom Hradschin, der alten Burg oberhalb der Kleinseite, von Karlsbrücke, Goldenem Gässchen und Altstädter Markt sowie von dem berühmten jüdischen Friedhof. Unzählige Schriftsteller waren von dieser Stadt fasziniert und haben sie und das Leben in ihren Mauern literarisch verewigt.
Die einstige Hauptstadt eines unabhängigen böhmischen Königreichs, das später für Jahrhunderte Teil der Habsburgermonarchie wurde, hat eine wechselvolle Geschichte mit Höhen und Tiefen aufzuweisen. Die bitterste Stunde der Stadt dürfte 1939 mit der Zerschlagung und Annexion der Tschechoslowakei durch Hitler-Deutschland gekommen sein, als die weltoffene, multikulturelle Stadt an der Moldau für die nächsten sechs Jahre Amtssitz des sogenannten Reichsprotektors von Böhmen und Mähren wurde, der von der Prager Burg aus das Land und seine Bürger knechtete und entrechtete.
Als ich eines Nachmittags in einem Café genau an diesem Platz saß und vom Hradschin hinabblickte auf die Dächer und Türme der Stadt, gingen meine Gedanken plötzlich weit zurück in die Vergangenheit, und mit einem Schlag fielen mir wieder die Erzählungen meiner Mutter ein. Auch sie war in Prag gewesen, und auch damals war es ein schöner Mai, als sie dort ankam. Aber man schrieb das Jahr 1945, und meine Mutter befand sich nicht auf einer Urlaubsreise, sondern auf der Flucht.
Der Krieg ging gerade zu Ende, und auf den späten Rückzug der Deutschen aus Prag folgte der Einmarsch der Roten Armee. Die schrecklichen Verbrechen, die im Namen der nationalsozialistischen Ideologie begangen worden waren, fielen jetzt auf jene Deutsche zurück, die von den Tschechen oder Russen aufgegriffen wurden, und begangenes Unrecht erzeugte neues Unrecht.
Meine Mutter, die sich durch einen dummen Zufall genau zur falschen Zeit am falschen Ort befand, geriet in die Mühlen dieser Vergeltungsmaßnahmen und musste, wie sie immer sagte, »das schrecklichste Jahr ihres Lebens in Prag verbringen«. Sie war gerade siebzehn Jahre alt, bislang nie von ihrer Familie getrennt gewesen und urplötzlich ganz auf sich allein gestellt. Sie hatte in den Wirren der letzten Kriegswochen die Sicherheit gesucht und war unwissentlich in die Hölle geraten.
Damals, als ich in Prag an die Erzählungen meiner Mutter zurückdachte, nahm ich mir vor, irgendwann die Geschichte dieses einfachen jungen Mädchens in schwerer Zeit niederzuschreiben. Doch es sollten noch zehn Jahre vergehen, bis ich meinen Entschluss wirklich in die Tat umsetzte.
Lange Abende haben wir zusammengesessen, an denen sie mir von ihrem Leben erzählt hat – von den schweren Stunden ebenso wie von den schönen Erinnerungen an eine glückliche Kinderzeit und von ihrer Heimat, die ihr nach dem Krieg fremd wurde.
Ich wurde am 3. August 1927 in Leutersdorf, einem Ort im Grenzgebiet zur Tschechoslowakei, geboren und auf den Namen Ursula getauft. Wie in der Oberlausitz üblich, lebten früher auch in unserem Dorf die einfachen Leute vom Weben. Daran erinnern noch heute die alten Umgebindehäuser – schöne kleine Fachwerkbauten, deren Fenster in vertieften Holzbögen lagen – und die kunstvoll bemalten Türen sowie die kleinen Vorgärten, in denen es grünte und blühte.
Als im 17. Jahrhundert in den Dörfern der Oberlausitz der Webstuhl seinen Einzug hielt, machten sich die Leute Gedanken, wie man mehr Wohnraum schaffen konnte, denn bislang waren die Häuser einstöckig. Weil aber der Fachwerkbau allein wenig geeignet war, ein zusätzliches Stockwerk zu tragen, wurde die Last auf Ständer verteilt, die um die Außenwände der ebenerdigen Stube, wo der Webstuhl stand, verteilt und durch Rahmen und Querstreben verbunden waren.
Eine Besonderheit unseres Dorfes war, dass über zweihundert Jahre lang eine Staatsgrenze durch den Ort ging, die es in einen sächsischen und einen böhmischen Teil trennte. Der katholische Ortsteil war ursprünglich eine böhmische Enklave gewesen, die 1848 im Zuge einer Grenzbereinigung in der Region an Sachsen fiel. Die Einwohnerzahl unseres Dorfes lag 1927, dem Jahr meiner Geburt, bei etwa viertausend.
Im Sommer, wenn wir auf die Heinrichshöhe oder den Großen Stein wanderten, bot sich uns ein herrlicher Ausblick auf das Zittauer Gebirge. Der Große Stein, der eigentlich zu Spitzkunnersdorf gehörte, wurde von uns Neudörflern gerne als »unser« Berg betrachtet, und es gab darüber mit den Spitzkunnersdorfern, sobald man auf Volksfesten zusammentraf, immer Diskussionen. Andere Erhebungen hießen Lindeberg, Wacheberg oder Spitzberg – es war also eine hügelige Landschaft, in die ich hineingeboren wurde, mit weiten Wiesen und Feldern und tiefen Mischwäldern.
Auch ein Bach schlängelte sich durch das Dorf, von uns Leutersdorfern die Schnauder genannt, der vor langer Zeit an einigen Stellen gestaut worden war, sodass Teiche entstanden, an denen bald drei Mühlen klapperten. Da wir im Winter stets viel Schnee hatten, trat der Bach im Frühjahr regelmäßig über die Ufer.
Ich hatte eine glückliche und sorglose Kindheit, obwohl ich nicht gerade in ein »goldenes Nest« hineingeboren wurde.
Meine Eltern hatten sich 1925 kennengelernt und sich heimlich in Dresden verlobt. Bald darauf kündigte ich mich an, doch das Verlöbnis wurde seitens meines Vaters, eines gut aussehenden jungen Mannes aus Zittau, der eine Offizierslaufbahn bei der Reichswehr anstrebte, nicht eingehalten, und es kam nie zu einer Heirat. Er verließ seine Heimat, als ich noch ein kleines Kind war, ging erst nach München, dann nach Wien und machte später in Hitlers Wehrmacht Karriere.
Trotzdem wurde sein bester Freund Heiner mein Taufpate. Als es schon lange aus war zwischen meiner Mutter und meinem Vater, luden er und seine Verlobte mich einmal nach Dresden in das noble Hotel »Zum Weißen Hirschen« ein – für ein einfaches Dorfkind wie mich ein unvergessliches Erlebnis. An meinem fünften Geburtstag sah ich meinen Vater zum letzten Mal. Zehn Jahre später bildete ich mir ein, ihn unbedingt einmal in Wien zu besuchen. Deshalb schrieb ich ihm und legte dem Brief ein Bild von mir bei, damit er sah, was für eine hübsche Tochter er hatte. Doch seine Antwort war niederschmetternd; er schrieb zurück, dass ein Besuch nicht möglich sei, da seine Frau das nicht wünsche.
Weil mein Vater sich seiner Verantwortung entzogen hatte, wurde ich also als uneheliches Kind geboren und wuchs mit der Mutter, die noch bei den Eltern lebte, den Großeltern und Onkel Kurt, dem jüngeren Bruder meiner Mutter, heran. Aber da ich von allen geliebt wurde, vermisste ich meinen Vater nicht.
Wir lebten in einer Mietwohnung, die für damalige Verhältnisse gar nicht so schlecht war, denn es gab für jeden eine Schlafstube, eine große Wohnküche mit angrenzender Speisekammer und eine sogenannte »Gute Stube«, die nur an den hohen Feiertagen beheizt und benutzt wurde und deren dunkles Mobiliar immer ein wenig feucht glänzte.
Als ich auf die Welt kam, lebten von den zehn Kindern, die meine Großmutter geboren hatte, nur noch meine Mutter Elsa, ihre ältere Schwester Elli, die bereits verheiratet war und im Nachbarort wohnte, und eben Onkel Kurt. Sieben Kinder, die Litti, das Dorle, Heinrich, Willy, Ella, Anna und Heinz, waren an Diphtherie oder Lungenentzündung gestorben.
Besonders nah ist meiner Großmutter der Tod des Dorle gegangen, das im zarten Alter von vier Jahren an Lungenentzündung starb. Über all die anderen toten Kinder ist sie hinweggekommen, nur über das eine nicht.
So erzählte sie immer wieder, dass das Dorle ein paar Tage nach ihrem Tod zu ihr gekommen sei: »Da ging die Tür auf, und ein voller Eimer mit Wasser wurde von unsichtbarer Hand in die Stube geschüttet«, behauptete Großmutter steif und fest. »Aber es bildete sich keine Pfütze, denn es waren meine Tränen. Ich ging hinaus, um nachzusehen, was es damit auf sich hatte. Da saß das Dorle im Flur auf der untersten Treppe. ›Weine nicht so sehr um mich, Mutti‹, bat sie, ›mir geht es so gut im Himmel. Du hast keinen Grund, traurig zu sein.‹ Ich sah sie ganz deutlich mit ihrem hellblonden, feinen Lockenkopf und ihren himmelblauen Augen auf den Stufen sitzen«, sagte die Großmutter. »Ich habe es nicht geträumt. Es ist wirklich so geschehen.«
Diese Geschichte erzählte sie nicht nur ihrer Familie, sondern auch allen Nachbarn, Bekannten und Verwandten – allen eben, die es hören wollten.
Ich wuchs in keinem dieser reizvollen Umgebindehäuser heran, sondern in einer Siedlung im Neudorf, die erst nach dem Weltkrieg erbaut worden war. Die Häuser waren also ziemlich neu und darüber hinaus keineswegs trist und grau, sondern umgeben von blühenden Gärten und Gemüsebeeten. Mein kindlicher Horizont beschränkte sich im Wesentlichen auf sechs Häuser, in denen jeweils zwei Familien lebten – eine im Parterre, die andere im Obergeschoss. Die Siedlung gehörte der Gemeinde, und jeweils sechs Blöcke zusammen benutzten eine Wasserpumpe, die sich in der Mitte zwischen den Häuserreihen befand. Es gab also kein fließendes Wasser in den Wohnungen und auch keine Toilettenspülungen, wie es in größeren Städten längst üblich war. Wir mussten alles Wasser an der Pumpe holen, zu der kleine Wege führten, auf denen ich als Kind unzählige Male auf und ab gelaufen bin, denn so gelangte ich auch zu meinen Spielkameraden in den anderen Häusern.
An der Pumpe konnte man immer viel Tratsch und Klatsch hören, der für mich als keines Mädchen überaus verwirrend war, sodass ich mich manchmal fragte, ob alle Erwachsenen in Rätseln sprachen. Da wurde beispielsweise von einem Hitler gesprochen, der Unglück über uns bringen würde, wie die einen meinten. Nein, er sei ein Segen für uns, widersprachen andere, denn er werde endlich mit der Arbeitslosigkeit aufräumen. Dann wurde wieder über das Kommunistenpack und die vaterlandslosen Sozialisten gewettert oder über die »Sauerei des Versailler Vertrages«, der Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg »erniedrigt« habe.
Wenn die Frauen jedoch unter sich waren, ging es selten um Politik; da wurde über den alltäglichen Kram getratscht – wer mit wem, wer heiratete oder sitzengelassen wurde, wer ein Kind bekam, wobei am interessantesten natürlich ledige Mütter waren. Man diskutierte, welcher Familienvater stets das Geld versoff und wer dagegen ordentlich und rechtschaffen war. Obwohl ich immer die Ohren spitzte, wenn ich mit Großmutter oder Großvater bei der Pumpe war, wurde ich aus ihren Gesprächen einfach nicht schlau.
Alle vier Wochen fand abwechselnd in einem der Häuser die große Wäsche statt. Dann wurde das Wasser der Pumpe durch eine Leitung in den Keller des jeweiligen Hauses gepumpt, und die anderen Häuser hatten dann eben kein Wasser – das war nicht zu ändern, doch aus diesem Grund war es wichtig, dass der Waschtag vorher angekündigt wurde.
Ebenfalls alle vier Wochen wurde bei uns gebadet. Zu diesem Zweck schleppten wir eine Holzwanne aus dem Keller in die Küche, und da man die anderen Familienmitglieder nicht nackt sehen durfte, wurde die Wanne mit Tüchern verhängt. Jedes Mal gab es Diskussionen, in welcher Reihenfolge wir in die Wanne stiegen, denn alle badeten im selben Wasser – heute, wo jeder ein Bad und fließendes warmes Wasser hat, ein undenkbarer Zustand!
Unter den Nachbarn aus den anderen Häusern unserer kleinen Siedlung ist mir besonders die Gustl in Erinnerung geblieben, weil sie einen unwahrscheinlich dicken Bauch hatte. »Was hast du denn für einen dicken Bauch?«, fragte ich sie als kleines Kind immer wieder und betrachtete ungeniert ihren unförmigen Leib. »Da ist ein Wolf drin«, pflegte sie zu antworten. Beim ersten Mal erschrak ich bei diesen Worten, doch als ich sie dann lachen sah, wusste ich, dass sie nur scherzte. Allerdings konnte sich niemand erklären, warum ihr Bauch so dick war, der übrige Körper dagegen nicht. Die Beine waren ziemlich dünn, die Arme ebenso, und ein Busen war unter der grau-weiß geblümten Kittelschürze, die sie immer trug, nicht zu erkennen. Falls es krankhaft war, dann konnte es keine ernsthafte oder bösartige Sache gewesen sein, denn die Gustl war nie krank und jammerte auch nicht über irgendwelche Beschwerden. Man hörte sie überhaupt niemals über etwas klagen, und nicht einmal die Tatsache, dass ihr Mann, ein Schuster, sich eine »zweite Frau« zugelegt hatte, vermochte sie wirklich zu erschüttern.
»Bestimmt ist ihr dicker Bauch daran schuld, dass der Gustl ihr Mann immer zur Frau Stolle in die Hetzmühle geht«, bemerkte ich altklug zu meiner Mutter, denn ich wusste, dass die Frau Stolle keinen dicken Bauch hatte und überhaupt ein »ganz ansehnliches Weib« sein sollte, wie der Großvater immer sagte. Meine Mutter konnte sich bei meinem durchaus nicht abwegigen Kommentar ein Lachen nicht verkneifen, doch Großmutter schien meine vorlaute Bemerkung überhaupt nicht lustig zu finden und warf ihrer Tochter einen vorwurfsvollen Blick zu.
In den anderen Häusern wohnten außerdem die Familien Hänschl und Bär, die Neumanns und die Zimmermanns, die Familien Rolle und Köhler und die Webers, die sieben Kinder hatten. Der Weber Paul galt als waschechter Kommunist, auch wenn man nach Hitlers Machtergreifung, als die Kommunisten in die Konzentrationslager geschickt wurden, darüber nur noch hinter vorgehaltener Hand zu sprechen wagte. Es nahm dann auch ein böses Ende mit dem armen Paul Weber.
Die Jahre meiner Kindheit waren von immer wiederkehrenden Festen geprägt, von denen es in unserem Dorf eine ganze Menge gab. Wo immer und wann immer sich ein Anlass bot, feierten die Oberlausitzer gerne und ausgiebig.
Es begann mit dem Fastnachtsdienstag, an dem es Sitte war, dass wir Kinder in Gruppen von Haus zu Haus gingen, um im Chor unser Verslein aufzusagen: »Foaasnachtsnoarrn wulln o woaas hoann, fer ann Dreier Wurscht unn Speck, murne is de Foaasnacht weg.«
Anschließend steckten uns die Leute etwas in unseren Beutel, das Bettlsäckl – Süßigkeiten, auch Obst, manchmal sogar Geld, was uns am liebsten war.
Am Gründonnerstag zogen wir wieder mit einem Leinensäckchen durch die Straßen und sagten an den Haustüren einen neuen Spruch auf: »Heite zun’n Grindunnerschtag / gat mer was an’n Battlsaack, / lußt miech ne zu lange stihn. / Iech will a Häusl wettergihn!«
Dann kam der Pfingstsonntag, und die ganze Familie strömte auf den Oderwitzer Spitzberg, von wo aus man bei schönem Wetter bis ins Riesengebirge schauen konnte. Auch Pfingstmontag wurde wieder etwas geboten, denn in Hofefeld trat an diesem Tag alljährlich ein Männerchor in Aktion. Frauen gingen dann mit großen Körben herum und verkauften Räucherwürste und Mohnzöpfe.
Und weiter ging es mit den Festen im Lauf des Jahres. So strömten zur Sonnwendfeier die Leutersdorfer zum Steinbruch, wo ein Volkschor sang und eine Blasmusik für Stimmung sorgte. Am Vormittag war bereits ein großer Scheiterhaufen aus Reisig und Holz aufgeschichtet worden, um den wir Kinder noch zu später Stunde herumhüpften, alte Besen in die Flammen hielten, um Feuerräder zu schlagen, sodass die Funken nur so sprühten.
Zur »Kirmst«, die im Herbst stattfand, kam die ganze Verwandtschaft in den jeweiligen Orten zusammen, und man verdrückte Berge von Kuchen. Auf die Kirmes in Ebersbach freute ich mich immer besonders, denn dann besuchten wir Tante Ida, eine Schwester meiner Oma, die in eine ziemlich wohlhabende Familie eingeheiratet hatte. Das Schönste war, dass Tante Ida einen Papagei besaß. Dieser große bunte Vogel, der sprechen konnte, war in meinen Augen eine Sensation. Als ich ihn das erste Mal zu Gesicht bekam, blieb mir die Spucke weg, doch selbst Jahre später konnte ich es kaum fassen, wenn er uns beim Eintreten ins Wohnzimmer höflich begrüßte und uns ebenso höflich verabschiedete, wenn es Zeit zum Gehen war. Der Wundervogel trug übrigens aus unerfindlichen Gründen den merkwürdigen Namen Herr Schnuckrich.
Die Warnsdorfer Verwandten hatten zwar kein exotisches Tier, dafür aber neben der besten Eierschecke den schönsten Obstgarten zu bieten, wo ich wunderbar herumtollen konnte, wenn der Bauch voll war vom Kuchen.
Waren die festlichen Tage vorüber, kehrte jeder an seine Arbeit zurück: Meine Mutter nähte zu Hause für die großen Bauern und die wohlhabenden Leute im Ort, die Großeltern gingen in die Fabrik, in der Leinen hergestellt wurde, und Onkel Kurt, der noch bei uns im Haushalt lebte, lernte Tischler. Als ich zum fünften Geburtstag ein Klavier und gleich darauf ein neues Fahrrad bekam, absolvierte er gerade seine Gesellenprüfung.
Es gibt Ereignisse, die prägen sich ganz fest ein, graben sich sozusagen fürs ganze Leben ins Gedächtnis ein, als wären sie erst gestern geschehen. Meistens handelt es sich dabei um Begebenheiten, die entweder besonders schön oder besonders schrecklich gewesen sind. Ein Ereignis in meiner frühen Kindheit zählt zu Letzterem, und leider war ausgerechnet mein neues Klavier, auf das ich so stolz war, daran schuld. Nachdem ich einige Monate an der Seite einer strengen Klavierlehrerin geübt hatte, sollte ich im Rahmen eines Konzertes aller Schüler eine erste Kostprobe meiner neu erworbenen Fähigkeiten abgeben. Ich war die jüngste Schülerin, die an diesem Tag vorspielen sollte, und noch keine sechs Jahre alt.
Obwohl ich keine Klavierstunde versäumte und obwohl mir das Spielen auch Spaß machte, war von Anfang an klar, dass meine musikalischen Talente begrenzt waren, doch immerhin brachte ich es innerhalb kurzer Zeit zu ein paar netten, leichten Liedern, darunter eines von Schubert, und genau dieses sollte ich bei jenem unvergesslichen Vorspielabend zum Besten geben. Vor diesem ersten großen Auftritt war ich schon Wochen vorher so aufgeregt und nervös, dass ich kaum noch schlafen konnte, denn schließlich wollte ich mich und meine Familie nicht blamieren.
Im Saal herrschte eine beinahe feierliche Atmosphäre, und viele Zuschauer waren gekommen, die sich für diesen Anlass richtig fein gemacht hatten. Als ich die Bühne betrat, sah ich meine Großeltern und meine Mutter erwartungsvoll und stolz in der ersten Reihe sitzen. Eigentlich hätte nichts schiefgehen sollen, denn ich kannte das Stück in- und auswendig, doch als ich die vielen Leute sah, die gespannten Gesichter, vielleicht auch das eine oder andere zweifelnde Grinsen bemerkte, überfiel mich Panik. Meine Hände begannen nass zu werden und zu zittern, und die Noten, die aufgeblättert vor mir standen, verschwammen vor meinen Augen. Ich war wie gelähmt! Das Liedchen, das ich zu Hause gerade noch so schön gespielt hatte, war wie ausgelöscht. Ich konnte nichts mehr, nicht einen einzigen Akkord. Zum Glück bemerkte meine Klavierlehrerin meine Verzweiflung und kam mir zu Hilfe.
»Schau nicht auf die Leute«, flüsterte sie mir zu. »Tu so, als ob sie gar nicht hier wären.«
Dann schlug sie den ersten Akkord an und legte meine Hände auf die Tasten. In diesem Moment fiel wie ein Wunder die Aufregung, die mich so blockiert hatte, von mir ab, und ich spielte das Stück fehlerfrei bis zum Ende. Trotzdem traute ich mich kaum, den Kopf zu heben und nach unten in die Menge zu schauen. Erst als ich den begeisterten Applaus hörte, wich endlich die Spannung, und ich konnte mich freuen. Doch diesen Schrecken, diese Panik, die ich in den Minuten vorher erlebt hatte, würde ich mein Leben lang nicht vergessen.
Obwohl mein Großvater nur ein einfacher Arbeiter war, dazu Kommunist und Atheist, genoss er im Dorf einiges Ansehen, denn er verfügte über geheimnisvolle, heilende Kräfte. Diesen Fähigkeiten hatte ich das Klavier, das Fahrrad und die schönen Kleider zu verdanken.
»Könnte nicht einmal der Heinrich bei uns vorbeikommen? Meiner Frau geht es furchtbar schlecht. Er hat doch auch der Frau Klose geholfen.«
An manchen Tagen war der Großvater noch nicht von der Arbeit zurück, wenn schon wieder nach ihm gefragt wurde.
»Ich werde es ihm ausrichten«, versprach dann meine Großmutter und erkundigte sich neugierig nach der Art der Beschwerden.
»Sie kann sich nicht mehr rühren. Bei jeder Bewegung tut ihr der Rücken weh«, sagte etwa der Fleischermeister Henschel. »Sie kann nicht mehr in den Laden kommen, und ich stehe allein da, und das mitten im Weihnachtsgeschäft.«
»Er wird bald kommen, so gegen sechs«, versprach die Großmutter, die sich bei diesem Besuch ein schönes, großes Stück Fleisch ausrechnete.
Mein Großvater war im Dorf und sogar über dessen Grenzen hinaus als Wunderheiler bekannt. Man glaubte fest daran, dass von seinen Händen heilende Kräfte ausgingen, und die Zahl der zufriedenen Patienten wuchs.
Deshalb wurde er immer öfter zu Leuten gerufen, die krank waren, Schmerzen hatten, die der Arzt nicht beheben konnte oder die sich diese vielleicht nur einbildeten.
»Legen Sie sich erst mal ganz flach hin, Frau Henschel«, redete er etwa der Fleischersfrau zu, und dann strich er mit seinen großen, kräftigen, blau geäderten Händen vom Kopf abwärts über den Körper der Frau, wobei er die Augen geschlossen hielt. Anschließend schüttelte er die Hände, um sich der Gifte, die er vielleicht aufgesogen hatte, zu entledigen. Diese Prozedur wiederholte er so oft, bis es der Frau besser ging. Als er heimkam, war er wie immer nach solchen Behandlungen ganz erschöpft, so als wäre er seiner körperlichen Kräfte völlig beraubt worden. Es war ein merkwürdiges Phänomen, aber er glaubte daran und die Kranken, die ihn riefen, ebenfalls.
Eines Tages, kurz nach meinem unvergesslichen Klaviervortrag, klopfte sogar das Dienstmädchen der Fabrikantenfamilie Fünfstück, der die Textilfabrik gehörte, bei uns an.
»Die gnädige Frau schickt mich«, sagte das Mädel und machte einen Knicks.
»Ich soll fragen, ob Ihr Mann nicht einmal vorbeikommen könnte. Sie weiß nämlich vor Kopfschmerzen nicht mehr ein noch aus.«
»Selbstverständlich wird er kommen«, versprach meine Großmutter beflissen. »Gleich nach der Arbeit, so gegen sechs oder sieben.«
Das junge, rothaarige Mädchen knickste erneut und lief zurück zur Villa des Fabrikanten, die auf einem Hügel am Ortsrand stand.
»Wer war denn das?«, fragte ich meine Mutter neugierig.
»Das Dienstmädchen der Fünfstücks«, erwiderte sie zerstreut und fuhr in Gedanken mehr zu sich selbst fort: »Dass die unseren Vater bitten, hätte ich nicht gedacht.« Der Name Fünfstück sagte mir etwas. Ich wusste, dass die drei Töchter der Familie bis zur vierten Klasse in die Dorfschule gegangen waren, aber ansonsten hatte man sie beim Spielen nie gesehen. Als sie dann aufs Gymnasium wechselten, waren sie unseren Augen ganz entschwunden. Allerdings hatte ich ohnehin nichts mit ihnen zu tun, denn sie waren erheblich älter.
»Hoffentlich geht er auch wirklich hin«, bemerkte meine Großmutter zweifelnd und runzelte die Stirn. »Du kennst ja seine Einstellung, was die Kapitalisten betrifft.«
»Ich frage mich nur, wie es uns ginge, wenn es die Fabrik nicht gäbe«, antwortete die Mutter und setzte sich wieder an ihren Nähtisch beim Fenster. Während sie auf der Maschine ratterte, fuhr sie fort: »Vor ein paar Jahren, als Millionen von Menschen von der Stütze leben mussten und es ihnen unvorstellbar dreckig ging, gab es hier in der Fabrik noch Arbeit für den Vater und für dich.«
»Du hast ja recht«, musste die Großmutter zugeben, strich ihr Haar zurück und seufzte. »Ich bin ja auch nicht seiner Meinung, aber er ist und bleibt nun mal ein Kommunist. Deshalb habe ich so meine Bedenken, ob er wirklich zu den Fünfstücks gehen wird.«
»Wenn er es nicht tut«, erwiderte meine Mutter heftig von der Nähmaschine her, »dann rede ich kein Wort mehr mit ihm.«
Ich saß auf dem Sofa und spitzte die Ohren. Die Worte Kommunismus und Kapitalismus hörte ich zum ersten Mal in meinem Leben – was nicht verwunderlich war, da ich schließlich noch nicht zur Schule ging. Doch obwohl ich den Sinn nicht verstand, ahnte ich, dass es damit eine besondere Bewandtnis haben musste.
Als mein Großvater dann am Abend heimkam und die Mutter ihm vom Anliegen der Fabrikantengattin erzählte, ging zunächst einmal ein mächtiges Donnerwetter los, weil Frau und Tochter zugesagt hatten. Aber schließlich konnten die beiden ihn doch überreden, denn widerwillig musste er einsehen, dass es unklug wäre, in Zeiten anhaltender Arbeitslosigkeit seinen Arbeitgeber zu verärgern. Außerdem winkte bestimmt eine gute Entlohnung, und in dieser Hinsicht dachte der Großvater durchaus kapitalistisch.
»Wenn ich der guten Frau« – er betonte das Adjektiv »gut« dabei recht spöttisch – »helfen kann, dann werde ich aber kräftig zulangen«, sagte er, ging in die Schlafstube hinüber und holte seinen besten Anzug heraus, den er das letzte Mal bei meinem großen Auftritt angezogen hatte.
»Na, mach dich bloß nicht zu fein«, spöttelte meine Großmutter. »Erst willst du gar nicht hin, und jetzt muss es gleich der beste Anzug sein.«
An diesem Abend kam Großvater sehr spät nach Hause. Ich hatte schon tief und fest geschlafen, als mich Lärm und Gepolter im Treppenhaus aufweckten. Als ich dann auch noch meine Großmutter und Mutter lamentieren hörte, stieg ich aus dem Bett und lief barfuß in den Flur hinaus.
So verschlafen ich auch war, begriff ich doch schnell, dass Großvater an diesem Abend kräftig einen über den Durst getrunken hatte. Sein Fahrrad, mit dem er schnurstracks in den großen Hausflur gefahren sein musste, lag auf dem Boden und er daneben. Den Hut hatte er zwar noch auf dem Kopf, aber er saß ganz schief und war nach vorne gerutscht, ein Hosenträger hing unordentlich herab, doch ansonsten schien alles in Ordnung zu sein. Meine Mutter, die Großmutter und der Walter, der über uns wohnte, hatten Mühe, ihn aufzuheben, denn er war ein großer, kräftiger Mann. Schließlich gelang es ihnen mit vereinten Kräften, ihn ins Bett zu bringen, und bald drang sein lautes Schnarchen bis in meine Kammer.
»Dass er sich gleich so besaufen muss«, jammerte meine Großmutter, während meine Mutter lachte.
»Es kommt doch nicht oft vor«, versuchte sie die Oma zu beruhigen. »Ab und zu muss er einmal über die Stränge schlagen dürfen.«
»Er wird sich doch nicht bei den Fünfstücks so bedudelt haben?« Sie blickte kopfschüttelnd auf ihren schnarchenden Mann und ging dann ebenfalls zu Bett.
Am nächsten Morgen beim Frühstück erzählte der Großvater, der wieder völlig hergestellt und bester Laune war, von seinem Husarenstück.
»Also, allein der Flur von den Fünfstücks ist so groß wie unsere Wohnung«, begann er seinen Bericht über den gestrigen ereignisreichen Abend.
Ich sperrte Mund und Augen auf und vergaß für eine Minute zu kauen, denn das konnte ich mir nicht vorstellen: ein Flur, der größer war als unsere Wohnung, die für meine Verhältnisse schon riesig war. Aber wenn der Großvater es sagte, musste es wohl stimmen.
»Und hast du die Gnädige von ihren Kopfschmerzen befreien können? Hat es geklappt?«, wollte die Großmutter wissen, denn das war ihr das Wichtigste bei der Geschichte.
»Und ob«, antwortete der Großvater mit stolzgeschwellter Brust und bestrich dabei eine Schnitte dick mit »guter Butter«, wie man damals in Abgrenzung zur Margarine sagte. »Keine Viertelstunde nach meiner Behandlung ging es ihr besser.«
»Dann hast du also wirklich geholfen!«, rief ich aus und warf meinem Großvater einen bewundernden Blick zu.
»Meinst du, dass das, was bei den einfachen Leuten hilft, bei den Reichen nicht funktioniert?«, fragte mich mein Großvater spöttisch.
»Na, und wie ging es weiter? Was hast du dafür bekommen?«, fragte meine Mutter, die der finanzielle Aspekt am meisten interessierte.
»Hol mal meine Jacke, Ursel!«, befahl er in seiner ein wenig autoritären, aber niemals einschüchternden Art, und ich sprang sofort auf.
»Hoffentlich ist noch alles drin«, bemerkte die Großmutter seufzend. »So wie du gestern nach Hause gekommen bist, wäre es kein Wunder, wenn das Geld weg wäre.«
Bei diesem Einwand seiner »besseren Hälfte« schien dem Großvater etwas mulmig zumute zu werden, denn so ganz konnte er sich an die Einzelheiten des gestrigen Abends nicht mehr erinnern. Als ich mit der Jacke kam und nachgezählt wurde, war zu seinem Glück das ganze Geld noch da – abgesehen von den paar Groschen, die er in der Waldschenke verzecht hatte.
»Zehn Mark!«, staunte meine Mutter. »Davon bekommen wir einen ganzen Waschkorb voll Lebensmittel.«
»Ja, die Fünfstücks sind großzügig, aber sie haben es ja auch«, bemerkte Großvater und strich sich über den Bart.
»Nach der Behandlung haben sie mich zu Tee mit Rum eingeladen und mir einen ganz feinen Kuchen vorgesetzt.«
»War der Herr Fünfstück denn auch da?«, fragte die Großmutter neugierig.
»Ja, er kam gerade aus der Fabrik, setzte sich zu uns und hat sich mit mir unterhalten.«
»Hoffentlich nicht über Politik«, warf meine Großmutter ein.
»Ich hätte ihm schon gerne meine Meinung gesagt, was ich über die sozialen Verhältnisse denke, aber das wäre bei seiner Großzügigkeit doch nicht ganz angebracht gewesen.«
»Gott sei Dank!« Die Großmutter atmete erleichtert auf.
»Und dann, als dich der Rum und die Freundlichkeit der Fünfstücks in so gute Laune versetzt hatten, konntest du nicht umhin, in die Waldschenke zu radeln«, lachte meine Mutter und blickte noch immer ganz verzückt auf die zehn Reichsmark.
»Bernds Emil kam die Straße entlang, als ich gerade nach Hause wollte«, rechtfertigte sich der Großvater. »Und ich habe ihm leider erzählt, dass man mich zu den Fünfstücks gerufen hat, um der armen Frau zu helfen. Daraufhin musste ich natürlich einen ausgeben. Der Emil hat nicht locker gelassen. Ich hätte die Sache lieber für mich behalten sollen, aber nun ist es mal passiert.« Als sich in der Gegend herumsprach, dass mein Großvater sogar die Fabrikantengattin von ihrer Migräne befreit hatte, war er noch gefragter als zuvor.
Irgendwie passten diese übernatürlichen Fähigkeiten, von denen er überzeugt war, gar nicht zu seiner sonst so rationalen Art, die nur gelten ließ, was auf der Erde geschah, und von einem lieben Gott im Himmel nichts wissen wollte.
Es durften auch keine christlichen Symbole in unserer Wohnung hängen, nicht einmal die »Betenden Hände« von Dürer, die meine Mutter von einer Bekannten geschenkt bekommen hatte. Als sie das schön geschnitzte Holzrelief in der »Guten Stube« aufhängen wollte und der Großvater hinzukam, musste sie es sofort wieder abnehmen. Doch auch wenn er in dieser Hinsicht rigoros war, hatte er nichts dagegen, dass die Großmutter mit mir in die evangelische Kirche ging.
Meine Oma hatte es nicht immer leicht mit ihrem wilden Heinrich – nicht nur, was die Religion anging. Während ich ihn nur als herzensguten Großvater kannte, scheint er nicht immer ein fürsorglicher Ehemann gewesen zu sein, denn eines Tages in der Frühzeit ihrer Ehe verspürte er plötzlich Fernweh in seiner breiten Brust und schiffte sich einfach nach Übersee ein, von wo er jedoch ebenso überraschend zurückkehrte und wieder seinen Platz in der Familie einnahm, als wäre nichts geschehen. Er sprach so gut wie nie von diesem brasilianischen Abenteuer.
Umso mehr redete er über Politik und bezeichnete sich als überzeugten Atheisten und Kommunisten, was in jener Zeit, in die meine frühesten Erinnerungen zurückreichen, von den meisten Leuten nicht gerade geschätzt wurde, denn seit Anfang der dreißiger Jahre wollte man lieber glauben, dass für Deutschland endlich wieder eine große Zeit anbrach, in der kein Platz war für antinationalistische Quertreiber. Auch in unserem Dorf gab es nicht wenige, die schon sehr früh alles Heil der Welt in Adolf Hitler zu finden glaubten. Mein junger Onkel, ein strammer Nazi, gehörte ebenfalls dazu, und so konnte es nicht ausbleiben, dass es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn kam, vor allem wenn Kurt mich auch noch zu beeinflussen versuchte.
»Ursel, wenn du größer bist, darfst du zu den Jungmädeln, dann gehörst auch du dem Führer«, sagte er eines Tages zu mir und warf dabei meinem Großvater einen provozierenden Blick zu. »Die Kommunisten haben ausgespielt«, redete er euphorisch weiter und hielt meinem Großvater die Zeitung unter die Nase. »Die Demokraten haben ebenfalls ausgespielt. Jetzt gibt es nur noch eine Partei und einen Führer. Jetzt weiß man wenigstens, wo es langgeht, und endlich hat das ganze Durcheinander mit den Schwätzern im Reichstag ein Ende.«
Der Großvater nahm das »Lausitzer Tagblatt« zur Hand, warf einen kurzen Blick darauf und legte es sogleich resigniert und enttäuscht zur Seite. »Mit den Nazis will ich nichts zu tun haben«, brummte er. »Du wirst schon sehen, wohin uns dieser Hitler führt, nämlich in einen neuen Krieg.«
Die Großmutter schaute besorgt zu ihm hin. »Du wirst doch hoffentlich nicht recht haben, Heinrich«, murmelte sie.
In den nächsten Wochen, als es in Deutschland drunter und drüber ging, der Reichstag aufgelöst wurde und Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, erlosch das Feuer in den leuchtend blauen Augen des Großvaters mehr und mehr. Müde schaute er plötzlich aus, aber auch ergeben in ein Schicksal, gegen das er nichts ausrichten konnte.
Kurz darauf war der wilde Heinrich tot. Es ging ganz schnell, wenngleich ihm Zeit blieb, mit dem Herrgott seinen Frieden zu schließen. Plötzlich verlangte er nach dem christlichen Kalender der Herrnhuter Brüdergemeinde, den die Großmutter jedes Jahr in einem versteckten Winkel der Küche aufhängte. Und genauso, wie er viele Male über die Körper der Kranken gestrichen hatte, strich er nun über das Christusbild. Er starb kurz vor Weihnachten 1932 – er musste die Machtergreifung und all das Schreckliche, das bald auf uns hereinstürmen sollte, nicht mehr miterleben.
Bei uns in der Oberlausitz gab es im Winter stets viel Schnee, den der Ostwind ins Land wehte, und es war zudem oft bitterkalt.