Laura Johnston
Zwischen uns nur der Himmel
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Kattrin Stier
Deutscher Taschenbuch Verlag
© Tracy Anderson
Laura Johnston wuchs in Utah in einer Familie mit fünf Geschwistern und mehreren Pferden auf. Mittlerweile lebt sie mit ihrem Mann und zwei Kindern in Arizona. Die aktive Bloggerin hat mit »Zwischen uns nur der Himmel« ihren ersten Roman geschrieben, der in den USA zunächst als eBook erschien und sich dort sogleich eine große Fangemeinde eroberte.
Kattrin Stier hat Anglistik, Germanistik und Pädagogik studiert. Sie lebt mit ihrer Familie, unzähligen Büchern, vielen Musikinstrumenten, drei Kaninchen und zwei Nähmaschinen in einem alten Bauernhaus in der Nähe von München. Seit vielen Jahren übersetzt sie Bücher aus dem Englischen. Die besten Einfälle kommen ihr dabei meist am späten Abend.
Als Austin Sienna an ihrem ersten Urlaubsabend vor
zwei betrunkenen Typen rettet, verliebt er sich Knall
auf Fall in sie. Und Sienna geht es nicht anders. Doch
zwischen ihnen stehen nicht nur die unterschiedlichen
Welten, aus denen sie kommen, sondern auch Austins
Vergangenheit, die eine Beziehung unmöglich macht …
DIE GESCHICHTE EINER
VERBOTENEN LIEBE
PRICKELND, ROMANTISCH,
BITTERSÜSS
Deutsche Erstausgabe
2015 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
© Laura Johnston 2014
Titel der amerikanischen Originalausgabe: ›Rewind to you‹,
2014 erschienen bei Kensington Publishing Corp., New York
© der deutschsprachigen Ausgabe:
2015 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen
Umschlaggestaltung: Katharina Netolitzky unter Verwendung
eines Fotos von plainpicture/amanaimages
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
eBook-Herstellung im Verlag (01)
eBook ISBN 978-3-423-42852-1 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71647-5
Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks
ISBN (epub) 9783423428521
Für KC
»Also, wenn du zufällig mal wieder auf der River Street bist«, durchbricht Austin das Schweigen, »und da spätabends rumläufst und ein betrunkener Idiot dich belästigt und du jemanden brauchst, der dich auffängt …«
Ich lächele.
Er lächelt zurück. »Dann komm doch einfach bei River Street Sweets vorbei.«
»Und du wirst da sein, was?«, sage ich schmunzelnd.
Der Anblick seines Grinsens macht mich ganz flatterig. »Höchstwahrscheinlich.« Er greift mit der Hand durch das offene Fenster und drückt auf den Knopf, um die Autotüren zu verriegeln, bevor er zurücktritt. »Bis zum nächsten Mal also?«
Eine hypothetische Frage, die ich mit einem Lächeln quittiere. Mit diesen fünf Worten hat sich Austin in mein Gehirn gebrannt …
Mein Blick fällt auf das Foto von Dad und mir und da bricht die Trauer über mich herein. Ganz plötzlich und fast ohne Vorwarnung. Ich kann kaum atmen. Mein Herz klopft heftig, die Handflächen werden feucht, ich sehe nichts mehr. Was ist nur los mit mir? Dann wird alles um mich herum schwarz.
Als schließlich die Schatten dem Licht weichen, frage ich mich, ob ich wohl tot bin, denn ich sehe ihn genauso vor mir wie vor einem Jahr. Vor dem Unfall. Wir stehen nebeneinander, ein Vater mit seiner Tochter.
»Komm, wir schließen einen Pakt«, sagt mein Dad und ein Lächeln spielt um seine Lippen und Augen. Der Duft von etwas Süßem lockt mich, bevor ich in die Realität zurückgerissen werde.
Ich schlage die Augen auf. Langsam erinnere ich mich, wo ich bin und was passiert ist – und vor allem auch, wie beschissen mein Leben ist. Wenn ich nur die Zeit zurückdrehen und diesen letzten Tag mit meinem Vater noch einmal durchleben könnte, vielleicht wäre er dann noch am Leben.
Komm, wir schließen einen Pakt.
Die Verandatür öffnet sich mit einem zirpenden Laut, wie eine Zikade, und fällt wieder ins Schloss.
»Du tust doch nur so, oder?«
Ich drehe den Kopf und sehe Spencer, meinen achtjährigen kleinen Bruder, mitsamt Batman-Cape, Stiefeln und allem Drum und Dran. »Wie – ich tu nur so?«
Spencer stützt die Hände in die Hüften und stöhnt. »Du hast nur so getan, als würdest du ohnmächtig werden.«
Ich massiere meine schmerzende Stirn. »Spencer, ich tu überhaupt nicht so, weil ich gar nicht ohnmächtig war.«
»Warst du doch! Ich hab gesehen, wie du hingefallen bist.«
»Ach wirklich? Du warst ja noch nicht mal hier.«
»War ich doch! Auf der Veranda.«
Sein Nintendo DS liegt draußen auf dem Gartentisch und bestätigt seine Behauptung. Trotz der nervenden Kopfschmerzen muss ich lächeln, weil ich mich erinnere, wie ich als Kind nach draußen gelaufen bin, um Badminton zu spielen, und mir dabei an den heißen Sommernachmittagen hier in Georgia die Füße verbrannt habe. Doch nun lässt mich der weite Blick aufs Meer und das Knarren der Verandatür meinen Vater nur umso schmerzlicher vermissen.
Ich wende mich wieder zu Spencer, der da als Batman steht, die Hände auf den Hüften, Brust raus, Kopf hoch. Das beendet meine düsteren Gedanken und ich lächele.
»Worüber lachst du?«
»Ach nichts«, sage ich, aber ein kleines Kichern entschlüpft meinen Lippen.
»Du lachst mich aus!«
Ich unterdrücke das Lächeln, weil Spencer wirklich nichts weniger brauchen kann, als ausgelacht zu werden. »Ich lache dich nicht aus. Du bist einfach nur süß, Spencer.«
»Süß?« Er speit das Wort geradezu aus, als könnte er den Geschmack nicht ausstehen.
»Sienna«, sagt meine Mutter scharf, und beim Ton ihrer Stimme versuche ich rasch, mich hinzustellen. Ich greife nach dem Nächstbesten, um mich zu stabilisieren. Eine Vase mit großen weißen Seidenblumen liegt zu meinen Füßen auf dem Boden. In diesem Augenblick löst sich die Blockade in meinem Kopf und die Erinnerung kehrt zurück. Beim Anblick des Fotos auf dem Sofatisch krampft sich mein Herz zusammen, genau wie in dem Moment, in dem ich den Raum zum ersten Mal betreten habe.
»Was ist passiert, Sienna?«
Hastig stelle ich die Vase wieder hin, die ich wohl umgestoßen haben muss. »Nichts. Alles gut.«
»Bist du gestürzt?«, fragt sie.
»Ich weiß nicht. Es ist …«
»Du weißt es nicht?«, unterbricht sie mich. »Das ist doch eine einfache Frage. Was hast du da auf dem Boden gemacht? War dir schwindelig?«
Oh, Mann. Nicht schon wieder. »Nein.«
»Schläfst du gut?«
»Ja.«
Mom schluckt, so als wäre die nächste Frage schwer zu verdauen. »Hast du … getrunken?«
»Nein.«
»Bist du gestresst?«
»Nein.«
»Hast du in den letzten fünf Tagen mal geduscht?«, wirft Spencer ein.
»Nein«, antworte ich ganz automatisch, bevor ich ihm einen bösen Blick zuwerfe. Reingelegt! Jetzt hat er es geschafft.
»Natürlich hat sie geduscht!«, ruft Mom, als wäre unregelmäßiges Duschen noch schlimmer als Alkoholkonsum von Minderjährigen.
Mit einem hämischen Grinsen tänzelt Spencer aus dem Zimmer. Ich bin hier nicht diejenige, deren grundlegende Hygienegewohnheiten zu wünschen übrig lassen, das wissen wir alle.
Moms forschender Blick durchbohrt mich. Ich bemerke die Autoschlüssel auf dem Tisch, und die Vorstellung, ihren Fragen zu entkommen, lockt mich in Richtung Tür. Vielleicht weil sie diesmal wirklich recht hat. Aus unerfindlichen Gründen bin ich ohnmächtig geworden, nachdem dieses Foto von meinem Dad und mir die Erinnerung wachgerufen hatte. Die Erinnerung an die letzten Tage, die wir gemeinsam als Familie verbracht haben, bevor unser Leben eine scharfe Wendung nahm.
»Entspann dich, Mom. Ich hab geduscht. Und es geht mir gut. Ich bin nur ein bisschen erschöpft, weil ich den ganzen Tag gefahren bin.«
Ihr manikürter Finger trippelt auf dem Granit der Arbeitsplatte. »Stimmt, die Fahrt war wirklich ziemlich lang. Leg dich doch ein bisschen hin. Vielleicht hat dir die Hitze zu schaffen gemacht.«
»Die Hitze?« Spencer gleitet auf Socken über den Holzboden und jongliert dabei mit einer Legokiste. Er verdreht die Augen. »Mom, das ist doch Quatsch! Sie ist sechzehn, nicht fünfzig.«
»Siebzehn«, sage ich.
»Dann eben siebzehn«, erwidert Spencer. »Und es waren vielleicht gerade mal achtzehn Grad, als wir in Virginia losgefahren sind.«
»Spencer, das reicht jetzt!«, ruft Mom scharf, und ich merke, dass es ihr schon im selben Augenblick leidtut.
Spencer wirft dem Fußboden böse Blicke zu, die aber eigentlich unserer Mutter gelten, nur eben indirekt. Er schmeißt die Kiste runter und es regnet Legosteine wie Limo aus einer durchgeschüttelten Getränkedose. Ich spüre, wie meine Mutter scharf einatmet und die Luft anhält. Na toll. Genau das, was wir jetzt brauchen.
Manchmal ist die Reibung zwischen uns dreien kaum wahrnehmbar. Dann tun wir so, als würden wir unser normales Leben leben. Aber die Spannung ist immer da und erfüllt unser Zuhause wie ein alles erstickender Smog. Als Dad noch da war, war das alles ganz anders, und ich frage mich, ob Spencer sich später noch daran erinnern wird. Wird er, wenn er erwachsen ist, überhaupt noch eine Erinnerung an unseren Vater haben?
»Entschuldige, dass ich laut geworden bin, Spencer«, sagt Mom, aber er tut schon so, als wäre sie gar nicht da. Sie hebt die Hände in die Höhe. »Dass er aber auch immer so überreagieren muss.«
Ich schaue zur Seite, wo ich wieder den stillen, medikamentös ruhiggestellten Spencer sehe, der mit seinem Lego spielt und sich windet angesichts der Tatsache, dass Mom über ihn spricht, als wäre er zu doof, das zu kapieren. Der Himmel weiß, dass sie sich alle Mühe mit ihm gibt. Aber gleichzeitig sind ihre Erwartungen an mich enorm hoch, seit man bereits in schockierend frühem Alter eine bipolare Störung und ADHS bei Spencer festgestellt hat.
»Immer«, fährt sie fort. »Ganz gleich, wie sehr ich mit ihm daran arbeite, dass …«
»Hey, Spencer«, rufe ich ihm zu. Dabei wage ich es nicht, meine Mutter anzusehen, kann ihren scharfen Blick aber dennoch spüren. »Sollen wir morgen am Strand Ball spielen?«
Spencer sucht nach einer Antwort, während sich der Kummer in sein Gesicht gräbt. »Du kannst ja doch nicht so werfen wie er.«
»Sienna Nancy Owens!«, fährt meine Mutter mich an.
»Vielleicht kannst du’s mir ja zeigen, Spencer. Bitte! Ich weiß, dass ich nicht so gut werfen kann wie Dad, aber ich kann es ja wenigstens mal versuchen.«
»Sienna!«, ruft meine Mutter wieder, so als wäre es bereits verwerflich, Dad gegenüber Spencer auch nur zu erwähnen.
Obwohl mich die Legosteine, die jetzt durch die Luft fliegen, eigentlich nicht überraschen sollten, zucke ich genau wie meine Mutter zusammen, als Spencer gleich noch eine Handvoll hinterherschmeißt. Wir schaffen es mit Mühe, ihnen auszuweichen.
»Hört auf!«, schreit er. Ich spüre, dass er noch mehr sagen will, doch stattdessen versetzt er der leeren Legokiste einen Tritt und rennt die Treppe hinauf. Hört auf zu streiten! Ich weiß, dass er das sagen wollte.
»Siehst du?«, schimpft meine Mutter. »Das kommt davon, wenn du von eurem Vater sprechen musst.«
Mich durchzuckt es heiß. Ist das jetzt etwa meine Schuld? Na, klar! Alles ist meine Schuld. »Dass ich Dad erwähnt habe? Du machst wohl Witze!«
Mom zerrt die Wäscheschublade auf und fängt an, die Servietten andersrum – andersrum! – zusammenzulegen. »Sei doch nicht so gedankenlos, Sienna! Footballspielen mit Dad war jeden Sommer Spencers Lieblingsbeschäftigung. Wir sind hierher auf die Insel gekommen, um einen Neuanfang zu schaffen. So schwer es auch sein mag, wir müssen Dad hinter uns lassen und weiterleben.«
»Ihn hinter uns lassen, ja?«, sage ich. »Hier? Auf Tybee? Mom, wir sind jeden Sommer mit Dad auf diese Insel gefahren. Wie kannst du erwarten, dass wir jetzt herkommen und ihn einfach vergessen?«
»Ich erwarte ja gar nicht, dass du ihn vergisst!«
»Aber das hast du eben gesagt!«
»Ich hab’s nicht so gemeint.« Mom knallt die Schublade zu. »Ich will nur, dass du wieder du selbst bist. Du tanzt nicht einmal mehr so wie früher. Seit einem Jahr schon wirkt es immer so, als stündest du zwar auf der Bühne, wärst aber nicht wirklich da.«
Schon wieder etwas, dass ich falsch mache. Ich nicke, nehme alles in mich auf und gehe in Richtung Tür.
»Sienna?« Mom kommt mir hinterher. »Gehst du mit Brian weg?«
Ein glückliches, wenngleich wehmütiges Gefühl flattert in meinem Bauch, doch es ist wohl nicht der Gedanke an Brian. »Vielleicht«, antworte ich, während ich meine Tasche nach meinem Handy abklopfe.
»Vielleicht?«
»Ja.«
»Prima. Du bist also bei Brian zu Hause?«
»Nein«, antworte ich mit einem Grinsen. Und genau das scheint komischerweise dieses wehmütig-glückliche Gefühl auszulösen. »Brian trifft sich mit ein paar Freunden auf der River Street.«
Ihr Mund bildet eine schmale Linie. »Du fährst nach Savannah rein? Heute Abend noch?«
»Ja. Ist das okay?«
River Street – wild und lebendig und voller Abenteuer – ist alles, was ich insgeheim liebe und was sie hasst. Aber immerhin geht es hier um Brian, den Sohn von Moms bester Freundin aus ihrer Heimatstadt in Georgia.
»Na gut«, sagt sie. »Aber bleib mit Brian zusammen. Treib dich da nicht alleine rum, ja?«
Ich schlüpfe nach draußen, und mein Magen krampft sich zusammen, als ich sehe, wie sich meine Mutter nach den Legosteinen bückt. Sie hat recht, es ist mein Fehler. Alles ist mein Fehler. Ich habe uns allen Dad weggenommen.
Im Laufschritt eile ich zu Moms Geländewagen. Mal abgesehen von ihrem architektonischen und kunstgeschichtlichen Interesse ist die Innenstadt von Savannah für meine Mutter der Inbegriff von Armut, Chaos und ungesundem Leben. Mein Vater hat das dagegen ganz anders empfunden.
»Auf der River Street ist alles möglich«, hatte er einmal mit seinem breiten Lächeln zu mir gesagt. Das war, nachdem ich als Kind dort einen Silberdollar gefunden hatte.
Ich stecke den Schlüssel ins Zündschloss und unterdrücke den Gedanken, dass Dad, wenn er hier wäre, gesagt hätte, ich sollte auf meine Mutter hören. Er hätte mir gesagt, ich sollte all das hinter mir lassen und nach vorne schauen; so selbstlos war er. Ich drehe den Schlüssel, der Motor erwacht brummend zum Leben und unterbricht die Stille.
»Also, schauen wir nach vorne!«, sage ich vor mich hin und fühle, wie mir diese Worte in der Kehle stecken bleiben, während ich den Schalthebel auf D stelle. Fast höre ich die Stimme meines Vaters, als ich den Kiesweg entlangfahre: Auf der River Street ist alles möglich.
Wenn das Leben dir Zitronen gibt, kauf dir ’ne Cola. Das ist mein Motto. Okay, schon gut, ich bin einfach nur ein Durchschnittstyp, der sich irgendwie durchschlägt und versucht, aus den Früchten, die mir das Leben so ins Gesicht schleudert, wenigstens eine Saftschorle zu machen.
Ich werfe einen Blick auf den Online-Kontoauszug meiner Bank. Lauter Kleinbeträge. Da dauert es schon eine Weile, bis man sich was zusammengespart hat, und es ist nicht leicht. Mein Leben hat in vielerlei Hinsicht Ähnlichkeit mit einem Football-Spiel. Viele kurze, heftige Abschnitte voller Dreck und Schweiß, einer nach dem anderen. Immer ein Stückchen näher in Richtung Tor. Manchmal kommt ein perfekter weiter Pass in meine Richtung geflogen, doch da ist immer eine wachsame Verteidigung, die mich wieder zurücktreibt. Aber heute Abend wird mir der Durchbruch gelingen.
»Bis dann«, sage ich, als ich auf dem Weg nach draußen an Onkel Mark vorbeikomme. Sein Blick klebt am Fernseher, wo ein Testspiel läuft, seine Ohren hören nichts außer dem Jubel der Menge und der Pfeife des Schiedsrichters.
»Darf ich die Fernbedienung für dich ins Klo schmeißen?« Den Spaß kann ich mir einfach nicht verkneifen.
»Ja, klar«, sagt Mark. Reingefallen. Er fischt einen lila Socken aus dem Wäschekorb und legt ihn mit einem braunen zusammen. »Mach nur.«
»Na bravo!«, ertönt Tante Debs Kommentar aus der Küche, wo sie gerade eine Lasagne aus dem Ofen holt. »Austin, mein Süßer, bring doch mal eins von deinen Mädels am Sonntag zum Essen mit. Deine Mutter wird wissen wollen, mit wem du dich hier so triffst.«
»Ja, klar.« Ich zwinge mich zu lächeln. Es ist nämlich so, dass ich meiner Mutter langsam genauso lästig bin, wie mein Dad es war. Ihr wäre es bestimmt lieber, es würde mich gar nicht geben.
Bevor ich die Tür öffne, erreicht mich noch der Duft der Lasagne und mein knurrender Magen hält mich zurück. Keiner kocht so gut wie meine Tante. Außer meiner Mom natürlich. »Du bringst mich um, Deb.«
»Bist du sicher, dass du nicht noch zum Essen bleiben willst?«
»Ich muss los«, sage ich. »Heb mir was auf.«
»Nimm bitte den Müll mit nach draußen, ja?«, ruft Deb mir hinterher.
Ich ziehe meine Baseballcap auf. Schnappe mir den Müll. »Bis dann.«
Draußen fährt eine alte Limousine vor, aus der laut Heavy Metal dröhnt. Ich werfe Debs Müll in die Tonne. Meine zwei Jahre alte Cousine ist süß, aber, Mann, ihre Windeln stinken wirklich zum Gotterbarmen.
Das Beifahrerfenster wird langsam heruntergelassen. Leo hängt seinen Arm heraus. »Yo, Bro! Was geht?«
»Ich bring nur noch schnell den Müll weg.«
»Mann, ey, lassen sie dich jetzt schon das Aa entsorgen?«
Ich lache und steige ein.
Reggie nimmt einen Zug aus seiner Zigarette. Schmeißt sie aus dem Fenster. Er dreht die Musik auf und wir cruisen durch die Stadt Reg-Style: Geschwindigkeitsbeschränkung ist ein Fremdwort für ihn.
»Also, raus damit. Was geht ab heute Abend, das so toll ist, dass du es mir nicht verraten konntest?«, frage ich, als wir uns der Altstadt von Savannah nähern.
Die beiden tauschen schweigend Blicke aus. Leo dreht sich zu mir und mustert mich von oben bis unten. Dann rümpft er die Nase. »Wie siehst du eigentlich aus, Mann?« Er wirft mir eine andere Cap zu und geht gar nicht auf meine Frage ein. »Hier, zieh die an.«
Ich werfe einen Blick auf die Kappe, irgend so ein plattes Ding mit spitzen Metallnieten und Glitzerkram, das ich nie im Leben anziehen würde. »Chic, Mann. Echt hübsch.«
»Findest du?« Leo lächelt. Er glaubt, ich meine es ernst.
Ich werfe es ihm zurück. »Wohin fahren wir?«
»Komm schon, Opa«, sagte Leo. »Du trägst deine Cap, als würdest bei den Senioren golfen. Wo bleibt dein Stolz? Außerdem hast du dein T-Shirt verkehrt rum an. Bis du blind?«
»Ist doch egal, oder? Ihr habt gesagt, da wo wir hingehen, ist es gechillt.«
»Ist es auch.«
»Komm schon, Leo. Bitte sag mir, dass wir nicht …«
»Wir gehen nur auf eine Party«, unterbricht Reggie.
»Ihr alten Lügner.«
»Was du nicht sagst.«
Sie haben mich reingelegt. Schon wieder. So viel zum Thema Durchbruch. »Hey, ich hab ’ne bessere Idee.«
»Ach ja?« Leo klingt nicht überzeugt. »Und was soll das für eine bessere Idee sein? Irgendein blöder Film, den nur Austin Dobbs kapiert, der nebenbei trotzdem die Mädels aufreißt, weil er so ein cooler Football-Star ist, oder wie?«
Ich starre ihre Hinterköpfe an, während sie sich kaputtlachen. »Genau, ich hatte eigentlich an einen richtigen Mädelsfilm gedacht«, sage ich mit todernster Stimme.
Warum gebe ich mich mit diesen Affen ab? Gute Frage. Ich schätze mal, weil man einfach weniger Mitleid erntet, wenn man von Idioten umgeben ist, deren Leben noch viel mehr im Arsch ist als das eigene. Reggie und Leo gehören nicht zu den Typen, die alles im Leben haben. Und entsprechend haben sie auch kein Mitleid mit Leuten, denen es ebenso ergeht.
»Komm schon«, bettelt Leo. »Bestimmt ist Lindsay da und sieht wieder so heiß aus!« Er zählt jede verlockende Kleinigkeit auf. Musik, Mädchen und so weiter. Seine Miene spiegelt seine Begeisterung, so als hoffte er, dass seine Partylaune ansteckend wirken könnte. Ich nicke und tue so, als würde ich ihm zuhören. Dabei merke ich plötzlich, wie mich der zuckrige Duft von Pralines ablenkt, der in der Luft hängt. Eines habe ich gelernt in diesem einen Jahr, das ich nun schon in Georgia lebe: In Savannah werden mit Abstand die besten Pralines hergestellt. Alle möglichen Varianten von Sahnekaramell mit Nüssen bis hin zu Schokolade – einfach unvergleichlich lecker.
»Seid ihr sicher, dass ihr nicht auch Lust auf ein paar Pralines habt?«
Leo verzieht das Gesicht. »Pralines? Hast du überhaupt ein einziges Wort von dem gehört, was ich gesagt habe?«
»Nicht wirklich.«
Er stöhnt genervt auf. »Wo ist dein Problem mit Partys, Alter? Manchmal benimmst du dich echt wie dein eigener Großvater.«
»Komm schon. Alle Partys sind gleich«, sagte ich. »Ein Haufen Möchtegerns, die so tun, als würden sie sich amüsieren.«
»Wovon redest du?«, sagt Leo. Er zieht eine Plastiktüte aus der Tasche und lässt sie über seine Schulter baumeln. »Wir werden uns amüsieren!«
Schweigend wende ich den Blick ab. Dazu fällt mir nichts mehr ein. Gar nichts.
Meine Augen schweifen über die Backsteingebäude draußen und ich lausche dem Gerumpel eines Reisebusses hinterher, der nach einem Halt wieder auf die Straße einbiegt und langsam Fahrt aufnimmt. Ein Mann rennt hinterher und versucht, ihn mit einem Schirm wedelnd zum Stehen zu bringen. Der arme Kerl wird den Bus nie einholen. Ich schaue überallhin, nur nicht auf das Tütchen mit Gras in Leos Hand. Das erinnert mich plötzlich wieder an den Grund, warum meine Mutter mich überhaupt nach Savannah geschickt hat, und es macht mich traurig.
»Halt an.«
Trotz Reggies lauter Musik liegt ein drückendes Schweigen in der Luft.
»Was?«, fragt Leo.
»Halt an.«
Reggie deutet auf die dicht stehenden Reihen von Autos. »Anhalten? Hier?«
Ich tippe gegen das Fenster. »Ja, genau hier.«
»Musst du mal pissen, oder was?«, scherzt Leo.
»Nee«, murmelt Reggie. »Er will sich verpissen.«
»Verpissen?«
»Absolut!«, bestätige ich.
»Hey, wir ham ja nix dagegen, wenn du nicht auf das Zeug stehst. Aber wir wollen auf diese Party«, sagt Leo.
»Und ich hasse Partys.«
»Warum musst du alles hassen, Mann?«
»Ich hasse gar nicht alles«, sage ich. »Ich will da einfach nicht hin, kapiert?«
»Bestimmt ist Lindsay auch da.«
»Lindsay und ich haben Schluss gemacht.«
»Bestimmt ist sie da und tanzt wieder so geil.«
Von diesem Typ krieg ich echt Kopfweh. »Ich tanze nicht, Alter!«
»Stimmt doch gar nicht. Ich hab dich schon tanzen sehen. War gar nicht so schlecht.«
»Halt. Einfach. An.«
Reg tritt auf die Bremse, als die Ampel von Gelb auf Rot schaltet. »Wo willst du hin?«
Ich strecke die Hand nach dem Türgriff aus. »Keine Ahnung, vielleicht … vielleicht schau ich mir einfach das Feuerwerk an«, sage ich, weil mir gerade wieder einfällt, was für ein Tag heute ist.
»Feuerwerk?«
»Genau. Ich hol mir irgendwo an der River Street ein Eis und such mir dann eine Bank. Da setz ich mich dann mit meiner Opa-Mütze hin, um mir mit einer netten alten Dame zusammen das Feuerwerk anzusehen.«
Beide kichern und prusten dann los. »Du willst ein Eis?«, fragt Leo und lässt wieder das Zeug vor meinem Gesicht baumeln. »Ich hab hier was viel Besseres als Eis, Alter.«
Ich schubse seine Hand nach unten und blicke mich rasch um. »Runter damit. Am besten schaust du, wie du das schnellstmöglich los wirst.«
Leo verzieht das Gesicht. »Ist dir klar, wie teuer das Zeug war, Opa?«
»Zu teuer. Offenbar habt ihr nicht mehr viel Hirn übrig, das ihr euch noch wegpusten könnt, also lasst es lieber gleich bleiben.«
Reg dreht sich um. »Okay, jetzt hör mal zu, Austin. Du chillst jetzt und kommst mit zu der Party. Du musst nichts davon probieren und wir halten uns zurück. Einverstanden?«
Ich richte den Blick auf den Sonnenuntergang. Etwas in mir lockt mich nachzugeben. Zu der Party zu gehen. Mich neben Lindsay setzen, den Arm um sie legen und die Vergangenheit vergessen. Vielleicht sogar dem Beispiel von Reg und Leo folgen und den ganzen Mist ertränken mitsamt der harten Wahrheit, wie verkorkst meine Familie ist. »Austin?«, fragt Reg noch einmal.
Meine Finger gleiten über den Türgriff. Ich zögere nie. Niemals. Ich analysiere die Verteidigung, erkenne Lücken in der Deckung, drehe mich kurz um und fange den Ball, bevor ich mich in Sekundenschnelle explosionsartig von der Startlinie wegbewege. Das ist das Einzige, was ich wirklich gut kann.
Und doch sitze ich jetzt hier und zögere. Ganz gleich, was ich sage, Leo und Reg werden das durchziehen. Die beiden sind voll okay. Manchmal so dumm wie Brot und man darf sich von ihrer etwas ruppigen Art nicht täuschen lassen, aber eigentlich sind sie total in Ordnung, wie eigentlich die meisten Menschen.
»Austin?«, fragt Reg noch einmal. »Bist du dabei?«
Meine Hand liegt wie erstarrt auf dem Türgriff. Dann schaltet die Ampel von Rot auf Grün und die Zeit ist abgelaufen. Normalerweise glaube ich nicht an so etwas wie Schicksal. Aber als ich jetzt endlich einen Entschluss fasse, habe ich das seltsame Gefühl, dass dieser Entschluss mein Leben für immer verändern wird.
Ich sollte nicht hier sein, und schon gar nicht alleine. Ich checke mein Handy. Noch immer keine Antwort von Brian. Mit einem Blick auf die untergehende Sonne mache ich mich trotzdem auf den Weg in Richtung River Street. Zu Fuß. Alleine.
Meine Mutter würde ausflippen.
Das schwindende Sonnenlicht fällt durch die ausladenden Zweige der Eichen. Ich scrolle durch die Kontakte auf meinem Handy und drücke auf Anruf. Die wohltönende Stimme zaubert ein Lächeln auf mein Gesicht, bis mir klar wird, dass es nur seine Mailbox ist.
Yo, hier ist Kyle. Peace, Leute.
Ich kann mich gut an Kyles Grinsen erinnern, als er mir zum ersten Mal während Mathe eine SMS geschickt hat.
Hey. Du gefällst mir. Hast du nachher Zeit?
Hatte ich mir je vorstellen können, dass wir drei Jahre später, nach unserem Highschool-Abschluss, immer noch zusammen sein würden?
Ich hinterlasse eine kurze Nachricht, stecke das Handy in meine Handtasche und versuche, nicht auf die Schatten um mich herum zu achten, während ich durch den Emmet Park laufe.
Wenn es nach Mom ginge, dann bliebe ich auch während der gesamten College-Zeit mit Kyle zusammen und würde ihn anschließend heiraten. Im Ernst. Sie fährt voll auf seine Eltern ab: charmant, angesehen, wohlhabend – die perfekten potenziellen Schwiegereltern, zumindest in ihren Augen. Sich in Kyle zu verlieben, war nicht schwer. Sich dann im vorletzten Highschool-Jahr wieder von ihm zu trennen, war dagegen wie während eines Hurrikans schwimmen zu gehen. Aber irgendeine Kraft zog uns nach dem Tod meines Vaters wie Magnete an und brachte uns wieder zusammen.
Erleichtert seufze ich auf, als ich aus dem Park herauskomme und mich unter die Touristenschwärme mische, die von Geschäft zu Geschäft drängen. In meiner Handtasche vibriert es und ich hole mein Handy heraus. »Hallo?«
»Sienna?«, brüllt Brian in dem Versuch, die laute Musik an seinem Ende zu übertönen.
Mit Brian bin ich schon befreundet, solange ich denken kann. Er könnte auch mein älterer Bruder sein, so nahe stehen wir uns. Unsere Mütter sind zusammen in Georgia aufgewachsen, dementsprechend wäre Brian für meine Mutter die zweitliebste Lösung. Mein Leben ist wie ein Navigationsgerät mit einem vorprogrammierten Ziel (und meine Mutter ist die Stimme, die sagt: »Die Route wird neu berechnet«, sobald ich vom Weg abweiche). Langweilig, aber leider wahr.
»Hi, Brian!«
»Wo steckst du?«, fragen wir beide genau gleichzeitig.
Ich muss lächeln. »Du bist auf der River Street, stimmt’s?«
»Nee, leider doch nicht. Sorry. Wir sind auf einer Party bei …« Brians Stimme wird von Rauschen abgeschnitten. »Willst du herkommen?«, kann ich schließlich verstehen. »Du könntest hier die Tanzfläche ein bisschen aufmischen.«
»Wohin?« Meine Stimme hallt wider wie ein ständig unterbrochenes Echo. »Brian?« Ich halte das Handy in die Höhe, in der Hoffnung, dass der Empfang dort besser ist, tänzle mit dem Handy um eine Parkbank herum und ziehe damit garantiert ein paar schräge Blicke auf mich.
»Echt jetzt, du musst einfach kommen …«, sagt Brian, bevor erneut das Rauschen einsetzt. Ich schüttele das Handy und fühle mich wie ein Idiot auf der verzweifelten Suche nach Gesellschaft.
Bei näherem Nachdenken fällt mir dann aber ein, dass ich schon im Herbst auf dem College sein werde und es dann keine friedlichen Augenblicke wie diesen mehr geben wird. Dann wohne ich mit meiner besten Freundin Haylee in einer Wohnung in der Nähe der Uni, direkt um die Ecke von Kyle.
»Hallo, hallo. Bist du noch dran?«, fragt Brian. »Wo steckst du denn jetzt?«
»Auf der River Street«, antworte ich.
Schweigen. »Allein?«
»Komm schon, Brian. Wenn mir jemand zu nahe kommt, dann Wusch, Bäng, Zack, Bumm.« Es ist kaum zu glauben. Wörter wie »Wusch, Bäng, Zack, Bumm« machen sich in meinem Wortschatz breit – ein Beweis dafür, dass ich auf der Fahrt durch drei Bundesstaaten zu lange neben einem Achtjährigen im Auto gesessen habe, der von Action-Figuren besessen ist.
»Soll ich kommen und dich holen?«, fragt Brian.
»Was? Nein.« Fast muss ich lachen, als ich mir sein besorgtes Gesicht vorstelle, wie ein älterer Bruder, der seine kleine Schwester beschützen will. »Das ist total lieb von dir Brian, aber mir geht es gut. Viel Spaß bei deiner Party.«
»Du kommst also nicht?«
»Sorry, nein.«
Brian seufzt. »Okay.«
Mich zwickt das schlechte Gewissen, als ich seine Enttäuschung spüre. »Wir sehen uns dann morgen, ja?«
»Echt?«, sagt Brian mit einem hoffnungsvollen Unterton in der Stimme. »Wie wär’s, wenn wir zusammen zum Strand gehen und uns am Pier ein Hotdog reinziehen?«
»So einen richtig fetten, bei dem meine Mutter die Krise kriegen würde, wenn sie wüsste, dass ich das gegessen habe?«
»Genau.«
Ich lache. »Abgemacht.«
Die Musik im Hintergrund verschluckt seine Worte und unser Gespräch findet ein plötzliches Ende. Ich schmeiße das Handy wieder in die Handtasche und holte tief Luft. Dabei steigt mir der zuckrige Geruch von Vanille und Pekannüssen in die Nase. Der typische Duft der River Street.
Komm, wir schließen einen Pakt.
Die Worte meines Vater, die ich gehört habe, als ich ohnmächtig wurde, kommen mir wieder in den Sinn. Aber was war das noch mal für ein Pakt? Ein scharfer Schmerz durchbohrt mein Herz, als ich denke: Ich fange schon an, ihn zu vergessen.
Ich bemühe mich, diese Gedanken beiseitezuschieben und mich an den einfachen Dingen zu erfreuen: am Gezwitscher der Vögel, an einem Künstler, der den Savannah River malt, an einem Paar Schuhe, das ich mir gerne kaufen würde. Aber dabei trete ich in einen frisch ausgespuckten Kaugummiklumpen, ein Vogel kackt mir auf den Kopf, als wäre ich eine Schießbudenfigur, und bald schon muss ich zugeben, dass sich dieser Ausflug zur River Street nicht wirklich gelohnt hat. Während ich durch den Park zu meinem Wagen zurückgehe und mein einer Absatz bei jedem Schritt am Pflaster kleben bleibt, wird es langsam dunkel. Das Licht der Straßenlaternen wirft Schatten um mich herum. Ich lenke mich mit meinem Handy ab und bemerkte eine SMS von meiner Mutter.
Kannst du auf dem Heimweg ein paar Schokopops mitbringen? Hab ich vergessen. Am besten gleich eine Großpackung.
Oh, Mann. In unserem Wohnzimmer herumfliegende Legosteine sind gar nichts im Vergleich zu dem, was los sein wird, wenn wir keine Schokopops mehr haben. Aber das kann ich Spencer wirklich nicht verdenken. Ohne seinen regelmäßigen Protest würde uns unsere Mutter jeden Morgen eine Schüssel warmen Getreidebrei samt einem grünen (besser gesagt Gras-) Smoothie zum Frühstück servieren.
Erleichterung macht sich in mir breit, als ich die Steinstufen sehe, die zu der Straße hinaufführen, in der ich den Wagen geparkt habe. Siehst du, Mom, kein Grund, dir Sorgen zu machen, denke ich zufrieden.
Den scharfen Pfiff aus der Dunkelheit registriere ich gar nicht richtig, bis sie mir unter dem Dämmerlicht der Straßenlaterne entgegentreten. Es sind zwei. Mir entfährt ein leiser Schrei.
»Na, Süße«, säuselt der eine und zwinkert mir zu. »Lust auf einen kleinen Spaziergang?«
Oh, bitte. Schon beim ersten Wort kann ich den Alkohol in seinem Atem riechen.
Ich weiche einen Schritt zurück und bin selbst überrascht, wie schnell ich mir ein erstes Bild der beiden mache. Knapp 1,80 m der eine, schlabbriges T-Shirt und er stinkt nach viel zu viel Aftershave. Der andere ist locker über dreißig, auch wenn er mit seinem fusseligen Schnurrbart eher wie vierzehn aussieht.
»Entschuldigung«, sage ich und mache Anstalten, um die beiden herumzugehen, doch sie treten zur Seite und versperren mir den Weg.
Stinker boxt Fusselbart spielerisch gegen den Arm. »Ey Mann, die Dame möchte nicht gestört werden.«
Ich nehme das als kleinen Hoffnungsschimmer. Es scheint doch noch Kavaliere zu geben auf dieser Welt, denke ich, kurz bevor er in Gelächter ausbricht. Ich mache einen großen Bogen um sie herum.
»Ach, komm schon, Baby. Wir wollen doch nur spielen. Willst du dich nicht ein bisschen amüsieren heute Abend?«
Ich mache einen großen Schritt über eine matschige Pfütze. »Definitiv nicht.«
Als ich wieder nach vorne schaue, stehen sie schon vor mir und versperren mir wieder den Weg. Ich blicke mich um auf der Suche nach Hilfe. Nach irgendjemandem. Die Angst schlägt mir wie eine Steinschleuder gegen meine Brust.
Ich halte mein Handy fest umklammert und mache mich bereit, loszurennen und einen Notruf abzusetzen, wenn es sein muss. Doch wen soll ich anrufen? Meine Mutter? Unmöglich. Brian würde mir natürlich zu Hilfe eilen, aber anschließend würde er sich göttlich über mich amüsieren, weil ich ihm doch eben erst versichert habe, dass ich alleine zurechtkomme. Und Kyle ist Tausende von Meilen entfernt. Ich könnte natürlich die Polizei rufen, doch das erscheint mir im Augenblick reichlich dramatisch.
Eine Gruppe von Leuten geht in Hörweite durch den Park, aber sie werden von Lachanfällen geschüttelt (vermutlich sind sie genauso besoffen wie diese beiden hier) und merken überhaupt nicht, in was für einer blöden Lage ich mich befinde, und im Ernst, ich werde schon alleine damit fertig. Ich schiebe den Riemen meiner Handtasche auf der Schulter zurecht und stemme eine Hand in die Hüfte, um mich ein bisschen aufzuplustern.
»Hört mal«, sage ich und hoffe, dass ich dabei nicht so verunsichert aussehe, wie ich mich fühle. Fusselbart legt mir den Arm um die Schulter und mir läuft es kalt den Rücken hinunter.
Ich schubste seinen Arm weg. »Hände weg, Fusselbart.« Aus Versehen entschlüpft mir der Spitzname.
Er lacht amüsiert. »Oho, die traut sich was.«
Wusch, Bäng, Zack, Bumm? Was für ein Witz. Ich balle eine Hand zur Faust und überlege, wie viel Schaden ich damit wohl anrichten könnte. Gleichzeitig halte ich meine Handtasche noch fester umklammert und wünschte, ich hätte Pfefferspray oder einen Schirm oder wenigstens High Heels, die ich als Waffe schwingen könnte. Aber wenn ich einfach laut schreie, dann wird das bestimmt jemand hören.
»Komm schon, Süße. Wir wollen doch bloß ein bisschen Spaß haben«, lallt Stinker.
»Ich aber nicht, also lasst mich jetzt endlich durch.«
Fusselbart seufzt. »Och, dann verpasst du ja das Feuerwerk.«
Feuerwerk. Wie erstarrt blicke ich durch die beiden hindurch, während eine unterdrückte Erinnerung gewaltsam von meinem Denken Besitz ergreift. Ich bin wie in Trance. Sprachlos. Gelähmt. Nehme alles um mich herum nur noch wie betäubt wahr.
Bitte nicht. Bitte kein Feuerwerk! Trotz der schwülen Luft bildet sich eine Gänsehaut an meinen Armen, während die entsetzliche Erinnerung nach oben steigt. Als ein lauter Knall meine Ohren trifft, zucke ich zusammen. Ein Lichtblitz erhellt alles und wirft einen roten Schein auf die Gesichter der beiden Männer. Ich schaudere und wage einen Blick auf die fallenden Funken.
Heute ist Freitag, der 5. Juni. Jeden ersten Freitag im Monat erstrahlt ein Feuerwerk am Himmel über der River Street. Über mir zerbersten die Feuerwerkskörper, eine Explosion von Farbe. Es donnert, knistert, zischt. Genau wie in jener Nacht vor fast einem Jahr am 4. Juli, dem Nationalfeiertag. Wir hätten damals eigentlich hier in Georgia sein sollen, doch meinetwegen waren wir das nicht.
Ich sehe uns vor mir, meinen Dad und mich in dem Jeep an jenem Abend. Die Erinnerung trübt meine Sicht. Das Feuerwerk damals war so heftig, dass ich fast spüren konnte, wie es meinen Jeep zum Wackeln brachte, während mein Dad und ich über die Brücke rasten und nicht bemerkten, wie eines der beiden Motorräder, die uns überholten, uns den Weg abschnitt.
Instinktiv riss ich das Steuerrad herum. Viel zu weit. Ich erhaschte gerade noch einen Blick auf die beiden Motorradfahrer, bevor unser Jeep zur Seite kippte, sich überschlug, gegen das Geländer krachte und dann …
Später hieß es, wir wären beim Überschlag auf das Geländer gestoßen und dann direkt darüber hinwegkatapultiert worden und so außer Sichtweite jedweder Augenzeugen geraten. Ich selbst kann mich erst wieder an den Augenblick erinnern, als ich aufwachte, weil mir Wasser in den Mund drang, während der Fluss unseren Jeep verschluckte und die Windschutzscheibe dem Druck nicht mehr standhielt. Das Wasser spülte so schnell herein, dass ich nicht einmal mehr Luft holen konnte.
Der scharfe Geruch des Feuerwerks erfüllt die schwüle Luft, so dicht, dass ich ihn beinahe schmecken kann. Kalter Schweiß dringt mir aus den Poren, genau wie vorhin, als ich das Bild von meinem Vater und mir betrachtet habe und anschließend ohnmächtig geworden bin.
Kleine Punkte fangen an, durch mein Gesichtsfeld zu kreisen. Ein dumpfes Gefühl von Taubheit kriecht meine Arme hinauf und hinab.
Nicht schon wieder.
Dieser bescheuerte Ausflug zur River Street ist nicht nur eine Zeitverschwendung, sondern die reinste Katastrophe. Ich spüre, wie sich eine Hand fest um meinen Arm schließt, aber die Worte und das Gelächter sind ebenso verschwommen wie meine Sicht. Sie zerren mich weiter. Ich atme zitternd ein. »Lasst mich in Ruhe!«
Ich kämpfe gegen sie, doch das Blut weicht aus meinem Kopf und aus meinen Armen und Beinen und macht jeden einzelnen Muskel kraftlos. Ich bin ein albernes, hilfloses Prinzesschen, das nichts zu seiner eigenen Rettung beitragen kann.
»Lasst mich los!« An meiner schrillen Stimme merke ich, wie viel Angst ich habe. Die Sekunden vergehen und ich weiß, dass ich alleine bin.
Aus dem Augenwinkel nehme ich undeutlich wahr, dass sich eine weitere Gestalt nähert, offenbar jemand, der mich gehört hat. Nach meinem Schrei lässt Fusselbart von mir ab, aber dieser Retter in der Not zerrt ihn dennoch fort und stößt ihn zu Boden.
»Hey!«, protestiert Fusselbart und rappelt sich wieder auf. Stinker kommt seinem Kumpel zu Hilfe, packt den Retter am Hemd und brüllt ihm etwas ins Gesicht. Neben diesem Kerl sehen Fusselbart und Stinker aus wie Zwerge. Ich versuche, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, sodass ich diesen Heiligen sehen kann, der mir hier zu Hilfe eilt, aber ich kann an seinen verschwommenen Umrissen nur erkennen, dass er groß und kräftig gebaut ist und eine Baseballcap trägt.
Ich fasse mich am Kopf und versuche, mich zusammenzureißen. Ich bin ganz außer Atem und sauer darüber, wie schwach ich mich fühle, wie hilflos. Wütende Stimmen über mir, knapp und scharf. Das Letzte, was ich noch sehe, bevor meine Beine unter mir nachgeben, ist, wie schnell Fusselbart zu Boden geht, nachdem mein Baseballcap-Held ihm eine verpasst hat.
Mein Dad. Obwohl es jeder Vernunft widerspricht, er muss es sein. Dieses Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Seine Arme, die mich gerade noch erwischen, bevor ich auf dem Boden aufschlage. Er beugt sich über mich und hält mich umfangen.
»Alles okay mit dir?«, ertönt seine Stimme wie ein Echo, kaum hörbar und rasch verhallend.
Dann wird alles von einem hellen Licht verdrängt.
»Alles okay mit dir?«
Beim Klang seiner Stimme krampft sich mein Herz zusammen und mein Kopf schießt in die Höhe. Das blendend helle Licht weicht der Szene vor mir und ich kann ihn jetzt deutlich sehen.
Es ist mein Dad.
Der Anblick seiner tiefen, liebevollen Augen verschlägt mir die Sprache.
Dad deutet auf mein Bein. »Alles okay mit dir?«
Ich schaue nach unten und spüre jetzt erst den Schmerz. Frisches Blut tropft aus einem Schnitt an meinem Bein.
»Oh. Ja, schon …« Meine Stimme versagt. Ich räuspere mich, während die Schwerelosigkeit dieses Augenblicks allen Schmerz des vergangenen Jahres fortsaugt.
Er ist hier. Mag ja sein, dass das alles nur ein Traum ist, aber er ist hier – mein Dad, hinter unserem Haus in Richmond, mit einer Schaufel in einer Hand und einem Glas Apfelsaft in der anderen.
Genauso habe ich ihn auch vor mir gesehen, als ich heute am frühen Abend im Strandhaus umgekippt bin. Ein Hauch von Apfelsaft steigt mir in die Nase, die perfekte Mischung von süß und sauer, und schon ist alles wieder da. Wie vorhin hält er auch jetzt den frisch gepressten Saft von den Äpfeln unserer eigenen Bäume in den Händen. Der Duft ist unglaublich lebendig. Aber wie kann ich zweimal am Tag denselben Traum haben?
Er nimmt einen Schluck, seufzt zufrieden und reicht mir das hohe Glas. Ich blicke mich in dem Garten um, in dem wir stehen. Unser Garten, wo ich früher meine Puppen nach draußen geschleppt habe, um mit ihnen Kaffeekränzchen zu spielen. Hier draußen durfte ich im Matsch spielen, ohne dass meine Mutter dagegen protestieren konnte. Unser Grundstück war immer gepflegt und lieferte eine reiche Ernte. Ich habe nie verstanden, wie Dad das machte. Leben und Glück schienen in seiner Nähe zu gedeihen, und das fehlt mir.
Ich blicke nach unten auf meine erdverkrustete Schaufel, und dabei fällt mir plötzlich wieder ein, dass ich mich damals mit meiner Schaufel am Schienbein verletzt habe. Erinnerungsfetzen flattern herbei, Stück um Stück fügen sie sich zu einem Bild zusammen. Dieser Augenblick im Garten hat sich wenige Stunden vor dem Unfall ereignet. Wie konnte ich das vergessen?
Ich lächele. »Wenn wir nicht ein klein wenig leiden, dann können wir uns später nicht erinnern, weißt du?«
Dad lächelt zurück und reicht mir wieder den Saft.
Kühle Flüssigkeit rinnt mir beim Trinken durch die Kehle, ebenso erfrischend wie die Erinnerungen, die sie hervorruft. Mir fehlen die Worte, ich bin überwältigt von dem, was geschieht. Ich lehne mich gegen den Zaun und beschließe, dieses Wunder einfach zu genießen.
Dad wendet den Blick in Richtung der untergehenden Sonne, die gerade noch durch die dichten Bäume zu sehen ist. »Weißt du, Sienna, es gibt nicht so viele Augenblicke wie diesen.«
Ich nicke, denn was immer hier gerade geschieht, es ist jedenfalls nicht normal. Aber es fühlt sich so echt an. Ich wünschte, es würde für immer so bleiben.
»Komm, wir schließen einen Pakt«, sagt er, und ich komme mir vor, als wäre ich wieder sieben und würde mich mit meiner besten Freundin verbünden. »Lass uns diesen Augenblick in unserer Erinnerung bewahren, ja?«
Der Pakt. Ich blicke mich um, und es fällt mir nicht schwer, die Schönheit dieses Ortes in meine Erinnerung aufzunehmen: der mehrstufige Brunnen, die Apfelbäume, die umrankten Pfosten unseres Gartenhäuschens. Schließlich nicke ich.
»Und wenn mal harte Zeiten kommen«, sagt er, »dann können wir uns diesen Augenblick ins Gedächtnis rufen und uns daran erinnern, was für ein wunderbarer Tag das war.«
Mir schnürt sich die Kehle zu bei dem Gedanken, wer an jenem Abend am Steuer saß: Ich. »In Ordnung. Der Pakt gilt.«
Ich bin so auf meinen Dad fokussiert, dass ich zunächst gar nicht bemerke, wie ein weißer Punkt durch mein Gesichtsfeld huscht, dann zwei, drei. Das Bild meines Vaters verschwimmt und mich überkommt ein heftiges Gefühl von Übelkeit, während ich von ihm und von der gesamten Szene im Garten fortgerissen werde.
»Kannst du mich hören?«, fragt jemand. Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter und eine weitere, die meinen Kopf stützt. In vollkommener Verwirrung schlage ich die Augen auf und nehme die unscharfen Umrisse einer Figur wahr, die sich über mich beugt. Und die Baseballcap.
»Hey, da bist du ja«, sagt derjenige, der mich da hält, und in seiner tiefen Stimme schwingt Erleichterung mit. Mein Herz krampft sich zusammen, als mir klar wird, dass es nicht mein Vater ist. Der Schwindel geht zurück, mein Körper ist wieder in der Gegenwart angekommen. Außer einem pochenden Schmerz in meinem Kopf fehlt mir nichts. Auch mein Schienbein ist unverletzt.
»Uah.« Ein unschöner Laut entfährt meinen Lippen, während die Übelkeit nachlässt. Ich blinzele und mir fällt ein, dass ich nach Hause muss. Ich versuche, mich aufzusetzen, doch noch bevor mir das gelingt, hebt er mich einfach in die Höhe. Verblüfft suche ich nach Halt, indem ich mich an seine Schultern klammere. Und oh mein Gott. Ich spüre seine Muskeln unter meinen Fingerspitzen und ziehe meine Hände zurück, was ich sogleich wieder bedauere.
Ich mache den Mund auf, um ihm zu sagen, dass ich selbst laufen kann, aber dann bemerke ich seine kräftigen Gesichtszüge, das kantige Kinn, und die Verbindung zwischen meinem Denken und meinem Mund löst sich in nichts auf. Mein Blick wandert über seine Lippen zu seinen Augen, dann spielt mein Herz verrückt und setzt einen Schlag aus. So unglaublich blaue Augen, wie ich sie noch nie gesehen habe, erwidern meinen Blick, und ich verliere dabei nicht nur den Faden meiner Gedanken, sondern auch jegliche Kontrolle über meine Gesichtszüge.
Einer seiner Mundwinkel hebt sich zu einer Art Grinsen in die Höhe, wobei sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt ist. Sein Blick wandert von meiner Stirn bis zu meinem Kinn, um schließlich bei meinen Lippen innezuhalten, bevor er mir wieder in die Augen schaut. Er zieht eine Augenbraue hoch. »Alles okay mit dir?«
»J-j-ja.« Meine Stimme hört sich eher an wie das Quaken eines Frosches. »Alles gut. Danke.«
»Sicher?«
»Mm-hm.« Noch ein Versuch, meine Stimme wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ich probiere, den Flirt-Modus zu aktivieren, und setze mein strahlendstes Lächeln auf, während ich ihm versichere: »Der Boden kann gut alleine gehen.«
Er grinst.
»Ich meine. Ich kann gut alleine gehen. Auf dem Boden. Du kannst mich absetzen.« Ich beiße mir auf die Zunge, bevor ich noch mehr Blödsinn rede.
»Na gut«, sagt er zweifelnd. Etwas an der Art, wie er mich hält, und an der Dreistigkeit seines Blicks signalisiert mir, dass ich mich vorsehen sollte.
»Mir geht es gut. Versprochen.«
Endlich setzt er mich ab. Aus seinen Armen befreit, kann ich wieder vernünftig denken und ihn mir in Ruhe anschauen. Dunkles Haar, das unter dem Rand seiner Baseballcap hervorlugt. Dickes Haar. Mindestens 1,90 m. Ein Traumtyp. Zwar bin ich jetzt aus seiner Umarmung befreit, aber mein Herz rattert noch immer so schnell, dass ich befürchte, gleich wieder in Ohnmacht zu fallen, oder was immer da gerade geschehen ist.
Er sieht, wie ich schwanke. »Bist du sicher, dass es geht?«
Ich nicke, auch wenn ich mich fühle wie eine Primaballerina, die soeben von der Bühne gestürzt ist. »Wo sind diese … äh … diese Typen abgeblieben?«
»Die Loser von eben?«, fragt er.
Ich nicke.
Er lächelt. »Die sind abgehauen.«
Kein Wunder. Ein weiterer Blick auf seine – ähem – einschüchternde Erscheinung erklärt auch, warum. Er sieht heiß aus, okay, so heiß, dass es schon fast ungerecht ist. Und dummerweise muss er sich auch selbst drüber im Klaren sein. Er ist einer von dieser Sorte. Er scheint sich über mich lustig zu machen, so als könnte er an meiner Miene ablesen, wie faszinierend ich ihn finde. Ich kann derweil den Blick nicht von seinen blauen Augen wenden und ich fühle mich dabei wie ein Patient beim Zahnarzt nach einer allzu hoch dosierten Betäubung.
Ich fahre mir mit einer Hand durch die Haare und dabei fällt mir plötzlich die Vogelkacke dort wieder ein. Und das Kaugummi an meinem Schuh. Das wird ja immer besser.
Dann zucke ich zusammen, als ich neben meinem Kopf einen Schwarm Mücken bemerke, von denen mir eine direkt ins Auge fliegt.
»Was zum …«, murmele ich.
»Alles okay?«, fragt er. Schon wieder.
»Ja«, lüge ich und beuge mich blinzelnd nach vorne. Dabei mache ich einen Schritt rückwärts direkt in die Matschpfütze hinter mir. Da gibt es nur eine Maßnahme – Anweisung an mich selbst: Abmarsch! Sofort!
Ich rufe mir den eigentlichen Plan in Erinnerung: Schokopops kaufen und anschließend nach Hause fahren. Während mein mückenfreies Auge zwischen diesem tollen Typen und dem Feuerwerk im Hintergrund hin- und herspringt, mache ich mich zum Aufbruch bereit. Ich habe immer einen Plan. Mein Leben ist eine vorprogrammierte Route von A nach B, sicher und vorhersagbar. Vielleicht bin ich deswegen noch nie von ihr abgewichen.
»Danke«, sage ich und wende mich nun wirklich zum Gehen. Allerdings nicht ohne mir noch einen letzten Blick auf sein Gesicht zu gönnen. Mein Magen schlägt Purzelbäume, als ich merke, dass er mich ansieht. Unverwandt. Und zwar keineswegs abschätzig nach dem Motto Was-bist-du-denn-für-eine-bekloppte-Tussi-dass-du-nicht-mal-heil-von-der-River-Street-wegkommst. Nein, sein Blick fühlt sich gut an und hält meine Füße wie festgeklebt an Ort und Stelle. Das Blut schießt mir in die Wangen und gegen meinen Willen verziehen sich meine Mundwinkel nach oben.
Mit einem unsagbar gewinnenden Lächeln, das ihn vermutlich viel Übung gekostet hat, streckt er die Hand aus: »Ich bin Austin.«
Pralines haben mich noch nie in die Irre geführt.
Dieses Mädchen hier ist heiß. Nein, streicht das. Sie ist schön. Und nett. Das ist selten. Und, vielleicht täusche ich mich, aber ich glaube, sie wird sogar rot.
»Danke, Austin«, sagt sie und schaut zu mir auf mit diesen dunklen Augen, von denen eines noch immer zuckt wegen dieser Mücke. Die ist ihr direkt ins Auge geflogen.
»No problem«, sage ich und beuge mich hinunter. »Komm, ich helf dir beim Aufsammeln.«