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Anthony McCarten

Hand aufs Herz

Roman

Aus dem Englischen von
Manfred Allié

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 2009

bei Washington Square Press /

A Division of Simon & Schuster, Inc., New York,

erschienenen Originalausgabe:

›Show of Hands‹

Copyright © 2009 by Anthony McCarten

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2009 im Diogenes Verlag

Umschlagfoto von Lena Okuneva (Ausschnitt)

Copyright © Lena Okuneva/Trevillion Images

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24058 0 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60379 8

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Für
Margaret Mary McCarten
1921  2007

[7] Die Kandidaten

Am Morgen vor dem Wettbewerb sah Tom Shrift von seinem Fenster im ersten Stock aus zu, wie sein Nachbar seinen kleinen Rasen mähte. Hin und her zog er seine Bahnen, bis er sechs exakt parallele Streifen hatte, hellgrün, dunkelgrün, hellgrün, dunkelgrün; und ebenso wechselten in Toms Bauch die Gefühle – Neid, Wut, Neid, Wut.

Und schritten sie in alter Zeit

Auf Englands grünen Hügeln…

Wo waren Toms grüne Hügel? Wo konnten seine Füße frei dahinschreiten? Er lebte praktisch eingesperrt in dieser Wohnung im ersten Stock, auch das winzigste Stück Raum im Freien blieb ihm versagt (er hatte einen kleinen Balkon anbauen wollen, wie der, auf dem Julia ihrem Romeo lauscht, doch der Nachbar hatte erfolgreich beim Bauamt protestiert). Wehmütig betrachtete Tom diesen Rasen, der nicht seiner war, dann öffnete er einen kleinen Spaltbreit sein Fenster, und der Duft von frisch gemähtem Gras wehte herein.

Tom spürte diesen Mangel sehr. Es fehlte einfach etwas. Der eine mäht sein Gras, der andere sieht sehnsüchtig zu – wobei die Sehnsucht sehr viel leidenschaftlicher ausfällt als die stillvergnügte Freude am Besitz. Es wurmt einen, wenn [8] man etwas nicht hat, gerade wenn man jemand ist, dem dieses Etwas zusteht – jawohl, zusteht.

Tom wandte sich ab. Drei Uhren mahnten ihn, dass er sich beeilen musste, dass er jetzt schon spät dran war.

Er durfte sich von dem Kleinkrieg, der zwischen ihm und seinem Nachbarn tobte, heute nicht aufhalten lassen. Er hatte ein Vorstellungsgespräch in der Stadt. Eilig, aber sorgfältig zog er sich an. Er wählte eine auffällige Seidenkrawatte zum weißen Hemd. Er war ein Mann, der in den Kampf zog, und das schlug sich in seinem Fahrstil nieder; er fuhr mit genau jenem Grad von Aggressivität, den man brauchte, um im mörderischen Londoner Verkehr durchzukommen.

Eilig parkte er den Wagen. Fand das Hochhaus, das er suchte, und fuhr hinauf, hinauf, hinauf in einem gläsernen Aufzug, der außen an dem Gebäude entlangglitt. Gleich darauf saß er, prefekt gestylt, vor einem Angestellten der Personalabteilung einer großen Firma – Toms Todfeind, eine Art ferngesteuertes Hindernis zwischen ihm und dem Leben, das er verdiente.

Eine Transkription des Vorstellungsgespräches sähe so aus:

ANGESTELLTER DER PERSONALABTEILUNG: Sie waren bisher hauptsächlich selbständig tätig.

TOM: Mhm.

ANGESTELLTER: Das ist Ihnen lieber so? Gut. Wieso sind Sie dann hier?

TOM: Eine Pechsträhne.

ANGESTELLTER: Sie haben… Geburtstagskarten verkauft, sehe ich hier… Das ist ja süß.

TOM: Ich war Eigentümer und Geschäftsführer einer äußerst erfolgreichen Glückwunschkartenfirma mit [9] Geschäftsbeziehungen in vier Ländern. Unsere Spezialität waren hochwertige Reproduktionen von Kunstwerken. Dazu muss man eine Menge über Kunst wissen, und das tue ich.

ANGESTELLTER: Die Firma ist eingegangen?

TOM: Ich habe viel Geld in Lizenzen der Eremitage von Sankt Petersburg investiert. Man hat mich reingelegt.

ANGESTELLTER: Andere Gründe für den Bankrott? Persönliches Verschulden Ihrerseits?

TOM: Man hat mich belogen. Mir etwas vorgemacht.

ANGESTELLTER: Und sonst wäre die Firma noch im Geschäft? Gut. Okay.

TOM: Hören Sie, was soll das. Ich habe eine Menge Geld verloren. Vielleicht war ich…

ANGESTELLTER: Sie…?

TOM: Vielleicht war ich ein bisschen zu ehrgeizig. Das ist alles.

ANGESTELLTER: Sie wollen die Welt im Sturm erobern.

TOM: Ich will, dass die Welt weiß, dass ich gelebt habe, ja.

ANGESTELLTER: Ist das ein Zitat?

TOM: Schon gut.

ANGESTELLTER: Wir können also festhalten, Sie sind nicht allzu gut beim Kleingedruckten. Haben Sie noch Schulden von der Sache?

TOM: Sagen wir doch einfach, es ist der Grund dafür, dass ich mich für Ihre Art von Arbeit bewerbe.

ANGESTELLTER: Man könnte also sagen, Sie sind es eher gewohnt, auf meiner Seite des Tisches zu sitzen?

TOM: Na… das haben Sie gesagt, nicht ich. Ich sollte es… ich sollte es eigentlich nicht nötig haben, so hier zu sitzen.

[10] ANGESTELLTER: Nicht nötig… gut… dann lassen Sie uns mal sehen. Unverheiratet. Arbeitslos. Okay. Kinder?

TOM: Nein.

ANGESTELLTER: Keine Kinder… okay.

Tom merkte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Später würde er sich darüber aufregen, dass der Kerl nur immer das Negative herausgestrichen hatte. Sag mal was Gutes, du Wichser, flehte er innerlich. Warum liest du nicht »Mitglied von Mensa« in meinem Lebenslauf? Sag mal was Gutes! Wie viele Bewerber hast du denn in letzter Zeit gesehen, die auf den Gedanken gekommen sind, aus russischem Museumskrempel etwas Hübsches und Praktisches zu machen? Wie viele, du Scheißer?

ANGESTELLTER: Zweiundvierzig Jahre alt – Sie sehen nicht aus wie zweiundvierzig. Was ist Ihr Geheimnis? Liegt’s daran, dass Sie Single sind?

TOM: Das ist ein Geheimnis.

ANGESTELLTER: Viele in dem Team, für das Sie sich bewerben, sind erheblich jünger als Sie. Es ist ein sehr anstrengender Job, mit hohen Anforderungen.

TOM: Für mich ist Jugend nicht automatisch ein Vorzug. Ich bin zweiundvierzig. Ich bringe eine Menge Erfahrung mit. Mein Lebenslauf spricht für sich. Kommen wir zur Sache.

ANGESTELLTER: Würden Sie… würden Sie sagen, Sie sind ein Teamplayer, Tom?

TOM: Ein Teamplayer? Nein, ich würde nicht sagen, dass ich ein Teamplayer bin. Darf ich Sie mal was fragen – haben Sie überhaupt schon mal ein Bewerbungsgespräch geführt? Ehrlich. Nur eine Frage. Denn wenn ich mir ansehe, was [11] Ihr »Team« in den letzten zwei Jahren so geleistet hat, dann würde ich sagen, das Letzte, was Sie hier brauchen, ist einen »Teamplayer«.

Er hatte es versaut. Das war der Punkt, an dem der Mann ihm erklärte, Tom habe »einen aggressiven Charakter«, und dann war das Vorstellungsgespräch beendet. Und schon stand Tom wieder unten auf der Straße, atmete Kohlenmonoxid und schlug sich von neuem durch die Menschenmassen. Als sein Auto in Sicht kam – er hatte es kurzerhand in einer privaten Parkbucht hinter dem Odeon-Kino gelassen –, sah er zu seinem Entsetzen eine Politesse daneben stehen.

Er rannte los. O nein, bitte nicht. Nicht auch das noch. Er rannte, rang die Hände, flehte die kleine, weiße, uniformierte Engländerin mit dem kleinen bleichen Kindergesicht um Mitleid an.

»He, hallo… warten Sie. Hier bin ich!«, rief er, hielt die Hände in die Höhe, eine Geste der Unterwerfung. »Alles in Ordnung. Das ist ein kostenloser Parkplatz. Hier steht nirgends, dass man bezahlen muss. Ich parke immer hier. Ha-ha-halt! Lassen Sie’s gut sein! Ich bin doch schon so gut wie weg.«

Ohne ihn anzusehen, antwortete die Politesse: »Das ist kein öffentlicher Parkplatz, Sir.«

»Wer sagt das? Wo steht das? Hier steht nirgends ›Parken verboten‹. Oder sehen Sie etwas? Sagen Sie es mir. Zeigen Sie es mir.«

»Das ist kein öffentlicher Parkplatz, Sir. Es ist –«

»Och, nun seien Sie doch nicht so!«

»Das ist ein privater –«

[12] »Wo steht hier privat? Wo steht, dass er privat ist?«

»Er befindet sich auf dem Gelände des Odeon-Kinos, Sir, und ist reserviert für die Angestellten.«

»Seit wann denn das?«

»Es ist ein Privatgrundstück, und ich nehme an, Sir, Sie sind hierhergekommen, indem Sie in der High Street über den Bordstein gefahren sind. Das wäre eine zweite Ordnungswidrigkeit.«

»So sieht also Ihre Rechtsprechung aus! Und Sie, dürfen Sie ein Privatgelände betreten und übereifrig Strafmandate verteilen, nur weil Sie einen Bonus dafür kriegen? Mann, Leute wie Sie. Das hält einer im Kopf nicht aus. Ich kann mir das nicht leisten, verstehen Sie? Wollen Sie die Wahrheit wissen? Dann hören Sie zu. Ich habe nicht das Geld, um das zu bezahlen. Bitte.« Er breitete die Arme weit, wie ein Gekreuzigter: der Christus von Kensington. »Ich meine das ernst. Haben Sie doch ein bisschen Mitleid. Ich… Mir geht es gerade…« Er wusste nicht mehr weiter. »Ist das denn zu glauben… So eine blöde Kuh.«

Schweigen vonseiten der Politesse. Das gehörte zu den Anforderungen ihres Berufes.

»Sie machen Witze, oder?«

Die Frau tippte weiter ihre Daten ein.

»Sie stellen mir wirklich einen Strafzettel aus? Sie stellen mir… Ich fass es nicht – Das kann doch nicht… Leute wie Sie, das ist wirklich zu viel… beschissene Blutsauger wie Sie. Scheißvampire. Wisst ihr eigentlich, was ihr seid? Konkubinen des Satans!« Daraufhin blickte sie auf – immerhin, er hatte endlich einen Kontakt hergestellt. Diesen Moment der Schwäche machte er sich sofort zunutze. »Schämen solltet [13] ihr euch. Wie Leute wie Sie es mit sich selbst aushalten, ist mir ein Rätsel. Also, was… was kostet das? Das Strafmandat? Wie hoch ist es?«

Mit ungerührter Stimme. »Hundert Pfund. Weniger wenn Sie binnen vierzehn Tagen zahlen.«

»Und was ist Ihr Anteil? Wie viel stauben Sie ab? Fünfzig Prozent? Hab ich mir doch gedacht. Kein Wunder, dass ihr keinen davonkommen lasst. Scheißnutte. Ihr seid wirklich der Abschaum der Menschheit.«

Kaum hörbar entgegnete die Frau: »Wenn Sie meinen, Sir.«

Dann gab die Maschine an ihrem Gürtel eine Reihe von Surr- und Klicklauten von sich, und Toms Strafzettel kam heraus. Als er sich weigerte, ihn zu nehmen, steckte die Frau ihn in einen Plastikumschlag und klemmte ihn unter den Scheibenwischer. Und dann war sie auch schon weg.

Sofort änderte Tom seine Strategie – in der Großstadt muss man schnell reagieren – und fuhr zu einem Gartencenter bei sich in der Nähe. Das Blut kochte ihm noch in den Adern, als er durch die Gänge hastete, bis er fand, was er suchte: Unkrautvernichter. Auf dem Etikett, mit Totenkopfsymbol, der Aufdruck »Extra stark«. Ja, er war gern bereit, die unverschämten vierzig Pfund, die sie für dieses Gift verlangten, zu bezahlen. Es war ein geringer Preis, wenn man dafür einen Streit beilegen konnte, ein für alle Mal.

Obwohl er längst im Bett sein sollte, um sich vor dem Wettbewerb auszuruhen, blieb er bis nach Mitternacht noch wach und wartete, dass alle Geräusche in der Wohnung seines Nachbarn verstummten. Er war zur Tat entschlossen (und es war eine ungeheure Tat).

[14] Um Viertel nach zwölf klingelte sein Handy. Das Display verriet ihm, dass seine Mutter anrief. Dankbar für die Segnungen der modernen Technik schaltete er den Apparat aus, und die alte Dame konnte sehen, wo sie blieb. Das war kein Abend, an dem er sich noch einmal ihre sämtlichen Leidensgeschichten anhören wollte – ihr Versagen als Mutter, Toms Versagen als Sohn und so weiter und so fort. Erst um halb zwei wagte er sich die Treppe hinunter und öffnete, so leise er konnte, das Dreifachschloss der Haustür – klack, klack, klack – und schlich hinaus in die Nacht.

London bei Nacht. Ein Schimmer von elektrischem Licht, reflektiert von einer undurchdringlichen Dunstglocke aus Kohlenmonoxid. Hinunter auf den Rasen. Grünes Gras. Das Feld seines Feindes. Und Tom würde es vernichten.

Und schritten sie in alter Zeit

Auf Englands grünen Hügeln…

Seine Fußsohlen kribbelten auf den taufeuchten Halmen, und er kam sich mehr denn je wie ein Verbrecher vor. Sollte er seinen Plan noch einmal überdenken? Zu welchem weiteren Wahnsinn würde er das Tor aufstoßen? Er blickte hinüber zum finsteren Fenster der Nachbarswohnung und hoffte, dass der Geist alter Feindschaft, der ihn hierhergeführt hatte, wiederbelebt würde – das ewige Wie-du-mir-so-ich-dir, das sie sich nun schon seit zwei Jahren lieferten. Er hoffte, dass er noch einmal das perverse Gesicht seines Plagegeistes sähe, wie es zwischen den vergilbten Vorhängen hervorlugte, dieses dummdreiste Bauerngesicht, das böse Funkeln in den Augen. Doch im Fenster sah er nur sein [15] eigenes Spiegelbild – nichts als Tom Shrift, Dieb in der Nacht, Gießkanne in der Hand, zweiundvierzig, unrasiert, ein Gespenst im Mondschein.

Nur das Gewicht der Gießkanne erinnerte ihn wieder an seine Mission, und halbherzig goss er das Gift aus wie geplant. Grasmord. Ein ruchloses Verbrechen. Die Tat eines Irrsinnigen. Hierhin und dorthin schwenkte er die Kanne, gleichmäßig floss das Gebräu, bis kein einziger Tropfen mehr kam. Jetzt, dachte er, als er mit pochendem Herzen wieder ins Haus schlüpfte und die Tür vor seinen Taten und der Großstadt verschloss, in der er gefangen war, jetzt konnte er endlich mit seinem Leben weitermachen, seinem richtigen Leben.

Der Tag vor dem Wettbewerb war ein grässlicher Tag für Verkehrsaufsichtskraft 2061 gewesen, Jess Podorowski. Von den Leuten, denen sie Strafzettel verpasst hatte, waren mehr als üblich gemein geworden, manche hatten abscheuliche Sachen gesagt, und ein Mann hatte dermaßen gebrüllt, dass ihr seine Spucke ins Gesicht geflogen war. An Hass war sie mehr oder weniger gewöhnt. Doch Spucke, das war schon schwerer zu ertragen.

Und nie durfte sie etwas entgegnen. In diesem Punkt gab es in ihrem Beruf eindeutige Regeln: Sie hatte zu schweigen, hatte Beschimpfungen und Tiraden auszuhalten, ruhig ihrer Arbeit nachzugehen. Sie tippte die korrekten Daten in ihren Apparat ein, drückte auf START, händigte das Strafmandat aus und ging dann weiter – in gewissem Sinne war es die perfekte Arbeit für jemanden wie sie.

Sie hielt inne, um ihren Rücken zu strecken, ihre [16] schwache Stelle. Für ihre Lendenwirbel war diese Arbeit eine Qual. Neuneinhalb Stunden auf den Beinen, das spürt man. In ihrem Dienstbuch vermerkte sie ihre Position, die Zahl der bisher ausgestellten Mandate. Das war der Augenblick, in dem sie aufblickte. Und ihn kommen sah.

Was für ein Glück, endlich wieder sein Gesicht zu sehen, wie er da die Straße entlangkam, auf sie zu. Ein kleiner Stromstoß setzte ihre Zunge in Gang, und sie hatte den Namen ihres Geliebten wieder auf den Lippen. Maciek. Was für ein schöner Zufall, dass sie ihn gerade auf der Straße, auf der sie im Einsatz war, traf; das eine Gesicht sah, nach dem sie sich am allermeisten sehnte. Aber so war es ihnen ja immer gegangen, immer waren sie sich in Menschenmengen zufällig begegnet. Zufälle, unmögliche Begegnungen, hatten ihnen vom ersten Tag an zu verstehen gegeben, dass sie füreinander bestimmt waren.

Nur eines stimmte nicht. Maciek war tot. Seit zwei Jahren schon. Und so dauerte es nicht lange, bis das Gesicht, das sich ihr da näherte, den nichtssagenden Ausdruck eines Fremden annahm, bis es ihrem toten Mann weniger und immer weniger ähnlich sah und am Ende überhaupt nicht mehr.

Ihr Herz verkrampfte sich. Wieder war sie hereingefallen. Sie schüttelte den Kopf, drängte ihre Gefühle zurück, machte sich von neuem an die Arbeit. Sie musste weiter. Überall warteten ordnungswidrig geparkte Autos. Sie ging weiter ihre Runde. Sie hatte ja nichts anderes.

Jess Podorowski. Was gab es über sie zu sagen? Witwe. Neununddreißig. Eins fünfundsechzig. Bleiche Haut, slawische Züge. Ihre Mutter eine polnische Einwanderin aus Lodz, Vater aus Milton Keynes. Stumm geboren. Tat ihren [17] ersten richtigen Schrei erst drei Stunden später, schon auf der Station für Neugeborene. Stilles Kind, oft übersehen. Zur Unauffälligkeit bestimmt. Grüblerisch. Ließ zu viel durchgehen. Schluckte lieber dreimal. Und der Lohn für so viel Demut? Prügel von allen Seiten. Die Wege des Herrn sind unergründlich, murmelte sie und wanderte durch die Straßen von Westlondon.

Zum Glück war es wenigstens Freitag. Am Ende der 9-Stunden-Schicht zog sie wieder ihre Zivilkleidung an und eilte nach Hause, und der Bus hielt exakt in dem Augenblick vor ihrer Haustür, in dem auch der Schulbus kam und ihre kleine Tochter Natalie absetzte – Nat, ihren Liebling, querschnittsgelähmt, zu achtzig Prozent behindert und doch glücklich im Rollstuhl: Gott segne mein kleines Mädchen, betete Jess jeden Tag neu. Gott, segne sie.

Jess schob ihre Tochter zum Supermarkt an der Ecke und kaufte ein, dann griff sie zum Telefon und sagte ihrer polnischen Mutter Valeria Bescheid – einer osteuropäischen Matrone wie aus dem Bilderbuch –, damit sie auf die Straße kam und ihr half, Nat über die Rollstuhlrampe hinunter zu ihrer Souterrainwohnung zu bringen. Dienstboteneingang.

Das Abendessen war schnell verspeist, es folgte die allabendliche Tortur, als Natalie ins Bett gewuchtet werden musste, und dann setzte Jess sich zu ihrer Mutter an den Esstisch. Zündete sich eine Zigarette an. Griff zu Bluse, Knopf, Nadel und Faden.

»Oh, bitte mach das aus, Schatz.« Theatralisch wehrte Valeria den Rauch mit den Händen ab.

Ach, Mama, dachte Jess, immer die große Tragödin. Die [18] Bühne wäre ihr Leben gewesen. Sie war jetzt Ende Sechzig, aber immer noch ein Energiebündel aus schierer Mütterlichkeit. Valeria, die Polin. Unermüdlich arbeitete sie für Jess und für Natalie, kam mit zwei Stunden Schlaf pro Nacht aus, zündete in ihrem Einzimmerapartment über einem Wettbüro Kerzen für die Schwarze Madonna von Tschenstochau an, stand von Mitternacht bis sieben Uhr morgens auf Abruf bereit, fest davon überzeugt, dass ihre Nachfahren nicht halb so stark waren wie sie und dass sie jeden Augenblick gebraucht werden konnte. Und sie hatte ja recht. Immer und immer wieder klingelte das Telefon.

»Meine Lunge. Jetzt geht es wieder los. O nein.« Sie hustete. Dann noch einmal, eine Hand auf der Brust. »Bitte – bitte – kochanie…«

»Mama – Mama, glaub mir… deiner Lunge fehlt nichts.«

Hust, hust, hust. Jess seufzte. Sie kannte diese Auftritte. »Ja, schon gut«, gab sie nach und drückte die Zigarette in einer Untertasse aus. Eine Zeitlang schwiegen beide, einträchtig genug, dass Jess sich schließlich ein Herz fasste und fragte: »Könntest du – könntest du für einen Tag oder zwei auf Nat aufpassen?«

»Wann?«

»Morgen und Sonntag, vielleicht noch Montag.«

»Aber morgen und am Sonntag arbeitest du doch nicht…«

»Es geht um… es geht um einen Wettbewerb. Einen Wettkampf. Man kann ein Auto gewinnen. Man muss es anfassen, und derjenige, der am längsten seine Hand dran halten kann, bekommt es. Ein nagelneues Auto.«

»Sie verschenken einfach so ein Auto?«

[19] »Es ist ein Wettbewerb. Ich überlege… ob ich mitmache.«

Bedächtig schüttelte Valeria den Kopf. »Verrückt, so was. Einfach nur dastehen? Zwei Tage? Mit der Hand an einem Auto, wie ein głupiec?« Val konnte die stümperhaften Versuche ihrer Tochter im Knopfannähen nicht mehr länger mit ansehen. »Lass mich das machen. Gib her.«

Aber Jess ging nicht darauf ein und holte stattdessen aus ihrer Handtasche einen schicken Landrover-Prospekt, den sie während der Arbeit bei einem Autohändler in Olympia mitgenommen hatte. »Hier. Der hätte hinten genug Platz für Nats Rollstuhl. Ich könnte sie zu ihrer neuen Schule fahren. Sie müsste nicht ins Heim.«

»Natalie braucht ein Zuhause. Keine teure Schule.« Valerias Züge nahmen ihren alten trotzigen Ausdruck an.

»Es kostet nichts.«

»Sie will nicht im Heim leben, sie will hier bei uns sein.«

»Aber sie wird zu schwer. Ich kann sie nicht mehr ins Bett heben, und in die Badewanne schon gar nicht.«

»Wir machen es zusammen. Wir schaffen das schon.«

»Du wirst älter, Mama. Wie lange kommst du noch allein zurecht, wenn ich auf der Arbeit bin?«

Valeria zuckte mit den Schultern. Alte Maximen ka-men ihr in den Sinn. »Man hält durch, bis man nicht mehr kann.«

Nichts daran war neu. Die beiden Frauen hatten das alles schon unzählige Male besprochen. Beide wussten, dass die Schule für behinderte Mädchen, in die Nat kommen sollte, zu weit draußen lag, in Hampshire, wohin kein Bus des Sozialamts fuhr. Wenn sie ein Taxi nähmen, würde das die [20] gesamte Behindertenrente aufzehren, die sie jetzt über Wasser hielt. Immerhin waren die Behörden bereit, das Schulgeld komplett zu übernehmen, wenn Jess ihre Tochter täglich zur Schule und wieder nach Hause brächte. Dazu würden sie einen großen Wagen brauchen. Beide Frauen wussten das alles, doch die Diskussion darüber war ein Drama, das jeden Tag neu auf dem Spielplan stand.

»Wenn wir ein Auto hätten, könnte sie dort auf die Schule gehen und trotzdem hier wohnen. Ich muss dieses Auto gewinnen.«

»Jessie – du hast noch nie etwas gewonnen.« Valeria griff nach dem Nähzeug. »Und du machst das falsch. Hier, du musst den Faden drumwickeln.«

Jess sah ihre Mutter wütend an. Warum musste Valeria nur so sein? Warum musste sie mit der einen Hand nehmen, was sie mit der anderen gerade gegeben hatte? Warum musste sie für alles, was sie tat, die Rechnung präsentieren, bezahlt mit Jessies Nerven?

»Mach mir nicht dauernd Vorschriften. Kannst du nicht einfach –« Aber sie sprach es nicht aus. Sie biss sich auf die Zunge, wie üblich. Gestattete sich nicht, zu sagen, was sie gern gesagt hätte. »Ich muss etwas machen, verstehst du… Ich kann doch nicht ewig so weiter…« Sie gab es auf. Es hatte ja doch keinen Zweck. »Es ist schon spät. Du solltest nach Hause gehen.«

»So, wenn du meine Hilfe brauchst, dann bin ich willkommen. Aber wenn ich auch mal etwas sage…«

»Hilfst du mir oder nicht? Ja oder nein?« Sie brüllte es, ganz gegen ihre Natur.

»Wer hilft dir denn sonst schon?« Wieder herrschte [21] Schweigen, ein tiefes, triumphierendes Schweigen. »Niemand außer mir.«

Jess, frustriert, zog zu heftig, als sie prüfen wollte, ob der Knopf festsaß, und riss ihn wieder ab. Die beiden Frauen sahen sich an, beide hilflos zwischen Liebe und Enttäuschung, zwischen Loyalität und unausgesprochener Wut. Am Ende nahm Valeria dann doch das Nähzeug von ihrer Tochter und nähte den Knopf an, wie es sich gehörte.

Eine halbe Stunde später, als die Müdigkeit für einen fragilen Burgfrieden gesorgt hatte, erhob sich Valeria, stand da auf ihren Sauerkrautstampferbeinen und nahm ihre Strickjacke vom Stuhl.

»Ruf mich an, wenn du zu Hause bist«, sagte Jess. »Nur damit ich weiß, dass du wieder gut angekommen bist. Dreimal klingeln lassen. Ich hebe nicht ab.«

»Mir passiert schon nichts.«

»Dreimal klingeln. Vergiss nicht deinen Schal.«

»Den habe ich.«

»Mach’s gut. Dreimal klingeln, Mama.« Jess gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. Allmählich roch sie, wie alte Leute riechen: nach abgestandener Luft, nach saurer Milch in einem ungelüfteten Zimmer. Die Haustür schloss sich, und Valeria, mit Schal und Hut gegen den Wind gewappnet (und gegen dunklere Mächte durch eine in den Saum ihres Mantels eingenähte Christophorus-Medaille), erschien kurz vor dem Küchenfenster, wie sie höher und höher die Rollstuhlrampe hinaufstieg, bis sie auf der Straße angelangt war.

Jess drehte sich um und starrte den unabgeräumten Tisch an, die soßenverschmierten Teller, die Spuren von Nats [22] übergeschwapptem Milchglas, die fast wie die olympischen Ringe aussahen – und ein Wort kam ihr wieder in den Sinn, ein Wort, das sie an diesem Tag gesehen hatte. Jetzt fiel dieses Wort wie der sprichwörtliche Groschen:

START!

[23] Der Wettbewerb

1

Schon zwei Stunden vor dem offiziellen Start fanden sich die ersten Teilnehmer auf dem Hof des Autohändlers ein. Zu den Allerersten gehörte ein Landstreicher, gerade erst unter seiner Brücke aufgestanden, dessen pure Gegenwart inmitten dieser Zigtausende von Pfund teuren Fahrzeugflotte schon als Akt der Provokation wirkte, als schierer Vandalismus.

Aus der entgegengesetzten Richtung kam ein dicker Mann und schob einen ganzen Einkaufswagen mit Ausrüstung vor sich her: Kleidung, Kissen, Proviant und viele, viele Dosen Bier – alles, was er brauchte (nach seiner Vorstellung), um aus diesem Wettbewerb als Sieger hervorzugehen.

Ein Dritter kam, ein Vierter. Bald waren es zehn, dann zwanzig, es wurden dreißig, vierzig. Um halb neun waren es über achtzig. Selbst Wohlhabende kamen und stellten wieder einmal unter Beweis, dass man nie genug haben kann. Als es neun Uhr wurde, drängten sich gut 120 Menschen zwischen all den unverkauften Wagen, über denen ein Ballon mit der Aufschrift IHR GEWINN: EIN NEUES AUTO schwebte und sanft an seinem Drahtseil zog. Zehn Minuten später waren es [24] schon 150, dann noch mehr, die den metallic blau schimmernden, ultra-begehrenswerten Landrover umkreisten wie Spülwasser, bevor es im Abflussloch verschwindet.

Eigentümer des Landrovers war Terry »Hatch« Back von Back-to-Back (Olympia) Ltd., Neuwagenhandel. Er hatte sich unter die Teilnehmer gemischt, klopfte Wildfremden auf die Schulter, begrüßte sie begeistert mit »Hallo! Danke, dass Sie gekommen sind!« oder »Gleich geben wir die Regeln bekannt« oder »Hallo! Herzlich willkommen! Tolles Wetter haben Sie mitgebracht!«. Dann kehrte er zu seinem Assistenten Vince zurück, der sich abmühte, die Anwesenden zu zählen.

»Na, wie viele sind es? Ungefähr.«

Vince: »Zu viele.« Er schüttelte den Kopf. »Und es kommen immer noch neue dazu. Was sollen wir denn… Ich meine, was wollen Sie jetzt machen? So geht das doch nicht.«

Hatchs Antwort half nicht viel weiter. »Da gibt es was umsonst. Unglaublich. Sag ihnen, es gibt was umsonst, und die Leute drehen durch.« Bedächtig fuhr er sich mit dem Finger über seinen Haaransatz mit den Geheimratsecken, mit denen er wie ein Vampir wirkte. »Drehen vollkommen durch.«

Vince blieb bei seinen Bedenken. Als er Hatch zurück ins Büro folgte, sagte er noch drei weitere Male: »So geht das nicht«. Doch alles, was Hatch sah, wenn er durch das große Fenster auf die Menschenmenge blickte, war die wunderbare Lösung für all seine finanziellen Sorgen.

»Ich hab’s dir doch gesagt! Ich wusste, dass sie kommen. Ich wusste es!« Immer wieder ballte er seine kleinen Fäuste, zwei zusätzliche Pumpen, die die Arbeit des Herzens [25] unterstützten. »Und wenn es jetzt schon so voll ist, wie soll es da erst in…« Er blickte auf seine Uhr. »…in einer Stunde aussehen? Noch eine ganze Stunde, bis es losgeht.« Er lachte, ein einziger, kurzer, erleichterter Lacher. »Ich habe es gewusst! Ich hab’s euch gesagt!« Was für ein Aufatmen! Mit jeder Minute ließ er die Durststrecke der letzten zwei Jahre weiter hinter sich zurück. »Das wird… Seht es euch an. Das wird RIESIG. Seht es euch an! So viel Publicity könnte man nicht für Geld bekommen. So was kann man nicht kaufen. Nie im Leben.« Er drehte sich wieder zu seinem Juniorverkäufer um. »Ich jedenfalls nicht. Coca-Cola, Shell, Tesco, die können so was vielleicht, aber…«

»Aber Sie kaufen sie doch«, wandte Vince ein. »Genau das machen Sie. Sie bezahlen sie mit dem Auto. All die Leute da draußen, die kaufen Sie.«

Hatch ging nicht darauf ein; er hatte keine Lust, sich die gute Laune verderben zu lassen. »Wenn das so weitergeht, kommen wir noch in die Nachrichten. Was meinst du?«

Doch bevor Vince etwas antworten konnte, kam der dritte Verkäufer, Dan, herein und sah noch verdatterter aus als sonst. Dan, ein schwerfälliger Mann, Mitte dreißig, war das muskulöse, bedächtige Gegenstück zu dem nervösen, drahtigen Vince. (Hatch wusste, dass seine Angestellten beide keine großen Lichter waren, und wenn er ihnen eine Frage stellte, rechnete er nicht mit einer brauchbaren Antwort.)

»Dan, gut. Mach die… Mach die. Gut. Jetzt hört zu. Es geht um die Presse. Hört zu. Wenn die Leute von der Presse kommen, wenn sie da sind und euch was fragen, nach eurer Meinung oder sonst was, dann schickt ihr sie zu mir, klar? Schickt sie immer zu mir. Ich kümmere mich um –«

[26] Vince nahm noch einmal Anlauf. »Aber was machen wir mit –«

»Alles was mit… mit Publicity zu tun hat. Direkt zu mir.« Hatch tippte sich auf die Brust. »Habt ihr das verstanden?«

»Aber wir müssen irgendwie die Zahl beschränken, Hatch. So funktioniert das nicht.«

»Gut. Darum kümmerst du dich.« Hatch warf einen weiteren Blick auf sein Handy. Keine Nachrichten. »Aber die Journalisten immer direkt zu mir. Was hier zählt, das sind drei Dinge: Publicity, Publicity, Publicity.«

»Ich habe eine Idee«, fuhr Vince fort. »Wir losen die Teilnehmer aus. Damit wir auf eine vernünftige Zahl kommen.«

»Ja doch.« Dann kehrte das Lächeln zurück. »Wir müssen ein paar fortschicken, aber nicht zu viele. Es soll schließlich nach was aussehen.«

Vince hielt ein Post-it-Blöckchen in die Höhe. »Wir machen Lose. Vierzig, sagen wir mal. So stelle ich mir das vor. Jeder bekommt eine Nummer –«

Doch Hatch hatte sich bereits wieder umgedreht und blickte hinaus zu der Menge, seiner großen, landroververrückten Menge. »Da gibt es was umsonst. Ha! So sieht das dann aus.«

Vince: »Und wir müssen die Straße freihalten, sonst haben wir gleich die Polizei am Hals.«

»Schön. Gut. Kümmer dich drum. Und jetzt los. Das wird ein Knüller.«

Die beiden Verkäufer gingen wieder nach draußen. Hatch blieb am Fenster stehen. »Großartig«, murmelte er vor sich hin, »kommt her, meine Hübschen«, und schließlich »seht [27] sie euch an! Da gibt’s was umsonst, und seht euch an, was passiert!«

Als er sah, wie seine Frau Jennifer und die vier kleinen Kinder sich einen Weg durch die Menge bahnten, drehte er sich um, setzte sich an seinen Schreibtisch und wartete auf sie. Er stieß sich das Knie an dem Weltkriegs-Armeerevolver, den er mit Klebeband unter der Tischplatte befestigt hatte. Er hatte noch nie Gebrauch davon gemacht, aber wenn es so weiterging mit dem Vandalismus, würde er nicht zögern, jemandem einen Schrecken damit einzujagen. Er würde damit herumfuchteln und den Kleinkriminellen des Viertels zu verstehen geben, dass er bereit war, sein Eigentum notfalls auch mit der Waffe zu verteidigen.

Während er wartete, zog er das nagelneue Megaphon zu sich heran, das mit dem Schalltrichter nach unten auf seinem Schreibtisch stand: breit an der Basis, rot geringelt wie ein Leuchtturm; am anderen Ende ein Mikrophon, das auf seine ersten Anweisungen für die Teilnehmer draußen wartete. Er packte die Flüstertüte und schaltete sie ein. Ein elektrischer Aufschrei, und er hielt sie auf Armeslänge, bis das Pfeifen der Rückkoppelung nachließ, erst dann sprach er versuchsweise, mit leiser, belegter Stimme: Auf die Plätze – fertig – los.

Tom Shrift nahm den Fuß vom Gas und betrachtete das Tohuwabohu auf dem Hof des Autohändlers aus der Ferne. Was für ein Witz! Wie unglaublich jämmerlich die aussehen, wie traurig, wie verzweifelt, ja wie tragisch, dachte er einen Moment lang, doch dann fiel ihm wieder ein, dass er selbst einer von ihnen werden wollte.

[28] Er hatte sich früh auf den Weg gemacht, damit er Vorsprung vor den Mitbewerbern hatte. Er war fest entschlossen, dieses Auto zu gewinnen, aber das hatte er nun doch nicht erwartet. Wer hätte das gedacht? So viele verlorene Seelen. Meine Güte, das sieht aus, als wären sämtliche Mühseligen und Beladenen von ganz London hier zusammengekommen. Prolls im Trainingsanzug. Unrasierte Männer. Unansehnliche Frauen. Zukurzgekommene. Muskelmänner in den Vierzigern, Bierbauch, Badelatschen an den Füßen. Kampferprobte Mütter im schrillen Sportdress, Wasserflaschen an die Brust gedrückt, zu allem bereit. Alte. Junge. Jede Art von Opfer der harten Realität des Lebens. Und jetzt auch noch er, Thomas H. (für Horatio) Shrift, im Begriff, sich einzureihen, einer von ihnen zu werden, zu kämpfen, wie sie kämpften, Mann gegen Mann. Ihm wurde schlecht bei dem Gedanken. Er packte das Lenkrad seines tuckernden Fiat Punto (den geliebten Volvo mit seinem seidenweichen Schnurren hatte er vor kurzem verkaufen müssen) und starrte diesen Pöbel an: Desperados, einer wie der andere! Was für eine Demütigung, dachte er, wenn man über Nacht zum Nichts wurde, zu einem, der nichts hatte, wo das Haben doch für ihn immer eine Selbstverständlichkeit gewesen war.

Doch Tom war überzeugt, dass er ein Mensch war, der es verdiente, zu haben. Und wenn er erst einmal dieses Auto ergattert hatte – im Grunde war er sich ja sicher, dass er die Kraft hatte, in diesem Wettstreit zu triumphieren –, dann würde er sich auf der Stelle daranmachen, verlorenes Terrain zurückzuerobern. Er würde schon wieder auf die Beine kommen. Das war bisher noch jedes Mal so gewesen.

Er stellte das Autoradio ab und drehte den Innenspiegel [29] so, dass er sich betrachten konnte. Er wollte wissen, ob er immer noch aussah wie jemand, der in der Lage war, 150 andere zu schlagen. Doch, fand er, im Großen und Ganzen sah er nach wie vor so aus. Die buschigen Augenbrauen konnten ein wenig Aufmerksamkeit vertragen, wo das eine oder andere Haar sich kräuselte, aber sonst sah er einen gepflegten Mann, einen Mann, der etwas vorstellte – oder es zumindest bald tun würde. Einen besonderen Menschen. Jemanden, der Ehrgeiz im Leib hatte. Anders als die anderen also. Einen Mann von Begabung. Auch jetzt, schon in den Vierzigern, hatte Tom Shrift noch etwas Gewinnendes – das sah er im Spiegel. Wache Augen, ein freundliches Lächeln, energisches Kinn, darunter ein frisch gebügeltes Hemd, reine Baumwolle; breite Schultern, die Schultern eines kräftigen Mannes… Ja, er war nach wie vor der Typ, bei dem ein Fremder denken würde: »Auf den setze ich mein Geld.«

Mit dem angefeuchteten Zeigefinger strich er die Augenbrauen glatt. Wenn man allein lebte, hatte man oft keinen Blick für solche Details. Keiner machte einen Junggesellen darauf aufmerksam, dass sein Atem unangenehm war, dass seine Achselhöhlen stanken. Tom wusste, wie man solche Fallen umging, wie man zum Beispiel in die hohle Hand atmete und den Atem prüfte. In letzter Zeit schwitzte er heftig, zeigte schon jetzt Anzeichen der Wechseljahre, vielleicht wusch er sich zu oft, nahm zu viel Rasierwasser, mühte sich zu sehr, immer wie jemand auszusehen, der geliebt wird. Ein frisches Hemd jeden Tag. Er war nicht kleinlich. Kragen wurden mit Stäbchen verstärkt. Man durfte sich nicht gehenlassen. Unter den nun gezähmten Brauen und getrennt durch [30] die charakteristische lange Nase der Shrifts saßen zwei braune Augen, haselnussbraun genauer gesagt – die Augen seiner Mutter.

Ob er zurückrufen sollte, weil er am Vorabend nicht abgenommen hatte? Jeden Tag das Gleiche. Nein, zum Teufel mit seinen Eltern. Sein Vater hatte seine Mutter sitzenlassen, als Tom noch nicht einmal einen Monat alt gewesen war. Und Tom hatte nie eine Chance gehabt, mit ihm zu reden. Später hatte er diese Leerstelle in seinem Leben immer »das Nichts« genannt. Seine Mutter, die ihn jetzt vom Altersheim aus anrief und ihm Vernachlässigung vorwarf, war eine widerwillige Mutter gewesen, eine selbstsüchtige Frau, seine ganze Jugend hindurch. Erst jetzt, wo sie alt und einsam war, ließ sie von sich hören. Tag für Tag rief sie ihn an, und mittlerweile nahm er die Gespräche die meiste Zeit überhaupt nicht mehr entgegen. Sein ganzes Leben lang hatte sie nur das Allernötigste als Mutter getan. Jetzt tat er nur das Allernötigste als Sohn.

Genauso wie er aus seinem Telefon die Meldungen und Erinnerungen löschte, so befreite er nun auch seinen Kopf von überflüssigen Gedanken. Der Innenspiegel des Autos hatte ihm manch Positives zu erzählen. Was das Äußere anging, da hatte er alles, was er brauchte, um im Leben voranzukommen.

Wenn etwas an ihm nicht in Ordnung war – und er gab zu, dass es schon ein oder zwei Probleme gab –, dann zeigte sich das, wenn er den Mund aufmachte. Jedes Mal flog etwas heraus, was andere ärgerte. Er war schnell und schlagfertig, er sprach zu unverblümt, er konnte sich nicht zurückhalten. Vielleicht wusste er einfach zu viel. War das überhaupt [31] möglich? Er las gern: Seine kleine, doch makellose Junggesellenbude war vollgestopft mit Büchern; die Fernsehantenne stand auf einem Stapel Taschenbücher, schwere Nachschlagewerke streckten ihre Rücken aus den Regalen hervor, die Ecke des Sofas, der das Bein fehlte, ruhte auf Churchills Gesammelten Werken. Er las gern und hielt mit seinem Wissen nicht hinterm Berg zurück – warum sollte er auch? Warum den Mund halten, wenn ein Faktum falsch ist, ein Gedanke nicht logisch, ein Zitat falsch zugeschrieben? Wer hat denn etwas davon, wenn man den Dummköpfen freie Bahn lässt?

Also machte er den Mund auf. Das, was Tom in seinem Datenbankhirn hatte, wollte heraus. Sein Kopf war mit Superbenzin gefüllt, er brauchte nur einmal aufs Gas zu drücken, und ab ging die Post: Namen, Fakten, Zitate. Er konnte einfach nicht anders, er musste die Leute korrigieren, musste ihnen helfen, einen Irrtum loszuwerden, den sie ihr Leben lang mit sich herumgeschleppt hatten. Ein solches Verhalten war schon im normalen Alltagsbetrieb nicht förderlich, doch besonders unglücklich war es, wenn das andere Geschlecht ins Spiel kam. Welche Frau lässt sich schon gern Vorträge halten? Welche Frau will hören, dass sie im Unrecht ist, eine Sache falsch sieht, und das von einem Mann, der sich seiner selbst so sicher ist? Ja, sein Mundwerk hatte ihn schon mehr Stunden im Bett gekostet als dieses Mundwerk warme Mahlzeiten zu sich genommen hatte, aber was sollte er tun? Sollte er sich dumm stellen, nur damit er eine Frau ins Bett bekam? Wenn das der Weg zum Ziel war, dann war ihm sein Hirn zu schade dafür. Solche faulen Kompromisse würde er nicht machen.

Als Zwanzigjähriger hatte Tom einmal an einem [32] Intelligenztest teilgenommen und seine Kräfte mit Genies gemessen. Der Test bestätigte, dass er kein Dummkopf war. Das Ergebnis wies ihm einen Platz in den obersten 1 % der Menschheit zu – der Elite! Wie war es da möglich, dass – und hier stellte sich die alte Frage wieder neu, als er nun den Blick hob und von seinem Punto auf- und hinüber zu der Menschenmenge im Hof des Autohändlers blickte, zu der immer weitere hinzuströmten –, dass ein intelligenter Mann wie er, ein wahrer Gehirnathlet, sich dermaßen abstrampeln musste, um einfach nur zu überleben? Und gezwungen war, zu Maßnahmen wie dieser zu greifen?

Kurz: Wie hatte er so tief sinken können, dass er jetzt einen Fiat Punto fuhr?

Die Russen. Klarer Fall. Er war gerade erst aus Sankt Petersburg zurück, ein Riesengeschäft war ihm durch die Lappen gegangen, und daran waren die Russen schuld. Mit großen Hoffnungen war Tom gen Osten geflogen und wollte Lizenzen für Bilder aus der Eremitage erwerben, für seine Glückwunschkartenfirma – Masterpiece Cards, ein junges, doch gesundes Unternehmen (er verstand auch eine Menge von Kunst) –, aber er hatte die Apparatschiks nicht zur Vergabe der Abdruckrechte bewegen können, nicht »an einen Unbekannten«. Die Russkis hatten ihn angeschmiert. Erst hatten sie so getan, als sei es alles kein Problem, hatten sich immer einladen lassen, und dann hatten sie ihn fallenlassen wie eine heiße Kartoffel. Jetzt schuldete er Banken und Kreditkartenfirmen 67 000 Pfund und täglich kamen weitere Schulden hinzu. Die Hartherzigkeit der Geschäftswelt – es war unglaublich! – selbst für einen von Natur aus pessimistischen Menschen wie ihn. Er hatte sich für einen guten [33] Geschäftsmann gehalten, doch sein Intelligenzquotient hatte ihn nicht vor Lügen, Gaunereien, gemeiner Gerissenheit gerettet, und wer wusste schon, was sie in den Samowar getan hatten?

Er ließ den Wagen wieder an. Er ignorierte die Verkehrsposten, die Neuankömmlinge weiterwinkten, arbeitete sich im Schritttempo weiter vor und fand schließlich einen großartigen Anwohnerparkplatz, für den er die richtige Plakette hatte. Doch als er die Hand ausstreckte, um die Tür zu öffnen, zögerte er. War das nicht schrecklich, wenn man so tief sank, dass man an einem Durchhaltewettbewerb teilnahm? Vielleicht konnte er stattdessen diesen alten Fiat Punto verkaufen? Nein. Dessen Wert lag im negativen Bereich. Er würde noch für die Verschrottung zahlen müssen. Was hatte er sonst noch zu verkaufen? Seine Ideen? Ein Witz! – wer würde ihm die schon abnehmen? Wie stand es dann mit seiner großen Bibliothek? Verkaufen? Aussichtslos. So gut wie nichts wert – wer wollte heutzutage schon die gesammelten Schriften von Winston Churchill, gerade wenn sie auch noch mit Randbemerkungen des Lesers wie »Bravo!« oder »schwerer Fehler!« versehen waren? Und wenn er sich Arbeit suchte? Sich einfach nach einer festen Anstellung umsah? Ebenfalls Fehlanzeige. Das Vorstellungsgespräch am Vortag hatte ihm wieder einmal deutlich vor Augen geführt, dass er nur als Selbständiger eine Chance hatte. Was blieb denn noch? Was nur? Sein Blut verkaufen? In Großbritannien verboten. Und da Sir Bob Geldof wohl kaum ein Benefizkonzert für ihn veranstalten würde, blieb ihm also nur noch diese eine Wahl – diese billige, entwürdigende Wahl, bei der jedoch ein wertvoller Preis winkte.

Widerstrebend hob er den Blick zum Himmel, wo hoch [34] über dem Hof des Händlers der Reklameballon schwebte, und die Worte tanzten vor seinen Augen: IHR GEWINN: EIN NEUES AUTO. Ja, genau das. Ein Auto gewinnen und es gleich wieder verkaufen; zwanzig-, dreißigtausend würde ihm das einbringen. Er senkte den Blick wieder, schätzte ab, wie viele es sein mochten, die sich da in dem Hof drängten (ungefähr hundert), und beschloss, dass jemand sich dieser Herausforderung stellen musste. Und wer? Er selbst. Allein gegen alle, das Übliche.

Und so holte er aus dem Kofferraum, was er für den Feldzug brauchte, Proviant, Hilfsmittel – Kleidung, Lektüre, ein paar Medikamente und persönliche Gegenstände, alles mit viel Bedacht ausgesucht und genau geprüft: armeetauglich und für den Straßenkampf geeignet. Na, Tom war bereit. Er schulterte sein Marschgepäck und ging hinüber zu dem Autoladen. Amüsiert schüttelte er den Kopf über die schiere Größe der anstehenden Aufgabe.

Als er ankam, vermied er jeden Blickkontakt. Hier war jeder Mann auf sich gestellt und jede Frau auch. Keiner lächelte. Keiner nickte einem anderen zu. So war das. Die Schlacht hatte begonnen, und schon jetzt war ihm klar, dass sie durch psychologische Kriegsführung entschieden würde. Jawohl, der wachsamste, beharrlichste Verstand würde dieses Auto bekommen. Er hatte sich schlau gemacht, hatte recherchiert zu Fragen der Psyche bei solchen Wettbewerben. Der Verstand hielt die Belastungen des Schlafentzugs nicht lange aus, es kam zu Wahnvorstellungen, Zerstreutheit, negativem Denken. Kontrolle über die eigenen Gedanken, das war der Schlüssel zum Erfolg – wie gut man die Denkmuster beherrschte, Fehlfunktionen verhinderte, wie groß die [35] Reserven an beruhigenden, ausgleichenden, stabilisierenden Gedanken waren. Und er konnte sich nicht vorstellen, dass es in dieser Menge einen zäheren, zielstrebigeren Verstand gab als seinen. Was immer man an Eigenschaften brauchte, um eine Sache länger durchzuhalten als ein Rivale, hatte er, und er hatte reichlich davon. Seine Gegenoffensive hatte begonnen.

Jess Podorowski erstarrte, als sie die Menschenmenge sah. »Lieber Himmel.«

Sie zögerte. Auf einmal hatte sie jede Menge Zweifel. Mit ihrem angeschlagenen Rücken – die Bandscheibe am drittuntersten Wirbel schmerzte schon jetzt, und sie hatte ein wenig Fieber (sie musste sich wohl mit irgendwas angesteckt haben) –, wie sollte sie da so etwas durchhalten?

Sie sprach ein kurzes, stummes, flehendes Gebet: Lieber Gott, wenn es wahr ist, dass es nur die gibt, die gesegnet sind, und die, die leer ausgehen, dann lass mich doch ein Mal, nur dies eine Mal, auf der richtigen Seite stehen…

Jess war eine fromme Frau. Sie nahm ihre Gebete ernst, und sie hatte keine Hemmungen vor Gott. Alles wurde ihm angetragen. Und als neununddreißigjährige Witwe, die für eine behinderte Tochter zu sorgen hatte und bei Tage unter dem Namen Verkehrsaufsichtskraft 2061 geführt wurde – durchnummeriert wie Androiden –, die sich neun Stunden pro Schicht durch die Straßen schleppte, schlecht bezahlt noch dazu, und sich die übelsten Unflätigkeiten von den Fahrern anhören musste, denen sie ihre Strafzettel verpasste… da hatte sie Gott schon allerhand anzutragen.

Aber sie beschwerte sich nicht.

[36] Das hatte sie sich schon lange abgewöhnt. Als sie zur Welt kam, hatte die Hebamme sie für stumm erklärt – sechs Stunden später überraschte die kleine Jess eine Krankenschwester mit einem leisen Wimmern. Als sie älter wurde, hatte sie diese merkwürdig schweigsame Art zur Vollkommenheit entwickelt. Sie hielt sich lieber an Dinge. Machte aus dem Aushalten eine Kampfsportart. Im stillen Widerstand gegen die Wut der Leute, denen sie ihre Strafmandate aushändigte, war sie ein Profi – immer ein leises Lächeln auf den Lippen und im Geiste ein Gebet. Sie dachte bei sich nur: Paulus haben sie verachtet, weil er Steuereinnehmer war, die Leute haben Steine nach ihm geworfen, und doch hat Gott sich seiner angenommen. Dann soll Gott sich jetzt auch meiner annehmen. Ihr katholischer Glaube war wie eine Rüstung für sie. Am Sonntag ging sie in die Kirche, betrachtete den viel zu selten angebeteten Christus hoch oben an seinem Kreuz, die Arme ausgebreitet zum Zeichen seines Opfers – na, bei ihrer Arbeit gab es ja auch kleine Golgathas. Sie wurde angeschrien und sehnte sich danach zurückzubrüllen, doch ihre Lippen waren versiegelt. Was denkst du eigentlich, wer du bist? Du Miststück! Du Drecksau! Du Hure! Jedes Wort ein Nagel. Nach zwei Jahren im Dienst kannte sie jedes Wort, das der Pöbel ihr um die Ohren schlug, zwei Jahren in einem Beruf, für den kaum eine andere weißhäutige Frau in England sich schlecht genug fand. In ihrer lächerlichen Uniform – Schirmmütze, schwarzes Kostüm, neongrüne Weste, in der sie noch vom Mars aus sichtbar war – kontrollierte sie die abgelaufenen Parkuhren, straßauf, straßab. Menschen und ihre Autos, lieber Gott! Wenn sie ihre Runde machte, sprach sie darüber oft mit Gott: wie sehr sich [37] Menschen und ihre Autos glichen. Ein Mercedes C-Klasse und der typische C-Klassen-Besitzer; der Börsenmakler hinter dem Steuer seines 3er-BMWs; die tolle Frau, die gerade ihren Jaguar-Sportwagen abschließt, Wagen und Fahrerin makellos, sanft schnurrend, selbstbewusst, wohlgepflegt, weitaus mehr Kraft, als sie je brauchten, Vollautomatik, nur einen Knopfdruck entfernt. Sie beneidete sie um ihren Luxus und ihren Lexus. Wenn man sich das vorstellte: Leute, denen es vollkommen egal war, wenn sie ein Strafmandat bekamen!

Aber die abgelaufenen Parkuhren der Armen – das war eine ganz andere Geschichte. Jammergestalten in rostigen Renaults – schwachbrüstigen Autos bar jeder Elektronik, die schon im nächsten Augenblick die Pannenhilfe brauchen konnten, kaum noch einen Tropfen Benzin im Tank – das waren die Leute, die ihr eine einzelne Münze hinhielten, als ob sie ein Teufel sei und die Münze ein Talisman. Geldnot stand ihnen ins Gesicht geschrieben, verzweifelt hofften sie, dass sie die Münze noch in den Schlitz stecken durften, damit sie nicht eine Woche lang am Hungertuch nagen mussten.

Immer, immer fühlte Jess sich schuldig, dass sie die vom Leben Benachteiligten noch um eine weitere Stufe tiefer stieß, und ließ sich oft genug erweichen. Sie zählte sich ja selbst unter diese beinahe schon Mittellosen. Kein Lexus, kein Luxus für Jess Podorowski. Sie wusste, was für ein Loch achtzig Pfund Bußgeld in die Haushaltskasse rissen.

Als sie die Menschenmasse auf dem Hof des Autohändlers sah, zog ihr Magen sich zusammen. Es waren sogar ein paar bekannte Gesichter darunter. »Meine Güte, das ist doch… Kennst du den? Weißt du noch?«, sagte Jess zu ihrer Mutter [38] und Natalie neben ihr. »Der ist ja von unserer Bank! Ich hätte gedacht, der hat genug auf dem Konto! Was macht der denn hier? Und da, das ist doch…« Sie wies auf einen Mann, der einen Nylon-Windschutz errichtete, als wolle er sein Lager am Strand aufschlagen. »…der ist aus unserer Kirche, er reicht immer den Klingelbeutel rum. Da sind Leute hier, die kenne ich tatsächlich.« Sie zählte, wie viele es waren. Als sie bei fünfzig angekommen war, gab sie auf und verdoppelte die Zahl. Hundert mindestens. Entschieden zu viel.

»Gott, ich hätte nie gedacht, dass das so viele werden. Ich dachte, zu so was kommen nur ein paar Leute.«