Yael Hedaya
Die Sache
mit dem Glück
Erzählung
Aus dem Hebräischen von
Ruth Melcer
Das Original erschien 1997
bei AmOved Publishers Ltd., Tel Aviv,
unter dem Titel ›Matti‹
im Band ›Schloscha sippurej ahawa‹
Copyright © 1997 by Yael Hedaya
Die deutsche Erstausgabe
erschien 2006 im Diogenes Verlag
Umschlagillustration: Henri Matisse,
›Junges Mädchen in Schwarz auf gelbem Sessel‹, 1935
Copyright © Succession H. Matisse/
2013, ProLitteris, Zürich
Für
meinen Vater
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2013
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 23729 0 (1. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60377 4
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] 1
Am fünften Mai 1990, einem wunderbaren Frühlingstag, wurde ein Mann bei uns vorstellig, dessen Frau klagte, er leide unter Kopfschmerzen.
»Und zwar schrecklich«, sagte sie kopfschüttelnd, »schreckliche Kopfschmerzen«, als seien es die ihren, und drückte die Hand des hochgewachsenen und verlegenen Mannes, der binnen Minuten zu unserem Patienten wurde.
Wir ließen sie die Symptome beschreiben, die sie mit Metaphern voller Leid und Phantasie anreicherte, und als sie sich zu uns vorlehnte und flüsternd schloß: »Mein Mann ist nicht mehr der Mensch, der er einmal war«, als ob ihr Mann nicht mit im Raum wäre, nickten wir und fragten: »Seit wann ungefähr?«, und die Frau antwortete: »Seit ungefähr drei Monaten.«
»Ungefähr seit Februar?«
»Ja, Februar«, bestätigte sie.
›Klagt seit Februar über Schmerzen‹ schrieben wir nieder, und die Frau – sie hob sich aus ihrem [6] Stuhl, um einen kurzen Blick auf das neue Krankenblatt zu werfen, das möglicherweise etwas beinhaltete, was sie erfreuen könnte, eine neue Möglichkeit, gewisse Aussichten, die der Patient allerdings schon bald zerstören sollte – sagte: »Ja, seit Februar. Er hatte eine schwere Grippe, und danach hat es angefangen.« Und wir schrieben mit: ›Begann nach einer Grippe über Schmerzen zu klagen.‹
›Einer schweren Grippe‹, betonte sie, also schrieben wir: ›Begann nach einer schweren Grippe über Schmerzen zu klagen.‹
»Schreckliche Schmerzen!« versteifte sie sich und deutete auf unseren Stift, also fügten wir als nette Geste ›schreckliche‹ ein, und die Frau legte ihre Hand zurück in ihren Schoß und unterstrich die Ergänzung mit einem bestätigenden Nicken, als hätten wir soeben gemeinsam den ersten und harmlosen Satz eines Märchens erarbeitet, auf den sogleich die Greuel folgen würden.
Sie eignete sich den gängigen Sprachstil umgehend an und begann uns die Krankheitsgeschichte zu diktieren, wobei sie den ›schrecklichen‹ Schmerzen noch die ›spitzen‹, ›blind machenden‹, ›lähmenden‹, ›unerträglichen‹, ›monströsen‹, ›unmenschlichen‹ und ›absolut unbeschreiblichen‹ hinzufügte, und als sie das Gefühl hatte, die [7] Beschreibung des Schmerzes stelle den Schmerz selbst in den Schatten, richtete sie ihren Blick auf den Mann, der sich, den Teppich anstarrend, am Kopf kratzte, und bat ihn mit den Augen, doch auch etwas beizusteuern, ein Wort, das alles zusammenfassen würde, aber der Mann sagte halblaut: »Nein.«
»Was – ›nein‹?« fragte sie.
»Keine drei Monate.«
»Dann eben zwei«, fuhr sie ihn an. »Was spielt das für eine Rolle, Matti, seit zwei Monaten windest du dich jetzt schon vor Schmerzen.«
»Übertreib nicht«, wehrte er sich leise. »Ich winde mich nicht. Es tut mir ein bißchen weh, aber ich winde mich nicht.«
»Nein?« begehrte sie auf und ließ seine Hand fallen. »Wieso sind wir dann hier? Sag mir: Wieso sind wir hier?«
»Weil du herkommen wolltest«, erwiderte er. »Du wolltest es.«
Wir kennen dieses Feilschen gut. Der Patient und seine Frau sitzen hier in einem hellen Raum mit großen Fenstern und einer beruhigenden Aussicht und wissen wahrscheinlich, daß sie mit Haß an diesen Tag zurückdenken werden; womöglich werden sie sich aber auch nach ihm zurücksehnen, weil dies der Tag gewesen sein wird, an dem aus ihrer Sicht noch alles möglich war, eine andere [8] Diagnose beispielsweise. Und in der Zwischenzeit, um ein wenig Zeit zu gewinnen, streiten sie sich über Einzelheiten: Wie lange es schon so geht und mit welcher Intensität, und warum es verbergen, und wer lügt und wer wütender ist, und wer mehr Recht hat und wer mehr Angst und wer mehr Schmerzen – das ist das Standardritual.
»Und was ist mit den Schmerzen?« fragten wir Herrn Rosen mit einer gut dosierten Mischung aus Sanftheit und Ungeduld, die zu verabreichen Fachärzte sich aufs beste verstehen. »Sind die stark?«
»Nein«, erwiderte er, aber Frau Rosen korrigierte ihn umgehend: »Doch.«
»Schwindelanfälle?« erkundigten wir uns, und die Frau, die wußte, daß er auch die Schwindelanfälle leugnen würde, erklärte hastig: »Ja. Tragen Sie ›ja‹ ein.«
»Übelkeit?« fragten wir weiter und kritzelten ›ja‹, noch ehe der Mann antworten konnte: »Nein.«
»Nein?!« ereiferte sich die Frau. »Hast du schon vergessen, was am Seder-Abend* [* Seder-Abend: Der erste (und in der Difaspora auch der zweite) Abend des Pessach-Festes, der traditionellerweise nach einer bestimmten Ordnung (hebräisch: seder) abgehalten wird.] los war?«
»Aber das hat am Essen gelegen«, meinte er.
»Das ist nicht wahr«, widersprach die Frau. »Sonst hat sich keiner von uns beklagt. Und am [9] Kinneret-See? Hast du schon vergessen, was am See passiert ist?«
Er schwieg, erinnerte sich vielleicht, was am Kinneret-See vorgefallen war, und wir hatten kurz das Verlangen, ihn zu fragen: »Was war denn am Kinneret?«, doch statt dessen fragten wir, ob er Sehstörungen habe, und der Mann sah seine Frau an und nickte, und die Frau legte seine Hand wieder in die ihre.
»Möglicherweise ein Virus«, boten wir an.
»Ja, ein Virus!« stürzte sich Herr Rosen auf die Chance, die wir ihm boten, wieder zu genesen; immerhin ist auch dies Teil unserer Aufgabe: Hoffnung zu machen oder wenigstens eine Hoffnung auf Hoffnung oder wenigstens, nicht den Tod zu diagnostizieren, ehe wir uns sicher sind.
Doch die Frau fuhr fort, bekümmert und ungläubig den Kopf zu schütteln. Sie hatte kurze, stahlgraue Haare, ein rundes Gesicht mit einer runden Brille und schmale, zu einem nervösen Lächeln zusammengepreßte Lippen, die ein Weinen erahnen ließen, das einige Wochen später auch tatsächlich aus ihr herausbrach, als wir ihr eröffneten, der Fall ihres Mannes sei hoffnungslos.
An dem Tag, an dem sie ihn zum ersten Mal zu uns brachte, war sie sehr blaß und von einem flakkernden Schein der Angst umgeben, der jede ihrer [10] Bewegungen begleitete, und zwar von dem Moment an, als sie an die Tür klopfte und bat, die Störung zu entschuldigen – obwohl sie einen fünf Wochen im voraus vereinbarten Termin hatten –, dann ihrem Mann mit einer Kopfbewegung bedeutete, hineinzugehen, wartete, bis er sich gesetzt hatte, ehe sie selbst auf dem Stuhl neben ihm Platz nahm, und bis hin zu dem Moment, in dem sie die Formulare für die von uns angeordneten Untersuchungen – Beschäftigung für weitere fünf Wochen – zusammenfaltete, sie tief in ihrer Handtasche verstaute, und sich, noch immer unaufhörlich den Kopf schüttelnd, bei uns bedankte.
Draußen zwitscherten die Vögel in den Wipfeln der Bäume, die vor vielen Jahren hier im Hof unseres Krankenhauses gepflanzt worden waren und zu deren Füßen die kleinen bronzenen Schilder mit den Namen der Spender standen, die die Bäume ebenso ermöglicht hatten wie die Rasenfläche, die Bänke, die Foyers, die Cafeteria, die Aufzüge, die hochmodernen Operationssäle, die Abteilungen, die Betten, die Tische und Stühle und die Rezeptblöcke und die Pyjamas und die Diagnosen und die Fenster und auch den Stift, mit dem wir auf Herrn Rosens Krankenblatt trommelten, der an dem schönen Ausblick nicht interessiert war und Löcher in den Teppich starrte.
[11] Wir beobachteten die Frau, die jetzt zehn Jahre älter wirkte als bei ihrem Eintreten; sie war dabei, eine neue Art von Einsamkeit zu entwickeln, die sich mit der blitzartigen Leistungsfähigkeit bösartiger Tumore in ihrem Körper ausbreitete – auch das etwas, was wir mühelos zu diagnostizieren wissen, beispielsweise an der Art, wie sie unbewußt mit einer Büroklammer herumspielt, die sich von einer der Krankenakten auf unserem Tisch gelöst hat: Sie nimmt sie und verbiegt sie und biegt sie wieder gerade und wickelt sie um ihren Finger und versucht anschließend vergeblich, wieder eine Büroklammer daraus zu machen. Sie legte die Klammer dahin zurück, wo sie sie gefunden hatte, und geriet plötzlich in Verlegenheit, weil sie erkannte, daß die Klammer nicht mehr zu gebrauchen war, weil sie sie völlig verbogen hatte, und hörte uns gleichzeitig weiter zu, ohne das wortlose Kopfschütteln einzustellen, von dem wir nicht mehr wußten, ob es uns anrührte oder uns auf die Nerven ging.
Und wir hatten den Eindruck, daß auch unser Patient etwas sagen wollte – vielleicht wagte er hinter unserem Rücken doch einen verstohlenen Blick nach draußen und dachte: ›Was für ein schöner Ausblick, was für ein schöner Tag‹, und fragte sich, wie viele solcher Tage er wohl noch erleben [12] würde. Aber das Ehepaar Rosen schwieg, und im Zimmer war nur unnötiges Vogelzwitschern und das Rattern des Druckers zu hören, der die Untersuchungsergebnisse anderer Patienten ausspuckte.
»Auf so etwas war ich nicht vorbereitet«, erklärte uns die Frau an einem feuchtheißen Tag im Juni, in eine Handvoll Papiertaschentücher schluchzend, als wir den beiden erklärten, daß der Tumor von der bösartigen Sorte sei und so liege, daß er sich operativ nicht entfernen lasse. Der Patient erhob sich von seinem Stuhl, richtete seinen Blick auf uns – es war das erste Mal, daß wir die Farbe seiner Augen erkennen konnten: ein bitteres Grün voller Leben – und sagte: »Das kann nicht sein.« Und an sie gerichtet: »Ich treffe dich in der Cafeteria.« Dann verließ er den Raum. Und obwohl es unprofessionell von uns war, konnten wir, während wir seinen Schritten lauschten, die sich auf dem Linoleumfußboden entfernten, nicht umhin zu denken, daß in Herrn Rosens Fall die Wut – genau wie das Feilschen um die Einzelheiten – schierer Luxus sei.
Frau Rosen entschuldigte sich in seinem Namen und brach erneut in Tränen aus. Sie sei auf so etwas nicht vorbereitet gewesen, wiederholte sie. Ihn so zu sehen. Krank. Unheilbar. Tot und zwei kleine Kinder hinterlassend.
[13] »Krank schon«, bestätigten wir, »aber noch nicht unheilbar und mit Sicherheit nicht tot«, und was die kleinen Kinder anbelange – wir waren versucht, eine Hand auszustrecken, um ihre Finger zu berühren, besannen uns aber im letzten Moment eines Besseren – ja, das sei wirklich traurig.
Sie wisse schon, was kommen würde: Sie würde um ihn herumspringen müssen, wenn er kotzen und wimmern würde und schneller abbauen, als man denkt, aber auch langsam genug, um sie in den Wahnsinn zu treiben, und das habe sie nicht verdient. Selbst ihre Feinde hätten das nicht verdient. Aber was habe sie schon für Feinde? Niemand habe so etwas verdient.
»Und – wird er Schmerzen haben?«
»Ja«, antworten wir. Aber er habe doch jetzt schon Schmerzen, sagt sie, er habe wirklich Schmerzen.
»Schon«, erklären wir mitfühlend, »aber es werden nicht dieselben Schmerzen sein.«
Und sein Kissen wird von ausgefallenen Haaren übersät sein – den schwarzen, krausen, problematischen Haaren, die er immer gehaßt und mit denen er jeden Morgen Kämpfe vor dem Spiegel ausgetragen hat. Idiotische Kämpfe, werden sie, ausgestattet mit den Relationen, die die Krankheit ihnen aufzwingt, denken; diese Relationen machen alles nur [14] noch schlimmer, weil sie sie nicht nur mit Kummer erfüllen werden über das, was ihnen noch bevorsteht, sondern auch über das, was bereits hinter ihnen liegt, und woher soll man die Kraft nehmen, sich jetzt zu allem Überfluß auch noch mit der Vergangenheit zu beschäftigen.
Und dann das Ehebett, das bald nach Medikamenten riechen wird, und die gezählten Tage, die ihm noch bleiben werden, und die endlosen Tage, an denen sie versuchen wird, ihm sinnlose Hoffnungen zu machen, wenn ihr größter Wunsch darin bestehen wird, für eine Stunde aus dem Haus zu gehen und allein in einem Café zu sitzen.
Wir wollen der Frau etwas Ermutigendes sa-gen, irgendeine Redensart, die sie aus der Panik der Mutmaßungen und der Einsamkeit rettet, etwa: »Manchmal ist der Tod noch der leichtere Teil.« Aber wir sagen nichts und malen uns im Geiste aus, wie wir dieses Ritual, das uns aus Gründen des Zeitmangels langsam zur Qual wird, ehrenhaft zum Abschluß bringen können; wir stellen uns vor, wie wir uns von unserem Drehstuhl erheben, auf unseren Patienten zugehen und ihm eine Hand auf die Schulter legen, die nach dem Erhalt solcher Botschaften immer dazu neigt, ein wenig herabzusinken, und wie wir ihm anschließend auf die Beine helfen und ihn zur Tür begleiten, vor [15] der, gespannt und uns schöntuend, andere Patienten auf uns warten; sie zahlen uns teures Geld für die Hoffnung, daß wir ihnen nicht mitteilen, was wir diesem netten Ehepaar soeben mitgeteilt haben, das inzwischen im Aufzug verschwindet, wo der Mann acht Stockwerke vor sich hat, um die Botschaft zu verdauen, ehe er in der Tiefgarage anlangt.
Jetzt aber irrt Herr Rosen auf der Suche nach der Cafeteria durch die Flure des Krankenhauses und vereitelt unsere Pläne, und wir beobachten die Frau, die weint und unser Sprechzimmer mit etwas Aggressivem und Körperlichem überflutet, gegen das wir ebensowenig ausrichten können wie gegen den Tumor, und sie schneuzt sich und fragt: »Wie lange noch?« Und ehe wir uns ermahnen können, daß wir keine allzu große Anteilnahme an der tragischen Geschichte eines einzelnen Menschen zeigen dürfen, erscheint der Patient wieder im Türrahmen. Er hält ein in Frischhaltefolie verpacktes Käsesandwich in der Hand.
2
Er schenkte mir ein Lächeln. Das war im August 1979, an einem abscheulich heißen Tag, ich trug [16] eine schwarze Jeans und ein ziemlich uninteressantes weißes Hemd. Ich saß im Patio des Café Milano und übte mich im Frausein. Mag sein, daß ich lächerlich wirkte, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, einen Espresso um den anderen trinkend, eine starke Nelson rauchend und mit einer etwas gekünstelten Fieberhaftigkeit Gedichte schreibend, weil ich damals dachte, inspiriert zu sein sei irgendwie sexy; ich war ganz auf mich selbst und die Servietten konzentriert, die sich, vollgekritzelt mit verführerischen und in Reimen gefaßten Gedankenspielen, unter dem Glas stapelten, das ich darauf gestellt hatte, damit sie nicht davonflogen – nicht daß sie in der Hitze von elf Uhr vormittags überhaupt eine Chance dazu gehabt hätten –, aber ich war wohl doch nicht so ganz auf mich und die kindischen und gleichzeitig ernsthaften Gedichte konzentriert, weil ich immerhin bemerkte, daß an der Brandmauer ein trauriger Mann saß und mich anlächelte.
Was mich ermutigte, weiterzuschreiben und noch einen doppelten Espresso zu bestellen, wobei ich gut hörbar für den alten Kellner und den Fremden, von dem ich hoffte, daß er mithörte, die Worte ›ohne Milch‹ betonte – die Frau, die ich zu sein gedachte, sollte nämlich eine gefährliche und mysteriöse Frau sein, in deren Blut Koffein, Nikotin und eine [17] Verheißung flossen –, mir anschließend eine Zigarette mit der Glut ihrer Vorgängerin anzündete und mir den Schweiß abwischte, der sich über meiner Oberlippe gesammelt hatte, von der Hitze oder, wie ich damals fest glaubte, vom schöpferischen Elan, weil ich dachte, daß ich vielleicht endlich von einem Talentjäger entdeckt worden sei, oder wenigstens von einem Jäger anderer Sorte.
Ich war fünfzehn und bereute zutiefst, daß ich mir anläßlich der unerwarteten Begegnung mit dem Fremden nicht etwas Effektvolleres angezogen hatte, ein bodenlanges schwarzes Kleid etwa, Ohrringe vielleicht, oder eine dunkle Sonnenbrille, die von den seelischen Umwälzungen und dem Weltschmerz zeugen würde, die sich dahinter verbargen.
Der Fremde war gekleidet wie jemand, der keine besondere Aussage über sich treffen möchte: Jeans mit einem Gürtel, den wie bei Superman eine große, glänzenden Schnalle zierte, und ein gewöhnliches weißes Hemd, dessen Ärmel bis zum Ellenbogen aufgekrempelt waren. Auf den ersten Blick wirkte er wie ein Bürohengst.
An diesem Morgen saß niemand im Patio des Café Milano, weil die Sonnenschirme nicht viel Schutz boten und die Stammkunden die Deckenventilatoren vorzogen, die sich ebenso müde an der Decke drehten wie der Kellner seine Runden [18] zwischen den Tischen und die eher dekorativ als wirkungsvoll waren. Wir waren allein, ich und dieser Mann mit dem Aussehen eines Angestellten, der mit dem Rücken zu der von staubigem Efeu überrankten und von geschäftigen Insekten wimmelnden Brandmauer saß, eine Zigarette rauchte und mir ein Lächeln schenkte.
Ich legte den Bleistift ab und öffnete mit den Zähnen zwei Zuckertütchen; eines davon riß zu weit auf, und der Inhalt verteilte sich über den Tisch, was sofort zwei aggressive Wespen anzog, die sogleich surrend um die Tasse, den Aschenbecher und die klebrigen Gedichte kreisten. Der Mann erhob sich von seinem Platz, steckte seine Zigaretten und die Zündhölzer in die Brusttasche, und ich dachte, er würde gleich zahlen und mich mit meinen gesammelten unausgegorenen Plänen, die nun nicht mehr zu verwirklichen wären, allein lassen. Doch er kam an meinen Tisch, kratzte sich am Kopf und erklärte: »Man sitzt dort drüben nicht gut. Alles voller Stechmücken.«
»Ja«, gab ich zurück, »aber hier ist es noch gefährlicher, hier gibt es Wespen.«
Er setzte sich mir gegenüber und pustete die Zuckerkörnchen vom Tisch und fegte sogar mit der Hand nach; selbst die Servietten mit den Gedichten hob er hoch, um sie sanft auszuschütteln.
[19] »Das war’s, jetzt werden sie gleich verschwinden«, meinte er und verfolgte mit dem Blick die Wespen, die sich nur zögerlich vertreiben ließen und immer wieder gegen die Sonnenschirme prallten, bis sie schließlich verärgert surrend über die Efeuwand davonflogen und sich auf die Suche nach einem anderen süßen Plätzchen begaben.
Er bat den Kellner, ihm die Sachen, die er auf seinem Tisch an der Brandmauer gehortet hatte, zu meinem Tisch zu bringen, der jetzt anscheinend unserer war: ein Glas Wasser, eine Tasse Milchkaffee und ein halb aufgegessenes Käsesandwich.