Titelbild
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www.piper.de

ISBN 978-3-492-30794-9

November 2015

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München. www.ava-international.de

Covergestaltung: bürosüd°, München

Covermotiv: Hiroshi Higuch/Getty Images (Mühle)

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1. Herbert

Tosend fegte der Sturm über den Schwarzwald.

Knarzend versuchten die Fichten, dem Wind mit aller Macht standzuhalten. Klaus Riesle kam das Geräusch vor, als würden die Bäume unter der Kraft der Natur stöhnen. Es war ein fast apokalyptisches Szenario – und er mittendrin.

Immer wieder drückte er auf den Auslöser, machte Fotos von den Bäumen, welche die Böen bereits umgerissen hatten. Dann stellte er seine Digitalkamera auf Videomodus um. Das war mühsam – er konnte selbst kaum das Gleichgewicht halten.

Er filmte dennoch, wie die Fichten und Tannen sich bedrohlich zur Seite neigten. Wie Äste herunterstürzten und umherflogen.

Klaus Riesle war leidenschaftlicher Lokaljournalist und so in seinem Element, dass er ganz vergaß, welcher Gefahr er sich aussetzte.

Der Sturm, den die Meteorologen angekündigt hatten, war zu einem handfesten Orkan angewachsen.

Wie hatten die Wetterfrösche ihn gleich noch mal genannt?

Heinrich? Holger?

Nein, der hieß anders. Aber wie?

Riesle kam einfach nicht mehr darauf.

Der Sturm schien nun fast auf seinem Höhepunkt zu sein. Klaus hielt es für den perfekten Zeitpunkt, einen Onlineaufsager für die Homepage des ›Schwarzwälder Kurier‹ zu machen. Der Zeitungsmann im Wald, stets im Dienst für die Abonnenten, im Kampf mit den Naturgewalten.

Leserservice pur.

Vor ein paar Jahren wäre er, der Printjournalist, nicht mal im Traum auf so eine Idee gekommen. Doch in Zeiten von Facebook und Twitter musste selbst ein altgedienter Haudegen wie Klaus Riesle flexibel sein, im Stile eines Fernsehkorrespondenten agieren und alles möglichst schnell online stellen, auf Facebook mit Fotos und Einträgen ›geliked‹ werden und auf Twitter so viele ›Follower‹ wie möglich hinter sich bringen.

Es reichte nicht mehr, nur einen knalligen Aufmacher in der Printausgabe des nächsten Tages zu haben. Die Zeitungen standen unter gewaltigem Druck – und damit auch Riesle. Die Online-›Community‹ wollte bedient werden.

Die jüngeren Kollegen machten das schon mit großer Selbstverständlichkeit, der Endvierziger durfte da nicht nachstehen.

Und so hatte Klaus in der Sturmnacht nichts mehr im Bett gehalten. Den Morgen abwarten, um dann die Schäden der Nacht und eine ›Schneise der Verwüstung im Schwarzwald‹ – wie seine geistige Schlagzeile praktisch schon feststand – zu dokumentieren, das wäre zu spät gewesen.

Nein, er musste die Atmosphäre einfangen, als Erster und hautnah dabei sein, wenn dieser Orkan den halben Schwarzwald abholzte.

Also hatte er genau das getan, wovor Radio-Kollegen eindringlich gewarnt hatten: »Bleiben Sie am besten zu Hause, meiden Sie vor allem Parks und Waldgebiete. Es besteht höchste Unwetterwarnstufe«, hatte der Nachrichtensprecher am Vorabend mit alarmierendem Unterton verkündet. Klaus hatte das nicht geschert.

Er fühlte sich nun wie ein Friedhelm Brebeck zu seinen Kriegsberichterstatterzeiten in Sarajevo. Brebeck waren die Granaten und Geschosse um die Ohren geflogen, bei Riesle war es das Sturmholz.

Für eine gute Story musste ein Journalist auch schon mal Leib und Leben riskieren, um zu dokumentieren, wie gefährlich Krieg war.

Oder eben Sturm.

Er, Klaus Riesle, war aus diesem Reporterholz geschnitzt, bei dem man bis an die absoluten Grenzen ging. Und ja, er war stolz darauf.

Genauso tickte er übrigens auch als selbst ernannter Privatermittler. Vergangenes Jahr hatte er für eine gute Story und die Aufklärung eines Mordfalls in Italien sogar eine Leiche bei einem Bestatter geraubt und im Wohnwagen seines Freundes Hubertus untersucht. Natürlich war das riskant und alles andere als legal gewesen – dafür aber kreativ und unkonventionell.

Aber wie verdammt noch mal hatten die Wetterleute diesen Sturm getauft, der sich über dem Atlantik zusammengebraut hatte und nun dem Schwarzwald schwer zusetzte?

»Horst? Herrmann?«, murmelte er weiter Namen vor sich hin.

Nein, anders. Er wusste nur, dass es ein männlicher Sturm war und der Name mit einem H begann.

Bis Ende des letzten Jahrtausends hatten die Stürme noch durchweg weibliche Namen gehabt. Vermutlich hätte Klaus sich diese dann besser merken können, weil auch die eine oder andere Exfreundin wie einer der Stürme geheißen hätte.

Inzwischen waren die Meteorologen aber dazu übergegangen, mit männlichen und weiblichen Namen für Hochs und Tiefs abzuwechseln. Frauenverbände hatten sich darüber echauffiert, dass immer nur weibliche Namensgeberinnen fürs schlechte Wetter verantwortlich seien. Gab ja auch keine dringenderen Probleme …

Auf jeden Fall waren dieses Jahr bei den Tiefs die Männer dran.

Aber es gab eben verdammt viele männliche Vornamen – auch mit H…

Klaus machte sich bereit für den Aufsager. Er stellte seinen Fotoapparat auf ›Selfie‹-Modus um, suchte sich als Hintergrund eine Stelle aus, wo einige Fichten schon vom Sturm umgerissen worden waren. Der Journalist streckte den Arm weit aus, überprüfte im Display, ob der Hintergrund beeindruckend genug war, und legte los:

»Liebe Leser des ›Schwarzwälder Kurier‹. Ich befinde mich im Villinger Stadtwald, sozusagen im Auge des Orkans …« Er stockte, weil ihm der Name des Sturms immer noch nicht einfiel. »Hinter mir sehen Sie immense Verwüstungen. Allein der Schaden hier im größten Stadtwald Süddeutschlands dürfte in die Millionen gehen. Über die exakte Schadenshöhe, die der Sturm …« Wieder stockte er. »… insgesamt angerichtet hat, kann man bisher nur spekulieren. Es herrscht Ausnahmezustand. Bei diesem Wetter draußen zu sein, ist lebensbedrohlich. Bleiben Sie unbedingt zu Hause, meiden Sie Wälder und Parks. Klaus Riesle, ›Schwarzwälder Kurier‹ Villingen-Schwenningen!«

Es klang wie: »Klaus Riesle, CNN Washington.«

Und: Als habe er gerade den Dritten Weltkrieg verkündet.

Für eine Probe war der Aufsager gar nicht schlecht gewesen. Aber wenigstens einmal sollte er den Sturm schon bei diesem verdammten Namen nennen.

»Hartmut, Harald, Hans?«, machte Klaus mit dem Namedropping weiter.

»Nein, nein«, zischte er und ging vor einem Ast in Deckung, der von einer Sturmböe nach unten gedrückt wurde.

Außerdem wäre es schon gut, wenn er seinen Aufsager mit ein paar aktuellen Informationen zu den Auswirkungen des Sturms spicken könnte.

Er schaute auf sein Smartphone. Einen Balken zeigte das Telefonnetz gerade mal an. Klaus startete den Internetbrowser und starrte auf das Display. Er wartete und wartete, doch die Startseite wollte sich einfach nicht aufbauen.

Wenigstens für ein Telefonat sollte das dünne Netz aber reichen.

Wen würde er um diese Zeit anrufen können? Er schaute auf die Uhr – 05: 01.

Klaus musste nicht lange überlegen. Selbst in der Zentralredaktion des ›Schwarzwälder Kurier‹ würde um diese Uhrzeit noch keiner sein.

Aber: »Lehrer müssen ja eh früh aufstehen, wenn sie nicht gerade mal wieder Urlaub haben«, sagte sich Riesle und wählte die Nummer seines Freundes Hubertus.

Hubertus? Nein, so hieß der Sturm auch nicht. Hundertprozentig nicht.

Die Telefonverbindung kam zustande. Während das Freizeichen ertönte, machte Riesle mit der Suche weiter: »Hennes? Horge? …«, war er nun mittlerweile schon bei selteneren Namen angelangt. Von allein kam er wohl nicht mehr drauf.

Nach dem achten Frei – endlich ein Lebenszeichen: »Hummel«, meldete sich schlaftrunken und mit kratzender Stimme sein Freund.

»Riesle! Klaus Riesle am Apparat. Einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich!«, rief der Journalist überfreundlich. Dann erhob er die Stimme, da der Orkan gerade wieder pfeifend zu einem neuen Höhepunkt ansetzte.

»Sorry, Huby, aber du warst ja sicher schon wach! Ich brauche mal dringend deine Unterstützung.«

Hubertus schaute auf die Wanduhr im Wohnzimmer.

»Sag mal, hast du sie noch alle?«, hob er dann zu einem Satz an, der schon zu einer Standardformel zwischen den beiden geworden war. Meist von Hummel in Richtung des Journalisten ausgesprochen, wenn der mal wieder Grenzen überschritt.

Klaus Riesle war der älteste Freund von Hubertus. Und der Lehrer und Oberstudienrat hatte schon öfter – meist mehr oder weniger unfreiwillig – zusammen mit dem Journalisten bei Mordfällen ermittelt und Täter überführt. Sie waren ein gutes Team, aber grundverschieden.

Hubertus war einigermaßen gebildet, belesen, legte Wert auf gute Umgangsformen und war der Analytiker unter den beiden. Zumindest war das Hummels Einschätzung.

Klaus Riesle verkörperte sozusagen das Gegenteil. Er war eher praktisch veranlagt, wies – vorsichtig ausgedrückt – gewisse Bildungslücken auf, hatte ein mitunter recht proletarisches Auftreten. So sah ihn jedenfalls Hubertus.

›Intellektuell‹ war für Klaus eher so etwas wie ein Schimpfwort. Das einzige Buch, das Riesle jemals ganz durchgelesen hatte, war ein Karl-May-Schinken in seiner Jugend gewesen. ›Durchs wilde Kurdistan‹!

Er kokettierte offen damit.

»Bücher sind nichts für mich«, schwadronierte er stets. »Mich interessiert nur das wahre Leben.« Was regionale Themen anbelangte, war er zweifelsohne immer bestens informiert.

Hubertus kam sein Freund manchmal vor wie ein kleiner Lausbub. Er wusste einfach nicht, was sich gehörte: Da klingelte man eben schon mal jemanden um fünf Uhr morgens aus dem Bett, als sei man die 24-Stunden-Hotelrezeption.

»Weißt du eigentlich, wie viel Uhr es ist?«, schimpfte Hummel.

»Du musst doch eh bald in den Unterricht. Jetzt mach hier mal nicht so einen Wind …«, rief der Journalist gegen den Sturm an und schmunzelte über die Doppeldeutigkeit seiner Worte.

»Ich brauche dringend deine Hilfe, Alter. Schnell!«

»Alter …«, wiederholte Hummel verächtlich. Dieses Wort mochte bei seinen Fünft- und Sechstklässlern die Modeanrede sein. Von seinem erwachsenen Freund wollte er aber so am wenigsten genannt werden.

»Sag mal, du bist also um diese Zeit schon draußen? Alter?«, parierte Hummel, dem die Sturmgeräusche durch das Telefon nicht entgangen waren. »Wo treibst du dich denn herum bei dem Wetter?«

»Germanswald Villingen. In der Nähe der Blockhütte der Georgspfadfinder. Erdbeerhagweg. Hier knicken mächtige Fichten wie Strohhalme um«, dramatisierte Klaus etwas.

»Du bist ja verrückt! Mach, dass du nach Hause kommst!«

»Huby, ich brauche dringend ein paar Informationen«, ignorierte Riesle den Einwand. »Ich mache gerade einen Selfie-Aufsager für unsere Homepage, habe aber keinen Internetempfang. Du weißt doch: Die Funklöcher im Schwarzwald mal wieder. Wie heißt dieser verdammte Sturm noch mal? Und organisier noch kurz ein paar Infos über die bisherige Schadenshöhe, Spitzenwindgeschwindigkeiten et cetera!«

»Selfie-Aufsager«, spuckte Hubertus das Wort förmlich aus. Gerade als Deutschlehrer störten ihn diese zunehmenden Anglizismen.

Riesle drängte: »Schnell! Ich hab hier fast kein Netz! Schau mal im Internet nach – oder meinetwegen im Videotext, wenn das für dich altersgemäßer ist …«

»Herbert«, sagte Hummel nur trocken, der im Gegensatz zu Riesle noch klassische Mediengewohnheiten hatte – inklusive der Tagesschau um 20 Uhr. Den Namen hatte er sich gemerkt, auch weil sein Lieblingsonkel so geheißen hatte.

»Herbert! Genau! Wusste ich doch, dass es ein männlicher Vorname und einer mit H… Huah!!!«

In dem Moment brach die Leitung ab.

Hatte der Sturm gerade noch mal aufgeheult, oder war das ein Ächzen von Klaus gewesen?

Vermutlich der Sturm, redete sich Hubertus ein, versuchte einen Rückruf, doch es meldete sich nur die Mailbox.

Er taperte vom Wohnzimmer wieder in Richtung Bett, änderte jedoch dann seinen Weg in Richtung Dusche.

Mist! Jetzt war er wach.

Die Geräusche, die von draußen kamen, hörten sich wirklich bedrohlich an.

Hoffentlich nimmt das Haus keinen Schaden, dachte sich Hubertus.

Und Klaus natürlich auch nicht.

War es wirklich der Sturm gewesen, der die Leitung gerade unterbrochen hatte? Oder das wacklige Schwarzwälder Handynetz?

Je länger das Wasser in der Dusche über seinen Kopf lief, umso stärker überkam ihn die Gewissheit: Klaus musste aufgestöhnt haben, als die Leitung abbrach.

Ist wohl besser, wenn ich ihn noch mal anrufe, dachte Hummel, während er sich abtrocknete, was bei seiner Leibesfülle einige Minuten dauerte.

Nun schaute er doch noch rasch auf sein Tablet.

Tablet – wieder ein Anglizismus.

Die Nachrichtenagenturen überboten sich mit dramatischen Sturmmeldungen. Er staunte über Spitzenwindgeschwindigkeiten von mehr als 200 Stundenkilometern.

Hubertus ging zurück zum Telefon, tippte auf den Eintrag ›Klausi mobil‹ und wartete das Freizeichen ab.

Doch wieder ging nur die Mailbox ran: »Klaus Riesle. Reporter im Einsatz für den ›Schwarzwälder Kurier‹. Leider nur der automatische Klaus. Ich bin wohl gerade mal wieder unterwegs. Bitte hinterlassen Sie …«

Hummel unterbrach die Leitung, machte einen erneuten Versuch, doch wieder meldete sich nur der AB. Er wurde so langsam unruhig.

Erdbeerhagweg, hatte Klaus gesagt.

Bei den Georgspfadfindern.

2. Bolizeirevier VS

»Bolizeirevier VS«, meldete sich kurz darauf eine dunkle Stimme im Dialekt. Der Beamte schien nicht mehr Worte machen zu wollen als unbedingt notwendig. Typisch Schwarzwälder.

Villingen-Schwenningen, die schier unaussprechliche Doppelstadt mit dem Kürzel VS, war dem Polizisten wohl zu lang, nachdem er an diesem frühen Morgen bereits Dutzende Anrufe besorgter Bürger hatte beantworten müssen.

»Hubertus Hummel, Villinger Südstadt«, meldete sich der Lehrer und geriet ins Stocken. Wie konnte er dem Polizisten die Notlage seines Freundes am eindrucksvollsten erklären?

»Jo, und?«, fragte der Polizist schon reichlich ungeduldig. Er schien gedanklich bereits beim nächsten Anrufer zu sein.

»Ich … ich rufe an wegen des Sturms.«

Schweigen.

»Do wär ich jetzt nie drauf komme … Sie machet sich sicher Sorge. Des isch aber nit nötig. Bleibet Sie daheim, do sind Sie sicher.« Den Satz hatte sich der Beamte offensichtlich schon für alle Anrufer zurechtgelegt.

»Ich rufe nicht meinetwegen an«, kam Hummel nun aus der Reserve. »Sondern wegen meines Freundes. Der befindet sich im Wald. Ich habe vorhin mit ihm telefoniert. Da ist plötzlich die Verbindung abgebrochen. Und ich meine, auch noch gehört zu haben, wie er aufgestöhnt hat. Es kann natürlich auch am Handyempfang oder am Akku …«

»Es könnt also theoretisch sein, dass Ihr Freund aufg’stöhnt hat, hab ich des richtig verstande?«

Es schien weniger eine Frage als ein Vorwurf zu sein.

»Richtig!«

»Möglicherweise war aber auch nur de Handyakku leer, richtig?«

»Richtig!«

»Und was solltet mir Ihrer Meinung nach jetzt mache?« Das Frage-Vorwurf-Spiel ging weiter.

»Könnten Sie vielleicht mal sicherheitshalber einen Streifenwagen schicken, um zu überprüfen, ob meinem Freund auch nichts zugestoßen ist?«, sagte Hubertus schon recht leise in dem Gefühl, wenig überzeugend zu sein.

»Also erschtens«, legte der Beamte nun richtig los, »frag ich Sie, ob Sie eigentlich wisset, was bei uns hier g’rad los isch, guter Mann? Mir krieget praktisch sekündlich Anrufe von Bürgern, die sich Sorge um ihr Hab und Gut machet. Zweitens schicket mir nit ei’fach SICHERHEITSHAAALBER« – der Polizist überbetonte das Wort in tiefstem Schwarzwälder Dialekt – »en Streife’wage in de Wald, wo’s jetzt sehr gefährlich isch. Von SICHERHEIT kann da jedenfalls keine Rede mehr sein, denn mir dätet damit meine Kollege ohne größere Not in Gefahr bringe. Drittens frag ich Sie jetzt, was Ihr Freund um die Zeit im Wald treibt. Hat der denn keine Nachrichte g’hört?«

Nun fühlte sich Hubertus schon so, als sei er derjenige, der sich gegen jede Vernunft in den Wald begeben hatte.

»Er ist Reporter beim ›Schwarzwälder Kurier‹. Und Sie haben natürlich vollkommen recht: Das ist leichtsinnig. Deshalb haben wir uns auch gestritten. Aber könnten Sie vielleicht nicht trotzdem jemanden schicken? Mein Freund sagte vorhin noch, er befinde sich beim Erdbeerhagweg im Stadtwald bei den Georgspfadfindern«, nahm Hubertus nun einen erneuten Anlauf – schon in der Gewissheit, nichts zu erreichen.

»So, so, Sie habet sich mit Ihrem Freund gestritte.« Der Beamte schnaufte kurz, aber tief durch. »Also höret Sie: Mir könnet uns jetzt nit um Ihre Beziehungsprobleme kümmern, jo? Und dass bei dem Sturm schon mal ä Telefonat abbricht, wundert mich gar nit. Dann rufet Sie ihn halt einfach noch mol an, gell?«

Das »gell«, das einem hochdeutschen »nicht wahr« gleichkam, betonte der Beamte derart schrill, dass nun endgültig deutlich wurde: Er hielt Hubertus ganz offensichtlich für einen Spinner. Die »Beziehungsprobleme« hatte er zudem mit einem seltsam anzüglichen Unterton versehen.

»Nein, nein, Sie verstehen mich falsch«, beeilte sich Hubertus zu betonen. »Das ist nicht so eine Beziehung. Ich meine, ich habe keine Beziehung zu meinem Freund. Puh … Das heißt, schon. Aber nicht so eine. Und ich habe natürlich schon ein paar Mal versucht, ihn zu erreichen. Sonst hätte ich Sie ja nicht angerufen.« Hummels Gemütszustand glich nun einer Mischung aus Verlegenheit und Ärger.

»Des geht mich auch gar nix an. Des isch Ihre Privatsache. Also: Des wird sich schon aufkläre. Und falls nit, könnet Sie ja noch mol später anrufe, gell? Wenn der Sturm ä wen’g abflaut. Dann könnet mir noch mal nach Ihrem Freund schaue, gell?« Der Beamte fiel nun in einen aufgesetzt freundlichen Singsang, der keineswegs freundlich, sondern eher abwimmelnd gemeint war.

Hubertus wurde klar, dass jedes weitere Wort sinnlos gewesen wäre. Er steckte bereits in der Schublade mit der Aufschrift ›Spinner, Querulanten, Simulanten‹.

»Ist gut, danke, und äh, gute Nacht«, verabschiedete sich Hummel und blickte auf die Uhr: Zwei Minuten nach sechs.

»Jo, jo, gut Nacht«, antwortete der Beamte. »Gut Nacht um Sechse, gell.«

Das Gespräch hatte für Hummel einen überaus unbefriedigenden Verlauf genommen. Da der Sturm der Geräuschkulisse nach zu urteilen nun aber etwas schwächer zu werden schien, müsste Riesle vielleicht jetzt wieder Netz haben.

Hubertus wählte also noch mal ›Klausi mobil‹ und bekam wieder nur den AB mit dem ›Reporter im Einsatz‹. Verdammt!

Riesle war eigentlich ständig über Handy erreichbar. Selbst wenn Hubertus ihn mitten in einer Gemeinderatssitzung anrief. Der Journalist ging immer ran und meldete sich demonstrativ laut. Das hatte ihm auch schon den einen oder anderen Rüffel des Oberbürgermeisters eingebracht. »Könnten Sie bitte Ihre Privattelefonate draußen auf dem Flur führen, Herr Riesle? Wir haben hier gerade eine Sitzung«, näselte der OB stets zum Vergnügen der Ratsmitglieder. Denn auch die konnten Riesle nicht gerade leiden. Jeder hatte von dem Sensationsjournalisten schon mal sein Fett abbekommen …

Hubertus überlegte. Er könnte nun seinen Schwiegersohn Didi anrufen – oder seine Kumpels Fehrenbach und Popko, die beide bei der Feuerwehr waren.

Hubertus wählte ihre Handynummern und bekam ebenso wie bei Riesle Anrufbeantwortersprüche zu hören. Sicher waren sie alle gerade im Einsatz und dabei, umgestürzte Bäume und abgerissene Äste von Hausdächern und Autos zu holen. Didi ging möglicherweise auch deshalb nicht ran, weil seine Beziehung zu Martina, Hummels Tochter, gerade mal wieder den Status ›ungeklärt‹ hatte. Jedenfalls, soweit Hubertus informiert war.

Bei der Feuerwehr selbst wollte er nicht anrufen. Dort würde man vermutlich noch genervter reagieren als bei der Polizei. Und letztlich hatte er ja auch noch keinen konkreten Schaden zu vermelden, nur einen vermuteten – auch wenn das ein Personenschaden war.

»Guten Morgen, Frau Winterhalter«, sprach er kurz darauf ins Telefon. »Dürfte ich wohl mal Ihren Mann sprechen?«

Karl-Heinz Winterhalter war Frühaufsteher, Nebenerwerbslandwirt und Kriminalhauptkommissar bei der ›KRIBO VS‹, wie Winterhalter sich gerne mit ähnlich starkem Dialekt am Telefon meldete wie vorhin der Polizeibeamte.

Durch ihre Ermittlungen in diversen Fällen waren Hummel und Riesle mittlerweile gut bekannt, ja fast schon vertraut mit dem Kriminaltechniker. Zumal Hubertus vergangenen Sommer mit Winterhalter gemeinsam einen Mordfall auf einem Campingplatz bei Venedig gelöst hatte. Auch deshalb war der im Gegensatz zu seinem Kollegen Claas Thomsen ihnen gegenüber durchaus wohlwollend eingestellt.

»Ich bräuchte mal dringend seinen Rat«, fuhr Hummel fort.

»Des isch jetzt aber schwierig. Mein Mann isch g’rad im Stall bei de Viecher.«

»Was macht er denn? Melken?«, fragte Hummel.

Frau Winterhalter lachte. »Ich glaub, bei dem stürmische Wetter kriege mir von dene Küh heut saure Milch. Wisset Sie, die sind aufg’regt. Do muss mer dene gut zurede«, erklärte sie. »Des kann mein Mann ganz gut. Auf mich höret die nit so. Kann ich Ihne vielleicht helfe?«

Der Singsang von Frau Winterhalter war im Gegensatz zum vorherigen Telefonpartner durchaus freundlich gemeint.

»Was meinen Sie: Wann könnte ich ihn denn wohl sprechen?«, fragte Hummel.

»O je, des kann dauern. Sie kennet doch meinen Mann. Wenn der was macht, dann richtig. Der führt mit dene Küh jetzt sicher Einzelgespräche. Sozusage Gesprächstherapie.« Frau Winterhalter kicherte. »Ha, ich dät ihm sage, dass Sie ang’rufe habe. Er ruft Sie dann zurück, jo? Wäre des recht so?«

»Isch recht«, rutschte Hummel ein Brocken Dialekt heraus. Frau Winterhalter hatte diesbezüglich – wie auch ihr Mann – eine ansteckende Art.

»Geht’s denn um ä polizeiliche Angelegenheit? Isch es dringend? Kann ich ihm schon was sage?«, fragte sie weiter.

»Ja, äh, so etwas Ähnliches wie dienstlich«, stammelte Hummel und überlegte, ob es sinnvoll wäre, sie einzuweihen.

Doch die Bauersfrau hatte schon eine andere Idee: »Sie könnet natürlich auch de Herr Thomsen anrufe. Ich hab hier auf de Kommode seine Handynummer liege.«

»Ach, das ist eigentlich nicht nötig«, sagte Hummel zuerst reflexhaft, um dann doch seine Meinung zu ändern: »Obwohl, notieren kann ich sie mir ja mal. Für den Fall, dass ich Ihren Mann erst spät erreiche.«

Thomsen! Je länger Hummel und Riesle mit dem aus Kiel stammenden Kommissar zu tun hatten, umso suspekter wurde er ihnen. Und umso unbeliebter machten sie sich bei ihm.

Thomsen waren die beiden ebenso ein Dorn im Auge wie der eigene Kollege Winterhalter. Der Norddeutsche hätte alle Fälle am liebsten im Alleingang und ohne irgendwelche Störungen von innen und außen gelöst. Zumal ungestört von Leuten, die in seinen Augen ›schmutzig‹ waren. Also eigentlich alle. Nebenerwerbslandwirte wie Winterhalter zählten ohnehin dazu. Der korpulente, oft schwitzende Lehrer Hummel und der nach Thomsens Meinung schmuddelige Journalist Riesle natürlich auch. Der Kommissar war ausgesprochen reinlich – so empfand er es selbst. Andere Menschen hielten ihn mit seiner Allergie gegen Schmutz und Bakterien aller Art für schlicht phobisch und absolut therapiebedürftig. Aber natürlich traute sich niemand, das Thomsen ins Gesicht zu sagen.

Thomsen. Hubertus wollte nicht unbedingt mit ihm zu tun haben. Nachdem Winterhalter aber nach 20 Minuten nicht zurückgerufen hatte und auch abermalige Versuche bei Didi, bei Fehrenbach, Popko und natürlich auch bei Riesle nicht von Erfolg gekrönt waren, war Hummel so weit.

Es ging schließlich um seinen besten Kumpel, der unvernünftiger denn je war. Seit ein paar Monaten hatte Klaus nun eine neue Freundin, doch auch die schien ihn nicht zur Vernunft zu bringen und von solch lebensgefährlichen Aktionen abhalten zu können.

Hummel schnaufte und tippte auf dem Telefon herum. Vielleicht könnte Thomsen ja wenigstens bei den Kollegen von der Schutzpolizei ein gutes Wort einlegen. Immerhin ging es um Leben und Tod. Vielleicht.

Kriminalhauptkommissar Thomsen genoss es bei dem stürmischen Wetter gerade ganz besonders, sein Reinlichkeitsritual zu vollziehen. Er stand unter der heißen Dusche, die er täglich höchstpersönlich desinfizierte, und schrubbte sich mit allem, was er in die Finger kriegen konnte: langstielige Bürsten, kurze Bürsten mit Lederriemen und Handbürsten, die eigentlich dazu gedacht waren, den Schmutz unter den Fingernägeln hervorzuholen.

Zwar hatte Thomsen bereits am Abend zuvor geduscht. Ausgiebig, wie es eben seine Art war. Doch als er frühmorgens von den Sturmböen wach geworden war, hatte er nochmals unter die Dusche gewollt.

Dass seine Haut rot vom Schrubben und Einseifen am Vorabend war, störte ihn nicht. Das Brennen der Seife und des Desinfektionsmittels in seinen Hautporen, das normale Menschen als Schmerz empfunden hätten, gab Thomsen das beruhigende Gefühl, dass die Bakterien augenblicklich eliminiert würden. Seit mindestens einer Stunde stand er nun schon unter seiner ›Brause‹, wie er sie liebevoll nannte.

Er war überaus empört, als plötzlich sein Diensthandy klingelte. Es war das Horn eines Schiffes, das ihm vom Flur her entgegendröhnte. Dem tiefen, eindringlichen Ton nach zu schließen, musste es ein ziemlich großer Kahn sein.

Nichts hasste Thomsen mehr, als bei seinen Ritualen gestört zu werden. Wäre es das Festnetztelefon gewesen, hätte er niemals den Duschvorgang abgebrochen. Doch beim Diensthandy meldete sich sein Pflichtgefühl – und die Angst, etwas zu verpassen.

Er drehte das Wasser ab in der Hoffnung, gleich wieder in die  Dusche steigen zu können, schlüpfte in seinen im Kochwaschgang gereinigten Bademantel und schlurfte in seinen blitzsauberen Puschen, die Segelschiffe zierten, in Richtung Flur.

»Guten Morgen, Herr Kriminalhauptkommissar«, meldete sich Hummel überhöflich. »Ich bitte, die frühe Störung zu entschuldigen. Aber es handelt sich um einen Notfall.«

»Wer ist denn da?«

»Hu… Hummel. Hu… Hubertus Hummel«, stammelte der Lehrer wie ein eingeschüchterter Schüler bei der Hausaufgabenüberprüfung.

»Wie kommen Sie denn an meine Handynummer?«, fragte der Kommissar empört.

»Frau Winterhalter war so freundlich …«

»Diese blöde Ku… äh … Kuhfrau. Ich meine … Bauersfrau«, hatte Thomsen Mühe, seinen Ärger im Zaum zu halten. »Dies ist eine Geheimnummer, die für Leute vorbehalten ist, die mit mir dienstlich relevante Dinge zu besprechen haben. Wie kann diese Winterh… diese Frau Winterhalter meine Dienstnummer einfach so an Sie weitergeben?«, fragte Thomsen empört, obwohl er wusste, dass er von Hummel diesbezüglich keine Antwort zu erwarten hatte.

»Es ist wirklich dringend: Ich brauche Ihre Hilfe! Mein Freund Klaus Riesle, der Journalist, Sie wissen schon – ist in Gefahr. Er ist im Wald verschollen«, wählte Hummel eine etwas dramatische Formulierung. »Ich habe vorhin mit ihm telefoniert, dann ist die Verbindung plötzlich abgebrochen. Er hat noch aufgestöhnt. Und Ihre Kollegen konnten wegen Überlastung niemanden schicken«, jammerte Hummel.

»Wer sich bei diesem Wetter in den Wald begibt, ist selbst schuld. Was wollte er da überhaupt?«, fragte Thomsen.

»Sturmschäden fotografieren«, vermeldete Hummel.

»Sturmschäden fotografieren?«, echote Thomsen empört. »Und nun soll ich Ihren Freund retten? Oder wie haben Sie sich das vorgestellt? Ich bin von der Kriminalpolizei und damit schon mal grundsätzlich nicht zuständig.«

»Vielleicht könnten Sie noch mal mit Ihren Kollegen von der Schutzpolizei reden …?«

»Hören Sie mal, Herr Hummel: Ich bin nicht vom Suchdienst des Roten Kreuzes. Und überhaupt: Wenn Sie schon mit Frau Winterhalter Kontakt hatten, wieso lassen Sie sich nicht von Ihrem Campingfreund Winterhalter helfen?«, teilte Thomsen einen Seitenhieb gegen seinen Kollegen aus.

»Der muss gerade wegen des Sturms seine Tiere im Stall beruhigen«, erklärte Hummel.

»Aha, wieder im Stall«, sagte Thomsen verächtlich. »Das hört sich ja nach einer wichtigen Besprechung an.« Er grinste – erstmals seit Tagen. »Hören Sie! Ich bin hier gerade in einem«, Thomsen suchte nach der passenden Formulierung, »wichtigen morgendlichen Briefing. Ich kann Ihnen nicht helfen. Und noch etwas: Vernichten Sie sofort nach dem Telefonat meine Nummer – und wagen Sie es nicht noch mal, mich anzurufen. Sonst zeige ich Sie an!«

3. Sturmfahrt

Als Elke aus dem Bett kroch, fand sie auf dem Sofa einen einigermaßen hysterischen Ehemann vor, der auf dem Telefon herumtippte.

Klaus Riesle war immer noch nicht erreichbar. Die Polizei hielt ihn, Hubertus, für einen Spinner. Karl-Heinz Winterhalter befand sich weiter im Stall in einer Therapiesitzung mit seinen Kühen. Fehrenbach, Popko und Didi waren weiß Gott wo. Und Thomsen war wie immer überaus abweisend und unkooperativ gewesen.

Hubertus erzählte seiner Frau von der Telefon-Odyssee.

Beim Thema Winterhalter unterbrach sie ihren Mann: »Das finde ich gut.«

»Was? Dass ich Klaus suche? Ist ja wohl Ehren …«

»Nein. Dass Herr Winterhalter mit seinen Kühen spricht«, lautete Elkes Kommentar. »Diese armen Geschöpfe wissen ja gar nicht, wie ihnen bei diesem Wetter geschieht.«

»Sag mal, Schatz«, setzte Hubertus in einem Tonfall an, der überhaupt nicht zur liebevollen Anrede passte. »Hast du mir eigentlich gerade zugehört? Klaus ist bei diesem Sturm draußen und vermutlich verschollen. Vielleicht schon von einem Baum erschlagen! Oder er liegt zumindest schwer verletzt unter einem Ast! In Lebensgefahr! Die Winterhalter-Kühe sind im Stall und in Sicherheit.«

»Daran ist allein die Klimaerwärmung schuld, dass es solche Naturkatastrophen gibt«, philosophierte Elke, ohne direkt auf Hubertus einzugehen. »Wir zerstören unseren eigenen Planeten und damit uns selbst.«

»Elke-Schatz, noch mal: Hast du mir gerade zugehört? Klaus ist in Gefahr!«, verschärfte Hubertus den Tonfall.

»Ja«, antwortete die. »Das ist auch schlimm.«

»Allerdings«, repetierte Hubertus aufbrausend.

»Dieser unmenschliche berufliche Druck hat ihn in den Wald getrieben«, mutmaßte Elke. »Der Arme. Er schien mir in letzter Zeit noch angespannter als früher. Ich habe neulich zu ihm gesagt: Entspanne dich, mein Lieber. Beginne den Tag mit Yoga – und überrede am besten auch Hubertus dazu …«

Nun war Hubertus kurz davor, in den Wald zu gehen. Schlimmer als hier drin konnte es auch nicht sein – wenn auch auf andere Weise …

Doch so langsam kam Elke nun wieder aus der spirituellen in die reale Welt zurück. »Ich mache uns jetzt erst mal einen Tee, das entspannt.«

»Und dann?«, fragte Hummel, nun schon etwas weniger giftig.

»Dann beginne ich mit dem Yoga. Das mache ich heute zweimal. Einmal vor der Schule und einmal danach. Jeweils mit Pergel-Bülows.«

Hubertus Ton verschärfte sich wieder: »Aber was soll ICH machen?«

»Mach doch mit!«

»Elke!« Hubertus schnaufte abermals tief durch. »Es geht um KLAUS!«

Das focht die nicht an. »Ja«, strahlte sie. »Wenn Klaus sich nachher wieder meldet, kannst du ihm sagen, dass ich mich heute Mittag noch einmal mit Regine und Klaus-Dieter auf eine Sitzung treffe. Vielleicht wollt ihr beide euch dann ja wirklich anschließen. Ich glaube, es täte dir ganz gut. Du bist auch ziemlich aus dem Gleichgewicht …«

»Kein Tee, kein Yoga, und bitte erst recht keine Pergel-Bülows. Danke!« Hubertus wurde nun wieder hysterisch. Seine unsäglichen Nachbarn, die sich in alles einmischten und für alles Verständnis hatten, waren das Allerletzte, was er jetzt brauchte.

Klaus-Dieter Pergel-Bülow, dessen Name für Hummel schon das Waschlappenhafte an sich verkörperte, lauerte seinem ›Freund Hubertus‹ auf, wo er nur konnte. Beim morgendlichen Aus-dem-Haus-Gehen, beim abendlichen Heimkommen, bei der Gartenarbeit.

Zu Hubertus’ Leidwesen hatte Pergel-Bülow ihm dabei einmal sogar vermeintlich das Leben gerettet, nachdem Hummel beim Rasenmähen einen Schwächeanfall erlitten hatte. Seither tat er so, als habe er bestimmte Rechte an Hubertus – zumindest aber dasjenige, ihn rund um die Uhr mit esoterischen Plattitüden belästigen zu dürfen.

Hummel wählte noch einmal vergeblich die Nummer von ›Klausi mobil‹ und wunderte sich darüber, wie verschieden Elke und er doch manchmal waren.

An dem Verhältnis zu den Nachbarn manifestierte sich dies ganz gut.

Seine Ehefrau ging mit dem Tee in der Hand zum Nachbarhaus auf der Suche nach ihrer inneren Mitte. Hubertus schaute ihr besorgt nach, doch das Wetter konnte ihr in ihrer inneren Verfassung offenbar nichts anhaben. Sie schien gar nicht zu bemerken, wie der Wind ihr Haar zerzauste.

Erst als Hummel sah, wie Pergel-Bülows ihr die Tür öffneten, wandte er seinen Blick ab und fasste dann einen Entschluss.

Egal, wie heftig dieser Sturm nun war: Er würde sich selbst in Gefahr begeben und Klaus zu Hilfe kommen. Seinen Standort hatte der ja durchgegeben: Erdbeerhagweg.

Hubertus zog sich also rasch an und hinterließ eine handschriftliche Notiz: »Bin kurz mit dem Auto weg. Klaus suchen. Bussi und keine Sorgen. Huby. PS: Bin auf dem Handy erreichbar.«

Sorgen würde sich Elke ohnehin eher über seinen seelischen denn über seinen körperlichen Zustand machen.

Einen kurzen Augenblick lang überlegte er, seiner Frau doch noch persönlich Bescheid zu sagen. Aber auf weitere Diskussionen mit ihr hatte er keine Lust, auf solche mit Klaus-Dieter und Regine Pergel-Bülow noch viel weniger: Ein »Du, das finden wir jetzt aber gar nicht gut, Huby. Du, das ist doch total gefährlich« schon am frühen Morgen? Nein!

Er würde sich so oder so nicht abhalten lassen – und von denen schon zweimal nicht.

Hummel ging in die Garage, schaute abwechselnd auf seinen fast neuen Opel Astra Kombi, den seine Schüler so ›uncool‹ fanden, und auf den schon 13 Jahre alten, schwarzen Renault Twingo seiner Tochter Martina, die gerade einmal wieder mit ihrem Sohn Maximilian bei ihren Eltern eingezogen war. Ihr Mann Didi sei ›ein Versager‹, hatte sie als Begründung angegeben. Als würde das alles erklären …

Wenn ›die alte Rostlaube‹, wie er sie gedanklich nannte, etwas abbekommen würde, wäre es wohl nicht so tragisch, dachte Hubertus. Und bei dem Wetter bestand zumindest die Gefahr, dass das Auto Schaden nehmen könnte.

Er holte den Schlüssel, schrieb noch kurz eine Nachricht für seine Tochter (»Musste kurz mit Twingo weg. Nimm ggf. Opel«), die im Obergeschoss mit dem Enkel schlief, schaute auf die Uhr – 6 Uhr 45 – und fuhr los.

Viel Knautschzone habe ich wohl nicht in der Schüssel, dachte sich Hubertus, und tuckerte in Richtung Stadtwald. Der Kindersitz von Maximilian schepperte hinter der Fahrerseite hin und her.

Je länger die Fahrt dauerte, umso besorgter wurde Hummel. Fast überall lagen abgebrochene Äste. In einigen Seitenstraßen der Südstadt hatten sich sogar umgestürzte Bäume quergelegt. Blaulicht spiegelte sich in Fensterscheiben.

Eher noch dramatischer wurde die Situation, als er die Alte Vöhrenbacher Straße befuhr und nun den Stadtwald erreichte.

Hier musste er doch abzweigen. Richtig: ›Erdbeerhagweg‹ stand auf einem aus Holz geschnitzten Schild, das aufgrund der wogenden Bäume allerdings nur schwer zu sehen war. Und: ›Land- und forstwirtschaftlicher Verkehr frei‹.

Klar, dass Klaus sich darum nicht geschert hatte. Und den Hinweis mit dem ›Naturlehrpfad‹ hatte er wohl etwas zu wörtlich genommen.

Hubertus ignorierte das Hinweisschild auf das ›Gasthaus Auerhahn‹ und die ›durchgehend warme Küche‹. Unter normalen Umständen hätte das beim beleibten Lehrer umgehend Heißhunger ausgelöst.

Stattdessen befuhr er mit erhöhter Aufmerksamkeit den Schotterweg. Er passierte den Zeltplatz der Georgspfadfinder, beobachtete besorgt das Wäldle zur Linken, dessen Fichten sich bedrohlich in Wallung befanden. Gespannt fixierte er die im Wind wogenden Tannenwipfel, um gegebenenfalls zu antizipieren, ob ein Baum auf die Straße stürzte.

Einmal musste er bei einem Ausweichmanöver fast in den Graben fahren, da sich ein Stamm halb über die Schotterstraße gelegt hatte.

Die Anspannung erhöhte sich, als die Freifläche zur Rechten endete und er nun zu beiden Seiten auf die Bäume zu achten hatte.

Kurz darauf sah er ein dunkles Auto an einem abzweigenden Waldweg.

Ein Kadett? Nein. Aber irgendwie beruhigend: Es gab noch mehr Verrückte, die es am frühen Morgen hinauszog. Ein pflichtbewusster Hundebesitzer vermutlich.

Aber noch immer kein Hinweis auf Klaus.

Kurz bevor er den Eichwäldleweg erreichte, änderte sich dies.

Warnblinklichter leuchteten ihm entgegen: Klaus Riesles alter Kadett.

Hubertus setzte unter Anspannung das Fernlicht und meinte, die Silhouette einer Person auf der Fahrerseite im Wagen zu erkennen.

War das Klaus?

Hummel parkte den Twingo einige Meter hinter dem Kadett, näherte sich dem Wagen mit einem flauen Gefühl in der Magengrube, öffnete die Beifahrertür.

Bei dem Anblick, der sich ihm nun bot, erschrak er: Klaus Riesle hantierte umständlich mit einem blutverschmierten Mulltuch herum.

»So ein Mist«, fluchte der Freund mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Kannst du mir helfen?«

Hubertus war zum Glück in seiner Zivildienstzeit Rettungsassistent gewesen – auch wenn das knapp 30 Jahre her war …

»Um Gottes willen, was ist denn passiert? Komm, steig mal aus, und lass sehen!«

Er betrachtete Klaus’ Hinterkopf und diagnostizierte »mindestens eine Platzwunde«. Dann holte er das Verbandszeug aus Martinas Auto, da Riesles Mullbinden voller Blut waren, und setzte routiniert zu einem Kopfverband an. Unterdessen befragte er Klaus: »Jetzt erzähl mal: Warum bist du nicht ans Handy gegangen? Ich habe die ganze Zeit versucht, dich zu erreichen.«

»Du bist gut! Ich bin froh, dass ich noch am Leben bin. Ich hab vorhin, als wir telefoniert haben, einen sooo großen Ast abbekommen.«

Er zeigte mit seinen Handflächen die Dicke des Astes an. Dem Umfang nach schien es ein veritabler Baum gewesen zu sein …

»Das Handy ist dabei zu Bruch gegangen. Das ist Schrott. Na, zumindest ist die Kamera heil geblieben. Das ist das Wichtigste. Bist du fertig mit dem Verband? Ich muss jetzt weiter«, gab sich Riesle unerschrocken.

Genau genommen ging das Anlegen des Verbandes doch nicht ganz so routiniert vonstatten. Er legte sich halb über Klaus’ linkes Auge.

Doch der machte unbeeindruckt Anstalten, sich ans Steuer setzen zu wollen – bis Hubertus ihn am Ärmel festhielt.

»Moment mal: Du fährst jetzt nirgendwohin. Nicht mit der Verletzung und mit Verdacht auf Gehirnerschütterung. Wenn einer fährt, dann bin ich das.«

»Okay«, leistete Klaus für seine Verhältnisse überraschend wenig Widerstand, hängte sich seine Fototasche um, klemmte seinen Laptop unter den Arm und folgte Hubertus zu Martinas Twingo. »Vielleicht sollte ich mit dem Kopfverband noch einen Aufsager machen? Das käme doch eigentlich ganz gut. Jetzt, wo ich diesen verdammten Namen des Sturms endlich weiß. Moment: Wie hieß der gleich wieder?«

»Herbert«, sagte Hubertus tonlos, um dann die Augen zu verdrehen: »Klaus, du hast Riesenglück gehabt. Du könntest jetzt tot sein.«

»Gleich«, sagte Riesle unbeeindruckt, stellte sich vor den nächsten Baum und drückte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den Auslöser, nachdem Hummel keinerlei Anstalten machte, ihm zu helfen – oder gar den Kameramann zu spielen.

Der Journalist räusperte sich und legte los: »Zu den Verletzten nach dem verheerenden Sturm Herbert, der derzeit über den Schwarzwald fegt, gehöre auch ich selbst. Ich habe im Villinger Germanswald am frühen Morgen im journalistischen Einsatz am eigenen Leib erfahren, wie gefährlich es hier draußen ist. Bleiben Sie möglichst in Ihren Häusern! Wir informieren Sie weiter! Klaus Riesle für den ›Schwarzwälder Kurier‹.«

Er senkte die Kamera. »Weißt du was über die Schadenshöhe?«

»Klaus«, sagte Hubertus bestimmt. »Es reicht! Und: Nein. Ich weiß nichts über die Schadenshöhe. Ich bring dich jetzt von hier weg!«

»Ja, schon gut«, sagte der Journalist kurz angebunden, aber folgsam. »Könntest du mich möglichst schnell in die Redaktion fahren? Ich muss Fotos und Videos herunterladen und rasch online stellen.« Er schaute auf seine Armbanduhr, die nichts von dem Ast abbekommen hatte. »7 Uhr 12. Wenn ich mich beeile, dann kriege ich damit wenigstens noch einen Teil der Berufstätigen, die unsere Seite heute Morgen anklicken …«

»Kommt nicht in Frage«, sagte Hubertus bestimmt und startete den Twingo, um zu wenden. »Ich fahre dich jetzt sofort ins Krankenhaus.«

»Huby, das ist doch nur ein Kratzer. Die Behandlung können wir später noch machen.«

»Keine Widerrede! Du hast eine auf den Schädel bekommen. Theoretisch könntest du auch was Schlimmeres haben, vielleicht einen Riss oder gar einen Bruch.«

»Jawohl, Herr Dr. Hummel.« Klaus gab den Widerstand auf, auch weil er in seinem verbundenen Hinterkopf bereits einen Plan B hatte. Die Fahrt hielt ihn nämlich nicht davon ab, bereits auf dem Weg zur Klinik Fotos und Videos von seiner Kamera auf den Laptop zu kopieren.

Hubertus machte sich derweil Sorgen, ob der Twingo während der Sturmfahrt nicht doch auch etwas abbekommen hatte. Er schaute mal lieber nicht nach etwaigen Kratzern auf dem Lack …

»Geile Bilder, schau mal!«, hielt Riesle seinem Freund den Laptop vor die Nase.

»Ich hoffe, die Schäden sind nicht zu heftig«, zeigte sich Hubertus weniger erfreut über die Fotos. Routinemäßig hätte er fast die Einfahrt zum alten Klinikum genommen. Doch dieses Gebäude war unbeleuchtet und stand leer.

»Wie konntest du dich überhaupt dieser Gefahr aussetzen? Manchmal verstehe ich dich einfach nicht!«, sagte Hummel und erzählte in vorwurfsvollem Ton, wie er versucht hatte, Himmel und Hölle für seinen Freund in Bewegung zu setzen und er sich schließlich selbst auf die ›lebensgefährliche Fahrt‹ begeben hatte.

Klaus schien abwesend und schon wieder mit Bildbearbeitung beschäftigt.

Hubertus nahm sich vor, ihn früher oder später bei den Meditations- und Yogarunden im Hause Pergel-Bülow anzumelden. Er selbst würde allerdings darauf verzichten …