Cover

Inhaltsverzeichnis

Mathematisch Betrachtet

Gefangen im Stein

Mit dem Rücken zur Wand

Tauben

Lene Bruck und die Suche nach Atlantis

Simon

Mit dem Rücken zur Wand

Das Bergmannei

Der Mitarbeiter

Das Herz der Maschine

Die verbrannte Seele

Auf der Suche

Zwei Leichen im Wald

Die Kraft des Salzes

König der Schnecken

Der Gang zum Galgen

Alter Mann am Straßenrand

Märchenhafte Aussicht

Du kennst dich nicht

Tilda

Der Zauberer

Der letzte Mensch

Rudy aus dem Rinnstein

Lieber Leser, liebe Leserin,

 

vielen Dank das Sie/Du das eBook gekauft hast.

 

Die Idee, solch eine Anthologie zu verfassen hatte Sven Buchien @Teufel100 gehabt und wir, diehoeragenten, haben sie sofort aufgegriffen.

 

Das Cover hat Ronald Liedmeier, Konzeption, CD Art aus Berlin, in Zusammenarbeit mit Melanie Stiewe von StadtMuster komplett kostenfrei gemacht.

 

 

Dieses eBook enthält Kurzgeschichten von

 

Thomas Boley

Heiko Reimann

Rebecca Kramer

Bettina Ferbus

Maximilian John

Meara Finnegan

Sabine Frambach

Angelika Pauly

Nina Teller

Christina Garves

Juliane Stadler

Stefanie Erdrich

 

Jeder der Autoren und Autorinnen stellt seine/ihre Geschichten zur Verfügung, um mit der Aktion #ebookfuerfluechtlinge Spenden zu sammeln und den Erlös aus den Verkäufen bei betterplace.org für Flüchtlingskampagnen zu geben und Organisationen so finanziell zu unterstützen.

 

Wir danken euch von ganzen Herzen und wünschen euch nun mit gruseligen, witzigen, kriminalistischen und einfach nur schönen Geschichten ein unterhaltsames Lesevergnügen.

 

 

 

 

 

 

Mathematisch Betrachtet

Von Thomas Boley

 

Präzise gerechnet hätte Bernhard Wellmann noch 27 Jahre, vier Monate und acht Tage mit seiner Frau zusammen leben müssen. Zumindest war das seine statistische Restlebenserwartung. Zu Grunde lag dabei auch die Annahme, dass Frauen älter werden als ihre Ehemänner. Seine Frau hätte ihn also höchstwahrscheinlich überlebt.

Das würde jetzt nicht mehr passieren, denn er war ihr zuvorgekommen. Mit einer inneren Ruhe, die nach jahrelanger Abwesenheit heute langsam wieder zurückkehrte, saß er im "Weidenkorb" und lächelte in seinen Milchkaffee. Extra viel Zucker hatte er rein geschüttet, denn er mochte es süß. So süß, wie die Bedienung, auf deren Hintern er lange gestarrt hatte. Wegen beidem musste er sich nie mehr Vorwürfe anhören. Bernhard Wellmann war wieder ein freier Mann. Allerdings galt es noch, ein eher unschönes Problem zu lösen. Bisher musste er noch nie Gardinen selber aufhängen. Das war sonst ausnahmslos von seiner Frau gemacht worden. Wellmann hatte sie allerdings heute bei der Verrichtung dieser Tätigkeit im Wohnzimmer gestört. Die Sache mit der Leiter ließe sich als Unfall erklären. Ein tragischer Unfall, für den vorher die Kante des Marmortisches von Wellmann neu ausgerichtet worden war. Mathematisch ziemlich exakt so, dass bei einem Sturz von der Leiter das Genick der betreffenden Person genau auf die Kante aufgeschlagen wäre. Eine solche praktische Anwendung der trockenen Mathematik hatten seine Schüler in der Oberstufe bisher vermisst. Aber es gab eine Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis. Durch das Rütteln an der Leiter war leider auch ihre Position leicht verändert worden.

Seinen Fehler hatte er dann mit Hilfe eines schweren Blumentopfes korrigiert, nur sah das im Ergebnis nicht mehr nach einem Unfall aus. Wellmann verdrängte das Bild.

 

 

 

Letztendlich kam es auf das Resultat an, nicht auf den Weg dorthin, auch wenn er im Unterricht immer was anders erzählte.

Genussvoll trank er einen großen Schluck Kaffee. Jetzt fehlte ihm eigentlich nur noch eine Zigarette, dabei hatte er vor Jahren das Rauchen aufgegeben. Nein, aufgeben müssen, wegen der Gardinen. Vielleicht sollte er sie alle runterreißen. Er strich sich über das Kinn und dachte darüber nach. Die Gardinen einfach zusammen mit der Leiche aus der Wohnung verschwinden lassen. Ihm kam das so brillant vor, dass er schmunzeln musste. Der Zustand hielt nur kurz an, denn dann fiel ihm ein, dass er noch nicht wusste, wo er seine Frau entsorgen sollte. Man konnte sie schliesslich nicht einfach zum Sperrmüll an die Straße legen. Selbst Elektrogeräte wurden nicht mehr mitgenommen. Das war gerade das richtige Stichwort.

Der Kühlschrank zu Hause wartete nach langer Diät darauf, mit gesunden Sachen gefüllt zu werden.

Jetzt konnte er wieder hier im Bioladen einkaufen, ohne es verheimlichen zu müssen. Ohne Angst zu haben, dass sein Frau dahinter kommen würde. Ihr war das "Öko-Zeug" immer suspekt gewesen. Zudem hatte sie nicht besonders gut kochen können, wenn man von der Weißwäsche mal absah.

Wellmann ging verschiedene Varianten fürs Abendessen durch. Was Mediterranes wäre nicht schlecht. Streifen vom Rind, frischer Rucola-Salat, darüber gehobelter Parmesan. Dazu Brot und gutes Olivenöl. Das hört sich nicht nur lecker an, sondern würde ihm auch mit Sicherheit schmecken.

Als Wellmann die leere Tasse abstellte, fiel sein Blick auf einen Zettel auf dem Tisch. Der "Weidenkorb" feierte als einer der ältesten Bioläden der Stadt heute sein 30-jähriges Bestehen. Nicht ohne Anerkennung nahm Wellmann das zur Kenntnis.

 

 

Für den Einkauf würde er sich an der Kasse einen neuen Stoffbeutel holen müssen, denn seinen hatte er zu Hause gelassen. Nicht das er ihn vergessen hätte, nein. Es war so, dass er von ihm für etwas anderes gebraucht worden war.

Das Gesicht mit den toten Augen, die ihn vorwurfsvoll anstarrten, hatte er im Wohnzimmer nicht lange ertragen können. Mit dem Beutel über den Kopf sah seine Frau schon wesentlich besser aus.

Warum hatte er sie eigentlich damals geheiratet? Sie war weder von ihm schwanger gewesen noch hatte sie vermögende Eltern gehabt. Möglich, dass es ein nettes Gesicht gewesen war, was ihn trotz ihrer Größe von 1,57 Meter angezogen hatte. Vielleicht sollte er noch mal zur Sicherheit auf alten Fotos nachsehen.

Nach ein paar Jahren Ehe jedenfalls trug sie nur noch eine griesgrämige Maske. Jeder zweite Satz, der aus ihrem Mund kam, war eine Unterstellung oder zielte darauf ab, ihn in irgendeiner Form zu beleidigen.

Irgendwie musste er es schaffen, sie aus dem Haus zu bekommen, ohne dass den Nachbarn was auffiel. Die waren schon neugierig genug. Heute Morgen hatten sie schon gefragt, wo denn seine Frau sei. Den Besuch bei ihrer Schwester hatten sie ihm jedoch abgekauft, denn das war nichts Ungewöhnliches und in der Vergangenheit schon häufiger mal vorgekommen. Was das anging, war seine Frau immer sehr geschwätzig gewesen. Nur er wusste, dass sie keine Schwester hatte. Wo sie sich dann rumtrieb, hatte sie ihm nie verraten. Wenn sie wieder zu Hause war, konnte er sie sogar für ein paar Wochen ertragen, denn sie war noch eine Zeit lang wie ausgewechselt.

Jetzt dacht er schon wieder an sie und das Problem, welches er noch mit ihrer Leiche haben würde. Dabei wollte er sich doch erstmal auf das Essen freuen. Beim Einkaufen würde ihm sicher etwas einfallen.

 

 

Wellmann stand auf und schlenderte durch den Laden. Vor der Kasse sah er das Schild. Zum Jubiläum würde heute ein Weidenkorb gefüllt mit Bioprodukten aus dem Haus verlost. Der Korb war anderthalb Meter lang. Seine Frau hätte es darin bestimmt bequem. Wellmann fühlte sich jetzt schon wie ein Gewinner.

 

 

Gefangen im Stein

von Meara Finnegan

 

 

Lodovicos Sohn hastete durch den weitläufigen Garten der Villa, unberührt von dessen Schönheit. Nicht nur seine breitschultrige, kräftige Gestalt unterschied ihn von den anderen Gästen; nicht nur das markante Gesicht, dessen ausgeprägte Züge sich vor Missbilligung fast ins Groteske verzogen.

Anders als die übrigen Besucher, die über die runden Hügel lustwandelten, berührte ihn die sorgfältig gestaltete Konzeption des Geländes nicht. Seine Augen glitten über die grünen Erhebungen, abgestoßen von den akkurat gekürzten Grashalmen. Mächtige Treppen durchbrachen die Landschaft, deren kleine Stufen jeder noch so modisch gekleideten Dame einen bequemen Aufstieg ermöglichten. Ihre schrillen Stimmen weckten wilden Hass auf seine Mitmenschen. Rasch wandte er sich ab und eilte weiter. Hinter einem Labyrinth aus Buchsbäumen erklangen glockenhelle Stimmen, die ihn zur Flucht trieben. Verächtlich schnaubend stürmte er weiter, bis er bei der Grotte anlangte. Beim Anblick des zerklüfteten Gesteins glättete sich seine Stirn. Nichtsdestotrotz stieß er sich an der Künstlichkeit, den langwierig in Büchern nachgelesenen Empfehlungen, die hinter diesem Opus standen.

Vor einem mächtigen Torbogen aus cremefarbenem Stein stoppte er abrupt: dies war sein Ziel, sein Heiligtum, seine Bestimmung. Andächtig schritt er hindurch in den Marmorgarten, abseits gelegen von anderen Vergnügungen, gemieden von den nach Aufsehen Suchenden. Dort herrschte eine geradezu unnatürliche Ruhe, als stünde das Areal unter einem Zauberbann, der jedwede Geräusche und Störungen ausschloss. Dutzende Gestalten mit reichverzierten Gewändern und feinem Schmuck bevölkerten ihn, und gehorchten diesem ungeschriebenen Gebot.

 

 

 

Kein Wort fiel, keine hastige Bewegung ward gemacht, keine Wimper zuckte. Gefroren in einem Satz, einer Bewegung, einem Schritt säumten sie die Wände und Säulen oder standen frei im Raum, der weiße glatte Stein so fremd auf dem ungezügelten Bewuchs der Wiese.

Lange betrachtete Lodovicos Sohn die leblosen Gestalten: abwägend, billigend, liebevoll. Tief atmete er ein und aus, sog Luft in seine Lungen und allmählich glätteten sich seine seine verzerrten Züge.

Dieser Garten war sein wahres Heim, Sitz seines Herzens, seine Berufung. Hier war er nicht Lodovicos Sohn, der missratene jüngere Edelmann aus Arezzo, Rebell gegen seines Vaters Willen. Inmitten dieser erstarrten Menschen fand er zu seinem wahren Selbst.

Behutsam spazierte er zwischen ihnen umher, nickte hier beifällig, strich dort über eine Falte, die sich nicht glätten ließ; und sie hießen ihn willkommen, obgleich weder sie noch der Garten ihm gehörten.

Denn er war kein Sammler, kein Käufer, kein neugieriger Glotzer; sondern ihr Verbündeter, Vertrauter, Meister und Schöpfer, ihr innigster Freund. An diesen Ort gehörte er; nicht weil er seiner gequälten Seele Ruhe und Entspannung bot, nicht wegen der Unabhängigkeit und dem Broterwerb, den er darstellte. Nicht weil er sich seine sehnlichsten Träume erfüllte.

Er kannte sie von Grund auf; denn die Steine sprachen zu ihm.

 

„Pico!“, rief Angelo Poliziano und betrachtete den jungen Mann abschätzig, während er über die Piazza auf ihn zueilte.

Dessen Gesicht erstrahlte beim Anblick seines Freundes. Mit seinen leicht gelockten braunen Haaren und der schmalen Nase bot Pico della Mirandola eine durch und durch aristokratische Gestalt. Mehr noch aber trug das lebhafte Mienenspiel der feingeschnittenen Züge und das Feuer in seinen braunen Augen dazu bei, ihn mit Apoll zu vergleichen.

 

 

 

Im Gegensatz zu seinem doppelt so alten Freund floss in Picos Adern als Sohn eines Grafen aus Modena blaues Blut. Doch vergaßen die Bewohner von Florenz dies oftmals. Picos Lebensweg hatte bereits einige scharfe Kurven gezogen.

 

Zunächst ein begehrter studiosi des Kirchenrechts, war er später ein glühender Anhänger Platons und bedeutendster Schüler des Marsilio Ficino geworden.
Nun hatte Pico diesen an Ruhm gar übertroffen und galt als einer der größten Gelehrten der Welt. Seine 900 Thesen, in denen er die Bibel, die Kabbalah und den Koran zusammen mit den platonischen Schriften zu einem einzigen Geisteswerk verschmolz, sorgten in ganz Europa für Aufsehen.

 

Der Fürst von Florenz selbst, Lorenzo de' Medici, war ihm ein väterlicher Freund; Picos Gastmähler wurden weithin gerühmt als „Neue Platonische Akademie“.

Und doch hatten sich tiefe Falten in seine alabasterhafte Haut gegraben, seit die Wege der beiden ungleichen Freunde sich getrennt hatten.

„Angelo, wie gut es tut, dich zu sehen“, begrüßte Pico den Dichter mit warmer Stimme, und in dem Älteren glomm wilde Freude als Echo des ausgesprochenen Gefühls auf. Doch Angelo war die charismatische Wirkung seines Kameraden zu sehr gewöhnt, und so kam er ohne Umschweife auf das Thema: „Er gab dir also Nachricht."

Pico nickte bedrückt.

„Ich sagte doch, mein Junge: 'Tu es nicht! Höre einmal nur auf das Blut deiner Modena-Mutter und verleugne den toskanischen Einfluss. Tue nichts Unüberlegtes!' Aber nein, du musstest ja voll Ungeduld deinen Wünschen folgen wie ein Kind. Und dann noch abzureisen, ohne ihn um Erlaubnis zu ersuchen...“

Betroffen verstummte Angelo, als er bemerkte, dass aus seinen mitfühlenden Worten eine Predigt geworden war.

 

 

„Du hast recht“, gab Pico müde zu. „Du hast ja so recht. Doch was ist es für eine Welt, in der ein Mann nicht seine Gedanken offen legen kann, ohne umgehend der Häresie angeklagt zu werden? Cogito, ergo sum. Ich denke, also bin ich – Gott gab uns unseren Verstand nicht, um ihn durch Gebete und Redundanzen um Redundanzen abstumpfen zu lassen. Es ist eine Schande...“

 

„Mein Freund, du rennst offene Türen bei mir ein, und deine 900 Thesen sind das Brillanteste, was ich je gelesen habe – abgesehen von der Bibel.“ Nachlässig bekreuzigte Angelo sich. „Aber ein Mann von so überragenden Geistesgaben muss doch begreifen, dass Il Papa solche Auffassungen nicht öffentlich unterstützen kann.“

„Er nennt mich einen Verräter und fordert meine Festnahme. Ich – ich bin exkommuniziert, Angelo.“

Selbst ein Freigeist wie Pico, der in erster Linie Philosoph und in zweiter Linie Florentiner war, war doch wie alle Italiener ein gläubiger Katholik. Der Gedanke, Zeit seines Lebens von der Spendung der Sakramente – insbesondere der Vergebung der Sünden und der Letzten Ölung im Angesicht des Todes – verbannt zu sein, entsetzte ihn.

„Die große oder die kleine Exkommunikation?“, hakte Angelo nach und bemühte sich nach außen um Ruhe.

„Magna“, brachte Pico würgend hervor. „Die große.“

Mit der großen Exkommunikation war Pico nicht nur von den Sakramenten, sondern auch aus der Gemeinschaft aller rechtsgläubigen Menschen ausgeschlossen. Ein vogelfreier, rechtloser Mann, abgeschnitten von sämtlichen Menschen außer Verbrechern und Leprösen – der nur mit anderen Geächteten verkehren durfte.

Doch die Leute in der Toskana und besonders die Florentiner sind ein eigensinniges Volk, starrsinnig und mit großer Loyalität zu ihresgleichen.

 

 

 

 

Solange Lorenzo de' Medici lebte und seine schützende Hand über Pico hielt, würden die Florentiner ihn behandeln, als wäre nichts geschehen.

Er durfte nur nicht die letzten Grenzen überschreiten – und wer würde glauben, dass ein junger Mann von bester Gesundheit sich für den Freitod entschied?

Aber Pico della Mirandola, der größte lebende Philosoph der bekannten Welt, glich mehr dem kleinen Jungen, der damals in die Obhut der Mönche gegeben worden war.

„Komm, Pico“, sagte Angelo sanft, als er sah, dass seine Worte zu dem jungen Mann nicht durchdrangen, „lass uns in den Giardino gehen. Komm mit mir in den Garten.“

 

Der Schöpfer des Statuengartens umrundete den knapp mannshohen Steinblock, seine anderen Geliebten vergessend. Die Welt war auf diesen Marmorblock zusammen geschrumpft.

„Non venato!“, hatte der Agent des Steinhändlers enthusiastisch gerufen und seine Finger geküsst. „Makellos, keine einzige Ader! Rein weißer Marmor aus Carrara, einer Venus von Milo würdig!“ Doch der Meisterbildhauer vergaß alle Regeln seines Lehrers, überhörte die Ratschläge und Übertreibungen des Mannes und lauschte der leisen Stimme, die aus den Tiefen des Blockes zu ihm heraufstieg, kaum wahrnehmbar, sirenenhaft...

Nun stand der junge Künstler vor dem ersehnten Stück, Hammer und Meißel erhoben, bereit, mit seiner furiosen Kraft und seinem überragenden Talent ein großes Werk zu vollbringen!

Doch der Stein blieb stumm.

Kurz rang er mit sich, dann legte er sein Handwerkszeug behutsam beiseite. Das leise Klicken, als das Metallwerkzeug die niedrige Steinbank berührte, hallte laut über den grasbewachsenen Innenhof.

 

 

 

 

Vorsichtig umschritt er die harte, unnahbare Masse, summte mit seiner tiefen Stimme beruhigend, und lauschte auf einen Ton inmitten des Gebildes. Die sirenenähnliche Stimme, die ihn Tage zuvor verlockt hatte, blieb aus.

 

Tief atmete er durch und streckte seine große, raue Hand langsam aus; er keuchte, als sie auf die glatte, kalte Oberfläche traf. Tastend strich er über den makellosen Stein und spürte, wie seine Haut für kurze Zeit den Marmor erwärmte.

Mit seinen empfindsamen Fingerkuppen streichelte er über die Schattierungen von reinweiß, strahlendweiß und gleißendweiß, die allen Anderen verborgen blieben. Ohne es zu bemerken summte und brummte er, als er das große Stück so behutsam erkundete wie den Körper einer unerfahrenen Frau. Im Zentrum spürte er große Energie, gleich einem Feuer, das eingeschlossen war in hart gepressten Calcit, unfähig hervorzubrechen. Wild bohrten sich seine Augen in den Stein, als könne er das kostbare Gefängnis kraft seiner Gedanken schmelzen. Manisch umrundete er ihn, tastete, drückte, kratzte, und hielt beständig inne, um zu lauschen.

Als die Wolkendecke aufriss und die goldenen Strahlen der Nachmittagssonne den makellosen Marmorblock trafen, vernahm der Meisterschöpfer die Stimme erneut. Sanft, lieblich, klagend drang sie an sein Ohr, seit undenkbaren Zeiten in dem gepressten Stein gefangen.

Seinem Gehör folgend umrundete er zum sicher hundertsten Male den Block; und nun sah er die Fugen, aus denen die Töne herausstiegen.

 

Reinweißer, strahlendweißer und gleißendweißer Marmor bildeten mitnichten eine einheitliche Tönung; ganz deutlich machte er sie aus, die feinen Schlieren und Wirbel, Täler und Berge, zerklüftete Ornamente, nun so sichtbar wie der Unterschied zwischen Tag und Nacht.

 

 

 

 

Unter diesem wilden Muster erkannte er jetzt auch den Sänger der feinen Stimme, der so lange darauf gewartet hatte, das Tageslicht zu erblicken. Für einen wunderbar vollendeten Moment sah er ihn so deutlich, als stünde er vor ihm.

Einige Sekunden verharrte der Bildhauer reglos, von seinen geliebten Schöpfungen nur durch die Färbung zu unterscheiden.

Dann löste er sich aus der Erstarrung, packte Hammer und Meißel und griff an.

Wenige kraftvolle Schläge reichten, um tiefe Wunden in die makellose Oberfläche zu schlagen. Der Künstler besann sich auf die Muster des Steines und hackte wie ein Wahnsinniger an den Bruchkanten entlang. Kleine weiße Stücke spritzten wie Regen um ihn herum, faustgroße Brocken fielen polternd zu Boden und prallten dumpf im Gras auf. Sein einfaches Leinengewand war dunkel vor Schweiß, sein Atem ging keuchend, als er mit rasender Wucht den Steinblock attackierte und sich an die Befreiung des Gefangenen machte.

 

Das sanft gurgelnde Wasser der Grotte beruhigte Picos Geist fast so sehr wie die Aussicht auf den Mann, den sie treffen würden.

„Pico!“, schnitt eine Stimme durch die Gartenanlage, ein harter befehlsgewohnter Bariton, gemildert von Zuneigung, gebieterisch in seiner Besorgnis.

Pico wandte sich ehrerbietig um und erschrak bei dem Anblick des ausgemergelten Mannes in mittleren Jahren. “Du solltest heute im Haus bleiben, Magnifico“, tadelte er den Herrscher von Florenz besorgt.

Lorenzo de' Medici lächelte bloß nachsichtig.

„In einem ,Haus' werde ich noch früh genug eingesperrt sein, mein lieber Freund. Eine winzige Behausung, ausgeschlagen mit Samt und Seide, aus glänzend poliertem Holz. Solange es möglich ist, will ich den Wind und die Sonne spüren, und auf meinen eigenen Füßen in meinen Marmorgarten gehen."

Angelo und Pico verlangsamten ihr Tempo, um sich ihrem Mäzen anzupassen. Schon von weitem hörten sie den Klang von Stein, der behauen wurde.

„Lasst uns hier Platz nehmen“, bestimmte Lorenzo und lenkte die Männer an eine steinerne Bank bei der Mauer. „Stören wir ihn nicht bei der Arbeit. Ich glaube sogar, wir würden das nicht vermögen, sondern uns vielmehr in Gefahr begeben, wenn wir diesem begnadeten Wahnsinnigen zu nahe kommen.“

Pico, der Florenz zwei Jahre fern geblieben war, stand vor der Bank, Verblüffung im Gesicht. „Und ich dachte immer, ein Bildhauer würde langsamer vorgehen – schließlich kann er nicht erneut anfügen, was er einmal zu viel abschlug.“

„Ich sage ja: ein begnadeter Wahnsinniger“, gab Lorenzo gut gelaunt zurück. „Das gleiche könnte man über dich sagen, bello.“

Der junge Mann nahm endlich Platz und sackte leicht zusammen. „Du hast also davon gehört.“

 

„Mein Junge, jede Stadt Europas hat die Kunde erreicht.“ Nachsichtig schüttelte Lorenzo den Kopf. „Wie kamst du darauf, deine Apologia zu verfassen...“

„Aber an meinen Thesen ist nichts Häretisches, und ich musste mich doch verteidigen!“

„... und sie drucken zu lassen“, fuhr Lorenzo unbeirrt fort, „und das, noch bevor der Papst dich zu einer Stellungnahme in seinen Palast geladen hatte?“

"Die Konferenz – hast du meine Konferenz vergessen, Magnifico?", fragte Pico zögernd, und überlegte, ob Lorenzos Krankheit seinem Gedächtnis geschadet hatte.

Doch der seufzte tief auf.

 

 

 

 

 

"Ja, diese Zusammenkunft, auf der du allen europäischen Gelehrten darlegen wolltest, dass nicht nur die Kabbalah und die Bibel, sondern auch der Koran in Harmonie und Geistesverwandtschaft zueinander stehen, ein Aufruf zu Toleranz und Akzeptanz... Wie konntest du nur eine Sekunde glauben, dass Il Papa so etwas dulden kann, auf seinem eigenen Grund und Boden?"

"Er hat die große Exkommunikation ausgesprochen", brachte Pico mühsam hervor.

"Selbstverständlich, du hast ihm keine andere Wahl gelassen! Du übergehst ihn bei der Ladung zur Konferenz, du veröffentlichst diese Thesen, die die politische Linie von unserem Papst angreifen, von dem letzten ganz zu schweigen; Frieden und Toleranz! Sein Vorgänger Sixtus beschäftigte sich fast ausschließlich damit, einen Bürgerkrieg in Rom anzustacheln und Kriege in ganz Italien zu entfesseln.

Und Papst Innozenz VIII. ist vom gleichen Schlag – wenn auch ein glücklicherweise unaufmerksamer Schüler und schwerfälliger Herrscher. Frieden und Toleranz!"

Lorenzo spuckte auf den Boden. "Anstatt deinen eigenen Lehren zu folgen, gehst du in die Höhle des Löwen und bewirfst ihn mit Steinen – Pico, du hast ihm wahrlich keine Wahl gelassen!"

Pico räusperte sich und rang um Fassung.

"Ich habe hier den Entwurf eines Briefes, eine – Entschuldigung, Bittschrift, was auch immer ich sagen muss, damit die Exkommunikation zurückgezogen wird... Würdest du..."

"Pico", Lorenzos sanfte Stimme versetzte den jungen Mann in kopflose Panik, "ich muss mir nicht einmal die Mühe des Lesens machen, um zu wissen, dass es vergebens ist. Solange dieser Papst lebt, wird er seine Entscheidung nicht zurücknehmen. Politik. Und nicht zuletzt Ferrantes Weigerung, seinen Lehenszins an den Heiligen Stuhl zu bezahlen, hat ihn unnachgiebig werden lassen.

 

 

 

 

Er muss jetzt Stärke demonstrieren und darf nicht nachgeben – was schon bei Herzog Ferrante von Neapel schwer genug sein wird. Seit der französische König unseren Papst im Stich gelassen hat und Il Papa Ferrantes Friedensschluss zustimmen musste, verfolgt er eine vollends unbarmherzige Linie. Und dir, mein Freund, fehlen die weltliche Macht und die Armee, über die Ferrante verfügt! Finde dich mit den Tatsachen ab: der Papst wird nie nachgeben. Akzeptiere die Situation, und plane, was nun zu tun ist."

"Nie...", stammelte Pico entsetzt.

"Dieser Papst wird nicht ewig leben", mischte sich Angelo beruhigend ein.

"Er hat meine Auslieferung verlangt!", gab Pico entsetzt zurück und rang um Fassung.

"Florenz wird dir Asyl bieten, solange du es benötigst. Ich glaube, du wärst in der ganzen Toskana sicher. Innozenz' Einfluss reicht nicht soweit, wie er es sich ausmalt.“

„Du meinst, ich wäre ein Gefangener – gefangen zwischen den Stadtmauern, Magnifico!“

„Du bist ein Gelehrter, Pico, ein Mann des Geistes – kannst du nicht überall lernen, schreiben und lehren? Deine Schriften und Gedanken werden diese lächerlichen Landesgrenzen überwinden und noch lange nach deinem Tod ihre Kraft entfalten."

Ruckartig stand Pico auf und ging mit steifen Schritten zu den Statuen.

Die Schläge von Meißel auf Stein durchschnitten gewaltsam die Luft, die Geräusche durch den immer länger werdenden Abstand noch verstärkt.

Angelo Poliziano erhob sich, um seinem Freund beizustehen; doch Picos starrer Rücken zeigte deutlich, dass er Zeit für sich brauchte. So ging Angelo zwischen den Werken umher, und schnell war sein Auge gefangen von einem Relief, einem Meisterwerk, das ihn seinen Freund vergessen ließ.

 

 

 

Die Darstellung der Zentaurenschlacht – diese Eingebung musste der jungen Künstler bekommen haben, als er mit den anderen Studenten der griechischen Literatur Polizianos Vorlesungen lauschte. Die Lebendigkeit und Kraft des Geschehens rief Angelo lebhaft den Tag zurück, als er die schönen griechischen Verse zitiert und übersetzt hatte, deren Kraft seine Schüler überwältigt und betroffen verharren ließ.

Lange Zeit dauerte es, bis Poliziano erkannte, was das Abbild von den mehr als tausend Jahre alten Originalen unterschied. Mit einer besonderen Technik hatte der wahnwitzige Genius die Figuren unerhört weit aus dem Stein heraus gemeißelt; sie erhoben sich in einer Art und Weise, als wären sie nicht mit ihm verbunden. Es schien, als würden sich die Halbmenschen jeden Augenblick losreißen und ihren brutalen Kampf auf der grünen Lichtung austragen...

Picos Geist beruhigte sich, während er dieses Gesicht und jene Handbewegung näher betrachtete. In diesem verzauberten Garten war sie wahrlich greifbar, die Einheit von Antike und Moderne, die ihn seit Kindesbeinen fasziniert hatte, um derentwillen er gekämpft und gestritten hatte. Doch bei dem Anblick dieser herausragenden Kunstwerke schwand seine Bitterkeit. Hier waren Vergangenheit und Gegenwart zu einer verheißungsvollen Zukunft verschmolzen. Deine Schriften und Gedanken werden diese lächerlichen Landesgrenzen überwinden und noch lange nach deinem Tod ihre Kraft entfalten. Zum ersten Mal seit der Rückkehr aus dem verhängnisvollen Rom erfüllten Ruhe und Frieden den jungen Philosophen.

Lorenzo de' Medici schritt gleich einem König durch seinen Statuenwald. Unzählige Künstler konnten sich der Unterstützung des florentinischen Herrschers rühmen, doch dieser Garten aus Marmor genoss seine leidenschaftlichste Aufmerksamkeit. Die kunstvollen Gebilde waren der lebendige Geist der Antike, geschaffen mit einer Kunstfertigkeit, die die alten Griechen und Römer nie vermocht hatten.

 

 

 

 

An diesen Ort zog der ungekrönte Herrscher von Florenz sich zurück, wenn das Balancespiel zwischen der Banca dei Medici, den Verhandlungen mit dem Florenzer Magistrat, der länderübergreifenden Politik und der Erziehung seines Nachfolgers ihn zu erschöpfen drohte. Die Krankheit, die schon seinen Vater und Großvater in zu jungen Jahren hinfort gerafft hatte, meldete sich auch in seinen Knochen und Gelenken. Diese weißen leblosen Gestalten schenkten ihm neue Kraft und belebten seinen Kampfgeist, symbolisierten die Welt, für die er kämpfte, intrigierte, belog und bestach. Doch hier, in seinem Refugium, war kein Platz für Täuschung. Mühsam trat Lorenzo neben den vollkommen entrückten Poliziano.

"Meine Zuversicht war gespielt, mein Freund. Vergiss nie, ich bin ein Medici, ein Politiker, Lug und Betrug sind mein Geschäft. Tatsächlich glaube ich, dass unsere Welt im Untergang begriffen ist, die Welt der symbiotischen Verbindung von Moderne und Antike, die Welt, in der Vernunft und Geist entscheiden – wenn sie je existierte. Und es würde mich nicht erstaunen, wenn einzig die steinernen Geschöpfe unseres jungen Freundes, Michelangelo Buonarotti, diesen Niedergang überdauern werden."

Betroffen starrte Poliziano seinen Mäzen und alten Freund an, doch dieser legte nur einen Finger ans Ohr.

"Horch."

"Ich höre nichts", entgegnete Poliziano noch halb betäubt.

"So wenig wie ich. Unser Genie hat sein Werk vollbracht. Pico!"

 

Zusammen schritten sie in die Mitte des Marmorgartens, in dem der junge Meisterschöpfer fasziniert vor seiner jüngsten Arbeit stand, als sähe er sie zum ersten Mal und hätte sie nicht selbst aus dem Stein geschlagen.

Ein kleiner Faun, kaum hüfthoch, die Ziegenbeine an einen kleinen Felsen gelehnt.

 

 

 

So lebendig, als wolle er jeden Moment von seinem Sockel treten und losstürmen, um hinter die Bänke zu lugen und Nymphen aufzustöbern. Seine Flöte hielt er mit beiden Händen, auf halbem Wege zum Mund, der zu einem mutwilligen Grinsen verzogen war.
Um seine Augen jedoch zogen sich winzige Falten. Dünne Linien verliefen von der Nase zu den Mundwinkeln, Anflug einer Bitterkeit, dass die Zeit seiner Lieder zu Ende ging.

 

 

Mit dem Rücken zur Wand

Von Maximilian John

 

Ich lag in meinem Bett, die Augen geöffnet. Ich hatte sie die ganze Nacht nicht geschlossen, ich war mir nicht einmal sicher, ob ich geblinzelt habe. Ich starrte die karge Decke über mich an. Weiß. Die Farbe der Unschuld. Diese Decke war unschuldig, das Urteil war gefällt, die Richter hatten gesprochen. Die Richter, die mich die ganze Nacht wach gehalten hatten, während sie den Schuldigen suchten, der des Verbrechens angeklagt werden musste. Die Decke war es nun nicht, und doch konnte ich meinen Blick nicht abwenden. Es war, als würde sie meine Blicke magisch anziehen. Und so schaute ich sie weiter an. Sekunde und Sekunde verflossen, Minute um Minute, aus Minuten wurden Stunden. Eine Stunde. Zwei Stunden. Draußen musste es schon hell geworden sein, doch ich achtete nicht auf die Uhrzeit. Ich starrte weiterhin an die Decke, die vom Licht meiner Nachttischlampe erleuchtet über mir thronte, auf mich herabblickend. Was hatte ich dieser Decke angetan, dass sie so hämisch war, mich geradezu verspottete. Was hatte ich mir ihr gegenüber zu Schulden kommen lassen? Das Blatt der Richter wendete sich. Sie sprachen mich schuldig, ich wusste nicht wofür. Ich seufzte. Es war der erste Ton, den ich die ganze Zeit von mir gegeben hatte. Die Richter hatten Recht. Ich war schuldig. Ich konnte nicht sagen wieso, doch in mir war ein tiefes, schmerzhaftes Gefühl, dass ich die Schuld trug, egal worum es sich handelte. Ich seufzte erneut. Wie lang ich wohl hier liegen musste, bis die Decke mir verzieh und die Richter das Urteil aufhoben? Ich wusste es nicht.

Die Decke schien mich anzugrinsen. Sie schien es zu genießen, im Recht zu sein. War sie doch sonst nur eine gewöhnliche Decke, so war sie nun ein Kläger. Und sie hatten den Streit für sich entscheiden können. Ich seufzte erneut. Nicht, weil ich es unbedingt musste, sondern viel mehr um der Decke und den Richtern zu zeigen, dass ich noch am Leben war.

 

 

 

 

Ich war noch nicht tot. Ich wusste nicht wie schnell sich das ändern würde.

 

Vielleicht würden die Richter mich am Ende sogar zum Tode verurteilen, das Strafmaß stand immerhin noch aus. Aber wenn es für mich zum Galgen ging, so würde ich doch gerne erfahren, wofür ich verurteilt werden würde. Doch die Richter schwiegen. Sie berieten sich. Wahrscheinlich durch schmökerten sie die Gesetzbücher, um eine gerechte Strafe zu finden. Das konnte Stunden, gar Tage oder Wochen dauern. Ich musste weiter warten. Den Blick immer auf die Decke, den Kläger. Ob ich mich einfach entschuldigen sollte? Nur wofür? Es war eine Decke, was konnte ich ihr schon groß getan haben? Während ich grübelte, wurde plötzlich die Tür des Raumes gewaltsam aufgestoßen. Ich schrak auf. Zwei maskierte und mit Sturmgewehren bewaffnete Gestalten traten ein. "Mitkommen", schrie die erste Person. Ich reagierte nicht. Ich stand unter Schock. Wer waren diese Menschen? Doch ehe ich diesen Gedanken überhaupt zu ende denken konnte, war die andere Person bereits an mich herangetreten und riss mich ruckartig aus meinem Bett. "Er hat gesagt mitkommen!"

 

Ich bewegte mich nicht. Ich wollte es nicht, und selbst wenn ich es gewollt hätte, ich stand in diesem Moment immer noch unter Schock und konnte keinen einzigen Muskel meines Körpers anspannen. "Hörst du schlecht? Mitkommen!" Die Person wartete meine Reaktion gar nicht erst ab, sondern packte mich am Kragen und schleifte mich aus dem Raum. Zunächst in den Flur, von dort aus hinaus aus meiner Wohnung, die Treppen herunter und durch eine weitere Tür. Es war schmerzhaft, jedoch konnte ich mich immer noch nicht bewegen. Egal was ich versuchte, die Muskeln meines Körpers reagierten nicht. Ich konnte nur tatenlos zusehen, oder eher spüren, wie ich durch die Gegend geschleift wurde. Schon bald endete dieses Spektakel allerdings.

 

 

 

Ich hatte das letzte Drittel des Weges nicht mehr wahrgenommen, ich war zu fokussiert darauf gewesen, meine Muskeln zu bewegen um mich zur Wehr setzen zu können. Als die Person plötzlich stoppte, wurde ich jäh aus der Konzentration gerissen. Die Person hob mich hoch und setze mich auf einen Stuhl. Ich blickte mich um.

 

Ich befand mich in einem Gerichtssaal. Im Saal war es laut, es schienen sich viele Menschen im Publikum aufzuhalten, doch ich wagte es nicht mich umzudrehen: Vor mir saßen die Richter, die mich die ganze Nacht lang wach gehalten hatten. Es waren drei an der Zahl und sie saßen dort, in ihren schwarzen Roben. Zwei der drei Gesichter konnte ich nicht erkennen, nur das des Richters in der Mitte.

 

Ich kam nicht umher, dass Gesicht zu erkennen, ich wusste allerdings nicht, wo ich es schon einmal gesehen hatte. "Ruhe", rief der Richter, dessen Gesicht ich erkennen konnte. "Ruhe, oder ich lasse den Saal räumen!" Er klopft mit seinem Hammer auf das Pult. Im Saal wurde er schlagartig still. Totenstill. Ich hatte das Gefühl, meinen eigenen Herzschlag hören zu können. Der Richter, dessen Gesicht ich erkennen konnte, erhob sich. "Jonathan Nikolas, ich nehme an sie kennen die Anklage?" Er blickte mich an. Ich hatte geahnt, dass ich der Angeklagte war. Aber ich kannte die Anklage nicht. Ich versuchte zu Antworten "Nein euer Ehren"; doch die Stimme versagte. "Ich werte das als ein Ja", interpretierte der Richter mein Schweigen. Ich schüttelte den Kopf, doch niemand schien die Bewegung wahr zu nehmen. Nun erhob sich der Richter links. "Nun, die Beweislage ist eindeutig. Dieser Mann ist schuldig. Daran gibt es keinen Zweifel." Ich blickte nach links und rechts. Hatte ich keinen Anwalt, der mich verteidigen sollte? Der Richter rechts erhob sich "Dennoch ist es wichtig zu wissen, warum er es getan hat", warf er ein. "Nun", fragte der Richter, den ich erkannt hatte, "warum haben sie es getan?" Ich schwieg. Ich konnte meinen Mund nicht öffnen, ich hatte die Sprache verloren.

 

 

Tauben

Von Anna Scheinfrei

 

Tauben, diese verdammten Drecksviecher, wie er sie hasste. Flogen überall rum, verseuchten alles. Bah, er hasste sie wirklich.