JAKOB BÖHME
(1575–1624) war von Beruf Schumacher. Nach mehreren mystischen Erfahrungen verfasst er ohne theologische Vorkenntnisse sein Erstlingswerk Aurora und wird von seinen Gegnern daraufhin der Häresie bezichtigt. Jakob Böhme beeinflusste, obwohl stets von der Kirche bedroht, die deutsche Geistesgeschichte durch sein umfangreiches Werk nachhaltig.
DR. THEOL. H.C. GERHARD WEHR,
geb. 1931 in Schweinfurt/Main. Nach langjähriger Tätigkeit auf verschiedenen Feldern der Diakonie und der Erwachsenenbildung – zuletzt als Lehrbeauftragter an der Fachakademie für Sozialpädagogik in Rummelsberg/Nürnberg – arbeitet er als freier Schriftsteller in Schwarzenbruck bei Nürnberg. Im marixverlag sind von ihm bereits erschienen: Jakob Böhme, Ursprung, Wirkung, Textauswahl und in der von ihm herausgegebenen Mystiker-Reihe der Band Jakob Böhme, Textauswahl und Kommentar.
„Der Schuster Jakob Böhme war ein großer Philosoph. Manche Philosophen von Ruf sind nur große Schuster.“
Karl Marx
Wie ein aufrüttelnder Weckruf wirkte Böhmes berühmtes Erstlingswerk Aurora oder Morgenröte im Aufgang. Es ist die Stimme eines Ergriffenen, der die Tiefe der Gottheit inmitten der Natur und ihren Kräften erfährt. Am Anfang eines lebenslangen spirituellen Prozesses steht das Initialerlebnis seiner Erleuchtung, das er im 19. Kapitel mit tastenden Worten zu schildern versucht.
Als „eine Wundererscheinung in der Geschichte der Menschheit und besonders in der Geschichte des deutschen Geistes“, so begrüßt bereits der Philosoph Schelling den Görlitzer Mystiker und Theosophen Jakob Böhme (1575 – 1624). Aufmerksamkeit erlangte der als schlichter Schuhmacher tätige, von inneren Gesichten heimgesuchte und durch ein umfangreiches literarisches Werk bekannt gewordene naturphilosophische Autor.
Die vorliegende Ausgabe bietet den vollständigen, 1612 niedergeschriebenen, bald begeistert aufgenommenen, bald von kirchlicher Obrigkeit umstrittenen Text, in einer behutsam, dem heutigen Lesebedürfnis angenäherten Form. Eine Besonderheit besteht darin, dass Gerhard Wehr als Biograph und Herausgeber Böhmes jedem Kapitel einen erläuternden Kommentar voranstellt. Zusätzliche Anmerkungen und Literaturhinweise vervollständigen diese Ausgabe. Sie eröffnet das faszinierende Gesamtwerk Jakob Böhmes.
Aurora
oder Morgenröte im Aufgang
Herausgegeben von
Gerhard Wehr
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2013
Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2013
Der Text wurde behutsam revidiert nach der Gesamtausgabe 1730
Lektorat: Dr. Bruno Kern, Mainz
Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH
Bildnachweis: Abbildung aus der englischen Werkausgabe
Jakob Böhmes 1764-1781 (Illustration von Dionysius Andreas Fischer)
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
ISBN: 978-3-8438-0331-1
www.marixverlag.de
Vorwort
Jakob Böhme und sein Erstlingswerk
Einführung
Kommentar
Aurora oder Morgenröte im Aufgang
Vorrede des Autoris
Von Erforschung des göttlichen Wesens in der Natur
Das I. Kapitel
Von beiden Qualitäten
Von der Kälte Qualifizierung
Von der Luft und des Wassers Qualifizierung
Von den Einflüssen der andern Qualitäten in die drei Elementa: Feuer, Luft und Wasser
Anleitung, wie man das göttliche und natürliche Wesen betrachten soll
Das II. Kapitel
Von der Sonnen Qualität
Von der hochgebenedeiten triumphierenden Heiligen, Heiligen, Heiligen Dreifaltigkeit, Gott Vater, Sohn, Heiliger Geist, einiger Gott
Das III. Kapitel
Von Gott dem Vater
Von der Substanz und Eigenschaft des Vaters
Von Gott dem Sohne
Von Gott dem Hl. Geist
Von der Heiligen Dreifaltigkeit
Von Erschaffung der heiligen Engel – Eine Anweisung oder offene Porte des Himmels
Das IV. Kapitel
Von der göttlichen Qualität
Von Erschaffung der Engel
Von der körperlichen Substanz, Wesen und Eigentum eines Engels
Das V. Kapitel
Von der Qualifizierung eines Engels
Wie ein Engel und Mensch Gottes Gleichnis und Bild sei
Das VI. Kapitel
Vom Maule
Von der holdseligen und freudenreichen Liebe der Engel gegen Gott, aus rechtem Grunde
Von dem Revier, Ort, Wohnung sowohl von dem Regiment der Engel, wie es am Anfang gestanden ist nach der Schöpfung und wie es also worden ist
Das VII. Kapitel
Von den Nativitäten der englischen Könige, wie die worden sind
Von dem Grund und Geheimnis
Von dem ganzen Corpus eines englischen Königreichs; die große Geheimnis
Das VIII. Kapitel
Von der andern Umstände oder Species
Von der dritten Umstände oder Species
Von der vierten Umstände oder Species
Von der fünften Umstände oder Species
Von der holdseligen, freundlichen und barmherzigen Liebe Gottes
Das IX. Kapitel
Die große himmlische und göttliche Geheimnis
Von der freundlichen Liebe, Holdseligkeit und Einigkeit dieser fünf Quellgeister Gottes
Von dem sechsten Quellgeist in der göttlichen Kraft
Das X. Kapitel
Nun merke hie weiter vom Marcurio, Ton oder Schalle
Von dem siebenten Quellgeist in der göttlichen Kraft
Das XI. Kapitel
Von der göttlichen und himmlischen Natur, Wirkung und Eigenschaft
Von der hl. Engel Geburt und Ankunft, sowohl von ihrem Regiment, Ordnung und himmlischen Freudenleben
Das XII. Kapitel
Von der englischen Freude
Von der ganzen himmlischen Wonne aller drei Königreiche der Engel
Von dem königlichen Primat oder Gewalt der drei englischen Könige
Von der großen Herrlichkeit und Schönheit der drei englischen Könige
Von dem Könige oder Großfürsten Michael
Von dem andern Könige, Luzifer itzo genannt, um seines Falles willen
Von seiner Erschaffung
Von dem dritten englischen Könige, Uri-El genannt
Von der wunderlichen Proporz, Veränderung und Aufsteigen der Qualitäten in der himmlischen Natur
Von dem erschrecklichen, kläglichen und elenden Falle des Königreichs Luzifers
Das XIII. Kapitel
Die rechte Geburt Gottes
Von der herrlichen Geburt und Schönheit des Königs Luzifer
Von dem erschrecklichen hoffärtigen und nunmehr kläglichen Anfang der Sünden, die höchste Tiefe
Der Sünden Quellader
Wie Luzifer, der schönste Engel im Himmel, ist der gräulichste Teufel geworden – Das Haus der Mordgruben
Das XIV. Kapitel
Die wunderliche Offenbarung
Von dem Falle aller seiner Engel
Von den großen Sünden und Widerwillen und dazu ewiger Feindschaft des Königs Luzifer mit seinem ganzen Heere wider Gott
Von der ersten Species
Von der andern Species oder Geist der Sünden Anfang im Luzifer
Die höchste Tiefe
Von der dritten Species oder Gestalt der Sünden Anfang im Luzifer
Das XV. Kapitel
Von der vierten Species oder Gestalt der Sünden Anfang im Luzifer
Von der fünften Species oder Gestalt der Sünden Anfang im Luzifer und seinen Engeln
Von der sechsten Species oder Gestalt der Sünden Anfang im Luzifer und seinen Engeln
Von der siebten Species oder Gestalt der Sünden Anfang im Luzifer und seinen Engeln
Das XVI. Kapitel
Von der erschrecklichen, kläglichen und elenden Verderbung des Luzifer in dem siebenten Naturgeist – Das Trauerhaus des Todes
Von der Anzündung des Zornfeuers
Von der Hoffart, dem ersten Sohn
Von dem andern Sohn, dem Geize
Der dritte Sohn ist der Neid
Der vierte Sohn ist der Zorn
Die endliche Kondemnation
Von dem endlichen Streite und Verstoßung des Königs Luzifer samt aller seiner Engel
Von dem kläglichen und elenden Zustande der verderbten Natur und Ursprung der vier Elementen anstatt der hl. Regierung Gottes
Das XVII. Kapitel
Von der Schöpfung Himmels und Erden und des ersten Tages
Das XVIII. Kapitel
Von der Schöpfung des Lichtes in dieser Welt
Von dem erschaffenen Himmel und der Gestalt der Erden und des Wassers, sowohl von dem Lichte und Finsternis
Das XIX. Kapitel
Von der Gestalt der Erden
Vom Tag und Nacht
Vom Tage
Von der Nacht
Von dem andern Tage
Das XX. Kapitel
Die Porten der Geheimnis
Die Porten der Gottheit
Die heilige Porten
Von dem dritten Tage
Das XXI. Kapitel
Die freudenreiche Porten der Menschen
Die Porten der Kraft
Die offene Porten der Erden
Von den sieben Geistern Gottes und ihrer Wirkung in der Erden
Die Tiefe im Centro der Geburt
Die Tiefe im Zirkel der Geburt
Von der Geburt der Sternen und Schöpfung des vierten Tages
Das XXII. Kapitel
Von der Erden
Die Tiefe
Die Gewächse der Erden
Von den Metallen in der Erden
Von der Tiefe über der Erden
Das XXIII. Kapitel
Von der siderischen Geburt und Geburt Gottes
Die Porten der Heiligen Dreifaltigkeit
Von der großen Einfältigkeit Gottes
Von der Zusammenkorporierung der Sternen
Das XXIV. Kapitel
Von dem ganzen Leibe der Sternengeburt, das ist die ganze Astrologia oder der ganze Leib dieser Welt
Das XXV. Kapitel
Von der Anzündung des Herzens oder Lebens dieser Welt
Der höchste Grund der Sonnen und aller Planeten
Die rechte Geburt und Herkommen der Sonnen und Planeten
Von dem Planeten Mars
Von dem Planeten Jupiter
Von dem Planeten Saturno
Das XXVI. Kapitel
Von dem Planeten Venus
Porten der Liebe
Von dem Planeten Marcurius
Das Centrum oder Zirkel des Lebens Geburt – Die große Tiefe
Vom Menschen und Sternen
Die Tiefe im Centro
Beschluss des Autoris – Epist. 10,38
Literaturhinweise
Wer heute nach der Unmittelbarkeit spiritueller Erfahrung fragt, der kann an den Zeugnissen jener nicht vorübergehen, die die Erlebnisse und Ergebnisse ihres Schauens aufgezeichnet haben und einen Weg geistig-religiöser Erkenntnis zu zeigen vermögen. Jakob Böhmes erstes Werk Morgenröte im Aufgang – genannt Aurora – gehört zu den wesentlichen Dokumenten dieser Art.
Diese vollständige und kommentierte Ausgabe erfolgt auf der Basis der zuverlässigen Gesamtausgabe von 1730. Zum Vergleich sind von Fall zu Fall Böhmes Urschriften (vgl. Literaturhinweise) herangezogen worden. Rechtschreibung und Zeichensetzung sind heutigen Gepflogenheiten angepasst. Um erläuternde Eingriffe in den Text zu vermeiden, waren Fußnoten unerlässlich. Während die Bibelstellen im Text bereits der Vorlage zu entnehmen sind, hat der Herausgeber weitere in den Anmerkungen notiert, um zu zeigen, in welch hohem Maß Böhme in biblischen Bildern und Vorstellungen gelebt hat. Die Kenntnis der vom Autor nicht eigens genannten alt- und neutestamentlichen Bezüge trägt gewiss zum Verständnis der Aurora wie auch aller seiner weiteren Schriften bei. Auf ergänzende Böhme-Literatur wird im Anhang verwiesen. In einem größeren Zusammenhang wird Leben, Schaffen und vor allem die Wirkung Jakob Böhmes in Jakob Böhme – Ursprung, Wirkung, Textauswahl (Marixverlag, Wiesbaden 2010) behandelt. Die vorliegende Ausgabe und alle sonstigen zur Veröffentlichung vorgesehenen Hauptwerke des Görlitzer Meisters treten – in durchgesehener bzw. aktualisierter Form – an die Stelle der früheren Freiburger Studienausgabe (1975 ff).
Gewidmet ist auch dieses Buch all jenen, die sich von Jakob Böhme sagen lassen: „Uns Menschen in dieser Welt ist daran am meisten gelegen, dass wir das Verlorene wieder suchen. So wir nun wollen suchen, so müssen wir nicht außer uns suchen!“
Gerhard Wehr
Jakob Böhme (1575–1624), von dem Philosophen Schelling als eine „Wundererscheinung in der Geschichte der Menschheit und besonders in der Geschichte des deutschen Geistes“ begrüßt, ist wohl der bedeutendste nachreformatorische Mystiker und Theosoph. Er, der schlichte Schuster, gehört in die Schar der großen Erleuchteten, die einen tiefen Einblick in den Geheimniszusammenhang von Gott, Welt und Mensch gewonnen haben.1
In seinem Werk Morgenröte im Aufgang – später Aurora betitelt – hat Böhme zum ersten Mal die Fülle seiner Gesichte ausgebreitet. Hier legt er auch von dem einzigartigen geistigen Durchbruchserlebnis Rechenschaft ab, dem er sein Schauen und Gestalten verdankt. Selten hat ein Werk der mitteleuropäischen Geistesgeschichte eine so tiefgehende und nachhaltige Wirkung ausgeübt wie Böhmes Aurora. Sie verdankt ihre Entstehung weder bloßer philosophischer Reflexion noch der zu Böhmes Lebzeiten aufblühenden modernen naturwissenschaftlichen Forschung. Ebenso wenig ist das Buch samt dem darauf aufbauenden literarischen Schaffen seines Autors als eine theologische Besinnung zu verstehen. Dass er ein kenntnisreicher Bibelleser ist, beweisen nicht nur die zahlreichen Bibelstellen in seinen Texten, sondern die noch zahlreicheren Anspielungen, Bilder, Vergleiche, die der alt- und neutestamentlichen Überlieferung entnommen sind. Schon deshalb ist es wünschenswert, wenigstens die wichtigsten biblischen Bezüge dem heutigen Leser anzuzeigen.
So gesehen stellt die Bibel zweifellos eine wichtige Quelle dar. Sie tritt ganz offen zutage. Wesentlich schwieriger ist es schon, wenn man an die Bestimmung anderer Einflüsse auf Böhme herangeht. Er selbst gibt zu, dass er schon vor der Niederschrift seines Erstlings „viel hoher Meister Schriften“ (10,27) gelesen hat. Auch bedient er sich deren Sprache. Grundvorstellungen der Naturphilosophie, wie sie zu Beginn der Neuzeit bekannt waren, sind auch dem Verfasser der Aurora geläufig. Wir haben insbesondere an das Werk des Paracelsus und seiner Schule zu denken. Es ist nachgewiesen, dass auch in Schlesien paracelsische Studien getrieben, Paracelsus-Texte kopiert worden sind und dass Böhme mit naturphilosophisch Gebildeten zusammenkam. Den Ehrentitel Philosophus teutonicus (deutscher Philosoph) verdankt der Görlitzer Schuster einem seiner gebildeten Freunde, Dr. Balthasar Walther. Zweifellos ist Böhme sodann mit dem spiritualistischen Gedankengut seiner schlesischen Landsleute, Kaspar Schwenckfeld und Valentin Weigel, in Berührung gekommen. Beide haben aus religiöser Innenerfahrung geschöpft. Schwenckfeldianer gehörten zu den ersten Empfängern der Aurora-Handschrift. So ist es zumindest sehr wahrscheinlich, dass Böhme schon vor deren Abfassung mit derartigen Vertretern in Verbindung gestanden hat. Zu den Grundvorstellungen spätmittelalterlicher Naturphilosophie und Theosophie gehörten nicht zuletzt solche der Alchimie und der jüdischen Kabbala, wobei Alchimie nicht einfach mit fragwürdiger Goldmacherei verwechselt werden darf. Sie stellt so etwas wie einen Erkenntnisweg dar, auf dem neben mystischen Zielsetzungen auch versucht wurde, in die Geheimnisse der stofflichen Welt einzudringen. Wir haben es demnach mit einer spirituellen Naturforschung zu tun, die sich an Qualitäten orientiert und die im Kosmos tiefsinnige Entsprechungen zwischen Unten und Oben, zwischen dem Mikrokosmos Mensch und dem Makrokosmos Welt aufzudecken weiß.
So steht Jakob Böhme zweifellos in einer großen Tradition, wenngleich stichhaltige Einzelnachweise literarischer Abhängigkeit bisher kaum gelungen sind. Solche Nachweise wären gewiss interessant. Von ausschlaggebender Wichtigkeit sind sie jedoch nicht. Es ist keineswegs so, dass der Autor der Aurora lediglich eine Summe von biblischer, mystisch-theosophischer und naturphilosophischer Überlieferung mehr oder weniger geschickt zusammenfügt. Seine „Quelle“ ist ganz anderer Art. Sie verleiht ihm eine Originalität, die ihn letztlich unabhängig macht von den Autoritäten an den Hohen Schulen. Sein eigentlicher Lehrmeister ist der ihn ergreifende, erleuchtende, schließlich auch zum literarischen Zeugnis drängende Geist. Darüber lässt er auch seine heutigen Leser nicht im Zweifel. Deshalb wird er nicht müde, sich auf die ihm zuteil gewordene Schau zu berufen. Seine eigentümliche Erkenntnis wurde ihm nicht auf dem Weg einer allmählichen Entwicklung geschenkt. Sie ist vielmehr ein unvermitteltes, geradezu blitzartiges Ereignis von überwältigender, die Fundamente der Existenz erschütternder Wucht. Letztlich lässt sich das Erlebte dieser Art nicht beschreiben. Es entzieht sich der Schilderung. Und doch verspürt der Seher den „starken Trieb“, das Erfahrene aufzuschreiben, das innen Geschaute zumindest im Gleichnis und mit den Mitteln der Analogie anzudeuten.
Ob es gelingt – bei Böhme oder bei anderen, die einer echten Geistberührung gewürdigt worden sind –, das hängt gar nicht so sehr von dem literarischen Geschick des jeweiligen Verfassers ab, sondern in einem nicht zu unterschätzenden Maß von der spirituellen Empfänglichkeit des Lesers. Das hat nichts mit einem doch an der Oberfläche bleibenden „Einfühlungsvermögen“ zu tun, wohl aber damit, dass der Empfänger eines solchen Zeugnisses selbst die dafür nötigen Voraussetzungen mitbringt: geistig-religiöse Eigenerfahrung, jedenfalls aber die Bereitschaft und die Fähigkeit, das Mitgeteilte unvoreingenommen, vorurteilsfrei entgegenzunehmen und auf sich wirken zu lassen. Dem Bedürfnis nach einer die menschliche Ratio in jeder Hinsicht zufriedenstellenden „Erklärung“ wird zwar kaum zu entsprechen sein. Es besteht jedoch eine Aussicht, dass sich da und dort eine Tür des Verständnisses öffnet, eine Tür, die einen Zugang zur Dimension des Spirituellen gestattet.
Und letztlich hat Böhme dies im Sinn. Er will nicht allein geheimes Wissen mitteilen; es genügt ihm nicht, seine Leser lediglich mit der ihm geschenkten Einsicht bekannt zu machen. Er will vor allem suchende Menschen auf die Spur setzen und ihnen als ein spiritueller Lehrer Führung und Geleit gewähren. Diese Absicht wird in der Aurora noch weniger deutlich ausgesprochen als in jenen meditativen Schriften aus späterer Zeit, in denen Böhme einen „Weg zu Christo“, also einen christlichen Initiationsweg beschreibt. Er hat selbst darauf aufmerksam gemacht, dass in jenen Wortlauten sein eigener „Prozess“ dargestellt werde.
Was nun die Aurora selbst anlangt, so kann ein Leseratschlag von Nutzen sein. Böhme, der niemals den Anspruch erhoben hat, ein Schriftsteller zu sein, der sich vielmehr an verschiedenen Stellen von bestimmten „Skribenten“ distanziert, mutet seinen heutigen Lesern einiges zu. Wer Böhme verstehen will, der muss sich mit eben jenem Durchbruchserlebnis vertraut machen, durch das er zum Schauenden und Erkennenden geworden ist. Das bedeutsame, auch sprachlich eindrucksvolle 19. Kapitel (dort vor allem die Abschnitte 5 bis 15) ist die Schilderung seiner geistigen Geburt. Und was Böhmes Erkenntnisart im Gegenüber zur zeitgenössischen Naturbetrachtung betrifft, von der ebenfalls an verschiedenen Stellen die Rede ist, so legt er in Kapitel 25,43 ff Rechenschaft darüber ab, wenn es u. a. heißt: „Denn ich habe meine Wissenschaft nicht vom Studio. Zwar der sieben Planeten Ordnung und Innestehen habe ich in der Astrologorum Bücher gelesen, befinde sie auch ganz recht, aber die Wurzel, wie sie worden und herkommen sind, kann ich nicht von Menschen lernen, denn sie wissens nicht … Solche Erkenntnis sehe ich nicht mit fleischlichen Augen, sondern mit denen Augen, wo sich das Leben in mir gebäret …“ (25,45 und 48).
Die große Schau, die der Görlitzer Meister als Fünfundzwanzigjähriger im Jahr 1600 empfangen hat, deren ersten literarischen Ertrag, die Morgenröte im Aufgang, er jedoch erst zwölf Jahre später in der uns vorliegenden Gestalt niederzuschreiben vermochte, hat sein Selbstbewusstsein gestärkt. Er wurde sich seiner Sendung gewiss, das bis dahin Verborgene an den Tag zu bringen. So ist der Titel seines Bucherstlings zugleich ein Programm, das unter einem Doppelaspekt zu sehen ist: Einmal ist mit den Strahlen der Morgenröte jenes Erleuchtungsereignis gemeint, das von jedem einzelnen Menschen empfangen werden soll; zum anderen deutet Morgenröte auf ein Zeitalter-Ereignis, von Böhme auch „neue Reformation“ genannt. Und wenn man die biografisch aufschlussreichen Theosophischen Sendbriefe an Freunde und Geistesschüler liest, dann wird deutlich, welch hochgespannte Erwartungen Böhme zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges gehegt hat. Es war bekanntlich die Zeit, in der auch die Rosenkreuzer-Manifeste in ganz Mitteleuropa ihre Wirkung taten. Von daher ergibt sich auch die zeitliche wie geistige Nachbarschaft zwischen Böhme und den Trägern rosenkreuzerischen Strebens.
Die „Reformatio generalis“, Generalreformation der ganzen Welt, wie die Parole an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert lautete, blieb ein Traum, freilich ein ungemein wirksamer, zu immer neuen Anläufen, zu Imaginationen und Aktionen ermutigender Traum. Denn schaut man in die vielgestaltige Wirkungsgeschichte der Aurora und der anderen Böhme-Schriften hinein, dann zeigt sich, wie viele Dichter und Denker, religiös Entflammte, Theologen, psychologisch und geistig Forschende durch das Licht der Böhm’schen Aurora getroffen worden sind. In einigen Gedichten besingt Friedrich von Hardenberg (Novalis) den Künder der Morgenröte als einen Herold eines „neuen Reiches“. Ludwig Tieck, seinem Dichterfreund, widmet er Strophen, in denen Gedanken und Metapher der Morgenröte im Aufgang anklingen. Sie sind nicht allein als Erinnerungen an Jakob Böhme gemeint. Sie rufen Gegenwartsaufgaben ins Bewusstsein und lüften den Schleier vor dem Zukünftigen. Das Gedicht endet folgendermaßen:
Die Zeit ist da, und nicht verborgen
Soll das Mysterium mehr sein.
In diesem Buche bricht der Morgen
Gewaltig in die Zeit hinein.
Verkündiger der Morgenröte,
Des Friedens Bote sollst du sein,
Sanft wie die Luft in Harf’ und Flöte
Hauch’ ich dir meinen Atem ein.
Du wirst das letzte Reich verkünden,
Was tausend Jahre soll bestehn;
Wirst überschwänglich Wesen finden
Und Jakob Böhmen wiedersehn.2
„Vorrede über dies Buch an den günstigen Leser“ – der Zusatz „des Autoris“ stammt von fremder Hand – ist bereits ein Bestandteil der Urschrift, wenngleich sie nach Niederschrift der ersten Kapitel der Morgenröte verfasst sein dürfte.
Typisch Böhme’sche Züge trägt dieser Text insofern, als der Autor sich von der ersten Zeile an als ein anschauender Denker ausweist. Zwar richtet sich seine Aufmerksamkeit auf „die ganze Philosophia, Astrologia und Theologia“, worunter wir noch nicht klar umrissene Disziplinen verstehen dürfen, doch vermeidet er abstrakt theoretische Erörterungen. Was er mit den Benennungen meint, trägt er später nach (Abschnitt 84 bis 88).
Ein Bild, die lebensdurchpulste Imagination eines Baumes, steht vor seinem geistigen Auge. Das Urbildliche dieses Baums kommt darin zum Ausdruck, dass es sich um einen „köstlichen Baum“ handelt, der in einem „schönen Lustgarten“ wächst. Die Anspielung auf das Paradies im biblischen Schöpfungsbericht ist unverkennbar. Hier stellt Böhme bereits seinen Qualitätsbegriff vor, der nicht nur Beschaffenheit (gemäß lat. „qualitas“) meint, sondern vor allem den Inbegriff des Dynamischen, das Quellen und Quallen, das allem Lebendigen als Triebkraft innewohnt. Was die Charakteristik süß, bitter, sauer, herb anlangt, so bietet der nachfolgende Textzusammenhang entsprechende Verständnishilfen. Hier muss uns der Hinweis genügen, dass Böhme viel mehr meint als die menschlichen Geschmacksempfindungen. Bei ihm gewinnen diese vier Charaktere geradezu kosmologisch-welthafte Züge. Das sinnenhaft als süß, bitter, sauer, herb Wahrnehmbare weist immer wieder über die Sinnenwahrnehmung hinaus.
Seine Leser überrascht Böhme (8–15) insofern, als er die Imagination des „köstlichen Baumes“ allegorisch aufzuschlüsseln beginnt. Wichtiger als die Einzelzüge aber dürfte die Betonung der beiden einander polar entgegengesetzten Qualitäten sein, die gute, göttliche, heilige auf der einen, die grimmige, teuflische, widergöttliche auf der andern. Beide „qualifizieren“, d.h. sie quellen und pulsieren ineinander im Baum der Welt, in der Natur und im Menschen. Das ist Böhmes eigene erschütternde Erfahrung, die ihn vor seiner großen geistigen Schau in tiefe Melancholie hineingetrieben hat.
Wie sehr Böhme auf dem Boden biblischer Theologie steht, ergibt sich aus seiner Erläuterung, wonach der Mensch selbst die Entscheidung zur „Grimmigkeit“ vollzogen habe, nämlich im Fall der Ureltern Adam und Eva, die die ganze Menschheit repräsentieren. Doch im gleichen Moment (16 ff) tut Böhme einen entscheidenden Schritt über die Position Luthers hinaus, der dem Menschen nur einen „geknechteten“ Willen zugebilligt hat, wodurch die Entscheidung des Menschen nur zum Bösen, nicht aber zum sittlich Guten möglich sei. Zwar geht es bei Böhme nicht primär um die Willensfreiheit des Menschen, sondern um die Anerkennung der „beiden Triebe“. Der Verfasser der Aurora neigt jedoch einer optimistischen, die Willensfreiheit bejahenden Einschätzung zu. Von einer Relativierung oder gar Rechtsprechung des Bösen kann indes nicht die Rede sein, wie Abschnitt 18 unterstreicht. Die ethische Einstellung des Menschen hat sich an jenem Gott und Christus zu orientieren, die das Böse nicht wollen.
Kennzeichnend ist ferner, dass Böhme zur Veranschaulichung des Widerstreits der beiden Prinzipien (21) alttestamentliche Gestalten heranzieht. So betrachtet spiegelt sich in den Schicksalen der altisraelischen Erzväter das Ringen „beider Qualitäten in der Natur“.
Als Ganzes lässt sich die Vorrede als eine einzige große Imagination verstehen, die die Gesamtheit der Heilsgeschichte der Menschheit umspannt. Sie reicht von der Urzeit, vom Urstand des Menschen, über die Zeit der Christuserscheinung bis zu den Schilderungen der Menschheitszukunft. Schon hier nimmt Böhme apokalyptische Motive vorweg. Die ungeheure Dramatik, der Streit mit Luzifer, wird anschaulich ins Bild gesetzt. Gewiss liegt es nahe, einzelne Motive mit geschichtlich-heilsgeschichtlichen Daten zu identifizieren. Als Leser aber wird man gut beraten sein, wenn man seine Aufmerksamkeit nicht allein auf einzelne Punkte lenkt, sondern das Ganze auf sich einwirken lässt. Dann werden u. U. Fehleinschätzungen vermieden, die durch unzeitgemäß gewordene Aussagen oder Voraussetzungen entstehen können. Worauf kommt es dem Verfasser der Aurora an?
Böhme weist selbst (z.B. 89–91) darauf hin, dass Thema und Inhalt seines Buches ein Mysterium umschließt, das eine besondere Geisteshaltung verlangt. Denn dem rationalistisch voreingenommenen „Meister Klügling“, den er im weiteren Fortgang seiner Ausführungen bald herausfordernd, bald ermahnend anspricht, bleibt das Geheimnis verborgen; statt des Mysteriums vermag er nur ein nebulös bleibendes Mysteriöses zu sehen. Bedingt ist der Hinweis Böhmes durch die Sache selbst. Er schreibt ja als einer, der aus der Inspiration des Geistes heraus Zeugnis ablegt. Als solcher reiht er sich in die Schar derer ein, die „durch den Trieb des Hl. Geistes“ (92–95) in Bewegung gebracht worden sind. „Im Geist“, nicht jedoch aufgrund von naturwissenschaftlichen oder philosophisch-theologischen Studien, erkennt er die Taten Gottes in Schöpfung und Heilsgeschichte. Aus tiefer Gewissheit um die Wirklichkeit der „heiligen Seele“ (102), aber auch mit dem Eingeständnis, als ein Angefochtener „immer im Streit“ (104) zu stehen, schreibt der Görlitzer Meister.
Die ersten Zeilen der Aurora machen mit der Eigenart Böhme’schen Denkens und Anschauens bekannt, denn nur der von Gott selbst „angezündete“, d.h. der erweckte Menschengeist vermag das göttliche Wesen zu erfassen. Das bedeutet zugleich eine Absage an jeglichen Erkenntnispessimismus. Böhme kann sich dabei – wie er es an vielen Stellen tut – auf seine eigene Erfahrung berufen. Angesichts der „Kräfte der Natur“ eröffnet sich dem so Erweckten das Geheimnis Gottes, und zwar bis hin zur Einsicht in die Gegensatzstruktur, die alles Sein durchwaltet (1,2). Dieses Gegenüber der „zwei Qualitäten“, der guten und der bösen, führt bei Böhme jedoch nicht zu einer dualistischen Aufspaltung der Wirklichkeit. Freilich wird erst in späteren Schriften die Notwendigkeit des „Nein“ als eines Gegenwurfes hervorgehoben. Immerhin wird bereits hier zum Ausdruck gebracht, wie „die zwei Qualitäten“ stets miteinander ringen. Und die Elemente Luft, Wasser, Feuer, Erde können als Schauplatz dieses Ringens angesehen werden. Auch sind sie Träger des Lebendigen. Entscheidend kommt es darauf an, dass „eine gute Temperanz“ (1,23), also eine Mäßigung und ein Ausgleich der Gegensätze, hergestellt wird.
Die nicht linear fortschreitende, sondern spiralartige Denkbewegung tritt ebenfalls in den ersten Abschnitten der Aurora in Erscheinung, indem Böhme die Rede von den Qualitäten (1,2 f) erneut aufnimmt und weiterführt. Darauf muss sich der Leser einstellen, dass er unablässig anmutenden Wiederholungen begegnet. Dabei handelt es sich aber um innere Gesetzmäßigkeiten, denen am ehesten ein meditatives Mitvollziehen dieser Denkbewegung angemessen ist.
Qualität (2,1 ff) deutet auf einen dynamisch quellenden Vorgang hin, meint also nicht ausschließlich einen Zustand. Alle Schöpfung ist vom „zweifachen Trieb“ durchpulst (2, 2–5). Eine Ausnahme bilden jedoch die „heiligen Engel“ und die „grimmigen Teufel“ (2,5–10), die Exponenten je einer der beiden Triebe oder gegensätzlichen Qualitäten repräsentieren. Um nun einzudringen in den „ganzen Gott“ (2,33), ist es nötig, dass der Mensch sich auf ein höheres Bewusstseinsniveau erhebt (2,16).
Wie schöpfungsnah Gott ist, zeigt Böhme, wenn er (3,2 ff) die Gottesbedürftigkeit von Leib und Seele schildert. Er tut das freilich, nicht ohne zwischen dem überirdisch-himmlischen und dem „natürlichen Vater“ zu unterscheiden. So geht der Philosophus teutonicus einem bisweilen anzutreffenden Missverständnis aus dem Weg, wonach Gott und Natur letztlich identisch seien. Aber Böhme ist kein Pantheist. Für ihn ist alles, Mensch und Welt, in Gott aufgehoben.
Auch der Gottessohn wird aus den Wesenheiten und Qualitäten der Natur erkannt, nämlich als Licht, als Liebe, als Freude und als das Herz des Vaters, symbolisiert und vertreten durch die Sonne. Besonders bemerkenswert ist die Mitteilung, wonach die Geburt des Sohnes als ein fortdauernder, also stets geschehender Prozess (3,22 f) begriffen wird. Der Hl. Geist schließlich wird unter dem Gesichtspunkt des Dynamischen schlechthin, als die „wallende Kraft Gottes“ beschrieben. Böhme bemüht sich einerseits, die kirchliche Trinitätslehre zu bestätigen, andererseits ist es ihm darum zu tun, den dynamischen Aspekt sichtbar zu machen und die trinitarische Struktur alles Geschaffenen zu bezeugen (3,36 ff).
Die bisher ungelösten Natur- und Welträtsel (4,1) sollen jetzt, im Anbruch der Morgenröte, das heißt in einer Zeit bevorstehender Neuoffenbarung, gelöst werden (4,2). In seinen Theosophischen Sendschreiben hat Böhme zwar wiederholt beteuert, dass er seine Schriften, angefangen mit der Aurora, allein sich selbst „zum Memorial“ geschrieben habe. Er widerlegt sich jedoch insofern, als er immer wieder seinen Leser anspricht und ihm (z.B. 4,4) Hinweise gibt, wie sie ein Memorial-Schreiber nicht nötig hätte.
Das zentrale Thema von den Qualitäten wird nun (4,4 ff) insofern einer gewissen Klärung entgegengebracht, als die Qualitäten im göttlichen Bereich in unverfälschter Urbildlichkeit „qualifizieren“, im irdischen Bereich hingegen seit dem Fall Luzifers verfinstert und durch den Tod infiziert erscheinen. Dieser gleichsam kosmische Fall Luzifers geht dem biblischen Sündenfall des Menschen voraus; er darf mit diesem demnach nicht verwechselt werden.
Wenn spätere theosophisch-spekulative Denker den Begriff der Geistleiblichkeit geprägt haben, dann konnten sie sich auf Böhme (4,10) berufen. Er geht so weit – in Umkehrung platonischer Vorstellungen –, in der irdischen Gestaltung „ein Vorbild der himmlischen Gebärung“ zu erblicken. Dabei hütet sich Böhme sorgsam, Irdisches in den göttlichen Bereich hineinzuprojizieren; deshalb auch seine wiederkehrenden Anmerkungen, er rede im Gleichnis. „Salitter“ bzw. „Salnitter“ (4,9) und „Marcurius“ (nicht zu verwechseln mit Mercurius), Schall (4,14), sind Bezeichnungen in der Aurora, mit denen das Kräftepotenzial der Schöpfung auf der göttlichen und auf der kreatürlichen Ebene kenntlich gemacht werden soll.
Der „gräuliche Fall Luzifers“ (4,21) hat alles irdische Unheil angerichtet, es darf somit nicht auf eine moralische Verfehlung des ersten Menschenpaars zurückgeführt werden. Ein Ausblick kündigt sich an, nämlich die Wiederherstellung des lichten Urstandes von Mensch und Welt (4,25). Ein Beispiel stellen die lichten Engel dar, deren Herkunft und Wesensart zu erkunden Böhme sehr wichtig ist.
Mit rührender Naivität setzt Böhme (5,1) seine Erörterung über die Engel fort. Er sucht auf diese Weise eine Anschauung von der zukünftigen Gestalt des Menschen zu gewinnen, wenn er nach dessen „englischer Klarheit und Reinigkeit“ (5,4) Ausschau hält. Mitten in seiner Schilderung wird sich der Schreiber seiner naturgegebenen Begrenzung bewusst (5,14 f), jedoch nicht ohne auf die Eigenart und Herkunft seiner Erkenntnis aufmerksam zu machen. Mit dem Reigen der Seligen in der Gemeinschaft der Engel Gottes (5,17 f) wird ein bedeutsames apokalyptisches Bild beschworen. Von Kap. 5,19 ab veranschaulicht Böhme seine Vorstellung des Sinnes- und Erkenntnisprozesses. Wieder fällt auf, wie er (5,30) anthropologische und theologisch-metaphysische Tatbestände zu verbinden sucht. Wichtig ist ihm dabei das Phänomen der „Regung“, der Bewegung und des unablässigen Strebens, das sich sowohl im leiblichen als auch im innergöttlichen Bereich ablesen lässt (5,35).
Das biblisch-zentrale Thema der Gottebenbildlichkeit des Menschen, das die Kapitelüberschrift anschlägt, mag als Hinweis auf die eigentlichen Intentionen Böhmes aufgefasst werden. Die sohnhafte Seite der göttlichen Natur (6,2) und das Aussprechen des väterlichen Wortes (6,3) stellen gleichsam die Basis für die in der Aurora zu schildernde sinnenhafte Welt- und Gottesbeziehung. Das geist-leibliche Urbild, auf das Böhme (6,15) blickt, erlaubt ihm, ganz konkret von „göttlichen Bäumen, Stauden, Blumen“ usw. zu sprechen, wohl wissend, dass sich diese geistige Wirklichkeit zur irdischen verhält wie zu einem „Schatten“. Ebenso wie die geistigen Urbilder sind die Engel nicht etwa mit Gott identisch, wohl aber sind sie ihm verbunden, nämlich durch Licht und Liebe (6,20 ff). Böhme, der von der imaginativen zur inspirativen, d.h. mit inneren Gehörwahrnehmungen verbundenen Erkenntnis heranführt (6,22 f), gesteht abermals die Unmöglichkeit, dergleichen in angemessener Weise zu beschreiben. Der Hl. Geist muss im Menschen Gestalt gewinnen (6,24), wenn sich derartige Gehörwahrnehmungen höherer Ordnung einstellen sollen.
Das Eingeständnis der Begrenztheit seines höheren Wissens, das bis in die Sphäre der Engel reicht (7,11), ist mit einem wichtigen Hinweis verknüpft. Danach ist Böhme nur so lange fähig, von dieser Wirklichkeit Zeugnis abzulegen, so lange der Erleuchtungszustand anhält. Andererseits gibt es Stufen des Erkennens. Die Gleichnissprache (7,22) soll dem Leser dazu dienen, selbsterkennend voranzuschreiten. Das gilt, wie bereits am Eingang (1,1) der Aurora zu sehen war, für die „mit Fleiß“ zu betrachtende „Schöpfung dieser Welt“, auf die Böhme (7,37) zurückkommt. Es muss demzufolge eine Entsprechung bestehen zwischen der Gleichnishaftigkeit, mit der die Natur über sich hinausweist, und der Gleichnissprache, deren sich der Seher bedient, um sein Schauen zumindest anzudeuten. Was er in der Natur wahrnimmt, das wird für ihn transparent für die Bereiche der oberen Welt, ja für die göttliche Dreieinigkeit selbst. Man wird sich – wie gesagt – jedoch davor hüten sollen zu meinen, Böhme projiziere lediglich Irdisches ins Überirdische. Er bedient sich vielmehr einer intentionalen Sprache, einer Sprache des Annäherungsversuchs. Deshalb auch sein Bemühen, den Notbehelf des Gleichnisbildes und die eigentlich intendierte, in den Blick gefasste Wirklichkeit klar auseinanderzuhalten.
Eine weitere Ausformung seiner Qualitäten-Lehre nimmt Böhme im 8. Kapitel vor, wo er damit beginnt (8,20; 8,25), „sieben Quellgeister in der göttlichen Kraft“ zu unterscheiden und diese im Einzelnen zu charakterisieren. Als religions- und geistesgeschichtliche Parallele wird hier im Besonderen auf den Sefirot-Baum der kabbalistischen Mystik zu verweisen sein, der unterhalb der dreigliedrigen Schöpferwelt des Göttlich-Geistigen sieben Sefirot des Seelischen und Naturhaften kennt. Bei Böhme steht im Vordergrund weniger die Schilderung eines klar definierbaren Tatbestandes oder eines in sich abgeschlossenen Sachverhaltes. Ihm geht es vielmehr um die dynamische Seite des zu Schildernden. Deshalb begegnen wir in den Texten ständig Vokabeln der Bewegung, der Aktion und der Veränderung, z.B. dem Wort „anzünden“, was manchmal mit „aktivieren“, „in Funktion, in Bewegung setzen, verändern“ wiedergegeben werden kann. Dabei spricht das auf den Licht- und Verbrennungsvorgang bezogene Bildwort seine eigene Sprache. Alle aus dem Bereich der Sinnesempfindungen genommenen Charakterisierungen ( „Species“), wollen jedoch nicht allein auf physisch-leibliche Sinnesempfindungen bezogen werden. Auch sie weisen auf Zugrundeliegendes. Dennoch wagt es Böhme (8,24 und später), Gottesattribute ( „barmherzig“) mittels der von ihm gebrauchten Natursprache aufzuschlüsseln. Doch auch dieses Vorgehen entspricht seinem gleichnishaften Sprechen. Alle diese weit ausholenden, umständlichen Schilderungen der einzelnen Qualitäten aber laufen darauf hinaus, die Schöpfer-Potenzen Gottes (Liebe-Licht; Zorn-Feuer), aber auch den qualitativen Unterschied zwischen der ursprünglich reinen Schöpfung und der durch den luziferischen Fall verursachten Verfinsterung alles Geschaffenen ins Bild zu setzen. Böhme schreibt nicht als ein neutraler Beobachter, sondern als ein von dieser tiefen Tragik Erschütterter, wie er u.a. in dem wichtigen autobiografischen Kapitel 19 bekennt. Seiner tiefen Trauer und seiner Empörung macht er schließlich Luft, indem er (8,99 ff) beginnt, die Verfälschung der ursprünglichen Gottesebenbildlichkeit zu beklagen und den eigentlichen Verursacher des Abfalls, den Teufel, zu beschimpfen. Geht es doch darum, die Wiederfindung und die Wiederherstellung des verlorenen Urzustandes zu erlangen. Im Gegensatz zum göttlichen Zorn-Feuer wirkt sich das „freundliche Liebe-Licht“ (8,95) aus; Braut und Bräutigam begegnen einander (8,97). Das alles ist für Böhme, den Künder der Morgenröte, nicht ferne Zukunft, sondern Gegenwart. Deshalb sein energischer Appell an die geistig-geistlichen „Hüter Israels“ (8,107), die als die zeitgenössischen Prediger und Seelsorger der Kirche weithin versagt haben. Und wenn Schimpfworte wie „Geizhälse und Trunkenbolde“ vor allem im übertragenen Sinne gemeint sind, so musste sich der Görlitzer Oberpfarrer als Hüter lutherischer Rechtgläubigkeit und als „trinkfester“ Privatmann in doppelter Weise herausgefordert sehen. Deshalb führte er einen erbitterten Kampf der Verleumdung und der öffentlichen Schmähung gegen sein kirchentreues Gemeindeglied. Böhme muss bereits bei Niederschrift der Aurora mit „des Teufels Dank“ gerechnet haben (8,109). Dabei war er sich seiner Verpflichtung bewusst, „die Bosheit der Welt“ in der angezeigten Weise zu beschreiben.
Der auf gesellschaftlich „hohen“ Rang, Abstammung und Titel bauenden Welt zum Trotz gibt der Schreiber zu bedenken, von welcher geringen Abkunft in der Regel die Träger religiösen Lebens waren (9,1–7). Nun, da es gilt, das bis dahin Verborgene anzukündigen, darf die „Einfalt des Autoris“ (9,11) kein Hindernis sein. Dieses Verborgene (9,8), das Böhme seine „Philosophia“ nennt, könnte man als eine universalistische Theosophie begreifen oder als die Darstellung eines kosmischen Christentums, das sich eben nicht allein auf das individuelle Frommsein, auf die lutherische Rechtfertigungstheologie u.ä. beschränkt, sondern das „den ganzen Gott“ einbezieht, also auch die Fülle der Schöpfung, der sichtbaren wie der unsichtbaren Welt. Hier liegt zweifellos Böhmes große Bedeutung, die in der nachfolgenden Theologiegeschichte noch kaum gewürdigt worden ist, von Ausnahmen wie etwa Oetinger, Schelling oder Baader abgesehen; aber auch Namen wie Steiner und Teilhard de Chardin wird man nennen müssen. Für das Verständnis dieses seines Buches macht er freilich eine nicht unbeträchtliche Voraussetzung. Man könnte sie als die Notwendigkeit einer inneren Kontaktnahme (9,21) mit dem geistesmächtigen Seher bezeichnen. Zugrunde liegen muss jeweils ein Wandlungsprozess des betreffenden Erkenntnissuchers, „wo mitten im Tod das Leben geboren wird“. So gibt es kaum hinreichende Vergleiche für das Darzustellende. Meint Böhme einmal, der unwiderstehliche erotische Impuls zweier junger Menschen sei adäquat (9,28), so muss er sogleich die Vorläufigkeit des Bildvergleichs eingestehen. Und dennoch, die Aufforderung, einen Baum aufmerksam, mit allen Sinnen, wahrzunehmen (9,32), setzt doch wohl einen gewissen Erkenntnisoptimismus voraus (10,57). Dieser wird durch die gleichsam organbildenden, Bewusstsein ermöglichenden Kräfte der Qualitäten mitbegründet (9,37). Schließlich „urständet“ alles Sein, das der unteren und das der oberen Welt, in dem Wirken und Weben der „sieben Geister Gottes“ (9,41).
Die undurchsichtige, der heutigen Bewusstseinsart sehr befremdende Darstellung des Ineinanders und Miteinanders der sieben Naturgeister wird (10,22) mit dem Hinweis erläutert, dass seinem „verderbten Gehirne“ nur ein stückweises Erfassen des Geschauten möglich sei. Das heißt doch, dass das Zugleich und die Akausalität der Qualitäten bzw. Naturgeister eben nur in einem zeitlichen Nacheinander beschrieben werden können. Das Bezugssystem von Subjekt und Objekt ist aufgehoben. So ist die widersprüchliche Aussageweise unumgänglich, nach der von dem Geist (10, 20) gesagt wird, dass er „sowohl seinen Vater und seine Mutter“ gebäre. Einer tiefenpsychologischen Betrachtung dürften Behauptungen dieser Art viel weniger ungeheuerlich erscheinen als dem rational orientierten Alltagsbewusstsein. Böhme legt eine solche Beurteilung selbst nahe, wenn er in seiner „Rechenschaft des Schreibers“ (in der Faksimile-Ausgabe von 1730 der Auroraohne meinen Bewusst