Sarah J. Maas

Throne of Glass

Erbin des Feuers

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch
von Ilse Layer

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Sarah J. Maas

© privat

Sarah J. Maaswuchs in Manhattan auf und lebt seit einiger Zeit mit Mann und Hund in Pennsylvania. Bereits mit dem ersten Entwurf zu ›Throne of Glass‹ sorgte sie für Furore: Mit 16 veröffentlichte sie ›Queen of Glass‹ (so der damalige Titel) auf einem Onlineforum für Autoren und initiierte damit eines der frühesten Onlinephänomene weltweit.

Ilse Layerarbeitete nach ihrem Studium zunächst im Kulturbereich und in einem Verlag, bevor sie sich als Literaturübersetzerin für Spanisch und Englisch selbstständig machte. Sie bereist nicht nur gern fremde Sprachen, sondern auch fremde Länder. Zu Hause ist sie seit vielen Jahren in Berlin.

Über das Buch




Eine charismatische Heldin.
Eine faszinierende Welt.
Eine unglaubliche Sogwirkung.


Celaena kennt nur ein Ziel: sich an dem grausamen König von Adarlan zu rächen. Um ihn zu besiegen, muss sie jedoch den Mann, den sie liebt, zurücklassen. Und nicht nur das – Celaena bricht auf in ein neues Land, in dem ihr dunkelstes Geheimnis lauert. Ein Geheimnis, das alles – ihre Gegenwart und ihre Zukunft – für immer verändern wird …

BAND 3 DER FASZINIERENDEN SAGA

Impressum

Deutsche Erstausgabe

7. Auflage 2019

2015 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2014 Sarah J. Maas

Titel der englischen Originalausgabe: ›Heir of Fire‹,

2014 erschienen bei Bloomsbury Publishing

This translation is published by arrangement with Bloomsbury, USA.

All rights reserved

© der deutschsprachigen Ausgabe:

2015 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlaggestaltung: talexi

© der Landkarte: Kelly de Groot

 

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eBook-Herstellung im Verlag

 

eBook ISBN 978-3-423-42855-2 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71653-6

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423428552

Erbin der Asche

Himmel, war es heiß in diesem dämlichen Königreich.

Oder vielleicht kam es Celaena Sardothien nur so vor, weil sie seit dem Vormittag auf dem Rand des Terrakotta-Dachs herumlag, den Unterarm über den Augen, und langsam in der Sonne backte wie die Fladenbrote, die die ärmsten Bewohner der Stadt auf ihre Fenstersimse legten, weil sie sich keinen gemauerten Ofen leisten konnten.

Und Himmel, hatte sie das Fladenbrot satt, dieses Teggya. Vor allem seinen penetranten Zwiebelgeschmack, der sich nicht einmal mit reichlich Wasser hinunterspülen ließ. Selbst wenn sie nie wieder einen Bissen Teggya aß, wäre das schon zu spät.

Hauptsächlich weil sie sich nichts anderes hatte leisten können, seit sie vor zwei Wochen in Wendlyn an Land gegangen war und sich auf den Weg in die Hauptstadt, Varese, gemacht hatte, genau wie es ihr von Seiner Majestät des Weltreichs und Herrn der Erde, dem König von Adarlan, befohlen worden war.

Und nicht lange nach dem ersten Blick auf das stark befestigte Schloss aus Kalkstein, die gut ausgebildeten Wachen, die kobaltblauen Fahnen, die so stolz im trockenen, heißen Wind flatterten, und dem Entschluss, ihren Auftrag nicht auszuführen, war ihr das Geld ausgegangen und sie musste Teggya und Wein bei Straßenverkäufern mitgehen lassen.

Sie streckte den Arm über den Terrakotta-Boden hinter sich aus und tastete nach dem Tonkrug mit Wein, den sie am Vormittag aufs Dach geschleppt hatte. Sie bewegte die Hand nach rechts, nach links, aber …

Sie fluchte. Wo zur Hölle war der Wein?

Die Welt kippte und wurde gleißend hell, als sie sich auf die Ellbogen hochstemmte. Über ihr kreisten Vögel, in sicherem Abstand zu dem Habicht mit den weißen Schwanzfedern, der schon den ganzen Vormittag auf einem nahen Schornstein hockte und auf die Gelegenheit wartete, sich seine nächste Mahlzeit zu schnappen. Unter ihr war die Marktstraße ein Getümmel aus Farben und Geräuschen: iahende Esel, Händler, die ihre Waren anpriesen, fremde und zugleich vertraute Gewänder und das Klappern von Rädern auf hellen Pflastersteinen. Aber wo zur Hölle war der …?

Ah, hier, unter einer der schweren roten Platten, damit er kühl blieb. Genau da, wo sie ihn vor Stunden versteckt hatte, als sie auf das Dach der großen Markthalle geklettert war, um die zwei Querstraßen entfernte Schlossmauer im Auge zu behalten. Oder was auch immer sie sich als offizielle, vernünftige Begründung zurechtgelegt hatte, bevor sie merkte, dass sie sich eigentlich lieber im Schatten ausstrecken wollte – einem Schatten, den Wendlyns unbarmherzige Sonne inzwischen längst weggebrannt hatte.

Celaena nahm einen Schluck aus dem Weinkrug – oder wollte es zumindest. Er war leer, worüber sie eigentlich froh war, denn Himmel, in ihrem Kopf drehte sich alles. Sie brauchte Wasser und mehr

Stöhnend drehte sie sich auf den Bauch und beobachtete die Straße tief unter sich. Mittlerweile kannte sie die Wachen, die dort patrouillierten, und hatte sich ihre Gesichter und Waffen eingeprägt, genau wie bei den Wachposten auf der hohen Schlossmauer. Sie hatte sich gemerkt, wie die Ablösungen vonstattengingen und wie die drei gewaltigen Tore, die ins Schloss führten, geöffnet wurden. Das Thema Sicherheit hatten die Ashryvers offenbar schon von jeher sehr, sehr ernst genommen.

Es war nun zehn Tage her, dass sie in Varese eingetroffen war. Sie hatte sich selbst in den Hintern getreten, um von der Küste so schnell wie möglich hierherzukommen, nicht weil sie besonders scharf darauf war, ihren Auftrag auszuführen, sondern weil die Stadt so verdammt groß war. Hier konnte sie der Obrigkeit besser entwischen, der sie bereits bei ihrer Ankunft im Hafen durchs Netz gegangen war, statt sich wie alle anderen Neuankömmlinge für ihr ach so mildtätiges Arbeitsprogramm einteilen zu lassen. In die Hauptstadt zu eilen war auch eine willkommene Abwechslung gewesen nach den ganzen Wochen auf See, wo ihr eigentlich nach nichts anderem zumute gewesen war, als in der schmalen Koje zu liegen oder mit fast schon religiösem Eifer ihre Dolche zu schleifen.

Du bist einfach nur ein Feigling, hatte Nehemia zu ihr gesagt.

Jeder Schliff des Wetzsteins war ein Echo gewesen. Feigling, Feigling, Feigling. Das Wort war ihr den weiten Weg über den Ozean gefolgt.

Sie hatte einen Schwur abgelegt: den Schwur, Eyllwe zu befreien. Und so hatte sie sich zwischen Augenblicken von Verzweiflung und Wut und Trauer, zwischen Gedanken an Chaol und die Wyrdschlüssel und alles, was sie zurückgelassen und verloren hatte, einen Plan zurechtgelegt, wie sie vorgehen wollte, sobald sie die Küste erreichte.

Aber nur ihr eigenes und das des Königs. So musste es sein: keine weiteren Verluste außer ihrer beider Leben; keine blutbefleckten Hände außer ihren eigenen. Es bedurfte eines Ungeheuers, um ein Ungeheuer zu töten.

Und wenn sie dank Chaols deplatzierten guten Absichten nun schon mal hier war, würde sie sich wenigstens die Antworten holen, die sie brauchte. Es gab in ganz Erilea nur eine einzige Person, die dabei gewesen war, als ein Geschlecht von Dämonen bei ihren Eroberungsfeldzügen drei Wyrdschlüssel eingesetzt hatte, derart mächtige Werkzeuge, dass sie für Tausende von Jahren versteckt und die Erinnerung daran nahezu komplett ausgelöscht gewesen war: Königin Maeve von den Fae. Maeve wusste alles – wie nicht anders zu erwarten, wenn man steinalt war.

Folglich war der erste Schritt ihres dummen, albernen Plans ganz simpel gewesen: Maeve aufspüren, Auskunft erhalten darüber, wie man die Wyrdschlüssel vernichten konnte, und dann nach Adarlan zurückkehren.

Das war das Mindeste, was sie tun konnte. Für Nehemia und für … eine Menge anderer Leute. In ihrem Herzen war nichts mehr, nicht wirklich. Nur Asche und ein Abgrund und ihr unumstößlicher, mit Blut besiegelter Schwur gegenüber der Freundin, die in ihr gesehen hatte, was sie in Wahrheit war.

Als sich das Schiff der Küste näherte, hatte sie unwillkürlich über die Vorsichtsmaßnahmen gestaunt, mit denen es Wendlyns größte Hafenstadt ansteuerte. Die Crew wartete eine mondlose Nacht ab, dann wurden Celaena und die anderen aus Adarlan geflüchteten

Und daran hing noch eine andere Aufgabe: zu verhindern, dass der König Chaol oder Nehemias Familie hinrichtete. Damit hatte er gedroht für den Fall, dass sie ohne Wendlyns Pläne zur Verteidigung seiner Meerwege zurückkam. Und für den Fall, dass es ihr nicht gelang, den König samt Thronerben beim jährlichen Sonnwendball zu ermorden. All diese Gedanken hatte sie jedoch beiseitegeschoben, nachdem sie angelegt hatten und sämtliche Passagiere an Land gescheucht worden waren, um von den Hafenbeamten abgefertigt zu werden.

Viele der geflüchteten Frauen waren äußerlich und innerlich von den Gräueltaten gezeichnet, die sie in Adarlan erlitten hatten. Deshalb hatte Celaena, nachdem sie selbst im Durcheinander des Anlegens vom Schiff verschwunden war, von einem nahen Hausdach aus zugesehen, wie die Frauen in ein Gebäude geführt wurden – vorgeblich um ein Zuhause und Arbeit zu finden. Allerdings konnten Wendlyns Beamte sie später in einen ruhigen Teil der Stadt bringen und dort mit ihnen machen, was sie wollten. Sie verkaufen. Oder ihnen etwas antun. Sie waren Flüchtlinge: unerwünscht und ohne irgendwelche Rechte. Ohne eine Stimme.

Aber sie hatte nicht nur aus Paranoia zugesehen. Nein, Nehemia wäre auch geblieben und hätte sich überzeugt, dass sie in Sicherheit waren. Nachdem Celaena sich vergewissert hatte, dass alles in Ordnung war, hatte sie die Straße zur Hauptstadt eingeschlagen. In Erfahrung zu bringen, wie sie ins Schloss eindringen konnte, war nur etwas, mit dem sie sich die Zeit vertrieb, während sie überlegte, wie sie die ersten Schritte ihres Plans ausführen sollte. Während sie versuchte, nicht länger an Nehemia zu denken.

Wendlyn. Ein Land der Mythen und Ungeheuer – der wahr gewordenen Träume und Albträume.

Das Königreich selbst bestand aus heißem, steinigem Sand und dichtem Wald, der immer grüner wurde, je mehr sich im Landesinneren Hügel erhoben und zu hoch aufragenden Bergen türmten. Die Küste und das Land um die Hauptstadt herum waren trocken, als hätte die Sonne bis auf die robustesten Pflanzen alles versengt – komplett anders als das feuchtkalte Reich, das sie hinter sich gelassen hatte.

Das hier war ein Land des Überflusses, der Chancen, wo die Menschen sich nicht einfach nahmen, was sie wollten, wo keine Tür verschlossen war und die Leute einen auf der Straße anlächelten. Dabei war es ihr eigentlich egal, ob jemand sie anlächelte oder nicht – nach einigen Tagen fand sie es mit einem Mal sogar schwierig, überhaupt noch etwas wichtig zu nehmen. Alle Entschlossenheit, alle Wut, einfach alles, was sie bei der Abreise aus Adarlan gefühlt hatte, war fort, verschlungen von der Leere, die nun an ihr zehrte.

Es vergingen vier Tage, bevor Celaena die gewaltige Hauptstadt erblickte, die man zwischen die Gebirgsausläufer gebaut hatte: Varese, die Stadt, in der ihre Mutter zur Welt gekommen war, das pulsierende Herz des Königreichs.

Varese war sauberer als Rifthold und der Reichtum gerechter zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten verteilt, und doch war es eine echte Hauptstadt mit Armenvierteln und engen Gässchen, Prostituierten und Zockern – und es hatte nicht sehr lange gedauert, bis sie auf diese Schattenseite der Stadt gestoßen war.

Auf der Straße unter ihr legten drei der Marktwachen einen kleinen Schwatz ein und Cealaena stützte das Kinn in die Hände. Wie alle

Obwohl sie jeden Tag in der Sonne briet und sich bei jeder Gelegenheit in einem der vielen Springbrunnen der Stadt wusch, konnte sie noch Archer Finns Blut auf ihrer Haut und in ihren Haaren spüren. Selbst bei dem ständigen Lärm und der Geschäftigkeit von Varese konnte sie noch Archers Ächzen hören, als sie ihm in diesem Gang unter dem Schloss einen Dolch ins Herz gestoßen hatte. Und trotz des Weins und der Hitze konnte sie noch immer Chaols verzerrtes Gesicht sehen, sein Entsetzen über ihr Fae-Erbe und ihre ungeheuerlichen Kräfte, an denen sie leicht zerbrechen konnte, und darüber, wie leer und dunkel es in ihr war.

Sie fragte sich oft, ob er dem Rätsel, das sie ihm am Hafen von Rifthold verraten hatte, auf den Grund gegangen war. Und wenn er die Wahrheit herausgefunden hatte … Weiter ließ Celaena ihre Gedanken nie schweifen. Jetzt war nicht der richtige Moment zum Nachdenken über Chaol oder die Wahrheit oder die anderen Dinge, die ihre Seele so ausgelaugt hatten.

Während Celaena vorsichtig ihre aufgeplatzte Lippe befühlte, warf sie den Marktwachen einen finsteren Blick zu, eine Bewegung, bei der ihr Mund noch mehr wehtat. Sie hatte diesen Schlag bei der Prügelei abbekommen, die sie gestern Abend im Wirtshaus angezettelt hatte – sie hatte einem Mann das Knie zwischen die Beine gerammt, und als er wieder Luft bekommen hatte, war er, gelinde gesagt, wütend

Genau wie Galan Ashryver, der Kronprinz von Wendlyn, gut war.

Von etwas wie Ärger übermannt, streckte Celaena die Zunge heraus – den Wachen, dem Markt, dem Habicht auf dem nahen Schornstein, dem Schloss und dem Prinzen, der darin wohnte. Sie wünschte, der Wein wäre ihr nicht so früh am Tag ausgegangen.

Eine Woche war es her, seit sie herausgefunden hatte, wie sie ins Schloss eindringen konnte, drei Tage nach ihrer Ankunft in Varese. Eine Woche seit dem schrecklichen Tag, an dem all ihre Pläne zerbrochen waren.

Eine erfrischende Brise trug den Duft der Gewürze heran, die unten auf der Straße verkauft wurden: Muskatnuss, Thymian, Kreuzkümmel, Zitronenverbene. Sie atmete tief ein, damit die Düfte ihren von Sonne und Wein benebelten Kopf frei machten. Aus einem der nahen Bergdörfer drang Glockengeläut und auf einem der Plätze der Stadt stimmten Musikanten eine fröhliche Mittagsmelodie an. Nehemia hätte es hier gefallen.

Von einer Sekunde auf die andere geriet die Welt aus den Fugen, kippte in den Abgrund, der nun ihr ständiger Begleiter war. Nehemia würde Wendlyn nie zu sehen bekommen. Nie würde sie durch den Gewürzmarkt schlendern oder die Bergglocken hören. Ein furchtbares Gewicht lastete auf Celaenas Brust.

Bei ihrer Ankunft in Varese war ihr der Plan einfach perfekt erschienen. Während sie auskundschaftete, wie das königliche Schloss geschützt war, überlegte sie, wie sie Maeve finden konnte, um sie nach den Wyrdschlüsseln zu fragen. Alles war reibungslos verlaufen, wie geschmiert, bis …

Es war nicht der Anblick seiner olivfarbenen Haut und seiner dunklen Haare gewesen, der sie hatte erstarren lassen. Auch nicht die Tatsache, dass sie sogar aus der Entfernung seine Augen – türkisblau wie ihre eigenen – erkennen konnte, weshalb sie auf der Straße seither meist eine Kapuze trug.

Nein. Es war die Art gewesen, wie die Menschen auf ihn reagierten.

Wie sie diesem Mann, der ihr Prinz war, zujubelten. Wie sie ihm zu Füßen lagen, wenn er charmant lächelnd, bekleidet mit einer Lederrüstung, die in der unermüdlichen Sonne glänzte, mit seinem Gefolge aus Soldaten zur Nordküste aufbrach, um das Unterlaufen der Blockade fortzusetzen. Das Blockadebrechen. Der Prinz – den sie töten sollte – war ein götterverdammter Blockadebrecher gegen Adarlan. Und sein Volk liebte ihn dafür.

Sie war dem Prinzen und seinen Männern durch die Stadt gefolgt, von Dach zu Dach gesprungen, und sie hätte ihm nur einen einzigen Pfeil in diese türkisblauen Augen zu schießen brauchen, dann wäre er tot gewesen. Doch sie folgte ihm den ganzen Weg zur Stadtmauer, wobei der Jubel anschwoll und die Menschen Blumen streuten. Alle strahlten vor Stolz auf diesen perfekten Prinzen.

Sie erreichte das Stadttor in dem Moment, als es geöffnet wurde, um ihn hindurchzulassen. Und als Galan Ashryver davonritt in die untergehende Sonne, in den Krieg und den Ruhm und den Kampf für das Gute und die Freiheit, blieb sie auf ihrem Dach sitzen, bis er nur noch ein kleiner Punkt in der Ferne war.

Dann ging sie ins nächste Wirtshaus und stürzte sich in eine Schlägerei, die brutalste, blutigste, die sie je vom Zaun gebrochen hatte, bis

Ihr Plan war völlig unsinnig. Nehemia und Galan hätten die Welt befreit … wäre Nehemia noch am Leben gewesen. Gemeinsam hätten der Prinz und die Prinzessin den König von Adarlan besiegen können. Aber Nehemia war tot und Celaenas Schwur – ihr dummer, erbärmlicher Schwur – war einen Dreck wert, wenn es allseits geliebte Thronerben wie Galan gab, die so viel mehr bewirken konnten. Es war dumm von ihr gewesen, diesen Schwur abzulegen.

Selbst Galan konnte kaum etwas gegen Adarlan ausrichten, dabei hatte er eine ganze Armee zur Verfügung. Sie war nur eine einzelne Person, ein völlig vergeudetes Leben. Wenn Nehemia es nicht geschafft hatte, den König aufzuhalten … dann war der Plan, irgendwie Verbindung mit Maeve aufzunehmen … dann war dieser Plan völlig sinnlos.

Zum Glück war sie noch keinem einzigen Fae oder Feenwesen oder auch nur einer Spur Magie begegnet. Sie hatte es vermieden, wo sie nur konnte. Auch schon vor Galans Anblick hatte sie einen Bogen gemacht um die Marktbuden, in denen alles angeboten wurde von Heilkunst über Amulette bis hin zu Zaubertränken, Orte, an denen meist auch viele Straßenkünstler und Söldner ihre Talente zur Schau stellten, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Sie hatte in Erfahrung gebracht, welche Wirtshäuser die Magiekundigen gern aufsuchten, und mied sie systematisch. Denn manchmal spürte sie ein pulsierendes, sich windendes Etwas in ihrem Bauch, wenn sie einen Funken Magie wahrnahm.

Eine Woche war es nun her, seit sie ihren Plan aufgegeben und alle Versuche, irgendetwas wichtig zu nehmen, eingestellt hatte. Und vermutlich würden noch viele weitere Wochen vergehen, bevor sie es endgültig satthatte, sich von Teggya zu ernähren oder sich jeden Abend

Aber ihre Kehle war ausgetrocknet und ihr Magen grummelte und so schälte sie sich langsam von der Dachkante. Langsam nicht wegen der aufmerksamen Wachen, sondern weil sich in ihrem Kopf alles drehte. Sie traute sich selbst nicht über den Weg – womöglich war es ihr sogar egal, wenn sie in die Tiefe stürzte.

Sie warf einen Blick auf die feine Narbe quer über ihrer Handfläche, bevor sie am Regenrohr hinabglitt und in eine schmale Seitengasse der Marktstraße einbog. Diese Narbe war jetzt nicht mehr als eine blasse Erinnerung an das lächerliche Versprechen, das sie vor einem guten Monat an Nehemias winterlichem Grab abgelegt hatte, und an alles und jeden anderen, den sie im Stich gelassen hatte. Genau wie ihr Amethystring, den sie jeden Abend verzockte und vor Sonnenaufgang zurückgewann.

Trotz allem, was passiert war, trotz Chaols Rolle bei Nehemias Tod und obwohl sie das, was zwischen ihnen gewesen war, zerstört hatte, brachte sie es nicht fertig, sich von seinem Ring zu trennen. Schon dreimal hatte sie ihn jetzt beim Kartenspielen verloren, ihn sich aber immer zurückgeholt – mit welchen Mitteln auch immer. Ein an die Rippen gehaltener Dolch zeigte meist mehr Wirkung als bloße Worte.

Celaena wunderte sich, dass sie es ohne Zwischenfall bis in die Gasse hinunter schaffte, wo es so schattig war, dass sie zunächst nichts sehen konnte. Sie stützte sich mit der Hand an der kühlen Steinmauer ab, wartete, bis ihre Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, und versuchte, das Karussell in ihrem Kopf anzuhalten. Aus ihr war ein Wrack geworden. Würde sie irgendwann noch mal die Kurve kriegen und diesen Zustand ändern?

Sie bemerkte den Gestank, noch bevor sie die Frau sah. Gelbe Augen richteten sich auf sie und ein Paar runzlige, rissige Lippen

Celaena fuhr zurück und starrte die Pennerin an – und ihre Tür, die … nur eine Mauernische war, vollgestopft mit Müll und Säcken voller Dinge, die der Frau gehören mussten. Die Frau selbst hatte einen Buckel, fettige Haare und verfaulte Zahnstummel. Als Celaena blinzelte, konnte sie ihr Gesicht besser erkennen: wütend, halb verrückt und schmutzig.

Celaena hob die Hände und wich einen Schritt zurück, dann noch einen. »Tut mir leid.«

Die Frau spuckte dicht vor Celaenas staubige Stiefel auf die Pflastersteine. Da Celaena sich nicht dazu aufraffen konnte, angewidert oder wütend zu werden, wollte sie schon weitergehen, hätte sie nicht plötzlich, als sie ihren stumpfsinnigen Blick wieder auf die Frau richtete, sich selbst erkannt.

Ihre schmutzigen Kleider – voller Flecke und staubig und zerrissen. Ganz zu schweigen davon, dass sie grauenhaft roch und diese Pennerin sie irrtümlich ebenfalls für … für eine Pennerin hielt, die ihr ihren Platz auf der Straße streitig machte.

Also. War das nicht großartig. Ein Rekord-Tiefpunkt, selbst für Celaena Sardothien. Irgendwann später würde sie vielleicht sogar darüber lachen können. Wann hatte sie eigentlich das letzte Mal gelacht?

Ihr einziger Trost bestand darin, dass es zumindest nicht mehr schlimmer werden konnte.

Doch dann hörte sie hinter ihrem Rücken ein tiefes männliches Lachen, das aus dem Schatten zu ihr drang.

Der Mann – das Wesen – am anderen Ende der Gasse war ein Fae.

Nach zehn Jahren der Verbannung, nach all den Hinrichtungen und Scheiterhaufen, kam ein männlicher Fae auf sie zugeschlichen. Ein echter lupenreiner Fae. Sie konnte ihm nicht entgehen, als er wenige Meter von ihr entfernt aus dem Halbdunkel auftauchte. Die Pennerin in der Mauernische und alle anderen Menschen in der Gasse wurden so still, dass Celaena wieder das Läuten der Glocken in den fernen Bergen hören konnte.

Dieses männliche Exemplar war groß, breitschultrig, über und über mit Muskeln bepackt und musste die Gabe der Magie besitzen. Als er in einem staubigen Sonnenstrahl stehen blieb, schimmerte sein Haar silbrig.

Als würden seine spitz zulaufenden Ohren und leicht verlängerten Eckzähne nicht schon genügen, um jeden in dieser Gasse – auch die nun wimmernde Verrückte hinter Celaena – zu Tode zu erschrecken, zog sich über die linke Seite seines strengen Gesichts ein Furcht einflößendes Tattoo, dessen Zacken und Rundungen aus schwarzer Tinte sich klar von seiner sonnengebräunten Haut abhoben.

Es hätten natürlich einfach nur Ornamente sein können, aber Celaena erinnerte sich noch gut genug an die Sprache der Fae, um darin trotz der kunstvollen Ausführung Wörter zu erkennen. Das Tattoo

Es wäre ein Fehler, ihn als jung zu bezeichnen – genau wie es ein Fehler wäre, ihn etwas anderes als einen Krieger zu nennen, selbst ohne das auf seinen Rücken geschnallte Schwert und die gefährlich aussehenden Messer um seine Hüften. Er bewegte sich mit tödlicher Eleganz und Sicherheit, kontrollierte die Gasse, als würde er ein Schlachtfeld betreten.

Der Griff des Dolchs lag warm in ihrer Hand und Celaena passte ihre Haltung an, überrascht über das, was sie fühlte: Angst. Und zwar so große Angst, dass sie den dichten Nebel, der ihre Sinne in den letzten Wochen verschleiert hatte, hinwegfegte.

Der Fae-Krieger kam auf sie zu, ohne mit den kniehohen Lederstiefeln ein Geräusch auf den Pflastersteinen zu machen. Einige der Herumlungernden wichen erschrocken zurück; andere flüchteten zur sonnigen Marktstraße oder zum erstbesten Hauseingang, irgendwohin, um seinem herausfordernden Blick zu entgehen.

Noch bevor er seine scharfen Augen auf ihre richtete, wusste Celaena, dass er wegen ihr hier war und wer ihn geschickt hatte.

Sie griff nach ›Elenas Auge‹, ihrem Amulett, und erschrak, als sie merkte, dass sie es nicht mehr um den Hals trug. Sie hatte es Chaol gegeben – das einzige bisschen Schutz, das sie ihm beim Abschied hatte hinterlassen können. Er hatte es wahrscheinlich weggeworfen, sobald er die Wahrheit über sie herausgefunden hatte. Dann konnte er sich wieder darauf berufen, ihr Feind zu sein. Vielleicht hatte er es auch Dorian erzählt, dann waren beide außer Gefahr.

Tja, und nun stand einer von Maeves Elitekriegern vor ihr. Startklar. Wartend.

Und der schlechten Laune nach, die er ausstrahlte, war er offenbar nicht ganz glücklich darüber.

In der Gasse blieb es still wie auf einem Friedhof, während der Fae-Krieger sie musterte. Seine Nasenflügel weiteten sich kaum merklich, als würde er …

Als würde er ihren Geruch wahrnehmen.

Zu wissen, dass sie entsetzlich stank, bereitete ihr ein wenig Genugtuung, aber nicht diesen Geruch nahm er wahr, sondern den Geruch ihrer Sippe und ihres Blutes, ihren ganz persönlichen Geruch. Und wenn er vor all diesen Leuten ihren Namen aussprach … dann würde Galan Ashryver auf dem schnellsten Weg nach Hause kommen. Die Wachen würden in höchster Alarmbereitschaft sein und das gehörte überhaupt nicht zu ihrem Plan.

Der Kerl sah aus, als würde er genau das gleich tun, nur um zu zeigen, wer das Sagen hatte. Also riss sie sich zusammen und schlenderte auf ihn zu, versuchte sich zu erinnern, wie sie sich früher verhalten hätte, bevor die Welt zur Hölle geworden war. »Es ist mir eine Freude, dich hier zu erblicken«, säuselte sie. »Eine große Freude.«

Sie ignorierte die schockierten Gesichter um sich herum, konzentrierte sich ausschließlich darauf, ihn zu taxieren. Er stand derartig reglos da, wie es nur Unsterbliche fertigbrachten. Sie zwang ihren Herzschlag und ihren Atem zur Ruhe. Beides konnte er wahrscheinlich hören, konnte wahrscheinlich jede Emotion wittern, die durch sie raste. Den hier konnte sie nicht mit ihrer Prahlerei täuschen, nicht in tausend Jahren – so lange lebte er wahrscheinlich schon. Mit ihm

Sie blieb dicht vor ihm stehen. Meine Güte, war er groß. »Was für eine reizende Überraschung«, sagte sie so laut, dass jeder es hören konnte. Wann hatte sie zum letzten Mal so freundlich geklungen? Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann sie das letzte Mal in ganzen Sätzen gesprochen hatte. »Ich dachte eigentlich, wir würden uns an der Stadtmauer treffen.«

Er verbeugte sich nicht und verzog keine Miene, den Göttern sei Dank. Sollte er doch denken, was er wollte. Sie entsprach mit Sicherheit nicht der Beschreibung, die er von ihr erhalten haben musste – und er war es wohl auch gewesen, der gelacht hatte, als die Pennerin sie für ihresgleichen gehalten hatte.

»Gehen wir«, erwiderte er nur, und seine tiefe, ein wenig gelangweilte Stimme schien an den Steinen widerzuhallen, als er der Gasse den Rücken kehrte. In seinen ledernen Unterarmschienen steckten Klingen, jede Wette.

Sie hätte ihm eine fiese Antwort geben können, nur um ihm noch ein wenig auf den Zahn zu fühlen, aber es gab immer noch Zuschauer. Er ging weiter, ohne die Schaulustigen eines Blickes zu würdigen. Sie konnte nicht sagen, ob sie davon beeindruckt oder empört war.

Sie folgte dem Fae-Krieger zur breiten Marktstraße und durch die geschäftige Stadt. Er achtete nicht auf die Menschen, die ihre Tätigkeit unterbrachen oder stehen blieben, um ihn anzustarren. Natürlich wartete er nicht, bis Celaena zu ihm aufgeschlossen hatte, als er auf zwei gewöhnliche Stuten zusteuerte, die auf einem unscheinbaren Platz an einem Trog festgebunden waren. Die Fae besaßen normalerweise weit bessere Pferde, wenn sie sich richtig erinnerte. Wahrscheinlich war er in einer anderen Gestalt hergekommen und hatte die Reittiere hier erworben.

Er schwang sich auf die größere der beiden Stuten und überließ ihr das gescheckte Tier, das mehr auf eine schnelle Mahlzeit aus zu sein schien als darauf, durch die Gegend zu trotten. Da waren sie schon zu zweit. Aber weiter würde sie ihm ohne Erklärung nicht folgen.

Während sie ihren Beutel in die Satteltasche stopfte, hielt sie ihre Hände so, dass die schmalen Narbenbänder um ihre Handgelenke unter ihren Ärmeln verschwanden, Erinnerungen daran, wo die Handfesseln gewesen waren. Wo sie gewesen war. Das ging ihn nichts an. Und auch Maeve nicht. Je weniger sie wussten, desto weniger hatten sie gegen sie in der Hand. »Ich habe in meinem Leben schon etliche grüblerische Krieger kennengelernt, aber ich glaube, du bist der grüblerischste von allen.« Als sein Kopf zu ihr herumwirbelte, fügte sie gedehnt hinzu: »Oh, hallo. Ich glaube, du weißt, wer ich bin, also kann ich mir die Vorstellung sparen. Aber bevor ich wissen-die-Götter-wohin gebracht werde, wüsste ich gern, wer du bist.«

Seine Lippen wurden schmal. Er sah sich auf dem Platz um, wo sich Menschen um sie geschart hatten. Alle ergriffen augenblicklich die Flucht.

Als sie allein waren, antwortete er: »Du hast inzwischen genügend über mich herausgefunden, um zu wissen, was du wissen musst.« Er sprach Adarlan und hatte einen leichten Akzent – ganz entzückend eigentlich, wenn sie es sich eingestanden hätte. Ein weiches, rollendes Schnurren.

»Rowan.« Sein Tattoo, das so schwarz war, dass es wie frisch gestochen aussah, schien die Sonnenstrahlen aufzusaugen.

»Na schön, Rowan …« Oh, er mochte ihren Ton kein bisschen. Wie zur Warnung wurden seine Augen ein wenig schmaler, aber sie sprach weiter: »Darf ich fragen, wo wir hingehen?« Sie musste betrunken sein, um so mit ihm zu reden – immer noch betrunken oder auf eine neue Ebene des Stumpfsinns herabgesunken. Aber sie konnte es einfach nicht sein lassen, nicht einmal wenn die Götter oder das Wyrd oder das Schicksal höchstpersönlich eingriffen, um sie an ihren ursprünglichen Plan zu erinnern.

»Ich bringe dich zu jemandem, der dich sprechen will.«

Solange diese Person Maeve war und sie ihr Fragen stellen konnte, kümmerte es sie wenig, wie sie nach Doranelle kam oder wer sie dorthin brachte.

Tu, was getan werden muss, hatte Elena ihr befohlen. Was genau sie tun sollte, sobald sie in Wendlyn ankam, hatte Elena in ihrer üblichen Art nicht erklärt. Aber das hier war immerhin schon mal besser, als Fladenbrot zu essen und Rotwein zu trinken und für eine Pennerin gehalten zu werden. Vielleicht bekam sie nun bald die Antworten, mit denen sich alles lösen ließ, und konnte in wenigen Wochen das Schiff zurück nach Adarlan nehmen.

Das hätte ihr Auftrieb geben sollen. Doch stattdessen ertappte sie sich dabei, wie sie sich stumm auf ihre Stute schwang; ihr fehlten nicht nur die Worte, sondern auch der Wille, etwas zu sagen. Die letzten paar Minuten hatten sie völlig ausgelaugt.

Zum Glück suchte Rowan nicht das Gespräch, während sie ihm folgte. Am Stadttor winkten die Wachen sie einfach durch, manche wichen sogar zurück.

Rowan fragte nicht, warum sie hier war und was sie in den letzten

Wenn er wirklich so alt war, wie sie vermutete, war sie für ihn wahrscheinlich wenig mehr als ein Staubkorn, ein Fünkchen Leben im ewigen Feuer seiner Unsterblichkeit. Er hätte wohl kein Problem damit, sie zu töten und dann zu seiner nächsten Aufgabe überzugehen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass er ihr Leben beendet hatte.

Das hätte sie eigentlich weit mehr beunruhigen sollen.

Nun schon seit einem Monat hatte Chaol immer denselben Traum, jede Nacht, wieder und wieder, bis er die Bilder auch im Wachzustand sehen konnte.

Der ächzende Archer Finn, als Celaena ihm ihren Dolch durch die Rippen bis ins Herz stieß. Sie hielt die attraktive männliche Kurtisane in den Armen wie einen Geliebten, doch als sie über Archers Schulter zu ihm aufsah, waren ihre Augen tot. Vollkommen leer.

Das Bild wechselte und Chaol konnte nichts sagen, nichts tun, als die goldbraunen Haare zunehmend schwarz wurden und das schmerzverzerrte Gesicht nicht mehr das von Archer war, sondern das von Dorian.

Der Kronprinz wand sich und Celaena hielt ihn fester und drehte den Dolch ein letztes Mal in der Wunde herum, bevor sie Dorian auf den Steinboden im Gang unter dem Schloss sinken ließ. Dorian lag bereits in einer Blutlache, die sich viel zu schnell gebildet hatte. Doch Chaol konnte sich noch immer nicht rühren, konnte nicht zu seinem Freund gehen oder zu der Frau, die er liebte.

Plötzlich war Dorian mit Wunden übersät und aus allen kam Blut – so viel Blut. Er kannte diese Wunden. Den Leichnam hatte er zwar nie gesehen, jedoch die Berichte studiert, in denen genau beschrieben stand, wie Celaena den bösartigen Assassinen namens Grave in dieser

Blut tropfte von der funkelnden Klinge des Dolchs, den Celaena nun sinken ließ, und jeder Tropfen sandte kleine Wellen durch die Lache, die sich mittlerweile um sie herum gebildet hatte. Sie legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein. Atmete den Tod vor sich ein, nahm ihn in ihre Seele auf, eine Mischung aus Rache und Rausch beim Abschlachten ihres Feindes. Ihres wahren Feindes. Des Reichs der Havilliard.

Wieder wechselte das Bild und Chaol lag wie festgenagelt unter ihr, während sie über ihm erschauerte, den Kopf noch immer im Nacken, mit demselben berauschten Ausdruck auf ihrem blutbespritzten Gesicht.

Feindin. Geliebte.

Königin.

~

Die Erinnerung an den Traum zersplitterte, als Chaol den Blick auf Dorian richtete, der neben ihm an ihrem gewohnten Tisch im Großen Saal saß – und auf eine Antwort auf das wartete, was er vermutlich gerade gesagt hatte. Chaol reagierte verlegen mit einem schiefen Lächeln.

Statt es zu erwidern, sagte der Kronprinz leise: »Du hast an sie gedacht.«

Chaol nahm einen Bissen von seinem Lammragout, ohne etwas zu schmecken. Dorian bekam mehr mit, als gut für ihn war. Und Chaol hatte kein Interesse, über Celaena zu reden. Nicht mit Dorian und auch mit keinem anderen. Die Wahrheit, die er über sie wusste, konnte mehr Leben in Gefahr bringen als nur ihr eigenes.

»Ich habe an meinen Vater gedacht«, log er. »Wenn er in ein paar Wochen nach Anielle zurückkehrt, werde ich mit ihm gehen.« Sein Vater hatte im königlichen Rat seinen Antrag unterstützt, Celaena

Dorian warf einen Blick zur erhöht platzierten Tafel am Ende des Saals, an der der König und Chaols Vater zu Abend speisten. Anstatt mit ihnen zu essen, hatte der Kronprinz sich heute zu Chaol gesetzt – zum ersten Mal seit einer Ewigkeit. Zum ersten Mal seit ihrem angespannten Wortwechsel nach dem Beschluss, Celaena nach Wendlyn zu schicken, redeten sie miteinander.

Hätte Dorian die Wahrheit gekannt, hätte er den Grund dafür sicher verstanden. Aber er durfte nicht erfahren, wer und was Celaena war und was der König in Wahrheit vorhatte. Die Gefahr einer Katastrophe war zu hoch. Und Dorians eigene Geheimnisse waren bedrohlich genug.

»Ich habe Gerüchte gehört, dass du fortgehen willst«, erwiderte Dorian vorsichtig. »Ich hätte nicht gedacht, dass etwas dran ist.«

Chaol nickte und überlegte fieberhaft, was er seinem Freund sagen könnte.

Noch immer hatten sie nicht über die andere Sache gesprochen, die zwischen ihnen stand, das andere Stückchen Wahrheit, das in jener Nacht in den Gängen unter dem Schloss herausgekommen war: Dorian hatte magische Fähigkeiten. Chaol wollte lieber keine Details wissen. Denn falls es je so weit kam, dass der König ihn verhörte … würde er hoffentlich standhaft bleiben. Schließlich wusste er, dass der König weit üblere Methoden als Folter anwandte, um jemandem Informationen zu entlocken. Deshalb hatte er nicht nachgefragt, hatte kein Wort darüber verloren. Und Dorian auch nicht.

Er sprach von versuchen … Ihn nicht in seinen Plan einzuweihen, Celaena aus Adarlan zu entfernen, war ein Vertrauensbruch gewesen, und zwar einer, für den er sich schämte, auch wenn Dorian das ebenfalls nie erfahren würde. »Ich weiß.«

»Und trotz allem, was passiert ist, bin ich ziemlich sicher, dass wir keine Feinde sind.« Dorians Mund verzog sich.

Du wirst immer nur mein Feind sein. Diese Worte hatte Celaena Chaol in der Nacht von Nehemias Tod ins Gesicht geschleudert, hatte sie geschrien aus der Gewissheit und dem Hass der letzten zehn Jahre heraus, während der sie das größte Geheimnis der Welt so tief in sich vergraben hatte, dass sie ein komplett anderer Mensch geworden war.

Denn Celaena war Aelin Ashryver Galathynius, die Thronerbin und rechtmäßige Königin von Terrasen.

Das machte sie zu seiner Todfeindin. Und auch zu der von Dorian. Chaol wusste noch immer nicht, was er jetzt tun sollte oder was das für sie beide bedeutete, für das Leben, das er sich mit ihr ausgemalt hatte. Die Zukunft, von der er einmal geträumt hatte, war unwiederbringlich verloren.

In der Nacht in den Gängen unter dem Schloss hatte er in ihren Augen nicht nur Wut und Erschöpfung und Schmerz gesehen, sondern auch eisige Kälte. Er hatte miterlebt, wie sie nach Nehemias Tod durchgedreht war, und wusste, wie sie sich an Grave gerächt hatte. Sie konnte jederzeit wieder ausrasten, da bestand nicht der geringste Zweifel. Sie hatte eine dunkle Seite, die gefährlich funkelte, und mitten durch ihr Innerstes ging ein abgrundtiefer Riss.

Nehemias Tod hatte sie zerbrochen. Und was er getan hatte, seine Rolle bei ihrem Tod, hatte auch dazu beigetragen. Das wusste er. Er betete nur, dass sie die Bruchstücke wieder kitten konnte. Denn eine

»Du siehst aus, als müsstest du dich gleich übergeben«, sagte Dorian und stützte die Unterarme auf den Tisch. »Sag mir, was los ist.«

Chaol hatte wieder ins Leere gestarrt. Eine Sekunde lang lastete ein so schweres Gewicht auf ihm, dass er nach Luft schnappte.

Im selben Moment hallte vom Flur her das Klirren von Schwertern, die zum Salut auf Schilde prallten, und Aedion Ashryver, der berüchtigte General des Königs von Adarlan für den Norden und Cousin von Aelin Galathynius, betrat den Großen Saal.

Alle verstummten, selbst sein Vater und der König an der erhöht platzierten Tafel. Noch ehe Aedion den Saal halb durchquert hatte, hatte Chaol Position am Fuß der Tafel bezogen.

Nicht weil der junge General eine Bedrohung war, sondern eher wegen der Art, wie er mit breitem Grinsen und wehenden, schulterlangen goldenen Haaren auf die Tafel des Königs zuschoss.

Aedion als attraktiv zu bezeichnen wäre untertrieben gewesen. Atemberaubend traf die Sache besser. Mit seiner beeindruckenden Körpergröße und seinen Muskelpaketen war Aedion Zoll für Zoll der Krieger, als der er hinter vorgehaltener Hand beschrieben wurde. Obwohl seine Kleidung in erster Linie funktional war, konnte Chaol erkennen, dass seine Lederrüstung von feiner Machart und kunstvoll verarbeitet war. Über seinen breiten Schultern lag ein weißes Wolfsfell und auf seinen Rücken war neben einem runden Schild ein antik aussehendes Schwert geschnallt.

Und dann sein Gesicht. Seine Augen … Heilige Götter.

Die Hand am Schwert, zwang Chaol sich zu einem neutralen, unbeteiligten Gesichtsausdruck, selbst als der Wolf des Nordens ihm so nahe kam, dass er ihn hätte niedermetzeln können.

Das waren Celaenas Augen. Ashryver-Augen. Ein

Warum hatte sich der König die Mühe gemacht, Aedion über all die Jahre hinweg am Leben zu lassen? Warum hatte er ihn zu einem seiner verwegensten Generäle ausgebildet? Aedion war ein Prinz des Königshauses der Ashryver und war bei den Galathynius aufgezogen worden – und doch diente er dem König von Adarlan.

Aedion behielt sein Grinsen bei, als er vor der Königstafel stehen blieb und eine derart flache Verbeugung ausführte, dass Chaol die Luft wegblieb. »Majestät«, sagte der General mit einem Funkeln in seinen goldenen Augen.

Chaol blickte nach oben zur Tafel, um zu sehen, ob der König oder sonst jemand die Ähnlichkeiten bemerkte, die nicht nur Aedion zum Verhängnis werden konnten, sondern auch ihm selbst und Dorian und jedem, an dem ihm etwas lag. Sein Vater warf ihm lediglich ein schmales, zufriedenes Lächeln zu.

Doch der König hatte die Stirn gerunzelt. »Ich hatte dich vor einem Monat erwartet.«

Aedion war tatsächlich so dreist, mit den Schultern zu zucken. »Verzeihung. Die Staghorns waren unpassierbar aufgrund eines letzten Wintersturms. Ich bin aufgebrochen, sobald ich konnte.«

Jeder Einzelne im Saal hielt den Atem an. Aedions Temperament und Unverfrorenheit waren geradezu legendär – einer der Gründe, warum er im fernen Norden stationiert war. Chaol hatte es immer klug gefunden, ihn von Rifthold fernzuhalten, zumal Aedion recht hinterhältig zu sein schien und seine Legion, die Bane, für ihre Schlagkraft und Grausamkeit berüchtigt war, aber … Warum hatte der König ihn jetzt in die Hauptstadt kommen lassen?

»Ist sie auch nicht.«

Chaol machte sich auf den Befehl zur Hinrichtung gefasst und betete, dass nicht er sie würde ausführen müssen. Doch der König erwiderte: »Ich habe dir befohlen, sie mitzubringen, General.«

»Und ich dachte, Ihr sucht das Vergnügen meiner Gesellschaft.« Als der König ein böses Knurren ausstieß, fügte Aedion hinzu: »Sie wird ungefähr in einer Woche hier sein. Ich wollte mir nichts von dem Spaß entgehen lassen.« Aedion zuckte erneut mit den mächtigen Schultern. »Immerhin komme ich nicht mit leeren Händen.« Auf ein Fingerschnalzen hin kam ein Knappe mit einem großen Beutel hereingeeilt. »Geschenke aus dem Norden, freundlicherweise zur Verfügung gestellt vom letzten Rebellenlager, das wir geplündert haben. Sie werden Euch Vergnügen bereiten.«