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Stefan Ummenhofer
Entführt und verloren?
Spektakuläre Fälle von Menschenraub
und Geiselnahme

Stefan Ummenhofer

Entführt und
verloren?

Spektakuläre Fälle

von Menschenraub

und Geiselnahme

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische
Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Leipzig 2015 Lektorat: Caren Fuhrmann

Umschlaggestaltung: Antje Lippold, unter Verwendung eines Fotos von chuntise / istockphoto

Layout und Satz: Ralf Thielicke

Schrift: Sabon LT

Inhalt

Einleitung

Fall 1 Joachim: Die erste Kindesentführung in der Bundesrepublik (1958)

Fall 2 Die ALDI-Entführung (1971)

Fall 3 Der „2. Juni“ und Peter Lorenz (1975)

Fall 4 Die Oetker-Entführung (1976)

Fall 5 In den Fängen der Junta (1977)

Fall 6 Landung in Tempelhof (1978)

Fall 7 Entführt in der Toskana (1980)

Fall 8 Kindesentführungen im Hahnwald (1981)

Fall 9 Schockgefroren (1986)

Fall 10 Im Keller (1996)

Fall 11 Familienbande (1996)

Fall 12 Recht und Gerechtigkeit (2002)

Fall 13 Im eigenen Auto entführt (2003)

Fall 14 Selbstjustiz (2009)

Fall 15 Rätsel über Rätsel (2010)

Fall 16 Entführt – oder doch nicht? (1954)

Anhang

Aus dem Strafgesetzbuch (StGB)

Literaturverzeichnis

Einleitung

Sie gehören zu den spektakulärsten Verbrechen überhaupt – Entführungen.

Das hat unterschiedlichste Gründe. Mit offenem Ausgang ziehen sie sich mitunter über einen längeren Zeitraum hin. Gelegentlich sind prominente Menschen davon betroffen.

Und: Immer wieder haben Entführer gezielt die Öffentlichkeit gesucht und ausgenutzt, um an ihr Ziel zu gelangen.

Entführungen haben also einen hohen „Nachrichtenwert“.

Die Opfer sind meist schnell vergessen. Sie leiden oft ihr gesamtes Leben unter dem Trauma. Ebenso ihre Angehörigen, die in der Zeit der Ungewissheit mitunter unvorstellbare seelische Erschütterungen erfahren.

Was ist eine Entführung?

Früher wurde rechtlich unter einer Entführung ausschließlich eine Vorgehensweise bezeichnet, bei der Frauen betroffen waren und der Täter (außereheliche) sexuelle Motive hatte. Heutzutage gehören zu Entführungsdelikten im deutschen Strafrecht sowohl (erpresserischer) Menschenraub, Geiselnahme, Entziehung Minderjähriger sowie Verschleppung.

Im kriminalistischen Sinne ist Entführung allerdings nicht mit Geiselnahme zu verwechseln. Bei einer Entführung ist der Aufenthaltsort des Opfers im Allgemeinen nicht bekannt, bei einer Geiselnahme hingegen sehr wohl. Und: Während bei einer Geiselnahme das Opfer mehr oder weniger zufällig zu einem solchen wird, ist es bei einer Entführung gemeinhin vorher dazu bestimmt worden.

Seit wann wird entführt?

Entführungen gibt es fast seit Menschengedenken – und relativ früh auch schon systematisch.

Im 17. Jahrhundert wurden Minderjährige von Kriminellen entführt und dann als billige Arbeitskräfte in die Kolonien verkauft. Doch bereits aus der Zeit davor sind Fälle aktenkundig belegt.

Ein berühmtes historisches Beispiel ist der „Altenburger Prinzenraub“, der bis heute in Thüringen Gegenstand szenischer Darbietungen ist. Er zeigt: Auch vor 550 Jahren wurden schon Kinder gekidnappt, um Geld zu generieren. Nur die Folgen für die Täter waren damals gravierender – gleich mehrere Todesurteile wurden vollstreckt.

Der konkrete Fall: Drei schwarz vermummte Täter überwinden in der Nacht zum 8. Juli 1455 mit einer Strickleiter die Mauern des Altenburger Schlosses und rauben die Prinzen Ernst (14 Jahre) und Albrecht (11), Söhne des Kurfürsten Friedrich II. zu Sachsen, genannt Friedrich der Sanftmütige.

Die Täter: Ritter Kunz von Kauffungen, ehemaliger Kommandant des Schlosses und auf Seiten Friedrichs II. am Sächsischen Bruderkrieg 1446–1449 beteiligt. Dort war er in Gefangenschaft geraten und hatte sich gegen die Zahlung von bis zu 4.000 Gulden freigekauft. Als Komplizen an der Entführung waren Wilhelm von Mosen und Wilhelm von Schönfeld, Feinde des Kurfürsten Friedrich II., beteiligt.

Das Motiv: Geld. Kauffungen will seine 4.000 Gulden ersetzt haben. Man plant aus diesem Grund, die Geiseln an die böhmische Grenze zu bringen und von dort aus mit Friedrich II. zu verhandeln.

Der Verlauf: Die Entführer trennen sich. Kunz von Kauffungen und seine Leute nehmen den Prinzen Albrecht mit sich, werden jedoch im Wald bei Elterlein überwältigt und im Kloster Grünhain im Erzgebirge den Behörden übergeben.

Wilhelm von Mosen und Wilhelm von Schönfels, die mit Prinz Ernst unterwegs sind und diesen in einem verlassenen Bergwerksstollen in der Hartensteiner Flur unterbringen, verhandeln daraufhin in der Hoffnung auf freies Geleit.

Das Urteil: Von Mosen und von Schönfels bleiben nach erfolgreichen Verhandlungen straffrei, Kunz von Kauffungen hingegen wird wie mehrere seiner Helfer zum Tode verurteilt und am 14. Juli 1455 auf dem Freiberger Obermarkt enthauptet.

Die Opfer: Die beiden entführten Prinzen schreiben in den folgenden Jahrzehnten Geschichte: Sie gelten als die Begründer der Länder Thüringen und Sachsen, nachdem sie 1485 in der „Leipziger Teilung“ ihr Land vertraglich neu ordnen.

Auch Kunst und Kultur haben sich regelmäßig mit Entführungen beschäftigt. Man denke nur an Mozarts 1782 uraufgeführte Oper „Entführung aus dem Serail“, in der die junge Spanierin Constanze, ihre englische Zofe und ihr Diener geraubt und als Sklaven an den Pascha Selim verkauft werden.

So romantisch und großzügig wie dort, wo Selim den Verschleppten schließlich die Freiheit gewährt, obwohl Constanzes Verlobter sein Todfeind ist, endet es in der Realität freilich nur selten …

Warum werden Entführungen begangen?

Das häufigste Motiv ist: Geld zu erpressen. Opfer werden deshalb immer wieder wohlhabende Menschen beziehungsweise deren Angehörige – oder zumindest Personen, bei denen die Täter Geld vermuten. In jüngster Zeit trifft es außerhalb Europas – etwa in Mexiko – auch zunehmend Otto Normalverdiener.

Laut einer Auflistung des Portals Statista aus dem Jahr 2014 wurde weltweit in 68 Prozent der Entführungsfälle, bei denen Lösegeld verlangt wurde, dieses bezahlt, um die Opfer freizubekommen.

Dreizehn Prozent der Verschleppten kamen ohne Lösegeld frei, neun Prozent wurden gewaltsam (im Normalfall von Polizei oder Militär) befreit. Sieben Prozent der Fälle endeten mit dem Tod des oder der Entführten. In drei Prozent der Fälle gelang dem Opfer die Flucht.

Aus welchen anderen Motiven werden Menschen entführt?

Solche politischer oder religiöser Art etwa – also beispielsweise, um inhaftierte Gesinnungs- oder Glaubensgenossen freizupressen. Da dies im deutschsprachigen Raum mehrfach und vorwiegend in den 1970er-Jahren von Linksterroristen praktiziert wurde und diese sich des Fernsehens als Katalysator bedienten, haben sich diese Fälle – beispielsweise im Zusammenhang mit der Entführung des damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer – besonders ins gesellschaftliche Gedächtnis eingegraben.

Nicht selten liegen bei Entführungen auch sexuelle Motive vor – Ziel ist dann nicht das Geld, das durch das Opfer erpresst werden soll, sondern das Opfer selbst, um dieses zu beherrschen, zu missbrauchen, zu „besitzen“: Das Opfer ist hier nicht Mittel zum Zweck, sondern der Zweck an sich. In solchen Fällen wird es nur selten eine Kontaktaufnahme des Täters mit den Angehörigen des Opfers geben.

Ein weiterer, in einigen Gegenden der Welt gar nicht so seltener Grund: Rache, etwa im Rahmen von Familienfehden.

Es gibt aber auch Fälle, in denen – so paradox es sich anhört – Entführungen stattgefunden haben, um dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen. Ein solcher Fall wird in diesem Buch thematisiert.

Wo wird entführt?

Da gibt es keine Hemmschwellen. Die Opfer werden nicht nur in ihrem eigenen Haus, in ihrem gesellschaftlichen oder beruflichen Umfeld oder auf offener Straße entführt, sondern auch in ihrem Fortbewegungsmittel – sei es ein Privatauto, ein Reisebus, ein Schiff (etwa von Piraten gekaperte Frachter, derzeit primär in Ostafrika) oder ein Flugzeug, wobei dann meist gleich eine ganze Gruppe von Opfern betroffen ist – kriminalistisch betrachtet handelt es sich dann oft um eine Geiselnahme.

Der erste Fall von Luftpiraterie wurde 1931 bekannt, als der US-Pilot Byron Richards in Peru von bewaffneten Revolutionären am Boden bedrängt wurde, sie mitzunehmen. Die folgenschwersten Flugzeugentführungen ereigneten sich bekanntlich am 11. September 2001, als islamistische Terroristen vier vollbesetzte Linienmaschinen in ihre Gewalt brachten, um damit strategische Ziele in den USA zu attackieren.

Wo finden weltweit die meisten Entführungen statt?

Lange Zeit hatte Kolumbien dieses Stigma: Zu Beginn des neuen Jahrtausends verzeichneten die Behörden dort etwa 3.000 Entführungen jährlich. Drogenhandel, Korruption, soziale Ungerechtigkeit – Motive gab und gibt es viele. Guerillaorganisationen hielten dabei immer wieder auch Ausländer – Europäer oder Nordamerikaner – und oft über einen längeren Zeitraum als Geiseln fest. Die Zahl der Entführungen in Kolumbien ist in den letzten Jahren jedoch deutlich zurückgegangen.

Inzwischen hat hier Mexiko die traurige Spitze übernommen. Das wurde bekannt, als das dortige Nationale Institut für Statistik und Geografie (INEGI) für das Jahr 2012 erstmals eine Entführungsstatistik veröffentlichte – mit dem dramatischen Ergebnis, dass in jenem Jahr 105.600 Personen entführt worden waren! Demnach sind insbesondere Entführungen mit vergleichsweise niedrigen Lösegeldforderungen für Kriminelle lukrativ, da in solchen Fällen nur selten die Polizei eingeschaltet wird. 93 Prozent der Fälle werden laut dieser Statistik gar nicht erst angezeigt oder verfolgt.

Und: Vor allem virtuelle Kidnappings nehmen zu. Dabei wird nur vorgetäuscht, dass ein Familienmitglied entführt worden ist, Opfer und Täter bekommen sich jedoch gar nicht zu Gesicht.

In etlichen islamischen Ländern besteht ebenfalls ein erhöhtes Entführungsrisiko – insbesondere für Besucher aus dem westlichen Ausland, die nicht nur als reich, sondern gegebenenfalls aus islamistischer Sicht pauschal als „Ungläubige“ beziehungsweise als Helfershelfer der USA angesehen werden.

In jüngster Zeit wurden beispielsweise aus Nigeria zahlreiche Entführungen ganzer Großgruppen gemeldet – etwa durch die islamistische Terrorgruppe „Boko Haram“, die die Opfer brutalen Maßnahmen bis hin zu Massentötungen unterwirft. Berühmt ist der Fall der im April 2014 entführten knapp 300 Schülerinnen, der bis heute nur ansatzweise geklärt ist.

Auch in der westlichen Welt ist Kidnapping keine Seltenheit – etwa in den USA: Bereits 1975 notierte das FBI 1.500 dieser Delikte. Innerhalb Europas hat vor allem in Italien Entführung eine jahrhundertelange Tradition, wie wir später in diesem Buch noch genauer sehen werden.

Deutschland ist wie auch der Rest Mitteleuropas kein klassisches Entführungsland. Aktenkundig werden jährlich weniger als 100 Entführungen mit Erpressungscharakter. Noch 1998 gab es 149 polizeilich erfasste Fälle von „erpresserischem Menschenraub“. Seither ist nur 2003 mit 102 eine dreistellige Zahl vermeldet worden – inzwischen weist die Statistik recht konstant knapp über 80 Fälle pro Jahr aus. Die meisten davon haben einen direkten Täter-Opfer-Bezug, beispielsweise im Verwandtschaftsbereich. Entführungen mit Lösegeldforderung kommen in Deutschland nur selten vor – doch es gibt sie durchaus.

Die schwächsten Opfer

Besonders emotional sind Entführungen von Kindern, sie stoßen in der Öffentlichkeit auf die größte Resonanz. Die Motive dieser Verbrechen unterscheiden sich zunächst nicht sehr von den Taten mit erwachsenen Opfern. Dies betrifft vor allem die Art der Entführung, bei der von – vermeintlich oder tatsächlich – wohlhabenden Eltern Geld erpresst werden soll.

Als Fall mit dem höchsten Lösegeld wäre hier die Verschleppung der beiden Kinder des Drogerie-Unternehmers Anton Schlecker im baden-württembergischen Ehingen zu nennen, die am 23. / 24. Dezember 1987 gekidnappt und nach einem Tag gegen die Zahlung von 9,6 Millionen D-Mark wieder freigelassen wurden.

Nicht alle dieser Fälle endeten so schnell und für die Opfer vergleichsweise glimpflich – denken wir nur an die zehnjährige Ursula H. aus Eching am Ammersee, die im September 1981 entführt und in eine Kiste im Wald gesperrt wurde, in der sie erstickte. Ursulas Peiniger wurde 27 Jahre nach der Tat gefasst und schließlich zu lebenslanger Haft verurteilt. Auch die Entführer der Schlecker-Kinder landeten – nach weiteren Straftaten – hinter Gittern.

In anderen Fällen werden Kinder von psychisch und sexuell gestörten Tätern entführt, um sich an ihnen zu vergehen.

Ein weiteres Motiv ist die illegale Auslandsadoption: Kinder, vorwiegend in ärmeren Ländern, werden ihren Eltern weggenommen, um sie an kinderlose Paare in der westlichen Welt zu verkaufen. Solche Fälle sind etwa aus dem Tschad (nach Frankreich) oder aus dem mittelamerikanischen Guatemala bekannt.

An der weitaus größten Zahl der Kindesentführungen in Deutschland ist jedoch ein eigener Elternteil beteiligt: Jahr für Jahr werden von ihnen mehrere hundert Kinder ins Ausland genötigt. Häufig sind es binationale Ehen, die scheitern, so dass das Kind ohne Einverständnis des Noch-Ehepartners außer Landes (oder aus dem Ausland nach Deutschland) gebracht wird. 2012 hat das Bundesamt für Justiz 746 neue derartige Fälle bearbeitet. Sie tauchen unter „erpresserischem Menschenraub“ nicht auf, denn den Tätern geht es eher um emotionale als um finanzielle Vorteile.

Rechnet man die Fälle hinzu, in denen ein Elternteil gegen den Willen des anderen das Kind an den neuen Wohnort innerhalb Deutschlands mitnimmt, gehen Experten von bis zu 10.000 solcher „Entführungen“ jährlich aus. Allerdings wird nur ein kleiner Teil davon wirklich zur Anzeige gebracht – sie sind trauriger Alltag abseits von Kriminalstatistiken.

Zurück zur Schwerkriminalität: Der Sicherheitsexperte Jörg Helmut Trauboth hat errechnet, dass bislang in etwa der Hälfte der in Deutschland aktenkundigen Entführungen mit Lösegeldforderung Minderjährige die Opfer waren. Und er führt noch weitere statistische Wahrscheinlichkeiten an: Das Tötungsrisiko für Kleinkinder, so Trauboth, sei in solchen Fällen vergleichsweise gering, da die Täter eine niedrigere Identifizierungsangst hätten. Generell sei dieses Risiko für alle Opfer am Tag der Entführung am höchsten und sinke nach vier Tagen deutlich. Und: Das Entführungsrisiko ist demnach an einem Werktag höher als am Wochenende, weil da offenbar das Opferverhalten weniger gut einzuschätzen ist.

Wer sind die Täter?

Bei diesen handelt es sich – ebenfalls auf den deutschsprachigen Raum bezogen – überdurchschnittlich häufig um einschlägig Vorbestrafte.

Recht selten gehören Frauen zu den Tätern bei Lösegelddelikten. Sie werden eher Entführerinnen aus emotionalem Interesse, beispielsweise mit der Absicht, ein Baby bei sich zu behalten.

Wie viel Zeit vergeht?

Im Gegensatz zu anderen Ländern haben in Deutschland Entführungen bislang nur in Ausnahmefällen länger als einen Monat gedauert, während Opfer in anderen Erdteilen mitunter über Jahre in der Gewalt Anderer bleiben.

Wer hat welches Interesse?

Bei einer Entführung gibt es fast logische Interessenskonflikte: Die Angehörigen der Opfer haben oft eine andere Intention als die Polizei. Sie tun alles, um die Entführten nur schnellstmöglich wieder bei sich zu haben. Die Ermittler hingegen wollen ihrem Auftrag gemäß darüber hinaus auch den oder die Verbrecher fassen. Die deutschen Vorschriften verpflichten die Polizei dazu, im Zuge der Gefahrenabwehr das Leben der Entführten zu schützen und sie zu befreien, außerdem Beweise zu sichern und die Täter festzunehmen. Beteiligt an Ermittlungen bei Entführungen wie bei Geiselnahmen ist inzwischen auch das jeweilige Landeskriminalamt, das die zuständige Polizeidienststelle unterstützt und mit dieser eine Koordinierungsstelle einrichtet.

Die Entwicklungen der letzten 25 Jahre zeigen, dass in Deutschland auch für die Polizei das Leben des Gekidnappten im Zweifelsfall meist Vorrang vor den Fahndungsmaßnahmen hat. Bislang kamen in Deutschland bei Entführungen mit Lösegeldforderungen etwa 90 Prozent der Opfer wieder frei. Bei 90 Prozent liegt auch die Aufklärungsquote in dieser Deliktsparte.

Damit rangiert sie relativ knapp hinter den 95 Prozent, die die Statistik bei den Fällen von Mord und Totschlag als geklärt ausweist.

Was bedeutet: Statistisch lohnen sich Entführungen nicht. Die Statistik indes hält aber wohl kaum einen Täter davon ab …

Die Fälle

Im vorliegenden Buch werden 16 Fälle geschildert, die ganz unterschiedliche Schwerpunkte und Besonderheiten aufweisen. Darunter ist ein Fall, bei dem bis heute nicht feststeht, ob es sich wirklich um eine Entführung handelte oder nicht.

Einige dieser Fälle endeten insofern glücklich, als das Opfer ohne größere körperliche Schäden überlebte, bei anderen mündete die Entführung in eine Tötung.

Einige Verbrechen wurden geklärt, andere nicht.

Gemeinsam ist allen, dass sie einen Bezug zum deutschsprachigen Raum haben.

Dabei wird nicht nur die kriminalistische Sichtweise eingenommen, sondern auch die Opferseite beleuchtet, denn mit Beendigung des Kidnappings ist für das Opfer der Ausnahmezustand im Normalfall längst nicht vorbei.

Interessanterweise zeigt sich, dass manche Täter ebenso wie manche Opfer in unterschiedlichsten Fällen ganz ähnlich reagieren, aber auch gravierende Abweichungen vorkommen. Bekannt ist beispielsweise das „Stockholm-Syndrom“, bei dem das Opfer mit dem Täter irgendwann sympathisiert, meist jedoch nur über einen kurzen Zeitraum in einer psychisch und emotional extrem aufgeladenen Situation.

Die Polizeiarbeit in den vorgestellten Fällen deckt ein breites Spektrum von „vorbildlich“ bis „desolat“ mit reichlich Zwischentönen ab. Über Fakten hinaus soll hier keine Bewertung abgeben werden.

Dieses Buch verzichtet darauf, Fälle vorzustellen, die vermutlich noch im allgemeinen Bewusstsein sind. Dazu gehören beispielsweise die Entführung und Ermordung Hanns-Martin Schleyers durch ein Kommando der RAF im Jahr 1977 und die Verschleppung Deutscher im Ausland durch Islamisten (etwa im Jahr 2000 Familie Wallert auf der philippinischen Insel Jolo oder 2005 Susanne Osthoff im Irak).

Das erste Kidnapping eines Kindes in der Bundesrepublik führt in die Zeit der Adenauer-Ära zurück. Signifikant ist hier, wie dilettantisch der Täter – ein Gelegenheitskrimineller – auftritt. Dies zeigt sich auch in den weiteren Fällen: Meist ist es für das Opfer besser, sich einem „Profi“ gegenüber zu sehen, der nicht zu Kurzschlussreaktionen neigt und der es nach Erpressen des Lösegeldes freilässt.

Die Entführung des ALDI-Nord-Chefs Theodor Albrecht ist eines der bekannteren Verbrechen dieses Genres – und eines, das mit sieben Millionen Mark Lösegeld zu damaliger Zeit völlig neue Dimensionen eröffnet. Bei der Gerichtsverhandlung offenbaren sich durch die Angeklagten gar klamaukhafte Züge. Für das Opfer werden die 18 Tage in Gefangenschaft allerdings zum traumatischen Erlebnis – Theo Albrecht verschließt sich fortan strikt jeglicher Öffentlichkeit. Dieser Fall von 1971 fällt in eine Zeit, in der Entführungen mehr und mehr zu einem Mittel der Geldbeschaffung werden – allerdings zunächst eher im Ausland.

Zum Linksterrorismus führt die Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz. Den Tätern geht es hier nicht um persönliche Bereicherung, sondern um die Befreiung von Genossen. Erpresst werden also nicht primär die Angehörigen des Entführten, sondern der Staat. Neu auch: Die Verhandlungen über die Freilassung und die Kontaktaufnahme mit den Gangstern finden nicht mehr im Geheimen statt, sondern über die Massenmedien. Dies verbindet sich mit der grundsätzlichen Frage: Nachgeben oder nicht? Im Falle Lorenz entschließt man sich aus Sorge um den Politiker zum Nachgeben, ermöglicht so aber Nachahmungstaten.

Die Entführung des Richard Oetker wiederum erinnert an das Kidnapping von Theo Albrecht, mit dem Unterschied, dass das Opfer nicht nur psychisch, sondern auch körperlich schwere Verletzungen davonträgt. Und: Das erbeutete Lösegeld sprengt alle bisherigen Dimensionen, es ist ein zweistelliger Millionenbetrag – 21 Millionen D-Mark. Bei der Schilderung wird besonders die Lage des Opfers beleuchtet. 1976 sind derartige Entführungen in der Bundesrepublik übrigens schon keine singulären Ereignisse mehr.

In einem ganz anderen Umfeld, nämlich dem einer südamerikanischen Militärdiktatur, ereignet sich Fall 5. Hier geht es den Tätern nicht um Geld oder politische Forderungen, sondern schlicht darum, ein Klima der Angst zu erzeugen und eine missliebige Person beiseite zu schaffen. Wie Elisabeth Käsemann erging es etlichen Dutzend jungen, sozial engagierten Deutschen oder Deutschstämmigen, die in Argentinien der Diktatur im Weg waren: Sie gehören zu den „Desaparecidos“ – den Verschwundenen.

Ausnahmsweise hegt der eine oder andere vielleicht sogar etwas Sympathie mit den Tätern beim Fall einer Flugzeugentführung aus dem sozialistischen Polen ins „freie“ Berlin-Tempelhof: Das Geschehen von 1978 wirft ein ungeläufiges Licht auf die damalige Ost-West-Problematik, die auch in der Gerichtsverhandlung und im Strafmaß offenbar wird. Eine solche Entführung durch Ausreisewillige war beileibe kein Einzelfall – und sorgte dafür, dass der Berliner Volksmund die polnische Fluggesellschaft LOT verballhornte …

Es scheint unglaublich: Mit der „Anonima Sequestri“ bekommen wir es sogar mit einer Entführungs-GmbH zu tun. Um 1980 ist Italien nicht nur ein überaus beliebtes Urlaubsland, sondern für manchen beinahe ein Synonym für Kriminalität. Opfer in der Toskana werden die Kinder des bekannten Fernsehjournalisten Dieter Kronzucker. Die ohnehin schon hohen Zahlen spektakulärer Entführungsfälle steigen im Land der Sehnsucht in jenen Jahren exorbitant an.

Doch auch in Deutschland nehmen sie zu Beginn der 1980er weiter zu: Das müssen binnen weniger Monate auch zweimal Kinder aus dem gut situierten Kölner Stadtteil Hahnwald erleben. Die Kidnappings laufen unterschiedlich ab – und exemplarisch verschiedenartig sind auch die Vorgehensweisen und Fahndungserfolge der Polizei.

Während es bei den Hahnwald-Entführungen um Geld geht, steht beim Kidnapping des kleinen Sascha fünf Jahre später ein asozialer Außenseiter im Mittelpunkt. Er verschleppt den Jungen unter anderem, um ihn zu missbrauchen. Und: Im Gegensatz zu den Kölner Fällen will er gar nicht mehr, dass das Opfer ihn irgendwann wieder verlässt.

Die aus Opfersicht wohl am besten und reflektiertesten dokumentierte Entführung ist die des Hamburger Philologen und Millionenerben Jan Philipp Reemtsma. Seine Tage im Keller lassen erahnen, was in einem Opfer vorgeht – zumindest in einem, das als Intellektueller fühlt und einordnet – und natürlich dennoch die gleichen Ängste und Tiefen aussteht wie jeder andere, der auf einem solchen Wege brutal seiner Freiheit beraubt worden ist. In diesem Fall zeigt sich anschaulich der Interessenskonflikt zwischen Angehörigen und Polizei.

Noch brutaler endet im selben Jahr die Verschleppung des Jakub Fiszman. Die Entführung des Geschäftsmannes mündet nicht nur in den kaltblütigen Mord eines Gewohnheitsverbrechers, sondern lässt auch auf der Seite der Täterkombination Vater-Sohn in einige Abgründe blicken.

Was kann man tun, um ein entführtes Kind zu retten? Beim vermissten elfjährigen Jakob entschließt sich die Polizei, dem Täter mit Gewalt zu drohen, wenn er das Versteck des Jungen nicht preisgibt. Richtig? Falsch? Eine lebhafte Diskussion, bei der sich die Mehrheitsmeinungen der Bevölkerung auf der einen und die der Juristen sowie der Medienschaffenden auf der anderen Seite diametral gegenüberstehen.

Bei fast allen hier geschilderten Entführungen ist ein Motiv offenbar – in Fall 13 nicht. Eine zurückgezogen und unauffällig lebende Frau wird unmittelbar vor Dienstbeginn in ihrem eigenen Auto entführt und dann ermordet. Ein Sexualtäter? Das glaubt die Polizei nicht. Ein zufälliges Aufeinandertreffen? Auch eher nicht. Der Fall bleibt rätselhaft – und unaufgeklärt.

Die Frage der Gerechtigkeit ist ähnlich wie in Fall Fiszman auch in Fall 14 virulent: Dort ist die Tötung eines Kindes allerdings schon geschehen und es geht darum, wie man den mutmaßlichen Täter der Justiz zuführt. Der Fall zeigt auch, wie unterschiedlich die Rechtssprechung im vereinten Europa ausfallen kann.

Unaufgeklärt ist der vermutlich mysteriöseste Fall der letzten Jahre. Warum wurde die Bankiersgattin Maria B. am hellichten Tag gewissermaßen vor den Augen der Nachbarn aus ihrem Haus in Heidenheim entführt? Und warum wurde sie kurz darauf ermordet? Der Fall B. beweist deutlich: Nicht nur die Opfer selbst, sondern auch ihre Familien leiden unter einem Verbrechen in manchmal kaum vorstellbarer Weise.

Gewissermaßen als Appendix wird ein Fall vorgestellt, bei dem heute noch nicht sicher ist, ob es sich tatsächlich um eine Entführung oder um ein freiwilliges Verschwinden handelt. Juristisch ist das vermeintliche Opfer bis heute der Täter – der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz Otto John soll sich 1954 freiwillig in die DDR abgesetzt haben. Oder muss man die Einschätzung inzwischen revidieren?

Das vorliegende Buch stützt sich auf bereits veröffentlichtes als auch unveröffentlichtes Material.

Dies betrifft zumeist Ausgaben von Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen, TV-Berichte sowie Archive von Agenturen.

In zweiter Linie – dies gilt primär für die eher unbekannten Fälle – sind die Quellen andere Archive sowie Ermittlungsakten der Polizei, in die Einblick genommen werden konnte, außerdem Gespräche mit ermittelnden und teilweise im Ruhestand befindlichen Beamten, denen ich an dieser Stelle ganz besonders danken möchte.

Da das Buch keine im klassischen Sinne wissenschaftliche Arbeit ist, wurde – auch der Lesbarkeit wegen – auf die Zitierweise wissenschaftlicher Publikationen verzichtet. Einzelquellen werden jedoch im Text vermerkt, im Anhang sind die konsultierten Medien aufgelistet.

Handelnde Personen werden in diesem Buch dann mit vollem Namen genannt, wenn es sich um Personen des öffentlichen Lebens (z. B. Jan Philipp Reemtsma) oder um Personen der Zeitgeschichte (z. B. die RAF-Terroristen) handelt oder wenn sie entsprechende öffentliche Funktionen in dem jeweiligen Fall bekleidet haben (ermittelnde Beamte, Richter etc.).

In den anderen Fällen – zumal in denen, in die Kinder involviert waren – wird der Nachname abgekürzt, um die Rechte sowohl der Betroffenen als auch der Angehörigen zu schützen.

Fall 1

Joachim – Die erste Kindesentführung in der Bundesrepublik

Tatzeit:

15. April 1958

Tatort:

Stuttgart-Degerloch

Opferversteck:

Leichenversteck im Stuttgarter Waldgebiet zwischen Sonnenberg und Kaltental

Entführungsdauer:

Opfer wird direkt nach der Entführung ermordet

Urteil:

Keines, Täter begeht Selbstmord

 

Kindesentführung, das ist im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik 1958 ein Begriff, der nichts mit dem realen Leben zu tun hat. Kidnapping, so etwas kommt vielleicht in den USA vor, aber in Deutschland?

Wir schreiben Dienstag, den 15. April 1958. Der siebenjährige Joachim Goehner wächst ohne größere Sorgen auf. Sein Vater René ist ein wohlhabender Textilkaufmann, die Familie bewohnt eine Villa im noblen Stuttgarter Stadtteil Degerloch am Südrand der Landeshauptstadt auf der Filderebene.

Joachim gilt als aufgeweckter Junge.

An diesem Dienstagmorgen, einen Tag vor seinem ersten Schultag, verlässt er sein Elternhaus, um sich mit einem Spielkameraden zu treffen. Später am Vormittag, Joachim spielt gerade allein, spricht ihn ein unbekannter Radfahrer an – mit einem verlockenden Angebot: Er könne ihn zu ein paar zahmen Rehen bringen, die der Junge auch anfassen dürfe. Joachim liebt Tiere und lässt sich deshalb auf den Gepäckträger des Rades setzen.

Der Mann fährt ihn in ein nahe gelegenes Waldstück. Doch der Siebenjährige wird dort, im Haldenwald, keine Rehe finden.

Der Täter wird später aussagen, er habe das Kind sofort erdrosselt. Und: Er wird berichten, ein zuvor von ihm angesprochener Junge habe von den Rehen nichts wissen wollen.

So trifft es Joachim.

Als dieser zum Mittagessen nicht zuhause in der Löwenstraße auftaucht, machen sich seine Eltern große Sorgen. Sein Vater alarmiert umgehend die Polizei. Beamte durchkämmen im Verlauf des Dienstags den ganzen Stadtteil Degerloch, doch der Siebenjährige bleibt verschwunden.

Während die anderen Kinder des Jahrgangs am Mittwoch, 16. April 1958, eingeschult werden, wartet das Ehepaar Goehner den ganzen Tag über verzweifelt auf ein Lebenszeichen seines Sohnes.

Kurz vor Mitternacht wird durch einen Anruf klar: Joachim ist das Opfer einer Entführung geworden! 15.000 Mark solle René Goehner zahlen, dann bekäme er seinen Sohn zurück. Und der Anrufer warnt: Keine Polizei!

Diese geht jedoch längst im Hause der Goehners ein und aus. Sie schließt ein Tonbandgerät an das Telefon der Familie an. Der Anschluss wird von einem Beamten im Stuttgarter Fernsprechamt dauerhaft überwacht, um den nächsten Erpresseranruf möglichst schnell zurückzuverfolgen.

Zuständig für die Fahndung ist die Dienststelle D 1, verantwortlich Kripo-Chef Kriminalhauptkommissar Kurt Frey. Dieser betreibt die Suche nach Joachim zunächst mit seinem Team unter Geheimhaltung – auf eine Öffentlichkeitsfahndung soll verzichtet werden.

Beim zweiten Anruf des unbekannten Täters bestätigt sich der polizeiliche Verdacht, dass sich der Mann von einer öffentlichen Telefonzelle aus meldet. Der Erpresser befiehlt René Goehner, mit seinem Auto und den 15.000 Mark in Richtung Vaihingen zu fahren. Auf dieser Strecke werde man ihm den Übergabeort des Geldes mitteilen – und zwar durch eine versteckte Botschaft.

Doch etwas läuft schief, die Übergabe scheitert.

Die Polizei intensiviert derweil die Fahndung, doch ist sich über die Methoden uneins: Soll man alle öffentlichen Fernsprechzellen in Stuttgart überwachen lassen, bis der Täter wieder anruft? Mehrere hundert sind es, und das hieße, es müsste polizeiliche Verstärkung aus anderen Städten angefordert werden.