Dr. theol. h.c. Gerhard Wehr, geb. 1931 in Schweinfurt/Main. Nach langjähriger Tätigkeit auf verschiedenen Feldern der Diakonie und der Erwachsenenbildung, zuletzt als Lehrbeauftragter an der Fachakademie für Sozialpädagogik in Rummelsberg/Nürnberg, arbeitet er als freier Schriftsteller in Schwarzenbruck bei Nürnberg. Ein Großteil seiner Werke zur neueren Religions- und Geistesgeschichte ist in mehreren europäischen und asiatischen Sprachen verbreitet.
Die philosophische Schule Plotins gab Dionysius Areopagita die Möglichkeit, mit der Vorstellung von dem Ewigen und namenlosen „Einen“ an die Mysterien der Christenheit und ihre Esoterik heranzuführen: an die himmlischen und irdischen Hierachien, an die Namen Gottes, die zum Unnennbaren hinführen, insbesondere an die Mystische Theologie. In einer gleichnamigen Schrift hat Dionysius gezeigt, inwiefern alles menschliche Reden von Gott seinem Thema gar nicht gerecht werden kann. Eher muss von der nicht erhellbaren Dunkelheit der Gottheit gesprochen werden.
Die aus den genannten Schriften sowie aus einigen Briefen ausgewählten Texte zum Geheimnisgrund mystischer Erfahrung machen verständlich, weshalb dieser große Unbekannte aus der Geschichte der Mystik nicht wegzudenken ist.
An der Spitze der abendländischen Mystik steht der Name eines berühmten Unbekannten. Er hat sich nach einer neutestamentlichen Gestalt im Umkreis des Apostel Paulus, nämlich Dionysius vom Areopag in Athen, genannt (Apostelgeschichte 17). Tatsächlich handelt es sich um einen bis heute nicht identifizierten ostkirchlichen Theologen, der um 500 gelebt hat, durch die philosophische Schulde Plotins und dessen Nachfolger gegangen ist. Seiner theologiegeschichtlichen Bedeutung nach steht er neben Augustinus und Thomas von Aquin. Weder Meister Eckhart, Nicolaus Cusanus noch Angelus Silesius samt ihres jeweiligen Umkreises sind ohne Dionysius Areopagita zu denken.
„Wahre Erkenntnis Gottes wurzelt
im Nichterkennen!‘
Dionysius Areopagita
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Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2013
Lektorat: Dr. Bruno Kern, Mainz
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I. Vom „Paulus-Schüler“ zum Kirchenvater
II. Der geistesgeschichtliche Hintergrund
III. Die Werke des Areopagiten
Über die himmlische Hierarchie
(De caelaesti hierarchia – CH)
Über die kirchliche Hierarchie
(De ecclesiastica hierarchia – EH)
Über die göttlichen Namen
(De divinis nominibus – DN)
Über die mystische Theologie
(De mystica theologia – MTh)
Briefe (EP)
IV. Seine mystische Theologie
Elemente
Wirkungen
Aktualität
V. Die Texte
Zur Überlieferung göttlicher Namen
Von der Offenbarung
Von der Kraft des Gebets
Wirkweisen des Guten und Schönen
Über das Leben
Über Weisheit, Wahrheit und Glauben
Auf dem Weg zur Erlösung
Vom Großsein und Kleinsein der Gottheit
Der Allherrscher als der Alte der Tage
Über den Frieden
Von der Heiligkeit Gottes
Über das Vollkommene und das Eine
Gott, der Unerkennbare
Zur Disziplinierung der Priester
Worte der Weisheit und der Erfahrung
Schlusswort
VI. Stimmen und Zeugnisse zu Dionysius Areopagita
VII. Literatur
Übersetzungen
Sekundärliteratur
„Einige Männer schlossen sich dem Apostel Paulus an und kamen zum Glauben, darunter Dionysius, ein Mitglied des Areopags von Athen, sowie eine Frau mit Namen Damaris, dazu einige andere aus ihrem Kreis.“ (Apg 17,34)
Athen, das bedeutende Zentrum antiker Philosophie, ein herausragender Ort abendländischer Bildung und Kultur, stellte eine wichtige Station auf den Missionsreisen des Apostels Paulus dar. Darüber berichtet die Apostelgeschichte, die dem Evangelisten Lukas zugeschrieben wird. Das 17. Kapitel berichtet von dem offensichtlich nicht gerade erfolgreichen Ertrag dieser Unternehmung des Apostels. Im Gegensatz zu anderen griechischen und kleinasiatischen Städten, die Paulus aufsuchte, kam es in Athen offensichtlich nicht gleich zur Begründung einer christlichen Gemeinde. Das Neue Testament kennt auch keine Briefe an die Athener, die etwa den paulinischen Korintherbriefen und anderen vergleichbar wären.
In der Stadt, in der aus vorchristlichen Tagen bis zum Jahr 529 nach unserer Zeitrechnung die berühmte platonische Akademie für die Pflege des philosophischen Forschens und Lehrens gesorgt hat, begegnete dem Verkünder der Auferstehungsbotschaft eher eine unverkennbare Skepsis, ja Spott. Da weiß man seit Sokrates und seit Platon wohl von der Unsterblichkeit der Seele. Sie war Voraussetzung des Philosophierens. Aber die Verkündigung der Auferstehung des ganzen Menschen kam den Griechen so befremdlich vor wie kaum eine andere Glaubensanschauung. Das war auf dem Areopag nicht viel anders. Was diesen Ort anlangt, so handelte es sich um den berühmten, dem griechischen Gott Ares geweihten Hügel nordwestlich der Akropolis. Auf dem Areopag war der berühmte Gerichtshof der Athener angesiedelt. Und wenn es vorerst auch nicht zu einer nennenswerten christlichen Gemeindebildung kommen konnte, so hält die Schilderung des Evangelisten Lukas zumindest den Namen eines Mannes fest, der vom Auftreten des Paulus beeindruckt war. Ihm und seiner eigentümlichen Predigt schenkte er Vertrauen. Im Bericht heißt es: „Er wurde gläubig.“ Das spricht für ungeteilte Zustimmung.
Dieser Mann trägt den Namen Dionysius. Aber im Neuen Testament ist von ihm kein weiteres Mal mehr die Rede. Auch in den Briefen, in denen Paulus Männer und Frauen, mit denen er auf seinen Reisen bekannt geworden war, mit Grüßen bedachte, wird Dionysius nicht nochmals erwähnt. Man hätte ihn im Fortgang der Kirchengeschichte vermutlich vergessen, wenn nicht um das Jahr 500 – also etwa viereinhalb Jahrhunderte später – eine Sammlung von bedeutsamen theologisch-mystischen Schriften aufgetaucht wäre. Als Verfasser signierte auffälligerweise ein „Dionysius vom Areopag“. Das erweckte großes Erstaunen und Vermutungen, die auf ihre historische Stichhaltigkeit zu überprüfen waren. Wie sich zeigen sollte, war das lange Zeit nicht möglich.
Weil in den Texten auf Paulus und selbst auf Ereignisse aus der letzten Lebenszeit Jesu gelegentlich Bezug genommen wird, war die Überraschung besonders groß: Ein Schüler, wenn nicht sogar ein früher Nachfolger und Mitarbeiter des Paulus schien nunmehr in einer Reihe von Schriften sowie in einigen persönlich gehaltenen Briefen mit speziellen Unterweisungen an die Öffentlichkeit getreten zu sein. Sollte dies zutreffen, dann hätte man es mit Dokumenten zu tun, die aus der Zeit der Evangelisten und Apostel stammen, also hohe Beachtung verdienen. Konnte man der Kunde trauen oder war das da und dort geäußerte Misstrauen angebracht?
Das Aufsehen war in der Tat beträchtlich, sodass man – von gelegentlich geäußerten Vorbehalten oder Zweifeln an der Echtheit der Texte abgesehen – eineinhalb Jahrtausende hindurch überzeugt war, man sei im Besitz der geistigen Hinterlassenschaft eines Apostel-Schülers. Von daher genossen diese Schriften des angeblichen „Areopagiten“ aus der Mitte des 1. Jahrhunderts eine nicht minder kanonische Bedeutung als die des Paulus und der übrigen Schriften des Neuen Testaments. Kein Wunder:
„… niemand hätte es im Mittelalter gewagt, den ‚Apostelschüler‘ Dionysius anzugreifen oder eines seiner Werke zu verurteilen, aber wer seine (philosophische) Einheitslehre übernahm und weiter ausbaute, wie Johannes Scotus oder Meister Eckhart oder auch Nikolaus von Kues, geriet in den Verdacht eines häretischen Pantheismus, weil die Trennung von Gott und Geschöpf nicht gewahrt schien“1.
Infolge dieser außerordentlich lange währenden hohen Einschätzung des im Grunde unbekannten, nicht identifizierbaren Verfassers fanden diese griechisch abgefassten Texte sowohl in der griechischen Kirche des Ostens wie in der lateinisch-sprachigen Kirche des Westens hohe Wertschätzung und weite Verbreitung. Dafür sorgte eine Reihe von Übersetzungen, begleitet und ergänzt von Kommentaren aus der Feder prominenter Theologen, die ihrerseits die Rezeption des gesamten Textbestandes – Corpus Dionysianum (CD) genannt – unterstützten. Doch der begründete Widerspruch blieb nicht aus; er kam, wenngleich mit erheblicher Verspätung.
Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts (1895) konnte durch Hugo Koch und Josef Stiglmayr S.J. der wissenschaftliche Nachweis erbracht werden, dass es sich tatsächlich nicht um die Schriften eines frühen Paulus-Anhängers handeln könne. Vielmehr gehe es um Abhandlungen, die frühestens gegen Ende des 5. Jahrhunderts verfasst worden sein müssen. Sie setzten beispielsweise die Kenntnis von philosophischen Vorstellungen voraus, die erst lange nach der urchristlichen Zeit das Denken bestimmten. Im Übrigen sei die Abhängigkeit von philosophischen Entwürfen, die auf den (nichtchristlichen) Neuplatonismus, speziell auf den Philosophen Proklos2 wörtlich zurückgehen, unverkennbar. Von daher ergibt sich die inzwischen üblich gewordene Datierung der Niederschriften für die Zeit vor 500. Für die mögliche Autorschaft wurden seitdem zwar mehrere Zeitgenossen vorgeschlagen. Man meinte beispielsweise, hinter seinem Namen verberge sich der Patriarch Severus von Antiochia. In der Zeit seines Lebens als Eremit habe er die Dionysica abgefasst. In die theologischen Lehrstreitigkeiten seines Jahrhunderts verwickelt, ist er um das Jahr 539 exkommuniziert verstorben.
Doch ist der tatsächliche Autor der fraglichen Schriften bis heute keinem der Genannten zweifelsfrei zuzuordnen. Die meisten dieser Vorschläge, die ohnehin nur eine begrenzte Plausibilität haben, gelten derzeit durchwegs als widerlegt.3 Das heißt, der Verfasser gilt weiterhin als unbekannt. Von daher findet die Bezeichnung Pseudo-Dionysius Areopagita Verwendung. Weder der Gehalt seiner Aussagen noch die nachhaltige Rezeption der auf seinen Namen lautenden Texte konnte daran etwas ändern.
1 Josef Koch: Augustinischer und dionysischer Neuplatonismus und das Mittelalter, in: Platonismus in der Philosophie des Mittelalters. Hrsg. Werner Beierwaltes. Darmstadt 1969, S. 342.
2 Proklos, aus Lykien in Kleinasien, aus Syrien oder Konstantinopel stammender Philosoph in der Nachfolge Platons, als Leiter der Philosophenschule von Athen wichtiger Vertreter des Neuplatonismus (gest. 485 in Athen). Vgl. Werner Beierwaltes: Procliana. Spätantikes Denken und seine Spuren. Frankfurt 2007.
3 Gerard O’Daly, in: Theologische Realenzyklopädie (TRE). Berlin 1981, Bd. 8, S. 773.
Ehe von Dionysius und seinem Werk, dem Corpus Dionysianum (DC), gesprochen werden kann, ist ein Blick auf die geistig-philosophische Welt zu richten, in der der möglicherweise aus Syrien stammende, bis heute namenlose christliche Theologe, etwa ein Mönch, beheimatet war und aus deren Quellen dieser Dionysius geschöpft hat. Es ist die erwähnte, auf dem Fundament der griechischen Philosophie aufbauende Basis des Neuplatonismus. Sie steht in der geistigen Nachfolge von Platon (gest. 347 v. Chr.) und geht in frühchristlicher Zeit von Denkern vom Range eines Plotin (205–270), dem Leiter einer Philosophenschule in Rom, aus. Ihm hat sich eine Reihe weiterer Denker angeschlossen, unter ihnen vor allem Proklos (ca. 412–485). Für sie, die nichtchristlichen Philosophen, war Gott und der Grund des Seins das unerkennbare „Eine“ (griech. to hén). Damit war eine Kategorie benannt, die für die abendländische Mystik bedeutsam werden sollte und mit der der vermeintliche Areopagite zum „Gründervater dieser Mystik“ prädestiniert war.
Insbesondere durch Plotin wurde dieses überaus hoch bewertete Eine zugleich Inbegriff des Guten und damit des universalen, des göttlichen Weltprinzips, das allem Seienden zugrunde liegt. „Es ist nicht nur über das Sein, sondern auch über das Denken erhaben, weil es nichts anderes als schlechthinnige Einheit ist. Proklos entwickelt diesen Gedanken … Es findet sich in jedem Ding, das eines ist; und insofern es ist, das heißt Sein hat, insofern muss es auch eines sein.“4 Es blieb dem Pseudo-Dionysius vorbehalten, dieses letztlich nicht definierbare Eine zu umschreiben, unter anderem in seinem Buch von den Göttlichen Namen.
Auch die Seele des Menschen entstammt diesem Einen. Doch in ihrer irdischen Verkörperung existiert sie von ihm getrennt. Das wird als ein Mangel und als leidvoll empfunden. Daher muss sie bestrebt sein, in diese einst verlorene Einheit zurückzufinden, eine Anschauung, die ihre Wurzeln bereits in der Philosophie Platons hat. Die Vorstellung, dass sich der Mensch als „verlorener Sohn“ derzeit in der Fremde befinde und gleichsam heimwärts strebe, findet sich auch in anderen religiösen und weltanschaulichen Zusammenhängen, beispielsweise im Gnostizismus.
Auf Platon führt Plotin seine Lehre vom Ur-Einen zurück. Auch wollte Plotin letztlich nichts anderes, als Interpret des großen Athener Philosophen und des Platonismus sein. „Insbesondere der Gedanke des Aufstiegs der Seele wies die Möglichkeit dazu. Aber dass sich zugleich eine andere, eigene Weltauffassung bei Plotin zeigte, ist offenbar: 1. Der Weg der Seele ist für Plotin nur als Rückweg zu begreifen, dem der Herweg, das Hervorgehen, vorangegangen sein muss … 2. Plotins Blick ist ganz auf das ‚Eine‘ gerichtet, aus dem alles hervorgeht und in das alles zurückkehrt, das von ihm auch als das Gute oder die Gottheit bezeichnet wird … Aus der Überfülle des Ur-Einen geht nach Plotin das Viele durch Ausstrahlung (griech.: éklampsis; lat.: emanatio) hervor, wie von der Sonne Licht und Wärme, von dem Schnee Kälte ausstrahlen, ohne dass sie deshalb etwas von ihrer Substanz verlieren.“5 Schon hier wird deutlich, dass derartige Vorstellungen für die sich nach und nach entfaltende abendländische Mystik bedeutsam werden dürften. Ähnliches gilt für weitere Geistesbewegungen, etwa für den Idealismus, für den allem irdisch Wirklichen der veränderlichen Erscheinungswelt die unveränderliche, ewige Welt der Ideen zugrunde liegt.
Die erste Ausstrahlung ist nach platonischer Deutung die Vernunft, der Geist (nous); ihm immanent sind die Ideen oder Urbilder, die zugleich als bewegende Kräfte (dynámeis) begriffen werden. Als Vermittlerin zwischen der geistigen und der körperlichen Welt fungiert die Seele (psyché). Sie empfängt anschauend den Inhalt des Geistes, die Ideenwelt, und formt nach diesem Urbild aus der Materie die Sinnenwelt, einschließlich der ihr anhaftenden Naturkraft (phýsis). Eine Fülle weiterer Emanationen oder Ausstrahlungen schließt sich an. Was Plotin und sein Erkenntnisstreben anlangt, so ist zu berücksichtigen, dass er nach dem Zeugnis seines Biografen einige spirituelle Erleuchtungserlebnisse gehabt habe, die ihn der inneren Gewissheit seiner Theorie versicherten.
In seinen Schriften, den Enneaden, macht der Philosoph auf die geistige Verpflichtung des Menschen aufmerksam. Damit setzt er präzise ethische Normen: „Da nun die Seele ein so wertvolles, ein göttliches Ding ist, so halte dich durch solche Begründung nunmehr überzeugt, dass du mit einem solchen Mittel zu Gott gelangen kannst, und steige gerüstet zu ihm hinauf. Gewiss wirst du ihn nicht ferne antreffen, der Zwischenstufen sind nicht viele. Stelle dir also den ihr nach oben benachbarten Bereich vor, welcher noch göttlicher ist als sie, die göttliche, ist, nach dem und von dem die Seele kommt … Sie ist ein Abbild des Geistes, so wie der ausgesprochene Gedanke ein Abbild des Gedankens (Wort, lógos) in der Seele ist, so ist die Seele selbst der ausgesprochene Gedanke des Geistes, die ganze Wirkungs- und Lebenskraft, die er ausströmt, um ein anderes zur Existenz zu bringen.“6 Als später Nachfahre von Platon und Aristoteles, der am Ende des klassischen Altertums steht, gilt Plotin als „der bedeutendste Denker und der folgenreichste Anreger“ (R. Harder).
Als bedeutendster unter den Schülern Plotins gilt der bereits erwähnte, möglicherweise aus Syrien stammende Philosoph Proklos, somit mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein Landsmann des Pseudo-Areopagiten.7 Er ist es, der ein bedeutendes Bindeglied zwischen der antiken Philosophie sowie Theologie platonisch-plotinischer Prägung und dem frühen Christentum einschließlich seiner Theologie verkörpert. Damit ist sie zugleich ein geistiger Brunnquell der in immer neuen Stromgebieten über Europa sich ausbreitenden christlichen Mystik, unter anderem Meister Eckharts und der rheinischen Mystik. Sie bedient sich somit auch nichtchristlicher Denkformen. Mit ihnen vermochte sich Dionysius als christlicher Theologe gedanklich zu verbinden, nicht selten bis in eine wörtliche Übernahme hinein, so etwa mit Wendungen in den Initia Theologiae, den theologischen Anfängen des Proklus, die die Aufgabe einer Einführung zu erfüllen haben. Im Rahmen des insbesondere in der östlichen Kirche sich abzeichnenden Hellenisierungsprozesses tritt die Tradition der hebräischen Bibel für weite Teile der Christenheit in den Hintergrund. Diese Entwicklung hatte nachhaltige Wirkungen in Theologie und Glaube. An die Stelle des Menschen Jesus von Nazaret tritt mehr und mehr der Mensch gewordene Gott, dargestellt und verehrt als der imperiale Kosmokrator. Davon ist Dionysius Areopagita samt seinen philosophischen Gewährsleuten nicht unberührt geblieben. Bei Proklos heißt es beispielsweise:
„Urgrund und erste Ursache von allem Seienden ist das Gute. Denn wenn alles aus einer einzigen Ursache hervorgeht, so muss man entweder das Gute als diese Ursache annehmen oder etwas, das noch höher wäre als das Gute … Was sollte aber höher sein als das Gute, da wir gerade das für das Höhere erklären, was in reichem Maße am Guten teilnimmt?“ – „Alles Göttliche selbst ist schon durch seine überwesentliche Einheit unaussprechlich und unerkennbar für alles Zweite, Abgeleitete. Von denen aber, die daran teilnehmen, kann es erkannt werden Daher ist allein das Erste vollständig unerkennbar …, denn die Götter sind über alles Seiende hinaus …“8
Es besteht also die Zuversicht stiftende Gewissheit, dass es Gotteserkenntnis gibt und dass Teilhabe am Göttlichen möglich ist. Daraus resultiert für den Menschen eine Verpflichtung, das Verlorene als höchstes Gut unablässig zu suchen. Wie schon von Paulus her vorbereitet und angeregt, ist es daher dem Christen aufgetragen, sich nach innen zu wenden und sich in der Verbundenheit mit dem Christusgeist seines eigenen Selbst bewusst zu werden. Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis stellen eine Einheit dar. Oder mit Plotin: „Wir müssen die Fähigkeit der Seele zur Wahrnehmung bewahren, rein und bereit zu hören die Stimmen von oben.“
Damit ist die Dominanz des Geistigen im Gegenüber zur materiellen Welt und den „Stimmen von unten“ deutlich zum Ausdruck gebracht. Denkt man an den großen Einfluss und an die prägende Kraft, die dieses Denken auf das im Mittelmeerraum sich ausbreitende Christentum ausgeübt hat, dann kann mit guten Gründen von einer „Hellenisierung des Christentums“ (A. von Harnack) gesprochen werden. Die vom Neuplatonismus tingierten Schriften des Pseudo-Areopagiten haben daran einen nicht unwesentlichen Anteil. Zitiert und nicht zitiert ist der große Unbekannte in orthodoxer Frömmigkeit und Theologie allgegenwärtig.
4 Josef Koch: Augustinischer und dionysischer Neuplatonismus und das Mittelalter, a.a.O., S. 321.
5 Karl Vorländer: Philosophie des Altertums. Geschichte der Philosophie I. Reinbek 1963, S. 185.
6 Plotin, zit. bei Karl Vorländer, a.a.O., S. 285.
7 Doch wie angedeutet, differieren die Angaben zu seiner Herkunft.