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Übersetzung aus dem Englischen von Bärbel und Velten
Arnold
ISBN 978-3-492-30687-4
Januar 2016
© Paul Finch 2014
Titel der englischen Originalausgabe:
»Dead Man Walking«, Avon, HarperCollins Publishers
London 2014
© Deutschsprachige Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Covermotiv: plainpicture
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Meinen Kindern Eleanor und Harry. Als sie klein waren, habe ich ihnen manch gruselige Geschichte erzählt, und dennoch ist ihre Begeisterung für solche Geschichten ungebrochen.
Die junge Frau fühlte sich in ihrem halb entblößten Zustand sichtlich wohl, und den Mann störte ihr aufreizendes Outfit auch nicht weiter. Im Gegenteil, er schien das Interesse zu genießen, das sie auf sich zog, während sie an jenem schwülen Augustabend von Pub zu Pub zogen.
Sie begannen ihre freitagabendliche Kneipentour in Buckfastleigh, statteten anschließend den quirligen Dörfern Holne und Poundsgate einen Besuch ab, fuhren dann immer tiefer in die weite, grasige Wildnis von Dartmoor hinein und hielten in immer einsameren Weilern: Babeny, Dunstone und schließlich in Widecombe-in-the-Moor, wo der Legende nach einst eine Bande Bier saufender Halunken Uncle Tom Cobleys graue Stute zu Tode geritten und ihr ein frühes Grab beschert hatte.
Die junge Frau betrat die Pubs immer vor ihrem Begleiter, schlängelte sich mit schwingenden Hüften durch die laut lachende und grölende Gästemeute und steuerte den exponiertesten Barhocker an, den sie finden konnte, während der Mann in aller Ruhe einen Parkplatz für seinen schnittigen, schwarz-silbernen Porsche suchte. Sie sorgte jedes Mal für Aufsehen. Der Lärm unter den niedrigen knorrigen Dachbalken klang zwar nie wirklich ab, aber das musste er auch nicht. Gucken kostete nichts.
Zwar flirtete sie mit niemandem direkt, aber sie genoss unverkennbar die Aufmerksamkeit, die sie auf sich zog. Und warum auch nicht? Sie war »bestens ausgestattet«, wie es so schön hieß. Sie war eine große, gertenschlanke Blondine, und ihr wohlgeformter Körper wurde in dem extrem knappen, grünen Minikleid und den grünen Riemchensandalen mit den Killerabsätzen perfekt zur Geltung gebracht. Ihre glänzende goldene Haarpracht fiel ihr wallend bis über die Schultern hinab. Sie hatte volle Lippen, eine wohlgeformte Nase und feine, katzenartige Wangenknochen. Wenn sie ihre Sonnenbrille mit den verspiegelten Gläsern abnahm, kamen funkelnde blaue Augen zum Vorschein, die durch einen dezent aufgetragenen grauen Lidschatten noch besonders betont wurden. In jedem Pub achtete sie darauf, sich selbst in Szene zu setzen: mit straffem Rücken, rausgestreckten Brüsten, die sonnengebräunten, glatten Beine anmutig übereinandergeschlagen. Es stand außer Frage, dass sie sich zur Schau stellte – sehr zur Freude der sich im Schankraum drängenden Gäste. Das Publikum setzte sich überwiegend aus bulligen Einheimischen zusammen, die durch und durch Männer vom Land waren, aber es gab auch Gäste von auswärts: ganze Autoladungen lüsterner Kerle auf Zechtour und auf der Suche nach willigen Mädels; oder ruppige, schroffe, ältere Herren in Jeans und karierten Hemden, die zum Segeln, Angeln oder Moorwandern nach Devon runtergekommen waren. Sie mochten zwar nur ein paar Tage ohne ihre Ehefrauen unterwegs sein, aber auch sie warfen ein Auge auf die Mädels – insbesondere auf dieses. Das lag nicht nur an dem süßen Lächeln, das es ihnen schenkte, wenn sie ihm an der Theke Platz machten, oder an der humorvollen Reaktion auf ihre anzüglichen Sprüche, sondern auch daran, dass es aus der Nähe besehen gar kein Mädel war – sondern eine Frau von Ende zwanzig, und das machte sie zu einer noch verlockenderen Erscheinung.
Doch der Typ an ihrer Seite schien die Aufregung, die seine Freundin (oder vielleicht auch Ehefrau, wer wusste das schon) verursachte, gar nicht zu bemerken. Oder erregte ihn der Wirbel vielleicht sogar? Er war gut gekleidet – beige Armani-Hose, kurzärmeliges Yves-Saint-Laurent-Hemd, Wildlederhalbschuhe – und natürlich beeindruckte er mit seinem Auto. Aber er war pummelig, hatte blasse, schwammige Gesichtszüge und einen karottenroten Haarschopf – »ein verdammter Lahmarsch«, wie einer der argwöhnischen Kneipenhocker seinem Kumpan gegenüber feststellte. Und er trank nur Radler, was ihn ein bisschen schwachbrüstig erscheinen ließ, um so einen Feger am Haken zu haben – zumindest nach Ansicht der Einheimischen. Doch trotz alledem war der Mann der Körpersprache nach zu urteilen der Dominantere von beiden. Er stand, während sie saß. Er bestellte die Drinks, während sie mit dem Rücken an der Theke lehnte, ihr tiefer Ausschnitt die schamlosesten Blicke auf sich zog und sie sich an der Zurschaustellung ihrer Reize erfreute.
»Na, das sind mir ja die Richtigen«, raunte Harold Hopkinson, der korpulente Gastwirt des The Grouse Beater, aus dem Mundwinkel. »Der weiß seine bessere Hälfte in Szene zu setzen.«
»Sie kostet jedenfalls jeden Moment voll aus«, entgegnete Doreen, seine ebenfalls robust gebaute Frau.
»Bisschen alt dafür, um so rumzuposen, meinst du nicht?«
»Bisschen alt? Sie sind genau im richtigen Alter. Was glaubst du wohl, wohin sie als Nächstes weiterziehen?«
Harold sah sie überrascht an. »Meinst du zum Halfpenny Reservoir?«
»Wohin sonst?«
»Aber sie wissen doch sicher …? Ich meine …« Harold legte die Stirn in Falten. »Ach was, das kann nicht sein. Sie ist einfach ein hübsches Mädel, und er zeigt der Welt, was er hat.«
Doreen zapfte ein weiteres Pint Dartmoor IPA. »Glaubst du das wirklich?«
Harold fehlten erst mal die Worte. Irgendwie ergab alles in unbehaglicher Weise Sinn. Das Halfpenny Reservoir war in Devon keinesfalls die erste Adresse für Dogging-Praktiken – es war sogar weit davon entfernt, auf diesem Feld auch nur annähernd eine wichtige Rolle zu spielen –, aber in der näheren Umgebung war der Stausee wohlbekannt, und gelegentlich herrschte dort reger Betrieb; zumindest hatte dort reger Betrieb geherrscht, bevor die Panik ausgebrochen war. Harold betrachtete das überschwängliche Paar erneut. Die Frau thronte immer noch auf ihrem Barhocker und nippte an einem Rum mit Limonade. Jetzt, da er sie näher in Augenschein nahm, sah er ihre golden lackierten Finger- und Fußnägel und ihr mit Monden und Sternchen verziertes Kettchen an ihrem linken Knöchel. Das war doch in gewisser Weise ein eindeutiges Signal, oder etwa nicht? Zumindest seinen Lieblings-Webseiten zufolge. Zu einer anderen Zeit wäre das natürlich absolut nichts Ungewöhnliches gewesen. Hin und wieder sammelte die Schar der Swinger auf ihrem Weg zum Halfpenny Reservoir noch ein paar ortsansässige Schluckspechte ein, wenn auch zugegebenermaßen ein bisschen verdeckter als dieses Paar, doch sie stellten das, was sie zu bieten hatten, ebenfalls zur Schau, in der Hoffnung, noch ein bisschen »Kundschaft« aufgabeln zu können, wie Doreen es immer ausdrückte. Doch inzwischen hatten sich die Dinge natürlich grundlegend geändert. Oder zumindest sollten sie das getan haben.
»Sie müssen von auswärts kommen«, stellte Harold fest. »Sie wissen es offenbar nicht.«
»Sie müssten von einem anderen Planeten stammen, um es nicht zu wissen«, stellte Doreen kurz und bündig klar.
»Tja … Sollten wir es ihnen nicht sagen?«
»Ihnen was sagen?«
»Keine Ahnung. Sie einfach warnen, dass es zurzeit eine schlechte Idee ist.«
Sie bedachte ihn mit einem sehr finsteren Blick. »Es sollte zu jeder Zeit eine schlechte Idee sein.«
Harolds Frau hatte eine etwas schräge Moral, was irdische Vergnügungen anging. Sie lebte vom Verkauf von Alkohol, doch sie hatte ein Problem mit Betrunkenen und weigerte sich, jemanden zu bedienen, den sie in Verdacht hatte, schon einen zu viel intus zu haben. Auch war sie sehr schnell damit, Hausverbote zu erteilen, wenn in ihrem Pub je über die Stränge geschlagen wurde. Desgleichen hatte sie, auch wenn sie bewusst hübsche, ortsansässige junge Frauen hinter der Theke arbeiten ließ, eine tiefe Abneigung gegenüber solchen, die in ihren Augen »Schlampen und Flittchen« waren, und sie war insbesondere all jenen Frauen feindlich gesonnen, die sie als Angehörige der Swinger-Truppe identifizierte und die sich zu ihren mitternächtlichen Orgien an dem Stausee zusammenrotteten. Sie verachtete sie sogar so sehr, dass »der Fremde«, als er die ersten Male zugeschlagen und ihm Paare in einsam geparkten Autos zum Opfer gefallen waren, beinahe ihre Zustimmung gefunden hätte.
Natürlich nur, bis die Details bekannt geworden waren.
Denn selbst im Vergleich mit den abscheulichsten Morden, die in Großbritannien verübt worden waren, waren diese Taten absolut schockierend. Harold schauderte unwillkürlich, als er sich die Details in Erinnerung rief, die er in den Zeitungen gelesen hatte. Auch wenn der Tatort, der dem The Grouse Beater am nächsten lag, ein Picknickplatz auf der anderen Seite des Moors in der Nähe von Sourton war und sich somit über dreißig Kilometer entfernt befand, war die ganze Grafschaft in Aufruhr. Harold sah sich im Schankraum um und fragte sich, ob der Menschenjäger wohl gerade anwesend war. Der Pub war gerammelt voll, vor allem mit Männern, und nicht gerade nur welchen von der zurückhaltend schüchternen Sorte. Devon war ein beliebtes Urlaubsziel, vor allem im Sommer, und es zog nicht nur die New-Age-Gemeinde und Hippies mit Rucksäcken an, sondern auch Familien, Hochzeitspaare in den Flitterwochen und dergleichen. Aber es war auch eine Grafschaft, in der gearbeitet wurde. Selbst hier oben im Hochmoor bestand der männliche Anteil der einheimischen Bevölkerung aus weitaus mehr Typen als Gutsherren und Klischeekonservativen à la Colonel Blimp in Tweedkleidung und Gamaschen: Es gab Landarbeiter, Rinderzüchter, Hufschmiede, Heckenpfleger, Hausmeister, allesamt Berufe, für deren Ausübung man schon etwas robuster sein musste. Und hatte die Polizei nicht mitgeteilt, dass sie davon ausging, dass es sich bei dem Täter vermutlich um einen Mann aus der Gegend handelte, wahrscheinlich von starker und kräftiger Statur? Immerhin hatte er genug Kraft, zwei gesunde junge Menschen überwältigen zu können, und er musste die Schleichwege kennen, damit er sich unbemerkt an seine Opfer heranpirschen und sich nach der Tat wieder aus dem Staub machen konnte.
In diesem Moment gab es in dem Pub ziemlich viele Kerle, die diese Kriterien erfüllten.
Je mehr Harold darüber nachdachte, desto bedrohter erschien ihm das junge Paar inmitten dieser ungezügelten Meute. Selbst wenn der Fremde nicht anwesend war, sollte die Frau nicht so mit ihren Reizen spielen. Und der Mann sollte sich dessen bewusst werden, dass etliche dieser Kerle schon schwer geladen hatten, insbesondere die, die unverhohlen Stielaugen machten. Und dass sie der Versuchung erliegen könnten und es in diesem Fall so unheimlich leicht wäre, den Arm auszustrecken und eine umherwandernde Hand auf diesen glatten, sonnengebräunten Oberschenkel zu legen. Wenn das passierte, könnte es Probleme geben – egal ob die beiden nun Swinger waren oder nicht –, und das war so ziemlich das Letzte, worauf Harold aus war.
»Wir müssen ihnen was sagen«, murmelte er Doreen zu, als sie sich für einen Moment in den Lagerraum zurückzogen.
»Was denn?«, entgegnete sie höhnisch. »Sollen wir ihnen beiläufig mitteilen, dass alle Dogging-Locations in der Gegend geschlossen sind? Was glaubst du wohl, wie das ankommt? Vielleicht ziehen sie nur eine Show ab? Vielleicht sind sie einfach nur auf einen Drink ausgegangen.«
»Aber du hast doch gesagt …«
»Vergiss es, Harold. Wir können wirklich darauf verzichten, dass du dich zum Affen machst. Wieder einmal.«
»Aber wenn sie Swinger sind und da hochfahren …«
»Dann müssen sie es eben drauf ankommen lassen. Sie wollen es doch nicht anders. Mein Gott, wer, der bei klarem Verstand ist, ist schon darauf aus, mitten im Nirwana Sex mit Fremden zu haben?«
»Aber Schatz, wenn sie nicht wissen …«
»Sie sind erwachsen, oder? Sie sollten verdammt noch mal selbst auf sich aufpassen können.«
In den darauffolgenden Minuten brachen die »Erwachsenen« zu Harolds großer Erleichterung auf. Die Frau stolzierte mit aufreizend wiegendem Schritt und von schmachtenden Blicken begleitet zur Pubtür, der Mann zog eine Schachtel Zigaretten aus seiner Hosentasche und folgte ihr lässig. Irgendwie wirkten sie so, als wären sie nicht wirklich zusammen; als wäre der Mann nicht ihr Partner, sondern nur ein flüchtiger Bekannter, was ein bisschen verwirrend war. Aber wie auch immer, sie waren weg.
Harold steuerte das rautenförmige Fenster an, das zum Parkplatz des Pubs hinausging.
Das Duo stand neben dem Porsche. Der Mann rauchte, die Frau lehnte mit verschränkten Armen am Wagen, die Handtasche baumelte am Riemen von ihrer Schulter herab. Sie unterhielten sich und schienen keine Eile zu haben, irgendwohin zu kommen – vielleicht war es doch nur ein Paar, das sich herausgeputzt hatte, um auf ein paar Drinks auszugehen? Harold spürte, wie sich allmählich ein Gefühl der Erleichterung in ihm breitmachte. Vielleicht war es sogar ein nettes Paar, wenn man es näher kennenlernte, die Frau konnte schließlich nichts dafür, dass sie so ein scharfer Zahn war.
Es ging auf neun Uhr zu. Die Sonne ging gerade unter und zog feuerrote Streifen über das sie umgebende Moor- und Heideland. Fast machte es den Anschein, als würden sie nach Hause fahren, doch als der Mann seine Zigarette erst zur Hälfte geraucht hatte, drückte er sie plötzlich auf dem Asphalt aus und warf sie in den nächsten Mülleimer. Und als sie in den Porsche stiegen und losfuhren, nahmen sie nicht die B3387 nach Bovey Tracey und fuhren auch nicht zurück durch das Dorf in Richtung Dunstone und weiter nach Buckfastleigh, sondern sie nahmen die namenlose Straße, die vom Pub aus nach Nordwesten führte. Der nächste bewohnte Ort an dieser Straße war Beardon, das etwa fünfundzwanzig Kilometer entfernt war.
Doch lange bevor sie Beardon erreichte, führte die Straße am Halfpenny Reservoir vorbei.
Ein herrlicher Augusttag in Südwestengland ging zu Ende, die Hitze zog sich schließlich zurück, und die Milde des sommerlichen Abends verblasste allmählich. Eine indigoblaue Dämmerung legte sich über die Hügel und Täler von Dartmoor.
Wenn sie den Stausee erreichten, würde es nahezu stockfinster sein.
Die Frau warf einen Blick in den Rückspiegel, während sie fuhren. Einen Moment lang hatte sie geglaubt, einen Blick auf hinter ihnen aufleuchtende Scheinwerfer erhascht zu haben, doch da war nichts außer der Düsternis der anbrechenden Nacht. Vor ihnen spulte sich die Straße mit hypnotisierender Wirkung ab, die Leere der endlosen Moorlandschaft, die sie umgab, hatte etwas Beklemmendes. Es vergingen zehn, zwanzig, dreißig Minuten, ohne dass sie auch nur eine einzige Behausung sahen – weder ein Cottage noch einen weiteren Pub –, doch in Wahrheit konzentrierten sie sich viel zu sehr darauf, die Abzweigung zu dem Stausee nicht zu verpassen, als dass sie sonst etwas hätten wahrnehmen können. Und als die Abzweigung dann auftauchte, hätten sie sie trotzdem um ein Haar übersehen – eine schmale, unbefestigte Piste, im Licht ihrer Scheinwerfer nichts weiter als zerfurchte nackte Erde, die zwischen zwei granitenen Torpfosten von der Straße abging und leicht abfallend zwischen dichtem Gestrüpp aus gelb blühendem Stechginster in der Dunkelheit verschwand.
Sie hielten mitten auf der Straße an.
»Das muss es sein, oder?«, murmelte der Mann. Es war eher eine Frage als eine Feststellung.
Die Frau nickte.
Sie bogen links ab auf die holprige Piste, der Wagen hüpfte und wurde durchgeschüttelt, stachelige Zweige flutschten unten an den Seiten des Porsches entlang. Sie folgten einige hundert Meter einem flachen V-förmigen Tal, dann öffnete sich vor ihnen der sternklare Himmel: Über ihnen stand der leuchtende Mond, sein Licht reflektierte hell auf der ausgedehnten Wasseroberfläche, die sich zu ihrer Rechten erstreckte. Wie die meisten Wasserreservoirs in Dartmoor war der Halfpenny Lake künstlich angelegt worden, um das umliegende Tiefland mit Trinkwasser zu versorgen. Ein schmiedeeisernes Geländer zog aufglänzend im Schein ihres rechten Scheinwerfers an ihnen vorbei, als sie langsam die am Ufer entlangführende Piste weiterrollten. Am äußersten Ende des Sees erhob sich die horizontale massive Silhouette von etwas, das aussah wie eine Staumauer, und kündete von dem profanen Zweck, dem dieser Ort diente.
An der Piste lagen mehrere nicht einzusehende Parkbuchten, die mit benutzten Kondomen, Pornomagazinen mit Eselsohren und mit Sperma befleckten Slips übersät waren, wobei all diese entsorgten Utensilien inzwischen alt und verrottet waren; es war niemand da, der frische Andenken hinterließ.
Abgesehen von dem Mann und der Frau.
Sie hielten in der Nähe der Einfahrt der zweiten Parkbucht, stellten, quasi lehrbuchmäßig, das Radio leiser – es war ein Sender mit seichter Musik eingestellt, die ohnehin kaum als lästig hätte empfunden werden können –, öffneten sämtliche Fenster und stiegen beide auf die Rückbank. Dort saßen sie, allerdings nicht beieinander, sondern jeder an einer Seite, und gaben merkwürdige Seufzer der Vorfreude von sich, während sie auf ihr Publikum warteten.
So verstrichen die Minuten.
Es herrschte beinahe absolute Stille. Eine seichte Brise strich über die mit Heide bewachsenen Hügelkämme und ächzte zwischen den Felsen. Die Blicke des Paars wanderten zwischen den unbeschienenen Hügelkämmen hin und her. Die einzige Bewegung stammte von Farnwedeln, deren Blätter unter den Sternen hin und her schwenkten. Es war irgendwie unheimlich, wie friedlich es war, wie ruhig. Ein herrlicher Sommerabend in England.
Umso mehr schreckte sie das durchdringende elektrische Knistern auf.
Insbesondere den Mann, der sich augenblicklich versteifte und dann schlapp gegen die hintere Tür auf der Beifahrerseite fiel.
Es geschah blitzschnell. Er erstarrte einfach, seine Augen wurden glasig, Schaum quoll aus seinem Mund, dessen Lippen sich gespitzt hatten und in dieser Position verharrten. Dann langte die gesichtslose Gestalt, die sich vor dem Wagen aus einer knienden Position aufgerichtet und den Elektroschocker durch das geöffnete Fenster geschoben hatte, erneut nach innen und öffnete die Tür.
All dies geschah schnell, aber in dem Moment, als die reglose Gestalt ihres Begleiters erneut zur Seite kippte, diesmal auf den mit Splitt übersäten Asphalt, auf den sein Kopf mit voller Wucht aufschlug, hantierte sie an ihrer Handtasche herum, ließ sie aufschnappen und durchstöberte sie in einer schnellen, fließenden Bewegung – sie vergeudete keine Zeit damit, entsetzt aufzukreischen –, doch der Angreifer war noch schneller als sie. Er stürzte durch die offene Tür ins Innere des Wagens. Im schwachen grünlichen Licht, das vom Armaturenbrett ausging, erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf eine Montur aus hoch strapazierfähigem Leder: eine Lederjacke, eine Gesichtsmaske aus Leder und Lederhandschuhe. Und – PAFF! – im gleichen Moment traf seine geballte Faust sie mitten auf den Mund.
Sie kippte ebenfalls zur Seite, in ihrem Kopf drehte sich alles, die Handtasche fiel in den Fußraum, ihr Inhalt ergoss sich zu allen Seiten.
Kaum noch einen klaren Gedanken fassen könnend, prüfte die Frau mit der Zunge ihre beiden vorderen Schneidezähne. Sie schienen zu wackeln. Ihre Oberlippe tat höllisch weh, ihr Mund füllte sich schnell mit einer warmen, nach Eisen schmeckenden Flüssigkeit. Sie verschluckte sich daran und musste würgen.
Und dann wurde sie sich schlagartig ihrer Situation bewusst – als ob sie mit einem Schwall Eiswasser übergossen worden wäre.
Sie lag auf dem Rücken, doch der Eindringling war jetzt bei ihr im Wagen auf der Rückbank und bereits zwischen ihren weit gespreizten Beinen in Position gegangen. Mit einer behandschuhten Hand umfasste er fest ihren entblößten linken Oberschenkel, so weit oben, dass sein Daumen beinahe ihren Schritt berührte. Mit der anderen Hand öffnete er langsam, aber entschlossen seine Jacke.
Irgendwo aus der Ferne vernahm die Frau den Song, der gerade im Radio lief. Eine volle US-amerikanische Stimme drang durch den beheizten Wagen.
Wondering in the night what were the chances …
Dem mit Leder verhüllten Gesicht entwich ein bestialisches gegrunztes Kichern. Immer noch benommen und vom Schmerz benebelt, versuchte die Frau, in der grünlichen Düsternis etwas zu erkennen. Frank Sinatra, fiel ihr ein. Einer der Lieblingssänger ihres Vaters. Old Blue Eyes, The Voice, the Sultan of Swoon …
»Wie’s aussieht, spielen sie im Radio meine Musik«, sagte der Eindringling, als der letzte Knopf aufschnappte und seine Jacke aufklappte. Nun hatte sie nicht mehr den leisesten Zweifel.
Strangers in the Night …
Er hatte bisher nie gesprochen. Kein einziges Wort – jedenfalls nicht, soweit sie wusste. Aber was bedeutete das schon? Der irre Sexmörder, der seine Verbrechensserie damit begonnen hatte, über jeden herzufallen, der ihm nach Einbruch der Dunkelheit begegnete, dann jedoch dazu übergegangen war, in ganz Devon und Somerset bekannte Schäferstündchenplätze und Dogging-Locations heimzusuchen, hatte keinen einzigen lebenden Zeugen hinterlassen. Alle, die ihm zum Opfer gefallen waren, hatte er rücksichtslos mit Präzision und äußerstem Vergnügen getötet. Den Männern hatte er den Schädel eingeschlagen oder die Kehle aufgeschlitzt oder beides, die Frauen sexuell verstümmelt, und das mit einem Ritual, das weit über jede bisher bekannte Form des Sadismus hinausging. Alle seine Opfer, egal ob Mann oder Frau, waren einer abschließenden Schändung unterzogen worden, indem ihre Augen durchstochen und zerstoßen worden waren, bis von ihnen nichts mehr übrig gewesen war als eine geleeartige Masse.
We were strangers in the night …
»Definitiv meine Musik.« Er kicherte erneut und streichelte mit der linken Hand über sein Sortiment an glänzenden Gerätschaften, die in der speziell nach seinen Wünschen angefertigten Innenseite seiner Lederjacke aufgereiht waren: den Dosenöffner, den Schraubenzieher, den Holzhammer, die Eisensäge und das Filetiermesser mit der rasiermesserscharfen Klinge.
Die Frau konnte sich kaum bewegen, doch ihre Augen bohrten sich jetzt in seine: feuchte Murmeln in von Leder umrahmten Höhlen, und der aufgezogene Reißverschluss der Maske entblößte eine mit Speichel überzogene Zunge und trümmerartige, fleckige Zähne. Aber diese Stimme – eigentlich konnte es nur ein Flüstern gewesen sein, ein hämisches, gutturales Flüstern. Aber sie würde sich daran erinnern, solange sie lebte.
Es war Schottisch.
Der Fremde war Schotte.
Das Entscheidende war jetzt natürlich, dafür zu sorgen, dass sie am Leben blieb.
Vielleicht war er zu beschäftigt damit, sein erstes Folterinstrument herauszuziehen – den Dosenöffner, ein altmodisches Gerät mit einer schaurig gebogenen Klinge –, um mitzubekommen, dass ihre rechte Hand wie wild im Fußraum zwischen den verstreuten Utensilien aus ihrer Handtasche herumtastete.
Als er den Dosenöffner zu seiner rechten Schulter hochhob – nicht um damit zuzuschlagen, sondern vielmehr, um sie mit dem schaurigen Anblick des Instruments zu erschrecken –, ertasteten ihre Fingerspitzen ein ihr bekanntes Utensil.
Mit der anderen Hand drückte er sie weiter nieder und packte an dieser weichen, empfindlichen Stelle so fest zu, dass es inzwischen höllisch wehtat. Gleichzeitig summte er die Melodie mit.
Die Medien in Südwestengland hatten ihm ursprünglich den Namen »der Fremde« verpasst, weil er so brutal über die Szenegänger hergefallen war, die Sex mit Fremden favorisierten. Inzwischen schien dieser Name sogar noch passender zu sein. »Du bist ein ruchloses, gottloses Flittchen«, stellte er nüchtern fest, immer noch in diesem deutlichen Akzent. »Eine Hure, eine exhibitionistische Schlampe, eine Schwanzträger aufgeilende Nutte …«
»… und eine Polizistin«, sagte sie und richtete den kurzen Lauf ihrer Smith & Wesson .38 direkt auf sein Gesicht. »Wenn du auch nur einen Muskel bewegst … oder dein dreckiges Maul auch nur noch ein einziges Mal aufreißt, jage ich dir eine Kugel in deinen verdammten Schädel!«
Sein Gesichtsausdruck war unbezahlbar. Sie vermutete es jedenfalls, denn sie konnte ihn ja nicht sehen. Doch wie die Dinge lagen, musste sie sich mit seiner beinahe komisch wirkenden Paralyse begnügen: Das Weiße seiner Augen weitete sich cartoonmäßig um seine seelenlosen Pupillen, sein fauliger Mund klappte zwischen den Reißverschlusslippen auf.
»Ja … so ist es gut«, sagte sie und spannte mit dem Daumen den Hahn ihres Revolvers. »Das Spiel ist aus. Und jetzt runter mit diesem verdammten Dosenöffner!«
Natürlich würde er das nicht akzeptieren, und ihr Herz hämmerte immer heftiger in ihrer Brust, als ihr das langsam bewusst wurde. Er konnte es nicht einfach so enden lassen – so abrupt, so unerwartet und auch nicht auf diese Weise: in die Enge getrieben wie ein Kaninchen, und das von einer jener Kreaturen des schwachen Geschlechts, die er so brutal verachtete. Vorsichtig ließ sie die .38er von ihrer rechten in die linke Hand wandern und hielt sie auf ihn gerichtet, während sie dalag. Dann langte sie mit ihrer jetzt freien rechten Hand erneut in den Fußraum. Irgendwo da unten musste ihr Funkgerät liegen, aber sie konnte es, verdammt noch mal, nicht finden. Er saß die ganze Zeit reglos da und fixierte sie mit diesem irgendwie unmenschlichen Blick, Speichelfäden hingen über seinem lederverhüllten Kinn. Und jetzt sah sie, wie sich sein Mund langsam schloss, wie er diese verfärbten Zähne zusammenbiss und eine hasserfüllte Grimasse schnitt. Er war nicht mehr vor Schreck erstarrt, wurde ihr bewusst; stattdessen war er innerlich voll angespannt – wie eine zusammengedrückte Feder, die im Begriff ist auseinanderzuspringen.
»Tu es nicht«, warnte sie ihn, aber es war schon zu spät. Er senkte den Dosenöffner auf sie herab, um sie mit der gefährlich gebogenen Klinge aufzuschlitzen.
PENG!
Die Kugel traf ihn links in die Brust, direkt unter dem Schlüsselbein, und schleuderte ihn rückwärts aus dem Wagen und nach unten auf den Asphalt, wo er still liegen blieb und sich neben der langgestreckten Gestalt von Detective Constable Maxwell wand.
Sie fand das Funkgerät, riss es sich vor den Mund und warf sich durch die Rauchwolke zu der offenen Autotür. »An alle Einheiten, hier spricht Detective Constable Piper! Alle zum Halfpenny Reservoir kommen! Ich wiederhole: Alle zum Halfpenny Reservoir kommen!«
Ihr blieben die Worte im Hals stecken, als sich neben dem Wagen eine stämmige Gestalt vom Boden erhob. Für einen Augenblick versuchte sie sich einzureden, dass es Maxwell war, obwohl sie wusste, dass das nicht sein konnte. Der Kopf des Detective Constables war mit voller Wucht auf den Asphalt geschlagen.
Die Gestalt drehte sich wortlos um und strauchelte über den Parkplatz.
»Ich wiederhole, hier spricht Detective Constable Piper! Lockvogel-Einheit Alpha. Ein Schuss abgegeben. Der Verdächtige hat eine Brustwunde, ist aber auf den Beinen und mobil.«
Es folgte ein Durcheinander von Antworten, die von statischem Rauschen gestört wurden, doch genau in dem Moment sah Piper die strauchelnde Gestalt des Fremden über die niedrige Begrenzungsmauer des Parkplatzes klettern. Seine dunklen Umrisse schoben sich rasch hinauf durch den Stechginster, der hinter der Mauer wucherte. Der Mann war unverkennbar schwer verletzt, er taumelte hin und her, aber dennoch ging er geradeaus und stieg bergauf, weg von ihr.
»Der Verdächtige verschwindet in Richtung Westen … weg vom Stausee, durch offenes Gelände«, fuhr sie fort und stieg in ihren hochhackigen Riemchensandalen aus dem Wagen auf den Asphalt. »Wir brauchen auch einen Krankenwagen.« Sie ließ sich auf ein Knie sinken und prüfte Maxwells Halsschlagader. »Detective Constable Maxwell ist schwer verletzt … Er hat einen massiven Stromschlag von einem Elektroschocker abbekommen und wie es aussieht, hat er auch ein Schädel-Hirntrauma. Momentan ist er bewusstlos, aber er atmet, und sein Puls fühlt sich normal an. Schickt mir den Krankenwagen her, schnell! Ich nehme jetzt die Verfolgung des Verdächtigen auf. Ende.«
Sie stürmte über den Parkplatz, doch als sie über die Mauer gestiegen war und ins Stechginsterdickicht vordrang, sanken ihre Absätze wie Messerklingen in die weiche Erde. Sie trat sich im Rennen die Schuhe von den Füßen und zuckte zusammen, als ihr Zweige und spitze Steine in die Fußsohlen stachen und Dornen und Disteln an ihren nackten Beinen entlangschabten. Für einen kurzen Augenblick erschien der Fremde über ihr als eine schiefe Silhouette, die sich vor dem Nachthimmel abzeichnete. Doch im nächsten Moment war er auch schon hinter dem Hügelkamm verschwunden.
»Schickt mir sofort die Verstärkung!«, rief sie in ihr Funkgerät.
»Gemma, du sollst die Verfolgung einstellen«, lautete die halbwegs zusammenhängende Antwort. »Anweisung von Detective Superintendent Anderson! Warte auf Verstärkung. Ende.«
»Nein!«, entgegnete sie entschieden. »Nicht, wenn wir so dicht an ihm dran sind.«
Sie erklomm ebenfalls den Hügelkamm. Vor ihr erstreckte sich unter dem sternklaren Himmel das Moor: eine dramatische, aus weiten Grasflächen und Felsbrocken bestehende Landschaft, die teilweise von niedrig hängenden Nebelschwaden verdunkelt wurde. In der Ferne erhoben sich von verwitterten Felsformationen gekrönte Hügel. Weiter unten, jedoch mindestens hundert Meter von ihr entfernt, kämpfte sich ein dunkler Fleck vorwärts.
Sie setzte die Verfolgung über das jetzt steil abfallende Gelände fort, rief dem Flüchtenden, während sie über weichen, unter ihren Füßen nachgebenden Bewuchs stürmte, zu, er sei verhaftet und solle aufgeben.
Die Sicht war stark beeinträchtigt, deshalb wusste sie nicht genau, wann sie ihn aus den Augen verlor. Er war zwar nicht sehr weit vor ihr, doch auf einmal schienen ihn von allen Seiten Nebelschwaden zu umhüllen. Als sie die Stelle erreichte – inzwischen humpelnd, mit wunden, blutenden Füßen –, stellte sie fest, dass sie sich auf sehr viel weicherem Untergrund befand und durch knöcheltiefen Matsch stapfte. Er musste eine erkennbare Spur hinterlassen haben, doch es war zu dunkel, um etwas sehen zu können, und sie hatte keine Taschenlampe dabei.
Weitere knappe Anweisungen erreichten sie knisternd über den Äther.
Sie ignorierte sie. Ihr kam in den Sinn, dass der Verdächtige vielleicht eine schusssichere Weste trug und infolgedessen womöglich gar nicht so schwer verwundet war, wie sie dachte. Aber falls dies der Fall war … warum hatte er den Vorteil dann nicht genutzt und war direkt zum Angriff übergegangen? Warum hatte er sie dann nicht im Wagen aufgeschlitzt und malträtiert? Nein – sie hatte ihn verletzt, das war unübersehbar gewesen. Es musste also zumindest Blutspuren geben.
Sofern es nicht anfing zu regnen, bevor die Spurenermittler eintrafen.
»Wir brauchen die Leute vom Labor hier, so schnell wie möglich!«, rief sie mitten in den wilden Funkverkehr zwischen ihren Kollegen hinein. »Zumindest dürften wir seine DNA haben …«
Irgendwo vor ihr ertönte ein erstickter Schrei.
Sie verlangsamte ihren Schritt, bis sie beinahe stehen blieb. Einen Moment lang konnte sie gar nichts mehr sehen, Nebelschwaden trieben von allen Seiten auf sie zu. Aber war der Schrei echt gewesen? Erlag er schließlich seiner Verletzung? Oder versuchte er, sie in eine Falle zu locken?
Es folgte ein weiterer Schrei, diesmal begleitet von einem erstickten Gurgeln.
Jetzt blieb sie endgültig stehen.
Das hier war Dartmoor. Ein Nationalpark. Ein grünes, oft von Nebelschwaden durchzogenes Paradies. Pittoresk und berühmt für seine unberührte Flora und Fauna. Und berüchtigt für seine tiefen Sümpfe. Der dritte Schrei verblasste zu einem mehrfachen erstickten Röcheln, und jetzt hörte sie zudem ein lautes saugartiges Geräusch, als ob ein schwerer Körper im Matsch versank.
»Aktualisierung«, sagte sie in ihr Funkgerät und ging vorsichtig weiter. »Ich befinde mich etwa dreihundert Meter westlich des Stausee-Parkplatzes, hinter dem Hügel. Der Verdächtige scheint in Schwierigkeiten zu sein. Ich kann ihn nicht sehen, aber möglicherweise ist er im Moor gelandet.«
Es folgten weitere eindringliche Aufforderungen, die Verfolgung sofort abzubrechen und auf Verstärkung zu warten. Sie ignorierte sie erneut, ging jedoch nur fünf oder sechs Meter weiter und fand sich schwankend am Rand eines trüben, schwarz-grünen Sumpfes wieder, dessen spiegelglatte Oberfläche sich in alle Richtungen auszudehnen schien. So sah es zumindest aus, als der Nebel sich stellenweise lichtete. Sie strengte ihre Augen an, konnte da draußen jedoch keine Regung erkennen, nicht mal ein Kräuseln, geschweige denn die sich deutlich abzeichnenden Umrisse eines Mannes, der verzweifelt versuchte, den Kopf über der Oberfläche zu behalten.
Es war auch kein Laut mehr zu hören, was beunruhigend war. Die Sümpfe in Dartmoor konnten einen mit beängstigender Geschwindigkeit verschlucken. Ihre Eingeweide waren voller Schaf- und Ponykadaver, ganz zu schweigen von dem einen oder anderen auf unerklärliche Weise verschwundenen Wanderer. Doch das Einzige, was sie ausmachen konnte, waren die schiefen Reste versunkener Bäume, deren Äste hier und da aus dem Sumpf ragten wie verrottete Dinosaurierknochen.
Selbst Detective Constable Gemma Piper von der Metropolitan Police – eigensinnig, furchtlos und mit einem eisernen Willen ausgestattet – sah jetzt ein, dass Vorsicht geboten war. Erst recht, da der Nebel sich mit dem aufkommenden Wind immer weiter auflöste und trotz der nächtlichen Finsternis immer deutlicher zu sehen war, wie ausgedehnt dieser Sumpf tatsächlich war. Er erstreckte sich zu allen Seiten – nicht nur vor ihr, sondern auch nach rechts und nach links, als ob sie zufällig auf eine schmale Landspitze mit festem Untergrund geirrt wäre. Es war schwer vorstellbar, dass jemand mit einer lebensgefährlichen Verletzung, der zudem im dichten Nebel absolut nichts sah, diesen Weg entlanggestrauchelt sein und es irgendwie geschafft haben sollte, der tödlichen Falle zu entgehen – auch wenn er aus der Gegend stammte. Und eines wusste sie nun definitiv: dass der Verdächtige nicht aus der Gegend kam, sondern, zumindest was seine ursprüngliche Heimat anging, vom anderen Ende des Landes stammte.
Als hinter ihr Stimmen ertönten und die Strahlen von Taschenlampen wie Speere die Finsternis über der geschwungenen Landschaft durchbohrten, sank sie langsam und erschöpft in die Hocke. Der verspätet einsetzende Schock und die Erkenntnis, was um ein Haar in dem Porsche passiert wäre, erfassten jede Pore ihres Körpers und betäubten sie. Dennoch fühlte sie sich irgendwie beschwingt. Sie hätte den Mistkerl beinahe geschnappt … aber eben nur beinahe. Es war wie ein torloses Unentschieden nach einem Fußballspiel. Es war ein Ergebnis, aber es war nicht ganz klar, wie es zu bewerten war.
Innerhalb einer Stunde hatte die Polizei von Devon und Cornwall mit Unterstützung von Scotland Yard das Moorgebiet weiträumig abgesperrt und durchsuchte es mit Hunden. Sie hatten sogar schweres Gerät mitgebracht und begannen, den Sumpf und die mit ihm verbundenen Wasserläufe auszubaggern. Auf dem Parkplatz am Stausee wurde Detective Constable Maxwell, der inzwischen wieder bei Bewusstsein, jedoch stark geschwächt war, hinten in einen Krankenwagen verfrachtet. Unterdessen saß Gemma Piper seitlich auf dem Vordersitz eines Streifenwagens, nippte an einem Kaffee und zuckte hin und wieder zusammen, während der Sanitäter, der vor ihr kniete, ihre blutenden Füße und ihr geschwollenes Gesicht versorgte. Gleichzeitig briefte sie Detective Superintendent George Anderson.
Die eigensinnige junge Polizistin hatte sich längst den Respekt ihrer ranghöheren Kollegen verdient, und soeben hatte sie sich eine glänzende Zukunft in diesem extrem herausfordernden und von Männern dominierten Berufszweig gesichert. Und dennoch: Von dem sogenannten Fremden, auf dessen Konto dreizehn grauenvolle Foltermorde gingen, gab es keine Spur.
Und das sollte für lange Zeit auch so bleiben.